Philipp Hessinger „Es gibt kein richtiges Netzwerk im Falschen“ Ein Versuch über Patronage und Post-Demokratie und die jüngere Entwicklung des postindustriellen Kapitalismus Einleitende Bemerkungen Der folgende Essay beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Gesellschaft aussieht, die sich selber mit der Netzwerkmetapher beschreibt. In Anlehnung an Marx und Engels berühmter Formulierung aus dem „Kommunistischen Manifest“, dass „alles Ständische und Stehende verdampft“, welches mit der Dynamik des modernen Kapitalismus in Berührung komme, ist in Theorien des Netzwerkkapitalismus von einem „Verschwinden des Sozialen“ die Rede. Alles wird mit allem vernetzt, die informationstechnologische Revolution hat eine enorme Beschleunigung der Kapitalzirkulation auf den Weltmärkten begünstigt, im gleichen Zug erodieren jene Strukturen, welche dem sozialen Leben bisher Halt und Festigkeit gegeben haben – Nationalstaat, Parteien, Familie, Gewerkschaften und Unternehmen. Freilich handelt es sich im Falle dieses Gebrauchs des Begriffs „Netzwerk“ um eine unklare und metaphorische Verwendung dieses Terminus, gleichwohl wird dabei ein gewisser Punkt getroffen. „Netze“ sind in ihrer basalen Form nicht Zweier- sondern Dreierbeziehungen. Der hinzukommende Dritte kann nun aus der Sicht der ersten Zwei aus der Beziehung ein - oder ausgeschlossen sein. Im ersten Fall haben wir es mit sozialen Netzen in Form von „Gemeinschaften“ zu tun, im zweiten Fall jedoch mit einer Beziehungsfigur, die ein Entfremdungs- und Alteritätsmoment ins Spiel bringt. Im ersten Fall mit einer Form sozialer Integration, im zweiten Fall mit einer der sozialen Desintegration. Genau auf diese letztere Figur rekurrieren die genannten zeitdiagnostischen Theorien. Behauptet wird in diesem Zusammenhang auch, dass damit ein Zugewinn an Handlungsfreiheit für den Einzelnen einhergehe. Im folgenden Essay wird diese Behauptung gleichsam gegen den Strich gebürstet. Formen der Gemeinschaftsbildung – und insbesondere das, was Parsons die „gesellschaftliche Gemeinschaft“ nennt – schaffen nämlich in vieler Hinsicht erst die Voraussetzungen für so etwas wie „agency“, d.h. dafür, dass die Individuen handlungsfähig sind. Hand- 1 lung und „agency“ – so eine Einsicht der klassischen Soziologie – ist keineswegs ein primäres Phänomen, so wie es sich für die „Spontansoziologie“ des Alltagsbewusstseins darstellt, sondern vielmehr ein abgeleitetes Phänomen. Die These vom „Verschwinden des Sozialen“, die in diesem Sinne auf eine Schwächung der integrativen Kräfte in unseren Gesellschaften hinzielt, überspielt diesen Sachverhalt eher als dass sie ihn aufhellt. Keine komplexe Gesellschaft kann ohne so etwas wie eine „gesellschaftliche Gemeinschaft“ – und ein in diesem Rahmen definiertes System von Anrechten und sozialen Bürgerrechten – auskommen. Schwindet deren integrative Kraft, so stellt sich das Problem, was dann an die Stelle des Vorhandenen tritt. In der gesellschaftlichen Figur der „Nutzfreundschaft“ werden nun tatsächlich integrative Funktionen von „Netzen“ gleichsam mitgedacht. Die Figur des „gemeinschaftlich eingeschlossenen“ Dritten ist in diesem Kontext freilich nur ein Annex einer konkurrenz- und nutzenbezogenen Beziehungsfigur, in der der „ausgeschlossene Dritte“ die Richtung vorgibt. Die außerordentliche Verbreitung dieser Denkfigur – und der damit verbundenen Denkungsart – lässt die Vermutung aufkommen, dass die genannten zeitdiagnostischen Ansätze hier so etwas wie ihren empirischen Kern haben. Wenn man nun ein rein metaphorisches Verständnis von Netzwerk hinter sich lässt und sich auf eine genauere Analyse der empirischen Veränderungen der gesellschaftlichen Handlungsbedingungen einlässt, wird aber gleichzeitig der trügerische Charakter von „gesellschaftlicher Integration“ unter den gegebenen Bedingungen deutlich. Die zentrale These dieses Essays ist, dass „Nutzfreundschaft“ tendenziell in „Patronage“ umschlägt. Die scheinbare Steigerung der Handlungsoptionen von Einzelnen führt dann gesamtgesellschaftlich betrachtet zu einer Verengung der Handlungshorizonte der desintegrierten Vielen. Im ersten Kapitel stelle ich kurz einige formale Aspekte und Figuren einer soziologischen Netzwerkanalyse vor. Im zweiten Kapitel werden dann drei unterschiedliche Theorien des Netzwerkkapitalismus vorgestellt. Im Anschluss daran werden im dritten Kapitel jene Mechanismen beschrieben, welche patronageartigen Herrschaftsverhältnissen zugrunde liegen. Diese Analyse benutze ich im Folgenden dann gleichsam als „Sonde“, um in den darauffolgenden drei Kapiteln die Veränderung der gesellschaftlichen Handlungsbedingungen im heutigen postindustriellen Kapitalismus in sozialer, wirtschaftlich-organisatorischer und politischer Hinsicht zu untersuchen. Die vorliegende Studie ist ein Essay – es geht hier nicht um die Repräsentativität der Befunde sondern 2 um die Plausibilität der Argumentation. Sollte der Autor durch die weitere gesellschaftliche Entwicklung ins Unrecht gesetzt werden, so würde es ihn freuen. 1. Netzwerke und gesellschaftliche Asymmetrien Die Beschäftigung mit und die Untersuchung von sozialen Netzwerken ist ein altes Thema der Sozialanthropologie. Jeder Mensch, so die Grundeinsicht, verfügt über ein bestimmtes soziales Netzwerk. Die Rollentheorie geht dabei davon aus, dass jedes soziale Individuum in seiner Person eine Vielzahl von Rollen bündelt – eine familiale Rolle als Bruder oder Mutter, berufliche Rollen, die Rolle des Gemeindemitgliedes etc.1 Die Rollentheorie lässt jedoch offen, inwieweit sich die den spezifischen Rollen entsprechenden Kontakte, Freundschaften und Bekanntschaften durchkreuzen und überschneiden, oder ob es sich um klar von voneinander abgegrenzte Bereiche handelt. Jeremy Boissevain zufolge sind soziale Netze dabei nichts anderes als die Struktur dieser Kontakte, wobei diese ein bestimmtes Maß an Überlappung der verschiedenen Rollenbereiche beschreiben.2 Kurz zusammengefasst: Netzwerke liegen quer zu den gesellschaftlichen Rollenstrukturen und den ihnen zugrunde liegenden Formen organisatorischer und funktionaler Differenzierung. Gerade in Gesellschaften, die erst auf dem Weg waren, sich zu modernen, funktional differenzierten Gesellschaften zu entwickeln und in denen sich die traditionalen und lokal gebundenen Gemeinschaften in offener Auflösung befanden, war die Untersuchung sozialer Netzwerke deswegen von großem Interesse.3 In der aktuellen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung ist dieser „subversive“ Charakter von Netzwerken erneut in den Blick geraten. In der heutigen Diskussion standen freilich zunächst nicht so sehr personale Netze und „Cliquen“ im Vordergrund, sondern Beziehungsnetze in kontaktfreien Räumen. Hierbei handelt es sich um Neubeschreibungen der Funktionsweise von Märkten und Konkurrenzbeziehungen. Der „lachende Dritte“ in Konkurrenzbeziehungen ist so gesehen der, der es schafft, einen kontaktfreien Raum zu überbrücken und neue Märkte zu erschließen. In Ronald Burt’s Theorie „struk1 Siehe dazu Bahrdt, Hans-Paul,Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, München 2000, S. 66 ff; Popitz, Heinrich, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen 1967. 2 Jeremy Boissevain, Friends of Friends. Networks, Manipulators, and Coalitions, Oxford 1974. 3 Barth, Fredrik, Scale and Network in Urban Western Society, in: ders. (Hg.): Scale and Social Organisation, Oslo/Bergen/Tromsö 1978, S. 163-183; Boissevain, Jeremy und Mitchell, Clyde (Hg.), Network Analysis. Studies in Human Interaction, The Hague/Paris 1973; Mitchell, Clyde (Hg.), Social Networks in Urban Situations, Manchester 1969. 