Legitimationsprozesse wirtschaftlichen Handelns*

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Legitimationsprozesse wirtschaftlichen Handelns*
Normativer Wandel im Anschluss an „Der neue Geist des Kapitalismus“
THORSTEN FATH UND CÉLINE EHRWEIN**
Legitimisation Processes in Economic Activity: Normative Transformation
according to “The New Spirit of Capitalism”
This article explores the structural embeddedness of normativity in economic action. Departing from
the model of “Cité” as developed by the French social thinkers Luc Boltanski and Laurent Thévenot
it outlines how critique plays a major role in the capitalist process. Focusing on “The New Spirit of
Capitalism” by Luc Boltanski and management theorist Ève Chiapello, and the model of normative
change they present, the article outlines the way in which economic practices are constantly put to the
test of legitimacy. Boltanski’s and Chiapello’s analysis of the micro-level displacements taking place in
the capitalist process opens up a new way to understand the complex and multi-layered structure of
normativity in economic life. Chiapello’s reformulation of the notion of ideology is given special consideration.
Keywords: Critique, Normativity, Ideology, Legitimation
1.
Einleitung
Nach der Analyse des von Luc Boltanski und Ève Chiapello gemeinsam verfassten
Buchs „Der neue Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/ Chiapello 1999/2003) zählt die Mobilisierung der am Wirtschaftsprozess Beteiligten zu den zentralen Aspekten wirtschaftlichen Handelns. Die Legitimationsfiguren, die dieses Engagement rechtfertigen,
lassen sich nicht einfach als pure ideologische Masken begreifen; vielmehr gilt es Boltanski und Chiapello zufolge, die normativen Prinzipien und Ideale der Ansprüche, die
die ökonomischen Akteure erheben, ernst zu nehmen. Sie verbinden den Ansatz der
kritischen Soziologie Pierre Bourdieus mit einer ‚pragmatischen’ Soziologie, welche
den Rechtfertigungsmustern in Alltagssituationen nachgeht. Das soziale und wirtschaftliche Leben lässt sich nach diesem neuen Analyserahmen nicht aus übergreifenden Strukturen allein erklären; es bedarf vielmehr der empirischen Analyse der vielfältig hergestellten Einigungen zwischen Menschen in konkreten Situationen. So wenden
________________________
*
Beitrag eingereicht am 04.12.2006; nach doppelt verdecktem Gutachterverfahren überarbeitete
Fassung angenommen am 25.04.2007.
**
Dr. phil. Thorsten Fath, Wilhelm-Hauff-Str. 6, D-60325 Frankfurt a. M., +49-(0)69-7432659,
[email protected], Forschungsschwerpunkte: Sozialphilosophie, Geschichtsphilosophie,
Wirtschaftsethik.
Lic./Dipl. Theologin Céline Ehrwein, Sablet 2, CH-1110 Morges, +41-(0)21-8014258, celine.
[email protected], Forschungsschwerpunkte: Theologische Ethik, Politische Philosophie, Bioethik.
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die Autoren für ihre Kapitalismusanalyse ein Modell normativen Wandels an, das CitéModell, in welchem funktionalistischer Machterhalt, Kritik und Legitimation einerseits
eng ineinander greifen und andererseits in ihrem Wechselspiel stets analytisch differenzierbar bleiben. Indem die beiden Momente von Kritik und Rechtfertigung entlang
situativer Einigungserfordernisse untersucht werden, operiert dieser Analyserahmen
auf einer elementareren Ebene als die zumeist mit hoch voraussetzungsvollen Annahmen operierenden gesellschaftswissenschaftlichen Theorieangebote von funktionalistischer und strukturalistischer Soziologie oder neoliberaler Wirtschaftstheorie.
Insbesondere bewegt er sich jenseits der Opposition von individualistischer versus
kollektivistischer Handlungserklärung (Durkheim-Schule) und stellt – im Sinne einer
theoretischen Unvoreingenommenheit für die irreduzible Pluralität der Phänomene
des Sozialen – strenge disziplinäre Grenzziehungen in Frage.
Vier systematische Schwerpunkte stehen im Zentrum des Beitrags: Zunächst soll der
Zusammenhang von Kapitalismus und Kritik erörtert werden (Abschnitt 2). Im Fokus
steht dabei die Idee der Endogenisierung von Kritik: Die Kritik des Kapitalismus wird
zum Motor desselben; der kulturelle Protest gegen die angebliche Inauthentizität der
wirtschaftlichen Verhältnisse, der am Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger
besonders aktiv war, wurde in die Legitimationsprozesse des Kapitalismus teilweise
integriert. Die legitimatorische Funktion der Kritik lässt sich anhand des Modells der
Cité analysieren, das wiederum die Legitimationsfiguren im Kapitalismus erschließt. Im
Anschluss daran werden wir die insgesamt sieben Cités als Rechtfertigungstypen darstellen.
In einem nächsten Schritt wird der Begriff des ‚kapitalistischen Geistes’ durch einen
Vergleich mit der entsprechenden Konzeption Max Webers thematisiert (Abschnitt 3).
Für die Autoren spielt der ‚Geist’ des Kapitalismus’ eine doppelte Funktion: Einerseits
generiert er die Motive, die das Engagement der beteiligten wirtschaftlichen Akteure
rechtfertigen; andererseits schränkt er als gleichermaßen kontrollierende wie stabilisierende Instanz den Wirtschaftsprozess ein. Die Autoren differenzieren drei historische
Formen des ‚kapitalistischen Geistes’ und gelangen zur These, dass die aktuelle Geistformation als netzwerkbasierter Kapitalismus beschrieben werden kann.
Ausgehend von dieser Erörterung des Geistbegriffs wird es in einem nächsten Schritt
möglich, die Verlagerung von Normativität ins Auge zu fassen (Abschnitt 4). Daran
schließt sich die Frage an, inwiefern der klassische Ideologiebegriff gerettet und reformuliert werden kann. Auf diese Weise mündet unsere Rekonstruktion in eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Bewährungstests (épreuves), durch das Boltanski
und Chiapello die Dynamik sozialen Wandels erfassen.
Die Dominanz der Begründungsordnung des Netzes, die Amivalenz zwischen normativen und deskriptiven Theorieelementen bei den Autoren sowie der von ihnen hergestellte Zusammenhang von sozialem Handeln und Diskurs werden Thema unser abschließenden kritischen Überlegungen sein (Abschnitt 5).1
________________________
1
58
Ève Chiapello war am 15. November 2006 zu Gast bei der „Internationalen Studiengruppe zur
Kritischen Theorie“, einer Arbeitsgruppe am Institut für Sozialforschung in Frankfurt a. M., deren Mitglieder die Autoren dieses Artikels sind. Die nachfolgenden Ausführungen können sich
2.
Kritik, Kapitalismus, Cité: Die Dynamik von Legitimationsprozessen
Es war die von ihnen diagnostizierte Krise der Kapitalismuskritik, die Boltanski und
Chiapello dazu bewog, die Rolle der Kritik in der Dynamik des Wirtschaftsprozesses
eingehend zu reflektieren und im selben Zug die in wirtschaftlichen Aktivitäten eingebettete Normativität zu analysieren. Ausgangspunkt ihres gemeinsamen Buches ‚Der
neue Geist des Kapitalismus’ ist also die zeitgenössische Diagnose, derzufolge die Kritik
am Kapitalismus genau in dem Moment einen Tiefpunkt markiert, als dieser über
seine ehemaligen Gegner zu triumphieren scheint. Wie konnte es dazu kommen, dass
die soziale Mobilisation der sechziger und siebziger Jahre ab Anfang der Achtziger
nahezu verstummt ist? Nicht nur die Ausbeutung und Ungerechtigkeit kritisierende
‚Sozialkritik’ (critique sociale) geriet eindeutig in die Defensive. Auch der zweite, im Anschluss an Chiapellos Studie ‚Artistes vs. Managers’ (vgl. Chiapello 1998) als ‚Künstlerkritik’ (critique artiste) bezeichnete Typus von Kritik verebbte; der aus dem Milieu von
Künstlern und Intellektuellen gegen Marktwirtschaft und Konsumgesellschaft gerichtete Vorwurf, sie produzierten Inauthentizität und Uniformität, schien schlichtweg ins
Leere zu greifen. Verantwortlich hierfür war nach Ansicht der Autoren vor allem eines: Der Kapitalismus hat von seinen Kritikern gelernt. Er anerkannte und integrierte
einen Teil der Kritik, nämlich die Forderung nach Kreativität und Autonomie. Von
hierarchischen Zwängen und starren Arbeitsprozessen entlastet, wurde den abhängig
Beschäftigten Freiraum für eine quasi-künstliche Selbstverwirklichung im Arbeitsleben
eingeräumt. Mehr Eigenverantwortung, Selbstorganisation und schöpferische Eigenleistung hießen die neuen Erfordernisse. Im Mittelpunkt stand die Transformation des
Angestelltentypus, von dem nunmehr das kreative Ausgestalten des eigenen Arbeitsplatzprofils ebenso erwartet wurde wie die flexible Anpassung an stets wechselnde
Tätigkeiten.2 Zusätzlich kam der erneuerte Kapitalismus auch der Forderung nach
Authentizität durch eine gesteigerte Vielfalt der Produkte entgegen. Die Konsequenz
war, dass die Frage nach Befreiung an Bedeutung verlor. In der neuen Wirtschaftsweise, deren Konturen seit den neunziger Jahren klar hervortraten, fanden die Argumente, insbesondere der Künstlerkritik, Berücksichtung. Individuelle Selbstverwirklichung
und Mobilität wurden zum Kennzeichen einer neuen Rechtfertigungslogik eines wirtschaftlichen Handelns, das sich mit der Metapher des ‚Netzes’ angemessen beschrei______________________________
zum Teil auf Chiapellos Vortrag zum Thema ‚Critique and Capitalism: Tools of the Spirit of Capitalism’ sowie ein vorausgegangenes Gespräch stützen.
