"Was ist der `neue Geist` des Kapitalismus, Frau Chiapello?"

Werbung
"Was ist der 'neue Geist' des Kapitalismus, Frau Chiapello?"
1 of 3
http://www.misik.at/die-grossen-interviews/was-ist-der-neue-geist-des...
"Was ist der 'neue Geist' des Kapitalismus, Frau
Chiapello?"
Ève Chiapello, 41, ist Professorin für Betriebswirtschaft und Soziologie, Forschungsleiterin an der Pariser "Ecole
des Hautes Etudes Commerciales" und Lehrbeauftragte an der "Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales". Sie
veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter etwa Artistes versus Managers und vor allem 1999 (dt. 2003)
gemeinsam
mit
Luc
Boltanski
Der
neue
Geist
des
Kapitalismus,
eine
Studie,
die
allgemein
als
sozialwissenschaftliches Meisterwerk gefeiert wurde. Darin analysieren die Autoren die neue Freiheit der
Wissensarbeiter und beschreiben, wie die modernen Managementmethoden die frühere Entfremdungskritik quasi
kaperten. Am kommenden Montag, 9. Oktober, ist sie Gast der Reihe „Genial dagegen“, die vom Kreisky-Forum und
Falter in Kooperation veranstaltet wird.
Ist der Künstler das neue Leitmodell des Wirtschaftslebens?
Chiapello: Das Künstlerleben ist seit jeher ein attraktives Modell der Lebensführung. Künstler führen, so sagt man
zumindest, ein freies Leben und arbeiten selbstbestimmt. Deshalb galt ihre Lebensgestaltung lange Zeit als eine
Alternative zu einem entfremdeten, fremdbestimmten Leben. Man kann die Kritik am Kapitalismus, die sich gegen
das Kommando in der Fabrik und gegen die Verwaltung des Lebens richtet, deshalb auch die „Künstlerkritik“
nennen. Hinzu kommt: Es ist leichter, etwas zu kritisieren, wenn man ein Modell angeben kann, wie es besser sein
könnte. Die Künstlerexistenz war ein solches Modell.
In den vergangenen Jahrzehnten, schreiben Sie, hat die Managementkultur diese Kritik selbst übernommen.
Chiapello: Ja, wobei sie zunächst mit dieser Kritik große Schwierigkeiten hatte. Das wird sehr deutlich, wenn man
die Managementliteratur der sechziger Jahre nachliest. Es gab ja zwei Kritiken am Kapitalismus: Erstens, dass er
sozial ungerecht sei und zweitens, und das ist eben die Künstlerkritik, dass er die Selbsttätigkeit der autonomen
Subjekte unterdrücke. Mit der ersten Form von Kritik konnte das Management leichter umgehen – man gewährte
Lohnerhöhungen, es gab soziale Kompromisse. Mit der zweiten Art der Kritik war das nicht so leicht. Immer wieder
wird in der Literatur betont, Mitsprache und Selbstbestimmung könnten im Unternehmen nicht gewährt werden,
Freiheit und Kreativität hätten im Unternehmen keinen Platz.
Das hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren verändert...
Chiapello: Die „Künstlerkritik“ fiel auf fruchtbaren Boden, weil die Motivation der Beschäftigten sank. Und so
wurde im Managementdiskurs zunehmend die Frage bedeutend, wie man die Motivation der Beschäftigten durch
mehr Freiheit in der Arbeitsorganisation erhöhen kann.
Man hat also die „Entfremdung“ bekämpft, und musste dann auf die soziale Kritik nicht mehr so stark eingehen?
28/02/2014 18:30
"Was ist der 'neue Geist' des Kapitalismus, Frau Chiapello?"
2 of 3
http://www.misik.at/die-grossen-interviews/was-ist-der-neue-geist-des...
Chiapello: Es gab eine Art Abtausch: Sicherheit gegen Freiheit. Wir lassen mehr Freiheit und Selbstbestimmung zu,
aber ihr werdet weniger Sicherheit haben.
Ist das wirklich ein Resultat der Kritik, oder einfach eine Folge des technologischen Wandels – dass die neuen
Technologien den eigenverantwortlichen Mitarbeiter notwendig und das Outsourcen vieler Tätigkeiten möglich
machten?
Chiapello: Ja, das spielt eine Rolle. Aber vor allem in einer Hinsicht: die neuen Technologien machen es möglich,
die Beschäftigten selbst dann effektiv zu kontrollieren, wenn sie mehr Freiheit in der Durchführung ihrer Arbeit
haben. Technologie war somit auch eine Voraussetzung für die Autonomie. Aber nichtsdestoweniger war natürlich
wichtig, dass die Beschäftigten diesen Wandel auch wirklich wollten. Nur, weil er auf ein Bedürfnis reagierte,
konnte dieser Wandel so erfolgreich sein. Es ist also eine Kombination von technologischem Wandel und den
Sehnsüchten der Leute.