3 tureller Löcher“ sind kontaktfreie Räume Vorraussetzung für unternehmerisches Handeln, aus der Asymmetrie von Zugangschancen resultieren dann Profite.4 Aus dieser Perspektive besteht die „rationale“ Strategie eines Netzwerkakteurs darin, redundante Kontakte zu vermeiden. Beziehungsinvestitionen sind also Distanzinvestitionen. Eng verbunden mit dieser Theorie ist die These von der Auflösung sozialer Beziehungen im Netz. Gemeint ist damit vor allem die Auflösung hierarchischer Strukturen und Loyalitäten in nutzenorientierte horizontale Beziehungsmuster. Unternehmer sind immer weniger Chefs und immer mehr Makler und „Zwischenhändler“.5 Neben der auf einer horizontalen Achse platzierten Beziehungsfigur des Maklers sind Patron/Klient-Beziehungen, die auf einer vertikalen Achse liegen, ein weiteres Thema der Netzwerkforschung.6 Der Makler beobachtet Gelegenheiten und steht dabei in einer Mitteilungsbeziehung zu entsprechenden Interessenten. Der Patron dient hingegen als Bürge- und Vertrauensintermediär, der seinen Klienten Zugangschancen eröffnen kann. In beiden Fällen werden dann von den Tauschpartnern Gegenleistungen erwartet. Die Instrumentalisierung von Patronagefunktionen ist nun gerade in horizontalen Netzen von Geschäftsbeziehungen von großem Nutzen. Zwar wird die Bezeichnung „Patronage“ in der heutigen Unternehmens- und Managementliteratur (vermutlich aus Gründen des Anklangs an vermeintlich „vormoderne“ Verhältnisse) eher selten benutzt, gleichwohl dürfte Einigkeit dahingehend bestehen, dass die Netze der „Information und des Zugangs“ in enger Wechselbeziehung stehen (und stehen müssen) zu den Netzen von „Macht und Einfluss“.7 Weiter wird oft darauf hingewiesen, dass in dieser Hinsicht personalen Verpflichtungen eine überragende Bedeutung zukommt. Auf nichts anderes zielt aber der Begriff Patronage, der selber mit Blick auf ein Modernisierungsphänomen ausgearbeitet wurde. Gerade der Aspekt des ökonomischen Eigeninteresses des „Bürgen“ oder Patrons ist nun unter den aktuellen Bedingungen, in denen es zu Netzwerkausbeutung und „Netzwerkopportunismus“ kommen kann, von besonderem Interesse. Es lassen sich also an der Außenseite der Organisation Strukturen ausmachen, die in 4 Burt, Ronald , Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge/Mass. 1992. Hessinger, Philipp, Dominanz und Balance in industriellen Netzwerken, in: Fischer, Joachim und Gensior, Sabine (Hg.): Netzspannungen. Trends in der sozialen und technischen Vernetzung von Arbeit, Berlin 1995, S. 157-183. 6 Boissevain, Friends of Friends, S.147 f. 7 Vgl. Powell, Walter und Smith-Doerr, Laurel, Networks and Economic Life, in: Smelser, Neil, und Swedberg, Richard, (Hg.), The Handbook of Economic Sociology, Princeton/New York 1994, S. 368402. 5 4 gewisser Analogie stehen zu den Principal/Agenten-Beziehungen8 – und der mit ihnen verbundenen Kontroll- und Informationsproblematik – im Binnenbereich der Organisation. Die Art der Gegenleistungen in solchen Tausch- und Informationsnetzwerken wird dabei in der Regel auch dadurch bestimmt, dass derartige Beziehungsnetze auf sozialen Parallelstrukturen aufsatteln. Maklerbeziehungen integrieren sich oft in Nutzfreundschaften, Patron/Klient-Beziehungen haben demgegenüber oft einen familialen Anstrich und stützen sich auf entsprechende Werte. In beiden Fällen dienen diese Beziehungsnetze dazu, den Handlungsradius von Akteuren zu erweitern. Die formale Netzwerktheorie lässt sich deswegen im Prinzip gut in eine atomistisch angelegte Handlungstheorie – wie etwa die von James Coleman entwickelte – integrieren.9 Die Perspektive wird dabei freilich etwas verschoben. Während die Rational Choice-Theorie die Handlung von Einzelakteuren ausgehend beobachtet, beschreibt die Netzwerktheorie Handlungen, die ihren Verlauf gleichsam „durch die Akteure hindurch“ nehmen.10 In diesem Zusammenhang ist noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung. Coleman zufolge werden fast allen Handlungen bestimmte „Handlungsrechte“ zugeordnet.11 Im Falle ökonomischen Handelns sind das etwa Eigentums- und Verfügungsrechte. Um diese Handlungsrechte zu sichern, ist es überdies notwendig, Kontrollbefugnisse auf andere Akteure zu übertragen, die so als Garanten fungieren können. In diesem Sinne sind Patrone Bürgen der Handlungsrechte ihrer Klienten.12 Allerdings handelt es sich dabei nur um einen Sonderfall von Herrschaft. Allgemein gilt jedenfalls, dass Handeln in Netzwerken – in den Termini der Simmelschen Soziologie – gleichermaßen einen eingeschlossenen und einen ausgeschlossenen Dritten impliziert.13 Der ausgeschlossene 8 Vgl. 1995 Ebers, Mark und Gotsch, Wilfried, Institutionentheoretische Theorien der Organisation, in: Kieser, Alfred, (Hg.), Organisationstheorien, (2. Aufl.), Stuttgart/Berlin/Köln 1995. 9 Coleman, James, Grundlagen der Sozialtheorie, Band 1-3, München 1991. 10 Barnes, John A., Networks and Political Process, in: Mitchell, Clyde, (Hg.), Social Networks in Urban Situations, Manchester 1969, S. 51-76, hier S. 65. 11 Coleman, James, Grundlagen der Sozialtheorie, Band 1, München 1991, S. 56 ff. 12 Ebd., S. 232 ff. 13 Die Logik des eingeschlossenen Dritten beschreibt Simmel wie folgt: „Wo drei Elemente eine Gemeinschaft bilden, kommt zu der unmittelbaren Beziehung, die z.B. zwischen A und B besteht, die mittelbare hinzu, die sie durch ihr gemeinsames Verhältnis zu C gewinnen … Entzweiungen, die die Beteiligten nicht von sich allein aus wieder einrenken können, werden durch den Dritten oder durch ihr Befaßtsein in einem umschließenden Ganzen zurechtgebracht“ (Simmel, Georg, Soziologie. Gesamtausgabe, hg von Ottheim Rammstedt , Bd. 11, Frankfurt a.M. 1992, S. 114 f.). Die Logik des ausgeschlossenen Dritten beschreibt Simmel hingegen in seiner Soziologie der Konkurrenz als ein „Herangedrängt-Werden“ an den Dritten und als Umlenkung der Orientierung auf Ziele auf den Vergleich der Mittel in einem „gemeinsamen Kreis der Orientierung“ (Simmel, Georg, Soziologie der Konkurrenz, in: Neue Deutsche Rundschau XIV, Berlin [1903], S. 1009-1023). 5 Dritte wird durch die Mithilfe von Maklern und Patronen partiell wieder mit eingeschlossen. Der eingeschlossene Dritte ist demgegenüber der Bürge der Handlungsrechte der Akteure und damit auch der potentielle Schiedsrichter bei Streitigkeiten im Netz. Der wichtigste Bürge, der in dieser Hinsicht infrage kommt, war bisher in allen modernen Gesellschaften der Staat. Die These von der Auflösung des Sozialen – wie sie in den verschienen Theorien der Netzwerkgesellschaft vertreten wird – zielt deswegen auf die strukturelle Schwächung staatlicher Macht und territorial gebundener Institutionen- und Beziehungsgefüge im Kontext der Entwicklung weltweiter Austausch- und Beziehungsnetze. Meine These ist nun: die These vom „Verschwinden des Sozialen“ bzw. vom „Ende der soziozentrischen Gesellschaften“14 bezieht sich auf nichts anderes als die in diesem Zusammenhang wirksamen Prozesse der „Verschiebung“,15 von denen oft angenommen wird, dass sie gleichsam auf Dauer gestellt sind. Dabei existiert so etwas wie eine Wahlverwandtschaft zwischen den netzwerktheoretischen Beschreibungsmustern und der Analytik solcher Verschiebungsphänomene. Mit anderen Worten: Die Netzwerktheorie privilegiert „Agency“ (Handlungsfähigkeit) gegenüber „Handlung“ und „Deregulierung“ gegenüber „Institutionalisierung“. Die These vom „Verschwinden des Sozialen“ ist deswegen Theorien dieses Typs gleichsam immanent, wenn sie zu gesellschaftsdiagnostischen Zwecken eingesetzt werden. Meine zweite These ist nun: der antiinstitutionalistische, gleichsam „unternehmerische“ Impuls sowie der Akzent auf „Offenheit“ in diesen Theorien steht in gewissem Widerspruch zu empirischen Tendenzen der heutigen „Netzwerkgesellschaften“, die sich der Meinung einiger kritischer Soziologen zufolge – im Zuge der zunehmenden Verflechtung von Politik und Ökonomie – auf die (Wieder-) Erstehung relativ geschlossener Elitenzirkel hinbewegen. Darauf zielt der von Colin Crouch in die Diskussion gebrachte Begriff der „PostDemocracy“.16 Kommt es zu einem Ausfall des staatlichen Bürgen, treten ihm zufolge so etwas wie Patronagenetzwerke an seine Stelle. 2. Theorien der Netzwerkgesellschaft: die These vom Verdampfen des Sozialen Als Theorien der Netzwerkgesellschaften bezeichne ich jene Gruppe von Arbeiten, die sich von der formalen Netzwerktheorie – so wie sie von Ronald Burt, Barry Wellman 14 Lash, Scott und Urry, John, Economies of Signs and Space, London/Thousand Oakes/New Delhi 1994. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 72 ff. 16 Crouch, Colin, Post-Democracy, Cambridge U.K./Malden U.S.A. 2004. 