2
Vgl. hierzu die Studie von Andreas Reckwitz ‚Das hybride Subjekt: Eine Theorie der Subjektkulturen
von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne’, besonders die Analyse über „Post-bürokratische Praktiken der Arbeit und das unternehmerische Kreativsubjekt“ (Reckwitz 2006: 500-527). Nach Reckwitz stellt die Verschiebung vom Angestelltensubjekt zum kreativ-unternehmerischen Subjekt
wesentlich eine „kulturelle Neuentwicklung“ (Reckwitz 2006: 501) dar, die – anders als in den
Postfordismustheorien – nicht einfach allein aus den ökonomischen Krisen seit den 1970er Jahren abgeleitet werden kann. Reckwitz identifiziert eine neue Subjektkultur, die durch eine „ästhetisch-ökonomische Doppelstruktur“ charakterisiert ist: „Das post-bürokratische Subjekt versucht,
sich als eine permanent Neues produzierende Instanz zu kultivieren, weil dies dem ästhetischen
Ideal individueller, authentischer Befriedigung entspricht und weil die Arbeit im Angesicht der
Dynamik des individualästhetischen Konsums das Ziel der reibungslosen Massenproduktion
durch das der Innovationsorientierung ersetzt: Die Kultur der quasi-künstlerischen Kreativität
und jene der ökonomischen ‚Innovation’ verstärken sich hier gegenseitig“ (Reckwitz 2006: 511).
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ben lässt. Boltanski und Chiapello sprechen in diesem Zusammenhang von der ‚Endogenisierung’ der Kritik und rücken damit vor allem das Wissen um die Wirkung der
Kritik in den Fokus ihrer Untersuchung. Um zu verstehen, wie Normativität in wirtschaftliche Prozesse eingebettet ist, bedarf es der empirischen Analyse der Wirkungsweisen von Kritik. In der Konsequenz ändert sich die Rolle des Sozialtheoretikers:
Anstatt externe normative Ansprüche an den Gegenstandsbereich – sei es das wirtschaftliche Leben, seien es die unterschiedlichen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – heranzutragen, betreibt dieser nunmehr eine ‚Soziologie der Kritik’, welche die
faktisch auftretenden normativen Stützpunkte zunächst in beschreibender Einstellung
identifiziert und gleichzeitig plausibel macht, wie die auf solche normative Referenzpunkte basierende Kritik im Prozess des Kapitalismus endogenisiert und entkräftet
wird.
Das kritische Potential der Soziologie kann nur dann in Erfolg versprechender Weise
erneuert werden, wenn zuvor die Frage nach dem Status der Kritik geklärt wird: so der
grundlegende Gedanke der Analyse von Boltanski und Chiapello. Vorausgegangen
war auf Seiten Boltanskis der Abschied von der kritischen Soziologie seines Lehrers
Pierre Bourdieu. Entscheidend war dann die Rolle der von Luc Boltanski und Laurent
Thévenot begründeten Pariser Groupe de Sociologie Politique et Morale (GSPM) gewesen:
In der Tat lässt sich die Entstehung von ‚Der Neue Geist des Kapitalismus’ nur im Forschungskontext dieser Gruppe verstehen, welche die Grundzüge einer kritischen mit
denen einer pragmatischen Soziologie verbunden hat. Unter ‚pragmatisch’ wird in
diesem Zusammenhang eine konzeptionelle Öffnung der Sozialwissenschaften verstanden, welche die üblichen disziplinären Kodifizierungen zu überwinden sucht. Die
GSPM leitete eine neue Entwicklung in der französischen Moralsoziologie ein, indem
an die Stelle der Gegenüberstellungen von ‚individualistisch/atomistisch’ und ‚kollektivistisch/holistisch’ sowie der Opposition von ‚utilitaristisch’ gegenüber ‚normativistisch’ die Erforschung der situationsabhängigen Einigungs- und Koordinationserfordernisse der sozial Handelnden tritt; damit geht vor allem eine Loslösung von jeglichen substanziellen Vorstellungen des Sozialen einher (vgl. Wagner 2004: 441). Die
typischen Formen menschlichen Handelns und ihre Rechfertigung, so die leitende
Überzeugung, sind empirisch erforschbar. Das konzeptuelle Rüstzeug hierzu lieferte
die programmatische Schrift ‚De la justification’ (Boltanski/Thévenot 1991) von Boltanski und Thévenot, die einen Versuch darstellt, einen Satz von grundlegenden interpretativen Möglichkeiten der Rechtfertigung und möglichen Argumentationsfiguren
anzugeben, mit deren Hilfe Situationen des Disputs geklärt werden können. Notwendigerweise, lautet die dort vorgelegte Ausgangsthese, müssen sich Menschen und
Menschengruppen in Auseinandersetzungen stets auf gemeinsam geteilte Ressourcen
beziehen, welche die jeweils kontingente Situation gleichsam transzendieren. Solche
Ressourcen umfassen materielle Objekte im Sinne einer an Bruno Latour anschließenden Soziologie der Sachverhältnisse oder situationsübergreifende Kriterien der Begründung. Letztere werden in ‚De la justification’ mit dem Terminus „Cité“3 bezeichnet.
________________________
3
60
In der deutschen Ausgabe von ‚Der neue Geist des Kapitalismus’ (Boltanski/Chiapello 2003) wird
dieser schwer übersetzbare Ausdruck als ‚Polis’ wiedergegeben. In Einklang mit Beispielen aus
der einschlägigen Literatur (vgl. etwa Wagner 2004) wird im Folgenden der französische Origi-
Gemeint sind entlang normativer Bezugspunkte konstituierte Rechtfertigungsordnungen, in denen jeweils ein bestimmtes Äquivalenzprinzip zur Ordnung der Wertigkeit
der Personen untereinander vorherrscht. Während sich die sozialen Interaktionspartner auf Basis jeder einzelnen Cité hinsichtlich der Frage nach der Rangordnung (ordre
de grandeur), d. h. der Bestimmung dessen, wer im Sinne eines ordnenden Arrangements der beteiligten Personen jeweils als ein ‚Großer’ gelten kann, weitestgehend
anhand des leitenden Kriteriums relativ unkompliziert verständigen können, sind konfliktuelle Situationen wesentlich gekennzeichnet durch Uneinigkeiten bezüglich der
maßgeblichen Referenzlogik. Die Grundidee besteht wesentlich darin, Konflikte darauf zurückzuführen, dass die Beteiligten falsche Zuordnungen hinsichtlich der oben
genannten Urteilsordnungen vornehmen.
Die Basis für die Klassifikation der verschiedenen Cités bildete eine Untersuchung
unterschiedlicher Textkörper wie etwa Handbücher zur Pressearbeit oder klassische
Texte der politischen Ideengeschichte. Entscheidend ist dabei jedoch, dass das Modell
der unterschiedlichen Begründungslogiken nicht nur auf eine bloß deskriptive Dimension abzielt, da die in den Äquivalenzprinzipien erhobenen Ansprüche auf Legitimität
zu jedem Zeitpunkt und in jeder Gesellschaft immer schon auf universelle Gültigkeit
angelegt sind. Es handelt sich, wie Boltanski und Chiapello betonen, um „ein Gerechtigkeitsmodell und keine empirische Beschreibung der Zustände der Welt“ (Boltanski/Chiapello 2003: 392). Ferner reflektiert das Cité-Konzept im selben Zug sowohl
die historische Dimension von Urteilsordnungen als auch den synchronischen Aspekt
sozialer Interaktion (vgl. Wagner 2004: 94). Während ‚De la justification’ sechs solcher
Cités zugrundelegt, erweitet sich in ‚Der neue Geist des Kapitalismus’ die Zahl der Urteilsordnungen um die ‚projektbasierte Netz-Cité’, so dass insgesamt sieben Typen von
Rechtfertigungsregimen mit jeweils einem regierenden Kriterium differenziert werden
können:
ƒ
Cité der Inspiration: Die Gestalt des begnadeten Heiligen oder des inspirierten Künstlers sind die beiden wichtigsten Bezugspunkte dieses Rechtfertigungsschemas. Zu den Hauptkriterien, die über die soziale Position innerhalb dieser
Ordnung entscheiden, zählen Inspiriertheit, Kreativität und Authentizität.