Sie haben Ihr Buch den „neuen Geist“ des Kapitalismus genannt. Wie wichtig ist so ein „Geist“ für das Konkrete,
das Reale des Wirtschaftslebens? Strenge, altmodische Materialisten wären da doch skeptisch...
Chiapello: Wenn Du willst, dass sich Leute engagieren, brauchst Du einen „Geist“ - wenn Du willst, dass sie sich für
etwas einsetzen. Schließlich will man ja nicht nur, dass die Mitarbeiter in einem Unternehmen Befehlen gehorchen,
sie sollen ja „ihr Bestes“ geben. Insofern hatte jedes Wirtschaftssystem einen spezifischen Geist...
Man soll den „Geist“ also nicht unterschätzen?
Chiapello: Eindeutig: Ja! Man muss den Menschen plausibel machen, dass das Wirtschaftssystem nicht nur auf
Ungleichheit und Unsicherheit beruht, sondern auch „positive Seiten“ hat. Die Unternehmen wollen ja keine
resignierten Mitarbeiter, also mussten sie ihnen aufregende, spannende Arbeiten bieten, kurzum: Freiheit.
Heißt das, das Arbeiten im Kapitalismus ist heute weniger entfremdet als vor zwanzig, dreißig Jahren?
Chiapello: Das kommt darauf an: Wenn wir uns nur die inneren Abläufe innerhalb der Unternehmen ansehen, dann
ist das wahrscheinlich so, dass es weniger von dem gibt, was man üblicherweise Entfremdung nannte. Job
enrichment und empowerment haben dazu beigetragen. Aber Menschen sind ja nicht nur Wirtschaftssubjekte. Man
kann mit ebenso viel Recht sagen, vor dreißig Jahren hat man mit innerer Distanz fremdbestimmte Arbeit in der
Fabrik erledigt und hatte dann sein Leben jenseits des Berufs, das nicht unbedingt entfremdet war...
...während man heute im Grunde seine gesamte Kreativität und auch die Affekte in der Firma einbringen soll, am
besten auch noch 24 Stunden pro Tag. Also doch heute mehr Entfremdung?
28/02/2014 18:30
"Was ist der 'neue Geist' des Kapitalismus, Frau Chiapello?"
3 of 3
http://www.misik.at/die-grossen-interviews/was-ist-der-neue-geist-des...
Chiapello: Vielleicht sind die Begriffe unscharf geworden. Wenn man das karikaturhaft sagen will: In den sechziger
Jahren hat man die Leute wie Maschinen behandelt. Im Vergleich dazu ist es heute humaner, man behandelt sie in
der Regel in den Unternehmen nicht mehr wie Maschinen. Andererseits gibt es heute keine Sehnsucht, keine
Kompetenz, keine Insel des Sozialen mehr, die nicht im kapitalistischen Prozess recycled würde. Man muss
zuallererst einmal diesen Wandel verstehen – und dann muss man die Frage nach den heutigen Problemen stellen.
Die wären? Eine neue Art von Entfremdung und dass weniger auf Gleichheit Bedacht genommen wird, weil mehr
auf Freiheit geachtet wird?
Chiapello: Mehr noch: Es ist ja nicht nur so, dass wegen dem Freiheitsgewinn weniger auf soziale Bedrohungen
geachtet wird – es ist ja so, dass die Formen, in denen sich dieser Freiheitsgewinn realisiert, selbst neue
Unsicherheit nach sich ziehen. Das ist schließlich das Geheimnis dessen, was wir „prekäre Verhältnisse“ nennen:
die vielen informellen, freien Organisationsformen von Arbeit bringen neue Formen der Unsicherheit. Deswegen
wäre es aber dennoch falsch, den realen Freiheitsgewinn zu bestreiten.
Einen Weg zurück gibt es nicht?
Chiapello: Soll es auch nicht geben. Die Freiheitsgewinne sind ja real, nicht zuletzt für Frauen. Die sozialen
Errungenschaften der sechziger Jahre haben Freiheit in der Regel an das Modell männlicher Vollbeschäftigung
geknüpft – für Frauen, die Beruf und Familie unter einen Hut bringen wollen, ist das heute ungenügend. Was wir
brauchen, sind Formen, Sicherheit und Freiheit zusammenzubringen – das, worüber man heutzutage unter der
Formel „Flexecurity“ nachdenkt.
28/02/2014 18:30
Herunterladen