15 6 und Harrison White vertreten wird – in zweierlei Hinsicht unterscheiden. Zum einen wird in diesen Theorien die formale Netztheorie in einen Rahmen integriert, der durch die Marx’sche Kapitalismus-Analyse getragen ist. Im Gegensatz dazu stehen die Vertreter der formalen Netztheorie der neoklassischen Ökonomie und deren methodischen Individualismus recht nahe. Aus dieser Perspektive betrachtet ist gesellschaftliches Handeln im Wesentlichen identisch mit dem Handeln atomistischer Akteure im Netz. Die ehemalige britische Premierministerin Margret Thatcher brachte diese Sichtweise mit der knappen Bemerkung auf den Punkt: „There is no such thing like society.“ Zum anderen basieren Theorien der Netzwerkgesellschaft (im Gegensatz zur formalen Netzwerktheorie) auf einer kommunikations- und handlungstheoretischen Grundlage, die es ermöglicht, die Veränderung sozialer Identitäten in den Blick zu bekommen. Ich denke in diesem Zusammenhang insbesondere an Manuel Castells Arbeiten über das „Informationszeitalter“ (Bd.1: Die Netzwerkgesellschaft), Scott Lashs und John Urrys „Economies of signs and space“ und die Studie „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Luc Boltanski und Eve Chiapello. Die These vom „Verschwinden“ oder dem „Verdampfen“ des Sozialen im Netz ist also eher ein kritisches Szenario und keineswegs eine bloße Tatsachenbehauptung. Diese These impliziert freilich nicht die des Verschwindens gesellschaftlicher Realitäten insgesamt. Sie bezieht sich vielmehr auf die bisher wirkmächtige Sichtweise von Dingen und Beziehungen, die seit etwa den 30er Jahren des 20en Jahrhunderts fest etabliert ist und in ihren Ursprüngen auf die Große Französische Revolution zurückgeht. „Dabei wurde eine Gesellschaftskonzeption allgemeinverbindlich, nach der eine Gesellschaft ein Gebilde aus sozialen Berufsgruppen im nationalstaatlichen Rahmen ist. Diese Gesellschaft ist funktionsfähig, wenn die Beziehung zwischen den Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt, auf der Basis einer in etwa gerechten Verteilung privater und öffentlicher Güter sowie – gegebenenfalls der auf nationaler Grundlage berechneten Wachstumsgewinne – gerechtfertigt werden kann. Der Staat wacht über dieses Gleichgewicht und mithin über den sozialen Frieden“.17 Von Gesellschaft in diesem Sinne kann deswegen immer nur dann die Rede sein, wenn es zu einer Verknüpfung von sozialen Anrechten mit gesellschaftlichen Handlungs- und Kontrollrechten kommt. In dieser Hinsicht gilt: „dass der moderne soziale Konflikt mit dem Bürgerstatus, dem Wirtschaftswachstum und der Bürgergesellschaft den Rahmen geschaffen hat, innerhalb 17 Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 339. 7 dessen sich fast alle bekannten Probleme anpacken lassen“.18 Die These vom Verschwinden des Sozialen zielt nun knapp zusammengefasst auf einen doppelten Befund. Erstens wird konstatiert, dass sich Macht in der global vernetzten Welt aus Mobilitätsdifferentialen ableitet. Mobilere Akteure haben mehr Macht als weniger mobile. Die mobilsten Akteure in der globalisierten Ökonomie sind dabei die international operierenden Investment-Fonds, gefolgt von den transnationalen Unternehmen. Im Gegensatz zu diesen Akteuren, die sich in Castells Worten in einem „Raum der Ströme“ bewegen, sind die zentralen Akteure des klassischen Sozialstaats – Staat und Gewerkschaften – an einen konkreten Ort gebunden. Im Zuge der gesteigerten Standortkonkurrenz im globalen Maßstab resultiert daraus eine Erosion ihrer Machtbasis, welche auf lokal bzw. national vereinheitlichten Steuer- und Lohntarifen beruht. Zweitens ist die Folge der Erosion dieses Handlungsrahmens, dass endogen bestimmte soziale Strukturen verschwinden und durch exogene und Weltmarkt bestimmte Strukturen ersetzt werden. Diese – sehr starke – These von Lash und Urry wird von Castells geteilt, von Boltanski und Chiapello freilich auch kritisch hinterfragt. Zunächst: Castells Analyse basiert auf der Vorstellung, dass das Informationszeitalter einen neuen technologischen „Entwicklungsmodus“ (mode de dévelopement) darstellt. Mit diesem – von Alain Touraine entlehnten und an Marx angelehnten – Begriff meint er technologische Arrangements, durch die gesellschaftliche Akteure ihre materielle Umwelt und zugleich sich selbst verändern. Dieser neue technologische Entwicklungsmodus führt nicht zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse aber zu einer fundamentalen Verschiebung der gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen. „Während also kapitalistische Produktionsverhältnisse weiterbestehen und in vielen Volkswirtschaften die herrschende Logik sogar strikter kapitalistisch ist als jemals zuvor, tendieren Kapital und Arbeit doch zunehmend dazu, in unterschiedlichen Räumen und Zeiten zu existieren: im Raum der Ströme und im Raum der Orte, Instant-Zeit der Computernetzwerke gegenüber der Uhrenzeit des Alltagslebens [...]. Das Kapital tendiert dazu, in einen Hyperspace der reinen Zirkulation zu entweichen, während sich die kollektive Einheit der Arbeit in eine unendliche Variation der Existenzen auflöst. Unter den Bedingungen der Netzwerkgesellschaft ist das Kapital globalisiert, die Arbeit ist indivi- 18 Dahrendorf, Ralf, Der moderne soziale Konflikt. Essays zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992, S.76. 8 dualisiert“.19 Der eigentliche Prozess der Wertschöpfung findet dabei im Netz statt, d.h. er ist immer weniger auf die Leistung einzelner Personen oder Arbeitsgruppen zurechenbar. „Können wir sagen, dass demgegenüber die Wert produzieren, die ComputerFreaks sind, die [die, Ph.H.] neuen Finanzinstrumente entwickeln [oder die, Ph.H.] [...], deren Arbeitsergebnisse von Konzernmaklern enteignet werden? Wer trägt in der Elektronikindustrie zur Wertschöpfung bei: diejenigen, die in Silicon Valley Chips konstruieren oder die junge Frau in der südostasiatischen Fabrik? Sicherlich beide, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Sind sie also gemeinsam die neue Arbeiterklasse? [...] Es gibt in der Gesamtheit dieser komplexen, globalen Interaktionsnetzwerke durchaus die Einheit des Arbeitsprozesses. Aber es gibt zugleich die Differenzierung der Arbeit, die Segmentierung der Arbeitenden und die Desaggregation der Arbeit auf globaler Stufenleiter“.20 Die zugrunde liegenden Prozesse der Identitätsbehauptung zielen dabei auf die Fähigkeit der sozialen Akteure zur „Selbstprogrammierung“ in einer Kultur der „realen Virtualität“. Die Netzwerkgesellschaft ist so gesehen eine Welt ortloser Räume und zeitloser Zeit, die die Fähigkeit zur Bildung neuer Identität eher korrumpiert als befördert. Widerständige Projektidentitäten kommen deshalb Castells zufolge eher von außerhalb aus lokalen Gemeinschaften, die es schaffen, sich ihrerseits global zu vernetzen. Castells geht von allen Autoren in seiner Analyse den negativen Folgen der Auflösung traditioneller, staatlich gerahmter institutioneller Strukturen wohl am weitesten (vor allem in den Bänden 2 + 3 seiner Trilogie). Sehr pointiert beschreibt er beispielsweise die Auflösung der Kernfamilie und ihre Ersetzung durch patronageartige Parallelstrukturen, die oft von erheblichem wirtschaftlichem Nutzen sind. Auch die Erosion staatlichen Machtpotentials im Zusammenhang mit den sozialstaatlichen Regulierungsformen wird von ihm beeindruckend vorgeführt. Sehr eindringlich sind auch seine Analysen der Auflösung gesellschaftlicher Solidaritätsmuster in Patronagestrukturen in einigen peripheren Regionen der Weltgesellschaft, in denen sich ein Mafiakapitalismus durchgesetzt hat. Offen bleibt freilich, bis zu welchem Punkt dieser Auflösungsprozess voranschreiten kann, ohne die basalen Handlungsrechte der Akteure in dieser globalen Netzwerkgesellschaft zu gefährden? 