ƒ
Cité des Hauses: In dieser Begründungsordnung zählt die Position innerhalb
einer Stufenleiter persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse. Hierarchisch geprägte, auf Treue und Respekt gegenüber Vaterfigur und Vorfahren gegründete,
traditionelle Rechtfertigungsmuster dominieren.
ƒ
Cité der Reputation: Visibilität und Bekanntheitsgrad entscheiden darüber,
wer in der Rangordnung oben steht. Die Meinung und Wertschätzung der anderen dominieren hier. Der Ruhm bei den Vielen konstituiert persönliche Größe.
ƒ
Staatsbürgerliche Cité: In dieser Wertigkeitsordnung steht oben, wer den
Allgemeinwillen eines Kollektivs am besten zum Ausdruck bringen kann, allen
voran die Figur des Politikers.
______________________________
nalausdruck gebraucht, zumal dadurch die bis auf Augustinus zurückgehenden ideengeschichtlichen Konnotationen beibehalten werden.
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ƒ
Cité des Handels: Demjenigen eignet ‚Größe’, der die Verwertungschancen
von Handelsgütern auszunutzen weiß. Die Handelslogik arrangiert Personen
anhand des Maßstabs, in der Konkurrenzsituation des Marktes mit dem erfolgreichen Kauf- und Ankauf von Waren zu reüssieren.
ƒ
Cité der Industrie: Die relative Wertigkeit von Personen bestimmt sich auf
Basis dieses Äquivalenzprinzips anhand von Effizienz. Professionelle Kompetenzen sind maßgeblich.
ƒ
Projektbasierte Netz-Cité: Mobilität und Unbeständigkeit sind positive Qualitäten der Person; die Fähigkeit, neue Projekte zu initiieren und immer wieder
aufs Neue Kontakte einzugehen und wieder abzubrechen, konstituiert die Größe des Netzwerkmenschen, der opportunistisch die Chancen der vernetzten
Gesellschaft zu ergreifen versteht.
Auch die zuletzt hinzutretende Urteilsordnung, die projektbasierte Netz-Cité (cité par
projets), resultiert aus der empirischen Analyse von Textkörpern. Boltanski und Chiapello stellten eine Auswahl von Managementtexten aus den 1960er und aus den
1990er Jahren gegenüber und entdeckten dabei anhand der Häufigkeitsverteilung von
Schlüsselwörtern eine Verschiebung der vorherrschenden Rechtfertigungsmuster.
Während in den Texten der sechziger Jahre die Argumentationslogik um die ‚Cité der
Industrie’ zentriert war, verschob sich der Fokus dreißig Jahre später neben der industriellen Logik verstärkt auf die Begründungsordnung des ‚Netzes’ (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: 587-600). Die Netzlogik wird zum neuen Paradigma der sozioökonomischen Transformationen in der Gegenwart. Wenngleich zunächst aus der
Analyse von Managementliteratur gewonnen, beschreibt die Netzmetapher ein Wertesystem, das weit über die Sphäre der Wirtschaftsunternehmungen hinausgreift. Die im
Wirtschaftsleben der Gegenwart abverlangte persönliche Mobilität und Flexibilität, die
Fähigkeit des Einzelnen, sich in bestehende Projekte zu integrieren und neue zu initiieren, sowie die Ablehnung von Stabilität und Bindungen sind tatsächlich sukzessiv in
die ganze Lebenswirklichkeit eingewandert. Der erfolgreiche Typus ist in der zeitgenössischen Realität der „homme léger“ (Boltanski/Chiapello 1999: 234), der von den
Zwängen von Besitz und Macht unbeschwerte Mensch, der sich wie ein Nomade in
der konnexionistischen Welt bewegt.4 Angesichts der Beobachtung, dass die sozialen
Kontakte und selbst die Intimbeziehungen mehr und mehr den Charakter von Projekten annehmen, gehen Boltanski und Chiapello soweit zu sagen, „dass die Netzmetapher allmählich eine neue, allgemeingültige Gesellschaftskonzeption darstellt“ (Boltanski/Chiapello 2003: 187).
3.
Der Geist des Kapitalismus und seine Phasen
Die Autoren deuten eine Universalisierung der Netzmetapher jedoch nur an, entscheidend in ‚Der neue Geist des Kapitalismus’ ist vielmehr etwas anderes: Mit der Meta________________________
4
62
Chiapello und Boltanski sprechen in diesem Kontext die Frage nach einem anthropologischen
Korrelat des homme léger kurz an, indem sie in der Neigung, Netze zu knüpfen, Ansätze einer
„neue[n] Anthropologie“ (Chiapello/Boltanski 2003: 191) vermuten. Zu den allgemein menschlich gegebenen Quellen des kapitalistischen Geistes vgl. die Studie ‚Der Bourgois’ von Werner
Sombart (1988/1913).
pher des Netzes wird eine sinnverleihende Norm zur Konzeptualisierung der zeitgenössischen Wirklichkeit präsentiert, die zugleich eine neue Konstruktion dessen artikuliert, was Boltanski und Chiapello mit Max Weber den ‚kapitalistischen Geist’ nennen. In Anlehnung an Webers berühmte Studie ‚Die protestantische Ethik und der Geist des
Kapitalismus’ (Weber 1988/1920) gehen Boltanski und Chiapello davon aus, dass sich
die Triebfedern des modernen Erwerbsstrebens nicht rein auf Basis der ökonomischen Theorie erklären lassen; wirtschaftliches Handeln ist vielmehr auf außerökonomische Motive zu seiner Rechtfertigung angewiesen. Wie Weber rekurrieren sie zunächst auf eine Minimaldefinition von ‚Kapitalismus’. Sie schreiben: „Wollen wir eine
Minimalformel verwenden, die eine Forderung nach unbegrenzter Kapitalakkumulation durch den Einsatz friedlicher Mittel als zentral erachtet“ (Boltanski/Chiapello
2003: 39). Konsequenterweise gleicht dadurch die kapitalistische Wirtschaftsweise
einem „amoralischen Prozess“ (Boltanski/Chiapello 2001: 462), insoweit er selbst
keine substanziellen Prinzipien oder Werte voraussetzt. Für die meisten im Wirtschaftsprozess Involvierten sind die persönlichen Motive für ein auf Dauer gestelltes
Engagement zu schwach, sind die Aussichten auf den Erwerb substantieller Anteile
am geschaffenen Mehrwert zu gering. Woher also kommen jene Argumente, die ein
Engagement rechtfertigen können und damit den Wirtschaftsprozess nachträglich
ethisch aufladen? Was verhindert ein Absinken der Motivation auf Seiten breiter
Schichten abhängig Beschäftigter? Nach der Grundprämisse von Boltanski und Chiapello ist es die Konstruktion eines kapitalistischen Geistes, dem die Aufgabe zufällt,
jenes normative Defizit allererst zu schließen. Anders als Weber, der mit Blick auf die
zeitgenössische Wirklichkeit den Verlust ebenjenes ‚Geistes’ diagnostiziert – die bekannte Wortprägung „stahlhartes Gehäuse“ (Weber 1988/1920: 203) steht hierfür –,
behaupten sie also die Existenz eines kapitalistischen Geistes auch in der Gegenwart.
Hierbei kommt die Idee der Kritik ins Spiel. Da die auf Basis der ökonomischen Theorie gegebenen Typen einer am Allgemeinwohl orientierten Rechtfertigung wie der
technologische, wirtschaftliche und soziale Fortschritt in den letzten zwei Jahrhunderten als Beteiligungsmotiv nicht hinreichend sind, speist sich der Geist des Kapitalismus von den Ideen seiner Kritiker, die somit in ironischer und unbeabsichtigter Weise
zu dessen Erneuerung beitragen. Wie Boltanski und Chiapello ausführen:
„Auch wenn der Kapitalismus nicht ohne eine Allgemeinwohlorientierung als
Quelle von Beteiligungsmotiven auskommen kann, ist er aufgrund seiner normativen Unbestimmtheit doch nicht dazu im Stande, den kapitalistischen Geist
aus sich selbst heraus zu erzeugen. Er ist auf seine Gegner angewiesen, auf diejenigen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen, um die fehlende moralische Stütze zu finden und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen, deren Relevanz er sonst nicht einmal erkennen würde. Das kapitalistische System hat sich als bei weitem widerstandsfähiger erwiesen, als es seine
Kritiker und an erster Stelle Karl Marx erwartet hatten. Das liegt aber eben auch
daran, dass es gerade bei seinen Kritikern Lösungswege zu seinem Fortbestand
gefunden hat“ (Boltanski/Chiapello 2003: 68).