19 20 Castells, Manuel, Die Netzwerkgesellschaft, Bd. 1: Das Informationszeitalter, Opladen 2001, S. 534. Ebd., S. 533 f. 9 Lash und Urry teilen im Wesentlichen diese Einschätzung von Castells.21 Sie entleihen ihr soziales Identitätskonzept nicht der arbeitsoziologischen, sondern eher einer handlungstheoretischen Theorietradition. Noch pointierter als Castells verweisen sie darauf, dass der treibende Motor der Netzwerkgesellschaft in jenen Strukturen der „Zirkulation des Kapitals“ zu suchen ist, die Marx im zweiten Band „Des Kapitals“ beschrieben hat. Durch die Beschleunigung der Zirkulation des Kapitals werden die räumlichen und zeitlichen Variationsspielräume der Produktion erhöht. In dem dadurch geschaffenen ort- und zeitlosen, d.h. bedeutungslosen, Raum werden dann durch das Kapital bedeutungsvolle und designintensive „Objekte“ wieder eingeführt. Die „Kulturindustrie“ spielt deswegen in ihrer Analyse des heutigen Kapitalismus eine zentrale Rolle.22 Die Identitätsbehauptung sozialer Akteure beweist sich ihnen zufolge dann darin, ob sie es schaffen, diesen „Objekten“ gegenüber eine reflexive Haltung einzunehmen. Voraussetzung dafür ist die Teilhabe an Kommunikations-/Informationsstrukturen, die von den Autoren gleichzeitig als Interpretationsgemeinschaften gefasst werden. Die Autoren sprechen dabei von einer Tendenz der Aushöhlung kollektiver und gemeinsam geteilter Bedeutungen. Das geschieht dadurch, dass das Selbst in eine immer schnellere Zirkulation von Bildern, Geld, Ideen und anderer Selbste hineingezogen wird. Die Folge ist eine Konvertierung des sozialen „Wir“ ins atomisierte „Ich“. Dieser Vorgang wird als ein herrschaftsbestimmter Prozess der „Normalisierung“ im Foucaultschen Sinne betrachtet. Wo aber diese neue Ökonomie von Zeichen und Räumen in eine soziale Informations- und Kommunikationsstruktur eingebettet ist, sind weniger unglückliche Formen der Individualisierung möglich. Diese verweisen auf so etwas wie ein „reflexives Ich“. Voraussetzung dafür sind aber hermeneutisch-kommunikative Kompetenzen, also in etwa das, was der Ökonom Robert Reich als die Fähigkeit zur „Symbol-Analyse“ bezeichnet.23 Fehlen diese Kompetenzen, so besteht die Gefahr der Umkehrung des Konvertierungsprozesses vom Wir zum normalisierten Ich in Richtung auf die Entstehung eines modernen Barbarentums. Die Autoren sprechen hier von der sozialen Konstruktion „neuer Stämme“ im Sinne der Regression auf das Niveau vormoderner Stammeskulturen, die allerdings heute spezifischer, d.h. politischer, rassischer oder ethnischer Provenienz sind (die Neo-Nazi-Szene in Ostdeutschland, der Gangsta-Rap und die 21 Lash und Urry, Economies of Signs and Space. Vgl. Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969. 23 Vgl. Reich, Robert, The Work Of Nations. Preparing Ourselves for 21st-Century Capitalism, New York 1991, S. 225 ff. 22 10 Gangkultur der Ghettos der USA oder der serbische Ethno-Rassismus aus der Zeit der jüngeren Balkankriege). Diese „wilden Zonen“ der Globalisierung finden sich typischerweise in den desindustrialisierten oder sozial abgekoppelten Räumen der solcherart globalisierten Nationalökonomien (wie etwa dem „Rust-Belt“ der USA, dem Osten Deutschlands etc.). Die These vom Verschwinden des Sozialen (d.h. vom Verschwinden eines authentischen Wir) wird dann freilich von den Autoren durch die Gegenthese der Möglichkeit eines „reflexiven Wir“ ergänzt. Die Entwicklung dieses „reflexiven Wir“ ist dabei gerade in jenen kapitalistischen Nationalgesellschaften von Bedeutung, deren Produktionsstrukturen selber in einem kollektiven Wir – mit entsprechenden kollektiven und berufszentrierten Formen der Wissensproduktion – verankert sind: Das betrifft insbesondere Deutschland und Japan. Die Autoren denken in dieser Hinsicht etwa an die Beteiligung von Gewerkschaften und Verbänden an den betrieblichen oder wirtschaftspolitischen Willensbildungsprozessen in Deutschland oder an die Einbettung der japanischen Unternehmen in gemeinschaftsförmige Allianznetze. Den Hintergrund dafür bilden neue Formen eines „globalisierten Wir“, die man auch als „virtuelle Gemeinschaften“ bezeichnen könnte. Diese durch das Internet vorangetriebene Entwicklung ist mittlerweile ein weltweites Phänomen. Auch wenn in Lashs und Urrys Analyse deswegen die Erosion staatlicher und insbesondere sozialstaatlicher Strukturen nicht in demselben Maße als pures Faktum betrachtet wird als bei Castells – offen bleibt auch hier, in welcher Weise die Nutzung und Beobachtung gesellschaftlicher Asymmetrien in der Netzwerkgesellschaft tatsächlich langfristig mit den Integrations- und Wachstumsimperativen entwickelter Gesellschaften vereinbar ist? Boltanski und Chiapello ergänzen die von Castells und Lash und Urry vorgelegten Befunde und Interpretationen durch eigene Analysen, welche sich auf den Umbruch von „Wertigkeitsordnungen“ (Polis) beziehen.24 Anders als diese Autoren sprechen sie allerdings nicht von einem „Verschwinden des Sozialen“, sondern sehr viel konkreter von einer „Abnahme der Widerstandskraft der Arbeitswelt“ gegenüber den Herausforderungen des neuen globalen Kapitalismus. Der Grund für diese Abnahme der Widerstandskräfte wird dabei nicht nur in äußeren Ursachen, sondern auch in inneren Verschiebun24 Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. 11 gen von Wertigkeitsordnungen gesehen. Damit rückt die Analyse der Erosionsprozesse kollektiver Identitäten in das Zentrum ihrer Analyse. Anders als in der Theorie von Castells und Lash und Urry wird dabei nicht bloß der nutzenorientierte Aspekt des Handelns in Netzwerken beleuchtet, vielmehr geht es den Autoren darum, die gesamte arbeitssoziologische Problematik der Arbeit in vernetzten Projektzusammenhängen in den Blick zu bekommen. Gesellschaftliche Identitätsbildung verweist ihnen zufolge auf Aushandlungsprozesse in Wertigkeitsordnungen bzw. auf die Durchsetzung und Legitimierung von neuen Wertigkeitsordnungen (Polis). In diesem Rahmen spielt die „Kritik“ am Kapitalismus eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Weiterentwicklung seiner institutionellen Rahmenbedingungen. Der in der heutigen Wirtschaftsordnung weitverbreitete Typ projektorientierter Arbeit impliziert ihnen zufolge nun eine gänzlich neue „Polis“, die auf den Prinzipien „Flexibilität“, „Employability“ und „Kontaktoffenheit“ beruht. Im Zentrum des korrespondierenden Modells der Arbeitsorganisation steht dabei die Nutzung „schwacher Bindungen“ bei gleichzeitiger Abwertung „starker Bindungen“ in den Geschäfts- und Informationsbeziehungen.25 Die alte Wertigkeitsordnung der „fordistischen Phase“ der kapitalistischen Entwicklung mit ihrer hohen Wertschätzung von „Verlässlichkeit“, „Firmenbindung“ und „Loyalität“ sehen die AutorenInnen demgegenüber als im Schwinden begriffen an. Das Aufkommen eines neuen projektorientierten Kapitalismus ist so gesehen im historischen Rückblick betrachtet keineswegs die bloße Folge der Auflösung sozialer Strukturen in „normfreie Netze“ – wie Habermas sagen würde –, sondern auch Folge – vermeintlich oder wirklich – „fortschrittlicher“ arbeitspolitischer Praktiken und Reformen. Während bei Castells und Lash und Urry die neuen Netzunternehmer die zentralen Akteure der neuen gesellschaftlichen Formation sind, berücksichtigen Boltanski und Chiapello auch den Einfluss von Gewerkschaften, linken Parteien und sozialen Bewegungen – insbesondere der 68er Protestbewegung. Gerade dadurch gelingt es ihnen, die vertikale Beziehungsdimension im projektorientierten Netzwerkhandeln wieder genauer auszuleuchten. Deutlich wird das am Beispiel ihrer Theorie des Netzopportunismus bzw. der Netzwerkausbeutung. Ein Netzopportunist ist jemand, der Informationen und Kontaktmöglichkeiten monopolisiert und seine Mitarbeiter von diesen ausschließt. Der opportunistische Netzunternehmer handelt so gesehen im Sinne Gouldners als eine Art „Kosmopolit“, der die lokalen Akteure zentraler Handlungsressourcen und Handlungsrechte beraubt. Damit wird einerseits ein Mo25 Vgl. Granovetter, Mark, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78, No 6 12 ment an Patronage im Netzwerkhandeln deutlich. Boltanski und Chiapello zufolge kann in diesem Fall tatsächlich von Ausbeutung im strengen Sinne gesprochen werden, da die Immobilität der einen die Vorraussetzung der Mobilität der anderen darstellt.26 Die niedrigen Wertigkeitsträger in dieser Ordnung sind deswegen so etwas wie „Doubles“ der hohen Wertigkeitsträger, indem sie für letztere während deren Abwesenheit „vor Ort“ die Kontaktpflege übernehmen. So gesehen besteht eine Art Herr- schafts/Knechtschafts-Dialektik in der Beziehung von „Double“ und hohem Wertigkeitsträger.27 