Aufgrund der oben zitierten „normativen Unbestimmtheit“ bedarf die kapitalistische
Wirtschaftsweise gemäß der Argumentationsführung der Autoren notgedrungen der
Kritik. Die Rolle der Kritiker für die Konstruktion des kapitalistischen Geistes ist
paradoxal: auf Missstände und Ungerechtigkeiten aufmerksam machend, wirkt die
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kritische Aktivität – über den Prozess der Endogenisierung der Kritik vermittelt –
letztlich stabilisierend, indem sie die Schwachstellen eines wirtschaftlichen Systems
identifiziert, das aus sich heraus unentwegt die gesellschaftliche Basis seiner Existenz
unterminiert.5
Jede historische Gestaltung des kapitalistischen Geistes, so die These, umfasst notwendigerweise Rechtfertigungen hinsichtlich der drei Aspekte von Sicherheit, Gerechtigkeit/Gemeinwohl und Stimulation. Von besonderer theoriestrategischer Bedeutung
ist der letztgenannte Gesichtspunkt der Erzeugung von Enthusiasmus, den die Autoren auch als „‚aufregenden’ Aspekt“ (Boltanski/Chiapello 2001: 463) bezeichnen. So
lassen sich nach Boltanski und Chiapello drei Formen des ‚kapitalistischen Geistes’
seit dem späten neunzehnten Jahrhundert differenzieren. Die Züge der drei Typen des
kapitalistischen Geistes sowie die in ihnen jeweils gegebene Antwort auf die oben
angeführten Rechtfertigungserwartungen der Beteiligten lassen sich folgendermaßen
skizzieren:
Typische
wirtschaftliche
Organisationsform
Welches GerechtigkeitsVersprechen
wird gegeben?
Welche Sicherheiten
werden versprochen?
Was verspricht Stimulation?
1. Geist
Ende 19. Jhd. bis 1930er
2. Geist
1940er bis 1970er
3. Geist
seit 1980
Kleine
Familienunternehmen
Bürgerliches
Unternehmertum
Dominanz der Manager
Massenproduktion
Große Industrieunternehmen
Makroökonomische Wirtschaftspolitik
Vernetzte Unternehmungen
Internet und Biotech
Globalisierte Finanzmärkte
Flexible Produktion
Meritokratie belohnt Loyalität und Respekt vor Umgangsformen sowie – in
augenscheinlichem Widerspruch hierzu – den Erfolg
in der Konkurrenzsituation
des Marktes
Meritokratie, die Effizienz
belohnt
Führen durch Zielvereinbarung
Neue Form der Meritokratie
belohnt Mobilität und Fähigkeit, Netzwerke zu unterhalten
Projekte ermöglichen, eigene
Einsatzfähigkeit zu steigern: je
mobiler, desto einsatzfähiger
Basiert auf persönlichem
Eigentum und persönlichen
Beziehungen, Fürsorge
sowie Paternalismus
Basiert auf langfristiger Planung, lebenslangen Karrieren
und Wohlfahrtsstaat
Für die Mobilen und Anpassungsfähigen bieten Unternehmen Ressourcen zur
Selbsthilfe und Selbststeuerung an
Befreiung von lokalen Gemeinschaften
Fortschritt
Karrierechancen
Zugang zu Machtpositionen
Effizienzsteigerungen in den
Ländern der „freien Welt“
Keine autoritären Vorgesetzten mehr
Unscharfe Organisationsstrukturen
Innovation und Kreativität
Permanenter Wandel
Abbildung 1: Die drei Formen des ‚kapitalistischen Geistes’ und ihre jeweiligen
Versprechen nach Boltanski/Chiapello (2002: 6 f.) sowie
Boltanski/Chiapello (2001: 464)
________________________
5
64
Diese ungewollte Konsequenz der Kritik ließe sich auch im allgemeineren Kontext der von
Robert K. Merton herausgearbeiteten Problematik der unbeabsichtigten Folgen allen sozialen
Handelns thematisieren (vgl. Merton 1936), was hier allerdings nicht weiter verfolgt werden kann.
In forschungsstrategischer Hinsicht erlaubt die Annahme eines ‚Geistes’ die Einnahme eines neuen theoretischen Standpunkts, der sich weder ausschließlich auf Begriffe
von Gewalt, Ausbeutung, oder Herrschaft noch durch einseitigen Rekurs auf vertragstheoretische Bedingungen oder eine gerechtigkeitstheoretische Perspektive auszeichnet. Der Ausdruck ‚kapitalistischer Geist’ legt die Betonung auf den Doppelaspekt
von Kritik und Kapitalismus. Die entscheidende Wendung lautet, dass der Kapitalismus unter dem Aspekt der Rechtfertigungsstrategien historischen Veränderungen
unterworfen ist. Gerade weil er Objekt der Kritik ist, steht der Kapitalismus unter
ständigem Rechtfertigungszwang. Seinen Kritikern antwortend, gewinnt er an normativer Bestimmtheit. Die von den Kritikern auferlegten allgemeinwohlorientierten
Normen begrenzen, so die These, die systemischen Risiken der auf einem immanenten Widerspruch basierenden Gesellschaftsorganisation:
„Obwohl der Akkumulationsprozess seine eigene Norm darstellt, muss er [der
Kapitalismus] zu seinem Fortbestand – gerade darin besteht sein Paradox – fest
mit einem Sozialverband verwachsen sein, den er unablässig zerstört, wenn die
Logik, die ihn antreibt, jeder externen Kontrolle entzogen ist“ (Boltanski/Chiapello 2003: 550).
Demnach ist es der ‚Geist’, der den Wirtschaftsprozess gleichzeitig sowohl legitimiert als
auch restringiert. Er steht für ein „ideologisches Konstrukt“ (Boltanski/Chiapello
2001: 471), das aufgrund dieser zweifachen Funktion geeignet ist, einen Gutteil der
Gegensätze der soziologischen und philosophischen Debatten der zurückliegenden
dreißig Jahre zu überwinden. Insgesamt geht es den Autoren darum, einen allgemeinen theoretischen Rahmen anzubieten, „anhand dessen sich die Art verstehen lässt,
mit der sich Ideologien verändern, die mit Wirtschaftsaktivitäten assoziiert werden“
(Boltanski/Chiapello 2001: 476).
4.
Bewährungstests und Ideologie: Zur Verlagerung von Normativität
Geht aus dem oben Gesagten – entgegen den Beteuerungen der Autoren – nicht dennoch hervor, dass der kapitalistische Geist schlichtweg mit dem Terminus ‚Ideologie’
bezeichnet werden könnte? Mit hinreichender Deutlichkeit hat Ève Chiapello diese
Frage im Anschluss an ihre Zusammenarbeit mit Boltanski nochmals diskutiert und,
wie bereits zuvor in ‚Der neue Geist des Kapitalismus’, für einen differenzierteren, von der
marxistischen Tradition sich abgrenzenden Ideologiebegriff plädiert (Chiapello 2003).
Sie verweist diesbezüglich zunächst auf die Bedeutungsvielfalt und Komplexität des
Ideologiebegriffs sowie auf die Notwendigkeit einer Reformulierung dieses Konzepts.
Ihrer Auffassung nach lassen sich grundsätzlich zwei Konzeptionen von ‚Ideologie’
differenzieren, und zwar die klassische, an Marx orientierte Vorstellung vom falschen
Bewusstsein der gesellschaftlichen Akteure einerseits und eine ‚kulturalistische’ Fassung des Ideologiebegriffs andererseits. Letztere betrachtet die Problematik der Ideologien unter dem generellen Aspekt der Symbolizität menschlichen Handelns. Alles
menschliche Handeln ist symbolisch vermittelt. In alle kollektiven Repräsentationen
rückt aus diesem Grund ein unhintergehbares Moment der Perspektivität ein. Anders
als in der marxistischen Tradition, welche ‚Ideologie’ stets als einen kritischen Begriff
verwendet, erinnert die kulturalistische Verwendungsweise an die positive erkenntnistheoretische Funktion, welche gemeinsam geteilten Überzeugungen prinzipiell
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zugrunde liegt: Ideologien zählen demnach zu jenen fundamentalen Erkenntnisleistungen, mit deren Hilfe das, was wir gesellschaftliche Realität nennen, allererst konstruiert und konzeptualisiert werden kann. Während in dieser vor allem auf Karl
Mannheims Wissenssoziologie (vgl. Mannheim 1995/1929) zurückgehenden Tradition
die ursprünglich kritische Dimension des Ideologiebegriffs abgeblendet wird, tritt auf
der anderen Seite das Moment der integrativen Funktion von Ideologien umso stärker
hervor:
„Where the Marxist conception of ideology emphasises its distortion function,
the culturalist conception thereof stresses its group integration and identity
preservation functions“ (Chiapello 2003: 159).
Chiapello setzt sich nun zum Ziel, die beiden schematisch gegenübergestellten Haupttypen des Ideologiebegriffs miteinander zu versöhnen. Hierzu rekurriert sie auf die
von Paul Ricoeur vorgeschlagene Dreiteilung der unterschiedlichen Funktionen von
Ideologie, wonach jene gleichermaßen der Integration, der Verzerrung sowie der Legitimation, oder genauer: der Erzeugung von Legitimität, dienen (vgl. Ricoeur 1986).