Deswegen hat die Überbrückung von kontaktfreien Räumen durch Netzwerkmakler ihre Vorrausetzung in dem Vorhandensein relativ abgeschlossener institutioneller Sphären und Räume. So gesehen ist die Abgrenzung von ökonomischen Sphären und die Begrenzung von Zugangsrechten selber ein zentrales Interesse von „Netzwerkopportunisten“. Für Castells und Lash und Urry haben Netzwerkbeziehungen im Kern eine horizontale (bzw. laterale) Orientierung. Gerade dadurch gelingt es den Netzwerkakteuren vertikale organisatorische Strukturen zu unterminieren und zu unterlaufen. Mit Blick auf die Figur des Netzwerkopportunisten von Boltanski und Chiapello wird demgegenüber deutlich, dass derartige horizontale Beziehungsmuster zu neuen Formen der Hierarchisierung führen können. Gleichzeitig dämmert die Einsicht, dass ein entwickelter Netzwerkkapitalismus auf normative Grundmuster angewiesen ist, die verhindern dass er durch exzessive Formen des Netzwerkopportunismus lahm gelegt wird. Ich möchte ausgehend von diesen Überlegungen nun im Folgenden die in der Sozialanthropologie wohl bekannte Figur der „Patronage“ vorstellen und untersuchen. Zu fragen wäre, ob Patronage im Grunde nichts anderes ist als eine gesellschaftlich legitimierte Form des Netzwerkopportunismus. 3. Patronage und Staatsfunktionen in historischer Perspektive In der ethnologischen und wirtschaftsanthropologischen Patronageforschung gibt es grob gesprochen zwei Strömungen: zum einen einen Ansatz, der Patronage als eine Form der Verflüssigung von sozialem Einfluss fasst, die in vertikalen Beziehungsstrukturen geltend und nutzbar gemacht wird. Zum anderen eine Strömung, die Patronage als (1973), S. 1360-1380. 26 Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 400. 27 Ebd., S. 401. 13 eine Art Ergänzung und Überwölbung von Nutzfreundschaften fasst, die bestimmte Formen unternehmerischen Handelns möglich macht. Aus der ersten Sichtweise betrachtet, überbrückt Patronage gleichsam die strukturellen Löcher in der Struktur des modernen Nationalstaates.28 Der Patron besitzt dabei die strukturelle Macht, einem Klienten Nutzen zu bringen. Unterstellt wird, dass sich diese Klienten aus der fest gefügten Statushierarchie der traditionellen Ordnung herauszulösen beginnen und damit tendenziell auf Leistungen angewiesen sind, die der noch unentwickelte moderne Staat nicht zu erbringen in der Lage ist. So beschreibt etwa Jonathan Campbell in seiner Studie „Family, Honour and Patronage“ den Bedarf an Patronage, der aus der vagabundierenden Lebensweise der Zarakistani-Hirten in Mittelgriechenland resultiert.29 Um ihre Durchsetzungschancen in den landwirtschaftlich dominierten Kommunen zu erhöhen und in den Genuss von Weiderechten zu kommen, sind diese Hirten auf die Unterstützung örtlicher Patrone angewiesen. Diesen Patronen, die oft als Kindspaten und Trauzeugen herangezogen werden, sind die Hirten innerhalb eines bestimmten Ehrenkodexes verpflichtet, was auch ökonomische Leistungen ihrerseits impliziert. Michael Korovkin zufolge wirken diese familialen Parallelstrukturen und die betreffenden Ehrenkodizes dabei als eine Art ideologisches Schmiermittel, um so soziale Handlungen von der ökonomischen in die kulturelle Sphäre gleiten zu lassen und umgekehrt.30 Die Folge ist dann freilich, dass Patronage vertikale Asymmetrien in der Gesellschaftsstruktur eher vergrößert, als dass sie sie mildert. Eine weitere Folge ist, dass die Handlungsmuster einer konkurrenzorientierten nationalen Ökonomie nicht bis auf die lokale Ebene durchdringen können. Die zweite Strömung der Patronage-Forschung beschreibt sie als ein Komplement unternehmerischen Handelns. Eric Wolf zufolge tendieren Nutzfreundschaften dazu, überdehnt zu werden.31 Patronage entwickelt sich ihm zufolge dann als Komplement dieser horizontal angelegten Beziehungsstrukturen. Dabei werden familiale Werte und Wertkodizes benutzt, um diese Patronageform weiter zu festigen. In der Sichtweise von Yoranz Ben Porath und Mark Granovetter handelt es sich dabei um sogenannte F28 Vgl. Weingrod, Alex, Patrons, Patronage, and Political Practice, in: Comparative Studies in Society and History, VII, 2 (1968), S. 377-400. 29 Campbell, Jonathan K., Honour, family and patronage: A study of institutions and moral values in a Greek mountain community, Oxford 1964. 30 Korovkin, Michael, Exploitation, Cooperation, Collusion: an inquiry into patronage, in: Archives européennes de sociologie, XXIX (1988), S. 105-126. 31 Wolf, Eric, Kinship, Friendship, and Patron-Client relations in Complex Societies, in: Banton, Michael (Hg), The Social Anthropology of Complex Societies, New York 1966, S. 1-22. 14 Connections – „F“ im Sinne von Family, Friends und Firms –, die innerhalb einer Konkurrenzökonomie bestimmte Spezialisierungsmuster ermöglichen.32 F-Connections ermöglichen dabei die Senkung von Transaktionskosten in Bereichen, die etwa aufgrund der schwer zu durchschauenden Qualitätsmerkmale der zu tauschenden Objekte kaum zu organisieren sind. So war etwa bis vor kurzem der Diamantenhandel in Amsterdam beinahe ausschließlich in Hand jüdischer Familien, die in der Lage waren, die Bezugsquellen der Diamanten zu kontrollieren und die etwaige Unterschiebung wertloser Steine zu unterbinden. Ausgehend von diesen und ähnlichen Befunden hat nun Luis Roniger diese seines Erachtens nicht gerechtfertigte Verengung der Patronageforschung auf moderne Nationalstaaten im Entwicklungsstadium kritisiert.33 Die sehr „moderne“, gleichzeitig partikularistische und hierarchische Form der Interessenorganisation, die mit Patronagestrukturen einhergeht, wird ihm zufolge deswegen nicht wirklich durchschaubar gemacht. Roniger beschäftigt sich aus diesem Grund eingehender mit den Patronagestrukturen im republikanischen Rom. „Amicitia“ als Beziehungsform betrifft dabei sowohl die Beziehung eines Patrons und seiner engeren Klienten als auch die eines Patrons zu anderen Mitgliedern der Herrschaftselite. Per definitionem betrifft amicita gleichermaßen Loyalitätsbeziehungen (Klient und Patron) und Nutzfreundschaften zwischen verschiedenen Machthabern. Der römische Staat – nach innen so gesehen eine Art „Interessenbörse“ der Machthaber – trat demgegenüber nach außen ebenfalls als Bürge für Freundschaft auf. So waren zu Zeiten der späten Republik ganze Staaten – wie z. B. der archäische Bund oder das Königreich Pergamon – „Freunde“ des römischen Staates. Roniger zufolge ist die spezifisch mediterrane Verschleifung des Unterschieds von Nutzfreundschaft und Patronage deswegen im Wesentlichen römischen Ursprungs. Ergänzend dazu könnte man sagen, die ebenfalls mediterrane Unbefangenheit im Umgang mit dem Phänomen Patronage als einem vermeintlich harmlosen Phänomen, welches mit dem Kern des Staatsaufbaus gut zu vereinbaren ist, ist vermutlich ebenfalls römischen Ursprungs. Tatsächlich sind aber Patronagebeziehungen mit dem Wesen des modernen bürgerlichen und demokratischen Staates eher unvereinbar und darüber hinaus gefährden sie eben- 32 Ben-Porath, Yoram , The F-connections: Families, Friends and Firms and the Organisation of Exchange, in: Population and Development Review, Vol. 6, No 4 (1980), S. 1-29; vgl. Granovetter, Mark, Entrepreneurship, Development, and the Emergence of Firms, WZB-Discussion-Papers, FSI-90-2, Berlin 1990. 33 Roniger, Luis, Modern patron-client relations and historical clientelism. Some clues from ancient Republican Rome, in: Archives européennes de Sociologie, XXI (1983), S. 93-94. 