Von besonderem Interesse ist Chiapello zufolge die von Ricoeur im Anschluss an
Weber herausgestellte Legitimitätsfunktion: Ricoeur beruft sich auf Max Webers Idee,
dass keine Form der Herrschaft – selbst wenn sie sich wesentlich auf Gewaltmittel
stützen sollte – auf Rechtfertigung verzichten kann. Das legitimierende Konstrukt der
‚Ideologien’ – Weber selbst hat den Terminus bekanntlich vermieden – ermöglicht
allererst die für jegliche Herrschaftsform unabdingbare Zustimmung und Kooperation
der gesellschaftlichen Akteure. In Abwandlung des Vorschlags von Ricoeur betrachtet
Chiapello Legitimität als das, was diejenigen, die beherrscht werden, denen zugestehen, die in Führungspositionen Herrschaft ausüben (vgl. Chiapello 2003: 161). Dennoch bleibt immer eine Kluft zwischen der zugestandenen Rechtfertigung einerseits
und dem Glauben an die Rechtmäßigkeit der erhobenen Legitimitätsansprüche andererseits. Stets bleibt ein nicht gedeckter Machtüberschuss (surplus), der daraus resultiert, dass die geäußerten Legitimitätsansprüche größer sind als die faktische Legitimität. In allen Rechtfertigungen artikuliert sich folglich ein Machtüberhang. Ein wichtiger funktionalistischer Aspekt von Ideologie besteht nach Chiapello darin, neben der
Produktion anerkannter Legitimität zusätzlich noch jener nicht gerechtfertigten Lücke
Legitimität zu verleihen. Der ‚kapitalistische Geist’ erfüllt somit zwei unterschiedliche
legitimitätsproduzierende Funktionen. Ihr zufolge ist es gerade die letztgenannte
Funktion, welche ferner die Schnittmenge bildet mit dem bei Marx vorherrschenden
Verständnis von Ideologie als einer die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verzerrenden und verschleiernden Vorstellung. Dadurch wird es möglich, die integrative
Funktion von Ideologien mit deren verzerrender Funktion zu verbinden und den
Ideologiebegriff hinsichtlich der erwähnten Legitimation unzugestandener Rechtmäßigkeit zu reformulieren als „legitimation of surplus power“ (Chiapello 2003: 161).
Der reformulierte Ideologiebegriff Chiapellos versöhnt somit die beiden unterschiedlichen Perspektiven von funktionalistischem Machterhalt in der Theorietradition von
Foucault einerseits und einem Modell der Legitimation andererseits. Mit wirtschaftssoziologischem Blick auf die Analyse der Rechtfertigungsmuster ökonomischen Handelns wird die kritische Spannung des Ideologiebegriffs entsprechend bewahrt, während gleichzeitig in methodischer Hinsicht gemäß des oben erwähnten Programms
66
einer Soziologie der Kritik die faktischen Geltungsansprüche der maßgeblichen Wirtschaftsakteure ernst genommen werden. Hierbei greift freilich wiederum die forschungsleitende Idee eines komplizierten Prozesses der Wechselwirkung zwischen
Kritik und Legitimation.
Die Spannung, die sich in den unterschiedlichen Dimensionen des Ideologiebegriffs
artikuliert, kehrt gleichsam auf der Ebene des Gerechtigkeitsmodells der Cité wieder.
Das Cité-Konzept beschreibt ein dynamisches Modell normativen Wandels: Rechtfertigungsordnungen sind prozesshafte Bewegungsstrukturen, Resultate vielzähliger Mikro-Verlagerungen (micro-déplacements) über längere Zeiträume. Neben dieser diachronen
Dimension gibt es gleichzeitig den das Moment der Synchronie betonenden Aspekt
der sozialen Interaktion: Etablierte Begründungsordnungen werden in den konfliktuellen Situationen des Alltags immer wieder einem Realitätstest unterzogen, wofür
das Konzept der Bewährungsprobe (épreuve) steht. Darüber, ob geltende Muster der
Rechtfertigung akzeptiert werden, entscheiden die Beteiligten in alltäglichen Konflikten und in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder aufs Neue – der ‚pragmatische’ Ansatz der GSPM-Gruppe ist hierfür grundlegend. In theoriestrategischer Hinsicht stellt der Begriff der Bewährungsprobe das Bestreben nach einer Vermittlung
zwischen der mikro- und der makrosoziologischen Perspektive dar. Und zwar gilt dies
gleich in zweifacher Hinsicht: Zum einen sind beide Aspekte dadurch vermittelt, dass
die Tests sowohl Kräfteverhältnisse als auch Legitimitätsansprüche einbeziehen. Der
Begriff der Bewährung erlaubt,
„in ein- und demselben Prozess ohne Reduktionismus die Forderungen nach
Gerechtigkeit als auch die Kräfteverhältnisse zu integrieren. Er ermöglicht es
außerdem, sich zwischen der Mikro- und der Makroebene zu bewegen“ (Boltanski/Chiapello 2001: 471).
In anderen Worten: die Tests vereinen die beiden unterschiedlichen Regime der ‚legitimen Bewährung’ einerseits und der als ‚Kraftprobe’ bezeichneten Bewährung durch
Macht andererseits. Auf der anderen Seite lässt sich das Konzept der Bewährungsproben begreifen als eine Synthese von Mikro- und Makroebene in Bezug auf die legitimen Kriterien der Selektion, die den Bewährungstests jeweils zugrunde liegen. Und
zwar insofern, als die Formen legitimer Bewährungen stets die kollektive Dimension
menschlicher Praktiken in den Blick nehmen, da die legitimen Selektionskriterien ihrerseits ein Produkt ausgehandelter Fairness-Prozeduren sind, während die Bewährungstests auf der andere Seite in jeweils konkreten Situationen zwischen einzelnen
Akteuren erfolgen. Diese Situiertheit der Bewährungsproben betont somit gleichermaßen den jeweils individuellen wie den sozialen Aspekt des Handelns und „versetzt
uns ins Zentrum der soziologischen Perspektive“ (Boltanski/Chiapello 2001: 472).
Der Begriff der Bewährungsprobe, so Boltanski und Chiapello,
„ermöglicht es also, sich zwischen der Mikro- und der Makroebene zu bewegen,
weil die Makrotrends sozialer Selektion in letzter Instanz auf der Art der Bewährung beruhen, die eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt anerkennt“
(Boltanski/Chiapello 2001: 472).
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Dadurch erlaubt das Cité-Modell, die Dynamik sozialer und politischer Transformationen auf der Ebene der Normativität zu konzeptualisieren.6 Es handelt sich also um
ein Modell normativen Wandels, das zudem die Ambivalenzen und kontradiktorischen
Entwicklungen der Normativität in angemessenen Begriffen erfasst.
5.
Schluss: Einige kritische Anfragen
Das differenzierte und äußerst komplexe Gerechtigkeitsmodell der Cité und seine
Applikation besonders auf das Untersuchungsfeld ökonomischen Handelns wurde
hier skizzenhaft ausgeführt. Mit Blick auf den Begriff der Normativität sollen abschließend einige kritische Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses von Kritik und
Beteiligungsmotivation einerseits und der Problematik der Universalisierbarkeit der
Gerechtigkeitsprinzipien andererseits angestellt werden.
Eine vom Cité-Modell ausgehende Thematisierung des wirtschaftlichen Handelns
lokalisiert Normativität wesentlich im Spannungsfeld von Kritik und Rechtfertigung.
Das in der programmatischen GSPM-Schrift ‚De la justification’ entwickelte, plurale
Verständnis von Gerechtigkeitskriterien bildet den Analyserahmen auch in ‚Der Neue
Geist des Kapitalismus’. Leitend ist wiederum die grundsätzliche methodologische Einsicht der Pariser GSPM-Gruppe, dass die normativen Kriterien in den unterschiedlichen Gebieten des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens als eine nicht reduzierbare Pluralität begriffen werden müssen. Dem korrespondiert in Anlehnung an
Michael Walzers ‚Spheres of Justice’ (vgl. Walzer 1983) eine Forschungsstrategie, die der
falsch gestellten Alternative eines formalen Universalismus einerseits und eines haltlosen Pluralismus andererseits entgehen soll (vgl. Boltanski/Thévenot 1999). Eine prinzipielle Trennung der verschiedenen Sphären des Sozialen wie bei Walzer wird dennoch nicht vorgenommen (vgl. Wagner 2004: 440f.): Aufgrund der Einsicht in die
Situiertheit des Gerechten beziehen sich nämlich normative Kriterien nicht auf unter________________________
6
Ève Chiapello hat mit ihren jüngsten Forschungsarbeiten einen weiteren Schritt unternommen,
die empirische Tragweite des Cité-Modells nachzuweisen, indem sie den konzeptuellen Rahmen
von ‚Der neue Geist des Kapitalismus’ für die Analyse der Dynamik institutionalisierter Bewährungsproben in der aktuellen Management-Praxis heranzieht. Die aktuelle Forschung Chiapellos ist auf
das Gebiet der Accountancy zentriert. In ‚The Role of Criticism in the Dynamics of Performance Evaluation Systems’ (Chiapello/Bourguignon 2005) analysieren Chiapello und Bourguignon die dynamische
Rolle der Kritik in der Leistungsbewertung von Mitarbeitern. Die zuletzt erschienene Studie ‚Les
normes comptables comme institution du capitalisme. Une analyse du passage aux normes IFRS en Europe à partir de 2005’ (Chiapello 2005) beleuchtet den Implementierungsprozess der angelsächsisch geprägten Rechnungslegung IFRS in Europa in kritischer Weise und fragt nach den möglichen Veränderungen in Bezug auf den bisherigen Begriff der Unternehmung. Die beiden von der Autorin
dankenswerterweise verfügbar gemachten Aufsatzmanuskripte zu ‚Criticisms of Capitalism and the
History of Management Accounting: the Double Enrolment’ (mit Nicolas Berland) und ‚Accounting and the
Birth of the Notion of Capitalism’ befassen sich ebenfalls mit Accountancy. Thema der erstgenannten
Arbeit ist der Einfluss sozialreformerischer Kritikansätze für die Ausbildung innovativer Managementtechniken. Der letztgenannte Aufsatz behandelt die wichtige historische Rolle der doppelten Buchführung für die Kapitalismus-Konzeptionen bei Marx und Sombart.