15 falls die Funktionsweise der modernen Ökonomie. Wie Karl Polanyi etwa gezeigt hat, geht die Entstehung von offenen, konkurrenzbestimmten Binnenmärkten in den heutigen Nationalstaaten darauf zurück, dass die staatliche Zentralgewalt diese gegenüber partikularistischen Interessengruppen – wie den Besitzern von Fernhandelsmonopolen – durchsetzte.34 Die Entstehung dieser Zentralgewalt selber beschreibt Norbert Elias als den Prozess der Ersetzung privater durch öffentliche Monopole. Am Ende dieses Prozesses stand dann das Gewalt- und Steuermonopol des modernen Staates. Wirklich verankert war Elias zufolge dieser moderne Staat erst als Zentralorgan einer „funktionsteiligen Gesellschaft“, in der die Verfügung über Geld – und nicht die über militärische und Grund-und-Boden-Machtmittel – zur dominanten Besitzform geworden ist.35 Antonio Gramsci hat schließlich beschrieben, dass die Entstehung moderner Parteien diesen Zentralisierungsprozess einerseits voraussetzt und ihn andererseits auf einer anderen Ebene weiter vorantreibt.36 Gramsci zufolge wachsen die modernen Parteien aus ihren ursprünglichen Formen der patronageorientierten Honoratiorenherrschaft nach und nach heraus. Ihre ursprüngliche Polizei- und Schutzfunktion wird so ergänzt und überlagert durch ihre Integrationsfunktion. Gramsci zufolge besteht nämlich der Kern modernen parteipolitschen Handelns in einer Problemlösungsformel, die selber in einem bestimmten „Proportionsgesetz“ verankert ist. Die Entwicklung der modernen Parteiendemokratie geht damit eng einher mit einem Prozess der Verallgemeinerung von Bürgerrechten, die zu den basalen Handlungsrechten in einer modernen marktwirtschaftlichen Ökonomie geworden sind. Thomas Marschall hat diesen Prozess der Entstehung und Verallgemeinerung von Bürgerrechten am Beispiel der Entwicklung Englands als einen dreiphasigen Prozess beschrieben37 - die Entstehung juristisch/rechtsstaatlicher Rechte im 18. Jahrhundert - die Entstehung politischer Wahlrechte im 19. Jahrhundert - und schließlich die Entstehung sozialstaatlicher Anrechte im 20. Jahrhundert. Die gesellschaftliche Finalität in der Herausbildung von „Citizenship“ besteht ihm zu34 Polanyi, Karl, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M. 1978, S. 96 ff. 35 Elias, Norbert, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a.M. 1990, S. 142 f., 224 ff. 36 Gramsci, Antonio, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, hg. Von Christian Riechers, Frankfurt a.M. 1967, S. 302 ff. 37 Marshall, Thomas H., Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: ders., Bürgerrechte und soziale 16 folge in der radikalen Abschaffung qualitativer Unterschiede in den Anrechten der „Bürger“ bei Beibehaltung der quantitativen. „Die menschliche Grundgleichheit der Mitgliedschaft ist nun durch eine neue Substanz angereichert und einen erstaunlichen Kranz von Rechten ausgestattet worden. Sie ist zudem eindeutig mit dem Status des Bürgers identifiziert worden“.38 In welchem Maße in diesem Sinne Zugangsrechte Voraussetzung für die Entstehung von Handlungsrechten in modernen Gesellschaften sind, macht etwa Bourdieu mit Blick auf die sub-proletarischen Existenzen in der algerischen Übergangsgesellschaft der 50er Jahre deutlich: „Tatsächlich konnte ich empirisch nachweisen, dass unterhalb eines gewissen Niveaus ökonomischer Sicherheit, beruhend auf der Sicherheit des Arbeitsplatzes und der Verfügung über ein Minimum regelmäßiger Einkünfte, Akteure nicht imstande sind, die Mehrheit jener Handlungen durchzuführen, die eine Anstrengung hinsichtlich einer Bemächtigung der Zukunft implizieren. D.h. dass es ökonomische und kulturelle Bedingungen des Zugangs zu jenem Verhalten gibt, welches man allzu voreilig als für jedes menschliche Wesen normal anzusehen bzw. schlimmer noch als natürlich zu erachten tendiert“.39 Ich möchte nun im Folgenden in lockerer Anlehnung an die Typisierung von Marshall die Veränderungen in den sozialen, wirtschaftlich-organisatorischen und politischen Handlungsbedingungen im heutigen postindustriellen Kapitalismus untersuchen. Die Grundidee ist, dass ein – wie immer auch ausgestaltetes – System von Anrechten und sozialen Bürgerrechten die so etwas wie die Basis für die effektive Handlungsfreiheit der Individuen in der heutigen Gesellschaft darstellt. Umgekehrt behindert das Aufkommen patronageartiger Strukturen ebensosehr die Handlungsfreiheit der Individuen im Einzelnen wie den demokratischen Prozess im Ganzen. 4. Die Erosion politischer und sozialer Bürgerrechte: Veränderungen der sozialen Handlungsbedingungen in der heutigen Gesellschaft Vor allem Bourdieu hat nun in seiner großangelegten Studie über die Veränderungen in den Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnissen des Frankreichs der 90er Jahre tiefgreifende Prozesse der Prekarisierung und des „Leidens an der Gesellschaft“ ausgemacht Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaats, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 33-94. 38 Zitiert nach Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 61. 39 Bourdieu, Pierre, Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstruktur am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft, Konstanz 2000, S. 20. 17 und in außerordentlich anschaulicher Weise aufgearbeitet und dargestellt.40 Ein oft übersehener Aspekt dieser Studie, welcher mit Bourdieus spezifischem erkenntnistheoretischen Ansatz in enger Verbindung steht, ist die Dimension „symbolischer Gewalt“ in diesen Verhältnissen, die jenseits der Dimension subjektiven Leidens auch die Frage der Handlungsfähigkeit und der Handlungsrechte der Individuen betrifft.41 Genau im Hinblick auf diesen Aspekt hat Castells in seiner Theorie der Netzwerkgesellschaft gezeigt, dass der Prozess der „Inklusion“ durch die Entstehung weltweiter Austausch- und Maklernetze mittlerweile zum Stillstand gekommen ist und sogar in Teilbereichen umgekehrt zu werden droht.42 Dabei trennt allerdings Castells – durchaus im Sinne der oben erwähnten mediterranen Perspektive auf Patronage- und Freundschaftsnetzwerke – zu wenig die vertikale von der horizontalen Dimension des Netzwerkhandelns. Tatsächlich gibt es aber auch und gerade in seiner Studie eine Reihe Beispiele dafür, dass die durch die Zersetzung des modernen Staates – und der ihr korrespondierenden Form der Öffentlichkeit – entstandenen Patronagenetze Flexibilität und Kontaktoffenheit der Akteure behindern.43 Ein Beispiel dafür ist die Entstehung eines modernen Mafiakapitalismus, der gleichermaßen von außen wie auch von innen in die Staatsstrukturen so genannter „Failed States“ hineingreift.44 Durch ihre internationale Vernetzung haben die betreffenden kriminellen Netzwerke gegenüber der lokal gebundenen staatlichen Instanz einen erheblichen Vorteil. Andererseits entstehen im Inneren dieser zerfallenen Gebilde neue Patronagestrukturen, die so etwas wie funktionale Äquivalente für die erodierten juridischen, interessenpolitischen und sozialrechtlichen Handlungsrechte der Individuen zur Verfügung stellen. Dass mafiakapitalistische Vergesellschaftungsformen gewissermaßen die Lücke ausfüllen können, die der Zusammenbruch des Wohlfahrtstaates hinterlassen hat, macht beispielsweise auch Niklas Luhmann deutlich.45 Wichtig ist in diesem Kontext, dass das zentrale Ziel der maßgeblichen Akteure darin besteht, strukturelle Löcher in diesem umfassenden Machtnetz zu schließen. Derartige patronageorientierten Netze sind tendenziell im Sinne vor Marcel Maus so etwas wie totale soziale Phänomene, die 40 Bourdieu, Pierre, Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnose alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997. 41 Bourdieu, Pierre, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001. 42 Castells, Die Netzwerkgesellschaft, S. 313 ff.; Castells, Manuel, Jahrtausendwende, Bd. 3: Das Informationszeitalter, Opladen 2003. 