Derzeit engagiert sich Chiapello als Professorin für Betriebswirtschaft und Soziologie und Forschungsleiterin an der Pariser École des Hautes Études Commerciales (HEC) für das neue Studienmodul Management Alter, das im Rahmen der Vermittlung kreativer und kritischer Fähigkeiten künftige Führungskräfte mit alternativen Management-Praktiken bekannt machen soll.
68
schiedliche Sphären des Sozialen (und damit letztlich auf makrosoziologische Konstellationen oder ‚Strukturen’), sondern auf jene Situationen, in denen die an Auseinandersetzungen Beteiligten Lösungswege suchen müssen und jeweils auch finden. Wie
gezeigt wurde, steht demgemäß die Analyse der Repertoires vorfindlicher Begründungsordnungen, der Cités, im Vordergrund. Die in einem Streit Involvierten beziehen
sich auf Grundtypen von Begründungsordnungen, deren jeweils dominierendes Kriterium seiner ganzen Anlage gemäß über die faktische Konfliktsituation hinausweist und
diese transzendiert, womit zugleich ein universeller Anspruch erhoben wird; daraus
wiederum zieht das Cité-Konzept seine eigentümliche normative Spannung. Eine gewisse Unklarheit der Autoren bleibt jedoch: Das historisch zuletzt in Erscheinung
getretene Rechtfertigungsmuster des Netzes scheint für die Erfassung der neuen gesellschaftlichen Realität des projektbasierten Kapitalismus eine gegenüber den anderen
sechs Cités-Typen deutlich höhere Diagnosekraft aufzuweisen. Auch wenn Boltanski
und Chiapello darauf insistieren, dass eine adäquate Analyse der zeitgenössischen
Wirklichkeit das Ensemble aller sieben Rechtfertigungsordnungen erfordert, spielt die
cité par projets eine derart dominante Rolle, dass die Frage erlaubt sein muss, inwieweit
überhaupt noch von distinkten oder gar nebeneinander gleichberechtigten Begründungsordnungen die Rede sein kann. Der Eindruck entsteht, als überwölbe die projektbasierte Netz-Cité die übrigen Cités in der neuen Realität des netzbasierten Kapitalismus.
Mit dieser Problematik verbindet sich eine weitere Nachfrage: Boltanski und Chiapello
arbeiten den Nexus zwischen dem ‚neuen kapitalischen Geist’ und der Netzmetapher
mit aller Deutlichkeit heraus. Gleichzeitig betonen sie, dass sich die gesellschaftliche
Wirklichkeit in immer stärkerem Maße qua der Kategorie des Netzes konzeptualisieren lässt. Das ließe sich u. E. auch so interpretieren, dass vermittelt über das konzeptionelle Vehikel der projektbasierten Netz-Cité – zumindest partiell – ältere Aggregatvorstellungen von ‚dem’ Kapitalismus nachzuklingen scheinen, welche der programmatischen Annahme einer durch die Pluralität der Begründungsordnungen garantierten offenen Ontologie des Gesellschaftlichen entgegenstehen.
Ferner bleibt im Bestreben, die kritische Dimension der Soziologie nach dem Abschied von der kritischen Soziologie zu retten, oftmals eine gewisse Ambivalenz; zuweilen ist es mitunter recht schwierig, in Erfahrung zu bringen, ob die Begründungsfiguren, auf die sich die Autoren stützen, auf normativer oder deskriptiver Ebene angesiedelt sind. Diese Ambiguität lässt sich vor allem in Bezug auf den Begriff des ‚Geistes’ ausmachen. Auf der einen Seite gilt dieser Begriff insofern als ein normativer, als
er den zunächst als ‚amoralischen Prozess’ definierten Kapitalismus mit Legitimität
ausstaffiert; andererseits spricht die Kategorie des kapitalistischen Geistes Beteiligungsmotive an, die ein Engagement im Wirtschaftsprozess nicht so sehr rechtfertigen, als vielmehr motivational allererst erzeugen. Stimulation steht somit an theoriestrategisch zentraler Stelle. Die dadurch hergestellte systematische Verknüpfung des
Problems der Legitimation wirtschaftlichen Handelns mit der anders gelagerten, da
wesentlich die empirischen Triebfedern der ökonomischen Akteure angehenden Problematik der Stimulation scheint u. E. nicht unproblematisch. Derartige Einwände lassen sich allerdings aus einer eher philosophischen als soziologischen Perspektive ablei-
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ten; dem grundbegrifflichen Rahmen der stets auch empirisch orientierten GSPMGruppe bleiben sie daher relativ äußerlich.
Anders verhält es sich mit dem auf Basis der Sozialwissenschaften vorgetragenen Argument, der Analyserahmen von ‚Der neue Geist des Kapitalismus’ sei tendenziell zu stark
auf die Erforschung von Diskursformationen fixiert. Wie etwa Stephan Moebius und
Lothar Peter kritisieren, tendiert die präsentierte Theorie der Rechtfertigung dazu,
„Gesellschaft auf Interaktion und Diskurs zu verkürzen“ (Moebius/Peter 2004: 60).
Asymmetrische Machtbeziehungen der Interaktion sowie ungleich verteilte materielle
und kulturelle Ressourcen würden ähnlich wie in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns ausgeblendet, indem implizit von gleichberechtigten Akteuren in den
Rechtfertigungssituationen ausgegangen werde, so der Vorwurf. Ein Argument, das
angesichts der für die Kapitalismusanalyse herangezogenen Management-Textkörper
in der Tat nahe liegt und dadurch an Plausibilität gewinnt, dass die neue Wirtschaftsweise des projektorientierten Kapitalismus eine neue Praxis des Diskurses konstituiert.
Der Blick auf das Grundanliegen der pragmatischen Soziologie der GSPM-Gruppe,
heterogene Bezugsgrößen wie rein materielle Bedingungen, unterschiedliche individuelle Ausstattungen und Befähigungen zueinander in Bezug zu setzen, lässt jedoch eine
grundsätzliche Differenz zu rein diskurstheoretischen Ansätzen hervortreten. Die
Vorstellung einer normfreien Sozialität im Bereich der materiellen Reproduktion des
gesellschaftlichen Lebens, wie sie in Habermas’ Gegenüberstellung von System und
Lebenswelt zum Ausdruck gebracht wird, wird von der pragmatischen Soziologie
ebenso zurückgewiesen wie der ethische Impuls, im Kantischen Sinne der regulativen
Idee, in Diskurssituationen grundsätzlich gleichberechtigte und gleichbefähigte Beteiligte anzunehmen. Was den letzten Punkt betrifft, so verbindet sich gerade mit dem
GSPM-Programm einer ‚Soziologie der Kritik’ stets eine manifeste Skepsis davor,
Autonomie als konstitutiv (im Sinne eines Apriori) für Intersubjektivität zu denken.
Tatsächlich wird der Begriff der Autonomie von dem der Handlungskapazitäten (capacités) gewissermaßen entkoppelt. Letztere bilden ein eigenständiges Untersuchungsfeld
für die Erforschung der empirischen Wirkungsweisen von Kritik – die pragmatische
Soziologie setzt also, lässt sich schließlich behaupten, verglichen mit kommunikationstheoretischen Ansätzen auf einer deutlich basaleren Ebene an.
Insgesamt markiert das GSPM-Programm einer Soziologie der Kritik eine theoriegeschichtliche Wendung, deren Tragweite für ein gesellschaftskritisches Denken weit
über die französische Debatte hinausreicht. Die zum Teil heftigen Reaktionen und
kritischen Einwände auf ‚Der Neue Geist des Kapitalismus’ legen Zeugnis ab für die Radikalität dieses Neuanfangs in der Moralsoziologie (vgl. Gadrey et al. 2001). Schließlich
eröffnet die reformulierte Rolle des Sozialtheoretikers die Chance zu einem neuen
Dialog – und zwar nicht nur zwischen unterschiedlichen akademischen Disziplinen,
sondern zugleich auch zwischen Theorie und Praxis.
70
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71
Der neue Geist des Kapitalismus oder Max Weber à la française
FRANK ADLOFF*
Korreferat zum Beitrag von Thorsten Fath und Céline Ehrwein
„Ich will den Kapitalismus lieben, denn er liebt mich ja auch.
Er hat mir soviel gegeben, ich habe alles was ich brauch’.
Obwohl ich ihn so hasse, und ich habe ihn scharf kritisiert,
aber er hat ein großes Herz, er hat mich voll integriert. (…)
Ich will den Kapitalismus lieben, ich will und kann es nicht.
Und das wird solange weitergehen bis einer von uns zusammenbricht.“
Funny van Dannen (2002)
Thorsten Fath und Céline Ehrwein rekonstruieren in ihrem Beitrag „Legitimationsprozesse wirtschaftlichen Handelns“ auf umfassende und faire Weise die neuere französische „pragmatische“ Soziologie Luc Boltanskis, Laurent Thévenots und Ève Chiapellos, wie sie sich wirtschaftssoziologisch besonders deutlich in dem Buch „Der
neue Geist des Kapitalismus“ manifestiert. Die Autoren legen dar, was es mit einer
Soziologie der Kritik auf sich hat, welche Rolle der „kapitalistische Geist“ in den Augen dieser französischen Soziologen für den Kapitalismus spielt, wie es der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten schaffte, die „Künstlerkritik“ zu endogenisieren, wie
Gesellschaften auf Rechtfertigungsregimen aufruhen, was die Autoren unter Bewährungstests verstehen und wie Chiapello mit dem Konzept der Ideologie umgeht.
Schließlich wird ferner darauf hingewiesen, dass auch neuere empirische Forschungsarbeiten Chiapellos auf dem Gebiet der Accountancy die Fruchtbarkeit des CitéModells belegen.
Ich muss gestehen, dass es mir nicht ganz leicht fällt, den Beitrag von Fath und Ehrwein zu kommentieren, weil sie für meinen Geschmack zu wenig eine eigene Position
beziehen. An der Rekonstruktion der neueren Soziologie rund um Luc Boltanski ist
nichts auszusetzen, die Autoren enthalten sich zunächst jedoch weitgehend einer eigenen Einschätzung, sei diese affirmativer oder kritischer Natur. Ich möchte mich deswegen im Folgenden auf einige Aspekte ihrer Schlussbemerkung beziehen, in der das
Autorenduo einige kritische Anfragen formuliert. Faths und Ehrweins Einschätzung,
dass Boltanski und Chiapello die Netz-Cité überbetonen und die anderen Begründungsordnungen des Kapitalismus bei der zeitdiagnostischen Analyse gleichsam außen
vor lassen, ist zuzustimmen. Ich möchte mich statt dessen auf drei weitere Aspekte
der Schlussbemerkung konzentrieren: Nämlich erstens auf die Einsicht in die Situiertheit des Gerechten, die sich deshalb nicht auf unterschiedliche Sphären des Sozialen
________________________
*
72
Dr. Frank Adloff, European University Institute Florenz, Max Weber Postdoctoral Programme,
Villa La Fonte, I-50016 San Domenico di Fiesole, +39-(0)55-4685-603, [email protected], Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Theorie der Gabe und Reziprozität, Philanthropie
und Zivilgesellschaft.
beziehen könne, zweitens auf die Verknüpfung der Legitimation wirtschaftlichen Handelns mit der Motivation zum wirtschaftlichen Handeln, die Fath und Ehrwein augenscheinlich – allerdings: auf einer eher philosophischen Ebene – als problematisch
wahrnehmen, und drittens auf ihre These, dass das Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ einen radikalen Neuanfang in der Moralsoziologie darstellt.
Ich beginne mit dem letzten Punkt. Der Begriff „Moralsoziologie“ deutet schon an,
dass für diesen Themenbereich die Schriften Emile Durkheims von zentraler Bedeutung sind. Durkheim hat schließlich auch seinen Schatten über einen Großteil der
französischen Sozialtheorie des 20. Jahrhunderts geworfen, auch wenn er nicht immer
als Ahnherr explizit genannt wurde. Ab Mitte der 1970er gab es dann in den französischen Geistes- und Sozialwissenschaften eine zuerst latente und dann manifest werdende Umorientierung weg vom strukturtheoretischen Systemgedanken hin zu einem
neuen Interesse am Subjekt. Das vom Strukturalismus und Poststrukturalismus verdrängte Subjekt kehrte zurück; damit einher ging eine Abkehr vom latenten Durkheimismus der französischen Soziologie. Dies erklärt auch das neu erwachte Interesse an
den in Frankreich zuvor lang verschmähten Schriften Paul Ricoeurs, der einen dritten
Weg zwischen dem „Idealismus des Cartesischen Cogito und den Dekonstruktionspraktiken“ (Dosse 1999: 348) geschaffen hat und auf den sich auch Chiapello positiv bezieht. Am sichtbarsten wurde diese Theoriebewegung seit Mitte der 1970er Jahre
bspw. im methodologischen Individualismus Raymond Boudons. Damit einher ging
aber auch die „Entdeckung“ und Aneignung der Schriften Webers, Simmels und amerikanischer Theorien wie die Goffmans oder Garfinkels Ethnomethodologie. Gesellschaft wurde nicht länger als System und Struktur konzeptionalisiert und die Soziologie begann, die Erfahrung sozialer Akteure ernster zu nehmen:
„Die Revision des Gesellschaftsbegriffs zugunsten eines soziologischen Deutungsmusters, das die Heterogenität der symbolischen Selbstbeschreibung von
Akteuren zum archimedischen Punkt soziologischer Analyse erklärt, geht vor allem mit einem prinzipiellen Zweifel an der weiteren theoretischen Existenzberechtigung des klassischen kollektivistischen Paradigmas in der Soziologie einher“ (Moebius/Peter 2004: 31).
Von diesem Zweifel sind auch Boltanski, Thévenot und Chiapello angetrieben, bei
ihnen verbindet er sich zugleich – wie Fath und Ehrwein zurecht herausstellen – mit
einer Kritik an ihrem ehemaligen Ziehvater Pierre Bourdieu, mit dem Boltanski und
Thévenot zusammen arbeiteten, bevor sie sich in den 1980er Jahren von ihm distanzierten. Diese neuere pragmatische Soziologie Frankreichs setzt sich ab von der „objektivistischen“ kritischen Soziologie Bourdieus, der es darauf ankommt, die „doppelte
Wahrheit“ – die subjektive wie die objektive – der sozialen Welt herauszuarbeiten
(Bourdieu 1998). Die pragmatische Soziologie sieht in Strukturen dagegen weniger
objektive Einschränkungen des Möglichkeitsraums, sondern betont eher die reflexiven
Kapazitäten von Akteuren, die es ihnen erlauben, Strukturen als Mittel oder Ziele des
Handelns zu nutzen bzw. anzuvisieren (vgl. Bénatouïl 1999). Diese Abkehr von Bourdieu mag für den französischen Kontext wichtig sein, doch ich möchte bezweifeln,
dass der Ansatz aus einer internationalen Perspektive so viel Innovatives enthält –
man erinnere sich nur daran, welche Traditionen der verstehenden Soziologie, der
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73
Wissenssoziologie, des Symbolischen Interaktionismus, der Strukturationstheorie usw.
usf. es schon seit Jahrzehnten gibt.
Allein die These, dass wirtschaftliches Handeln in normative Kontexte eingebettet ist,
ist natürlich nicht neu und zählt zum Grundbestand selbst und gerade der Durkheimschen Soziologie – auch wenn Habermas diese Einsicht vergaß und Fath und Ehrwein
in zu Recht dafür kritisieren. Die Wirtschaftssoziologie hingegen beruft sich seit einigen Jahren eher auf Karl Polanyis berühmte Untersuchung „The Great Transformation“ (1944/1978) über die Einbettung wirtschaftlichen Handelns in gesellschaftliche
Normen, in die Marcel Mauss’ (bekanntlich der Neffe Durkheims) Verständnis vormoderner Sozialformen eingeflossen ist. An dieser Stelle dürfen auch die Untersuchungen E. P. Thompsons zur moral economy nicht unerwähnt bleiben oder Barrington
Moores „Ungerechtigkeit“ (1982), das herausarbeitet, wie normative Arrangements
einerseits bestimmte Statusverteilungen legitimieren können, wie aber auch andererseits ein Verstoß gegen etablierte Reziprozitätsnormen Protest evozieren kann. Wie
diese berühmten Beispiele zeigen: Die konsequente empirische Rekonstruktion normativer Standpunkte aus der Teilnehmerperspektive ist kaum als neu zu bezeichnen.
Wie steht es mit der Rezeption Webers? Gehen Boltanski und Chiapello über ihn
hinaus? Damit ist zudem eine weitere wichtige Frage verbunden: Was ist eigentlich das
zu Erklärende in dem Werk „Der neue Geist des Kapitalismus“? Der neue Kapitalismus
oder der neue Geist des Kapitalismus? Es wäre wohl falsch zu behaupten, dass der zeitgenössische Kapitalismus durch eine neue Begründungsordnung, die wiederum auf die
Inkorporierung der 68er Kritik zurückzuführen ist, erklärt werden kann. Es kann eigentlich nur darum gehen zu zeigen, wie die neue Begründungsordnung neben anderen Aspekten ebenfalls Einfluss auf die Fortentwicklung des Kapitalismus haben
konnte (vgl. Beckert 2004: 18). Das tayloristisch-fordistische Modell der Massenproduktion ist spätestens seit den 1980er Jahren unternehmerischen Umstrukturierungen
unterworfen, die man als eine Rückkehr des Marktes in die Unternehmen deuten
kann. Damit einher geht auch eine verstärkte Nutzung der Fähigkeiten, Qualifikationen sowie des Engagements und der normativen Erwartungen der Mitarbeiter an die
Arbeit – mit der Konsequenz der Aufwertung von Elementen der Lebensführung in
der gegenwärtigen Ökonomie, gemeinhin auch als die Subjektivierung von Arbeit
bezeichnet.
Schon Weber wurde und wird zum Teil fälschlicherweise immer noch unterstellt, er
habe den Kapitalismus aus der protestantischen Ethik erklärt – für ihn bestand vielmehr eine Art Wahlverwandtschaft zwischen beiden Elementen, und die protestantische Ethik zeichnet sich vor allem darin aus, kapitalistisches Handeln legitimieren zu
können. Nach der Etablierung einer legitimen kapitalistischen Ordnung war der Kapitalismus Weber zufolge allerdings nicht mehr länger auf dieses „geistige“ Fundament
angewiesen. Genau dies bestreiten Boltanski und Chiapello allerdings – und Fath und
Ehrwein folgen ihnen offenkundig hierin im Prinzip –, der Kapitalismus bedarf des
Geistes zu seiner Legitimation und zur Motivation des Einzelnen, an ihm überhaupt
teilzunehmen. Webers Ansatz legitime Ordnungen zu erklären, ist jedoch viel komplexer und lässt verschiedene Möglichkeiten zu – ich komme damit zum zweiten Punkt,
nämlich der Unterscheidung von Legitimation des und Motivation zum Kapitalismus.
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Weber verknüpft das Handeln auf spezifische Weise mit sozialen Strukturen: Er unterscheidet zwischen regelmäßigen Handlungen, sozialen Ordnungen und legitimen
sozialen Ordnungen. Regelmäßigkeit des Handelns wird von Weber auf die Orientierung des Handelnden an Ordnungen zurückgeführt. Eine Ordnung kann auf drei
Weisen begründet sein: durch Brauch, Sitte oder zweckrationale Interessenlage (vgl.
Weber 1972: 15). Orientiert man sich nicht an diesen Ordnungen kann dies negative
Konsequenzen oder Ärger mit sich bringen, doch ist die Befolgung noch nichts Geltendes. Gerade die Orientierung an Interessenlagen kann schon Regelmäßigkeiten des
Handelns hervorbringen, doch orientieren sich Akteure immer auch an legitimen Ordnungen, die verbindliche oder vorbildliche Elemente enthalten (vgl. Kalberg 2001: 56f.).
Die Motivationen zur Aufrechterhaltung von legitimen Ordnungen können entweder
innerlicher (affektuell, wertrational oder religiös) oder äußerlicher Natur sein. Konventionen sichern soziale Ordnung durch die „Chance bei Abweichung innerhalb eines
angebbaren Menschenkreises auf eine relativ allgemeine und praktisch fühlbare Missbilligung zu stoßen“ (Weber 1972: 17); eine auf Recht gestützte Ordnung ist garantiert
„durch die Chance (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung
oder Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“ (ebd.). Wichtig ist zu sehen, dass nach Weber
eine soziale Ordnung bzw. die Geltung einer Ordnung von sehr unterschiedlichen
Motiven gestützt werden kann und dies empirisch auch häufig der Fall ist (vgl. Kalberg 2001: 61). Die Anerkennung einer Ordnung als moralisch legitim, von Boltanski
und Chiapello als soziales Grunderfordernis dargestellt, ist nur ein Ausnahmefall. Der
Kapitalismus verfügt über mehr als nur normativ-ideologische Ressourcen zu seiner
Ordnungsbestandserhaltung, nämlich auch utilitarische und koerzive – das Argument,
dass der Legitimitätsanspruch des Kapitalismus immer größer ist als seine Einlösung
(vgl. Chiapello 2003: 161) sollte m. E. deshalb nicht überzogen werden.
Hinzu kommt, dass soziale Ordnungen – etwa die eines Unternehmens oder eines
ganzen Wirtschaftssystems – auch auf kognitiven und nicht nur normativen Institutionalisierungen beruhen: Die Legitimation institutioneller Ordnungen ergibt sich zum
Beispiel für Berger/Luckmann (1969) auch daraus, dass ihnen eine kognitive und normative Gültigkeit zugesprochen wird. Legitimation ist nicht nur eine Frage der Werte,
sondern auch des Wissens: Zuerst muss man die Struktur eines Netzwerkes kennen,
bevor man Projekte als Unternehmer seiner selbst verfolgen kann. Das Wissen geht
deshalb bei der Legitimierung von Institutionen den Werten voraus. Begründungsdiskurse thematisieren in der Regel nur, was sich unmittelbar thematisieren lässt. Für
Mary Douglas’ (1991) gründen Institutionen – Denkstile wie sie sie auch nennt – in
Analogien zur Natur. Je stärker ein Denkstil institutionalisiert ist, umso unsichtbarer
wird er durch die Selbstverständlichkeit und Alternativlosigkeit, die ihn umgibt. Ihren
Legitimitätsanspruch beziehen Denkstile häufig durch ihre Übereinstimmung „mit der
Natur der Welt“; soziale Klassifikationen werden mithin durch Analogien naturalisiert,
sodass sie möglichst nicht mehr als sozial erzeugte Konstrukte erkennbar sind: Institutionen „erledigen“ nach Douglas also nicht die Routineaufgaben des Denkens, sondern gerade die großen und wichtigen Entscheidungen sind institutionell präformiert
– also auch der Rahmen innerhalb dessen sich Begründungsdiskurse abspielen können.
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75
Fath und Ehrwein heben positiv hervor – und damit komme ich zu meinem dritten
und letzten Punkt –, dass das Cité-Modell nicht von unterschiedlichen Sphären des
Gerechten ausgeht, sondern Begründungsauseinandersetzungen gleichsam überall
sucht und findet. Doch die in einem Streit involvierten Personen beziehen sich in
ihren Auseinandersetzungen auch auf die Frage, welche Kriterien in welcher Handlungssphäre zur Geltung kommen sollen, also auch auf die Frage, in welcher Sphäre
man sich überhaupt befindet. Aus diesem Grund kann m. E. die institutionelle und
differenzierungstheoretische Analyse nicht fallen gelassen werden: Im Begriff der
Institution sind Kultur (Werte, Ideen), Gesellschaft (Normen) und das individuelle
Handeln ineinander verschränkt.
„Institutionen bestimmen die Strukturierung der Verhaltensweisen, ihre Normierung und Sanktionierung und damit das soziale Leben von Individuen und
Kollektiven. Handlungskontexte werden konkretisiert, konformes und abweichendes Verhalten festgelegt. Die Institutionenordnung (…) verteilt Entscheidungskompetenzen und Verfügungsgewalt über Ressourcen und bestimmt damit auch die Geltung spezifischer Rationalitätskriterien“ (Lepsius 1994: 18).
Ideen konstituieren Wertsphären, sie bestimmen auf diese Weise die legitimen Handlungsorientierungen innerhalb spezifischer Sphären und schirmen sie von den Handlungserwartungen anderer Bereiche ab, so Lepsius unter Bezug auf Weber. Der Geltungsbereich und die Wirkungsreichweite institutionalisierter Handlungslogiken ist
nun gerade Gegenstand ständiger sozialer (Macht-)Auseinandersetzungen.
Die in der Managementliteratur vorfindbare Netzwerk- und Selbstverwirklichungsideologie sagt noch nichts darüber aus, inwieweit die ganz normalen Teilnehmer am
Spiel des Kapitalismus ihr auch folgen, inwieweit sie also tatsächlich eine Integrationsfunktion hat. M. E. sollte man Raum lassen für die empirisch zu untersuchende These,
dass auch der neue Netzwerkkapitalismus von vielen Menschen als Zwangsveranstaltung wahrgenommen wird – ganz so wie von dem Liedermacher und Schriftsteller
Funny van Dannen eingangs beschrieben.
Der neue Individualismus speist sich aus dem Zusammenspiel von sozialstrukturellen
Individualisierungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Authentizitätsideal der Romantik. Doch dieser Individualismus erscheint heute als eigentümlich
missbrauchte Produktivkraft der kapitalistischen Modernisierung. Die Individuen
werden nun allenthalben mit der Erwartung konfrontiert, sich als allzeit flexible Subjekte präsentieren zu müssen. Damit verkehrt sich der Individualismus der Selbstverwirklichung durch Instrumentalisierung und Standardisierung in das Gegenteil eines
erkalteten Anspruchssystems. Selbstverwirklichung wird so zur Ideologie, und Ideale
verkehren sich Honneth (2002) zufolge in Zwänge – oder frei nach Max Weber, den
es m. E. vor einer zu stark kulturalistischen Vereinnahmung à la française zu bewahren
gilt: Der Romantiker wollte sich selbst verwirklichen, wir müssen es tun.
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