43 Castells, Manuel, Die Macht der Identität, Bd. 3: Das Informationszeitalter, Opladen 2002, S. 259 ff. 44 Castells, Jahrtausendwende, S. 175 ff. 45 Luhmann, Niklas, Inklusion und Exklusion, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Opladen 1995, 18 alle gesellschaftlichen Bereiche – wie Kultur, Politik, Wirtschaft, Massenmedien etc. – miteinander verknüpfen.46 Mafiakapitalistische Strukturen im engeren Sinne sind in der heutigen Weltgesellschaft sicherlich ein krasser Sonderfall, aus dem sich gleichwohl einiges lernen lässt. Interessant ist vor allem die innere Verbindung von Autoritarismus und ökonomischem Angebot bei gleichzeitiger Erosion demokratischer und sozialer Anrechte. Ralf Dahrendorf zufolge haben soziale Anrechte, so wie sie sich in den westlichen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, einen „universellen“ und uneingeschränkten Charakter: das Wahlrecht, das Recht als eigenständige Rechtsperson zu handeln, aber auch sozialökonomische Bürgerrechte – wie z.B. das Recht auf Ausbildung, eine lebenserhaltende Gesundheitsversorgung oder das Recht auf sozialen Schutz im Alter47 – gelten unbedingt. Diese Anrechte implizieren deswegen einen politischen Anspruch, der erst mit der Entstehung des modernen Nationalstaates aufkommen konnte. Die über die französische Revolution überkommene Konzeption der Nationalvertretung ging davon aus, dass die Bürger „von jeder Form der lokalen und beruflichen Bindung, die an Partikularismen […] gemahnt, absehen und sich dem Allgemeinwohl widmen“.48 Ausgehend von dieser Fiktion kam es dann zur Etablierung ökonomischer Bürgerrechte, die rein politisch definiert werden konnten. Anrechte werden andererseits durch das gesellschaftliche und ökonomische „Angebot“ ermöglicht, wobei dieser Begriff Dahrendorf zufolge einen gradualistischen Charakter hat. Mafiakapitalistische Gesellschaften wie das Russland der 90er, Süditalien oder Kolumbien heute lassen sich nun Luhmann folgend als periphere Zonen der Weltgesellschaft – und im Falle Süditaliens der betreffenden Nationalgesellschaft – begreifen, in denen das Niveau funktionaler Differenzierung gleichsam „von außen“ vorgegeben ist. In Anschluss daran macht es Sinn, den Integrationsmodus dieser Gesellschaften, welcher auf Ein- und Unterordnung in mafiaähnliche Patronagenetze beruht, als eine Art Ersatz für das Nichtvorhandensein sozialökonomischer Anrechte im Dahrendorfschen Sinne zu begreifen. Diese Anrechte – sofern sie überhaupt bestehen – haben in diesem Falle einen seltsam eingeschränkten und gradualistischen Charakter, da sie an das „Angebot von Einfluss“ gebunden sind. Das bedeutet, dass der Staat als eingeschlossener S. 237-264. 46 Hessinger, Philipp, Mafia und Mafiakapitalismus als totales soziales Phänomen. Eine vergleichende Perspektive auf die Entwicklung in Italien und Russland, in: Leviathan, 30. Jg., Heft 4 (2002), S. 482-508. 47 Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 22 ff. 48 Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 339. 19 Dritter in diesen Netzen nicht auftaucht. Umgekehrt muss die Bürgschaft der eigenen Handlungs- und Bürgerrechte von einem ausgeschlossenen Dritten quasi zugekauft werden. Anders ausgedrückt: in Gesellschaften diesen Typs ist nicht „Inklusion“, sondern „Exklusion“ der gesellschaftliche Primärsachverhalt und die Teilhabe an gesellschaftlichen Grundrechten wie Unversehrtheit der Person und des Eigentums oder soziale Sicherheit sind an die Teilhabe an Netzwerken gekoppelt und damit mehr oder weniger nach sozialer Situation und sozialer Leistungsfähigkeit abgestuft. In dieser – und nur in dieser – Hinsicht gibt es Analogien zwischen den Strukturen in diesen peripheren Gesellschaften und denen im Zentrum der Weltgesellschaft. Dahrendorf sieht freilich auch im globalen Maßstab eine doppelte Tendenz in Richtung auf eine Fusion von Kapitalismus und Autoritarismus einerseits und eine in Richtung der Aushöhlung politischer und sozialer Bürgerrechte andererseits.49 Das heißt nicht, dass die formale Demokratie auf dem Rückzug ist – im Gegenteil. Und das heißt auch nicht, dass wir es in den entwickelten Industriegesellschaften mit totalitären Tendenzen zu tun haben, wie sie in mafia-kapitalistischen Gesellschaften anzutreffen sind.50 Autoritarismus ist nicht Totalitarismus. Dahrendorf skizziert im groben Umriss drei Szenarien, die mit einander verwoben sind. Zum einen sieht er in den Transformationsgesellschaften Osteuropas in vielen Bereichen jene „unerfreuliche Verbindung von Spekulanten, Mafiosi, ja Gangstern, und Gesichtern der alten Nomen-Klatura“,51 von denen gerade die Rede war. Das zweite Szenario bezieht sich auf den ostasiatischen Kapitalismus. Im Falle des japanischen „Allianz-Kapitalismus“ ist es das Gespinst informeller Patronagenetze auf Unternehmerebene, welches zu einer autoritären „Deformation“ des Kapitalismus beiträgt. Allerdings ist es gerade in diesem Fall zu einer relativ stabilen Institutionalisierung sozialen Anrechts auf Unternehmens- und Betriebsebene gekommen.52 Schließlich sieht Dahrendorf im Neo-Liberalismus einer Margret Thatcher autoritäre Tendenzen am Werk. „Sie definiert Freund und Feind sehr klar, wendet sich gegen die Bürgergesellschaft als Ressource der Feinde, und stärkt die Zentralisierung mitsamt 49 Dahrendorf, Ralf, Die Quadratur des Kreises: Wirtschaftlicher Wohlstand, sozialer Zusammenhalt und politische Freiheit, in: ders., Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, München 2004, S. 103-131. 50 Dahrendorf, Ralf , Über die Verflechtungen von Ökonomie und Politik, in: ders., Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, München 2004, S. 88-102. 51 Ebd., S. 99. 52 Dieses Gegenmodell unterscheidet sich freilich in seinen normativen politischen Grundlagen von dem westlichen Ur-Modell, so wie es in der Französischen Revolution aus der Taufe gehoben wurde (vgl. Hessinger, Philipp, Die „Governance“. Depression in Japan. Überlegungen zur Strukturkrise der japanischen Wirtschaft, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 33, Heft 4 (2004), S. 321-344. 20 ihren zahlreichen unkontrollierten Agenturen zum Nutzen der Freunde“.53 Colin Crouch spricht in diesem Zusammenhang von den 80er Jahren als den Beginn der „postdemokratischen Ära“. Diese zeichnet sich nicht nur durch eine schleichende Aushöhlung des politischen Bürgerrechts, sondern insbesondere auch der sozialen Anrechte aus.54 Dahrendorf wiederum sieht in dieser Ära den Beginn des Aufstiegs einer neuen sozialen Klasse, deren Mitglieder in besonderer Weise von Gelegenheiten und Risiken der neu entstehenden Netzwerkgesellschaft profitieren. Der gesellschaftliche Vorrang und die soziale Macht dieser neuen „globalen Klasse“ leitet er in Anschluss an Rosabeth Moss Kanter von den drei „großen K´s“ ab: „Konzeption“, „Kompetenz“ und „Kontakte“.55 „Konzepte“ steht für die besten und neuesten Kenntnisse und Ideen, „Kompetenz“ für die Fähigkeit, auf dem „höchsten Niveau“ jedes gegebenen Ortes zu funktionieren,56 und „Kontakte“ für die besten Beziehungen, „die Zugang verschaffen zu den Ressourcen anderer Menschen und Organisationen rund um die Welt“.57 Mit Blick auf die von Robert Reich Anfang der 90er ins Spiel gebrachte These von der „Sezession der Erfolgreichen“58 sieht auch Richard Rorty die Gefahr der Entstehung einer von bürgerschaftlichen Verpflichtungen weitgehend „freien“ kosmopolitischen Klasse. Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung schätzt der engagierte Philosoph sehr ähnlich ein wie der ehemalige amerikanische Arbeitsminister. „Der neue wirtschaftliche Kosmopolitismus lässt eine Zukunft ahnen, in der der Lebensstandard der übrigen drei Viertel ständig sinkt. Uns steht wahrscheinlich am Ende ein Amerika der erblichen Kasten bevor [...]. Eine der erschreckendsten sozialen Tendenzen spiegelt sich in der Tatsache wider, dass von den Kindern des oberen sozioökonomischen Viertels der amerikanischen Familien 1979 viermal so viele einen College-Abschluss hatten wie aus dem unteren Viertel, heute aber [1994, Ph.H.] zehnmal so viele“.59 Zum ideologischen Habitus dieser globalen Klasse gehören eine starke Gegenwartsorientierung, eine teils zynische, teils euphorische Bejahung der spezifischen Kontingenz 53 Dahrendorf, Ralf, Die Quadratur des Kreises: Wirtschaftlicher Wohlstand, sozialer Zusammenhalt und politische Freiheit, in: ders., Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, München 2004, S. 99. 54 Crouch, Post-Democracy. 55 Dahrendorf, Ralf, Die globale Klasse und die neue Ungleichheit, in: ders., Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, München S. 251-264, hier S. 254. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Reich, The Work Of Nations. Preparing Ourselves for 21st-Century Capitalism, S. 282 ff. 59 Rorty, Richard, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt a.M. 21 und Riskiertheit der „post-modernen“ Handlungs- und Lebensbedingungen sowie eine gewisse Verliebtheit in Paradoxien und Ambivalenzen.60 Hier gibt es vermutlich deutliche Unterschiede zu der Haltung der modernen Unterklasse. Sennett zufolge sind die dichten und weitgreifenden Kontaktnetze der Mitglieder der Oberschicht so etwas wie die soziale Basis dieser verbreiteten Rationalitätsskepsis ihrer Mitglieder.61 Demgegenüber verfügen die Mitglieder der Unterklasse nur über dünne Kontaktnetze. Das bedeutet, dass sie für ihr eigenes Überleben in viel stärkerem Maße auf „strategisches Denken“ angewiesen sind, d.h. es gibt so etwas wie das Bedürfnis nach einem „lesbaren sozialen Plan“.62 Umgekehrt, so macht schon ein kurzer Blick in die betreffende Managementliteratur deutlich, ist für die Mitglieder der globalen Klasse die spezifische Brüchigkeit und Kontingenz organisatorischen Handelns die unerschöpfliche Quelle eines gehobenen Amüsements. 5. Organisationen und Netzwerkopportunismus: Veränderungen der organisatorisch – wirtschaftlichen Handlungsbedingungen Dieses neue soziale Schichtungsmodell, welches an dieser Stelle nur in sehr groben Umrissen skizziert werden kann, korrespondiert mit Veränderung der sozialen Beziehungen in den Unternehmen. Interessant ist, dass es in der heutigen Organisations- und Arbeitsoziologie zwei grundlegend verschiedene Perspektiven auf das moderne „Netzwerkunternehmen“ gibt, die eigentümliche Parallelen mit den beiden genannten Interessenperspektiven aufweisen. Den ersten Ansatz könnte man als die „EmbeddednessPerspektive“ in der modernen Organisationsforschung bezeichnen, den zweiten Ansatz als die dazu komplementäre „Entgrenzungs-Perspektive“. Beide Ansätze stehen in enger Beziehung zu einander, weil sie sich beide auf das Phänomen interorganisatorischer Netzwerke beziehen – allerdings aus unterschiedlichen Blickrichtungen. Die Mitglieder der „globalen Klasse“, so wie sie Dahrendorf beschreibt, sind in einem umfassenden Sinne „Netzwerker“. Das bedeutet, dass sie sich in stabilen Netzen bewegen und im Falle beruflicher Unsicherheit auf frühere Kontakte und „Adressen“ zurück- 1999, S. 83. 60 Man könnte vielleicht sagen, die Weltanschauung dieser neuen globalen Klasse ist „marchistisch“, (im Sinne des Duktus der Organisationstheorie von James Garner March), die der neuen Unterklasse hingegen in geringem Maße noch „marxistisch“. 61 Sennett, Richard, Die Kultur des Neuen Kapitalismus, Berlin 2005, S. 64. 62 Ebd., S. 65. 22 greifen können. Sie gehören gewissermaßen zur „eingebetteten Klasse“. Die Mitglieder der „abhängigen Klasse“ agieren demgegenüber eher im Binnenbereich der Organisation. Aufgrund ihrer eher dünnen Netzwerke sind sie deswegen tendenziell eher Objekte als Subjekte des organisatorischen Wandels. Dieser wird in ihren Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen dann als Flexibilisierungs- und Prekarisierungsdruck wirksam, welcher sich wiederum aus der zunehmenden „Entgrenzung“ der organisatorischen Beziehungen nach außen ergibt. Der „Embeddedness-Ansatz“ geht auf einen berühmten Ansatz von Mark Granovetter zurück, der dann durch einen weiteren Ansatz von Walter Powell weiter vertieft und ausgearbeitet wurde.63 Knapp zusammengefasst zielt Granovetters Argumentation darauf, dass die zwischenorganisatorischen Austauschbeziehungen in der Regel nicht reine Transaktionssequenzen darstellen, die unter Transaktionskostengesichtspunkten beliebig auflösbar und wiederknüpfbar sind. Vielmehr sind die Austauschbeziehungen der Organisationen im Normalfall – aus Gründen begrenzter Rationalität – relativ stabil. Überdies haben sie in ihrer Eigenschaft als „ongoing relations“ eine Eigenlogik des interaktiven Miteinanders, aus der heraus sich Vertrauen und „Normen der Reziprozität“ entwickeln können. Auf den letzten Aspekt legt vor allem Powell einen deutlichen Akzent. So gesehen sind Netze Handlungen, die Selektionen im Hinblick auf die je gegebene Organisation darstellen, und die entsprechenden „Bindungen“ und „Beziehungen“ sind vor allem die Bindungen, die aus höheren Statuspositionen heraus (allerdings nicht notwendigerweise aus einer höheren hierarchischen Position heraus) in die Umwelt hinausreichen. Aus systemtheoretischer Blickrichtung könnte man also sagen: Granovetters „ongoing relations“ stellen so etwas wie die Verlängerung der organisationsinternen „Kommunikationswege“ in die Umwelt dar.64 Das heißt, Entscheidungsprozesse in 63 Granovetter, Mark, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology, 91, No 3 (1985), S. 481-510. 64 Dem systemtheoretischen Konzept der „Kommunikationswege“ liegen netzwerktheoretische Überlegungen zugrunde (Luhmann, Niklas, Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1995, S. 190 ff.). Die zentrale Idee ist, dass das unvermeidbare Rationalitätsdefizit in den organisatorischen Entscheidungsprozessen dazu zwingt, auf die strukturellen Gegebenheiten des Organisationsaufbaus Bezug zu nehmen. Diese werden dann gleichsam als „Entscheidungsprämissen“ wirksam (Luhmann, Niklas, Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S. 222). Luhmann spricht dabei sogar von so etwas wie einem unvermeidbaren „blinden Fleck“ in den organisatorischen Entscheidungsprozessen. Neben der „Personalauswahl“ und der „Programmstruktur“ der Organisation ist die Ausgestaltung der „Kommunikationswege“ in diesem Sinne eine Entscheidungsprämisse. Dieser letztere Terminus verweist im Unterschied zum Begriff der „Befehlskette“ darauf, dass Kommunikationsprozesse in Organisationen beidseitig orientiert sind. Die Grundannahme ist nun, dass der „Prozess des Organisierens“ darin besteht, Kommunikationswege und netze selektiv und problemorientiert auszugestalten. „All-Kanal-Netze“ – mittels derer jeder mit jedem kommunizieren kann – stellen dabei ein Null-Niveau von Organisation und ein Maximum an inhaltlicher 23 Organisationen sind pfadabhängig und eine entscheidende Dimension von Pfadabhängigkeit ist die Einbettung organisatorischen Handelns in interorganisatorische Netze mit ihren je spezifischen „lokalen Rationalitäten“.65 Die Forschungsperspektive auf organisatorische „Entgrenzungsprozesse“ wurde demgegenüber weniger in der eigentlichen Organisationssoziologie, sondern eher in der Industrie- und Arbeitssoziologie eingenommen und weiterverfolgt.66 Richard Sennett Kommunikation dar (Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 198; Scott, Richard, Grundlagen der Organisationstheorie, Frankfurt a.M./New York 1986, S. 208). „Sternförmige Netze“, so wie sie für pyramidenförmige Organisationen typisch sind, haben demgegenüber den Vorteil von Tempogewinn. Der Nachteil einer derartigen, „vertikalen“ Struktur von Kommunikationswegen gegenüber einer horizontal angelegten Struktur besteht freilich in einer relativ geringen Aufnahmefähigkeit von komplexen Problemlagen (Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 199 ff.). Damit besteht die Gefahr, dass sich die Kontakte an der Organisationsspitze gleichsam „heiß laufen“. Die Ausgestaltung von Kommunikationswegen in der organisatorischen Umwelt folgt dabei der gleichen Logik. Auch im Hinblick auf die Umweltkontakte gilt also dasselbe „Gesetz“ der beschränkten Rationalität“, was sich konkret darin bemerkbar macht, dass ab einer gewissen Problemkomplexität keine „All-Kanal-Netze“ in der Umwelt zur Verfügung stehen. Auch hier sind also selektive Einschränkungen der Kommunikationsstruktur Folge begrenzter Rationalität und begrenzter Informationsgewinnungskapazität (Tushman, Michael, Communication across organisational boundaries, in: Administrative Science Quarterly, 4 [1977], S. 624645). Pointiert ausgedrückt: das Problem der Ausgestaltung von organisatorischen Netzwerkbeziehungen im Außenbereich ist die Kehrseite des Problems der Schaffung selektiver Komplexität in den organisatorischen Binnenstrukturen. Das Problem der selektiven Komplexität von Netzen wird im „Einbettungs“- und im „Entgrenzungsansatz“ der Organisationsforschung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Der EmbeddednessAnsatz beobachtet nämlich primär solche Handlungen im „totalen Netz“ (vgl. Barnes, Networks and Political Process), die ihrerseits Selektionen im Hinblick auf ein gegebenes Organisationssystem darstellen. Der Entgrenzungs-Ansatz hingegen geht davon aus, dass Netze per se auch auf (aus der jeweiligen Organisationsperspektive) nicht beobachtbare Fremdreferenzen verweisen. M.a.W. – Netze stellen nicht nur selektive Komplexität zur Verfügung, sie umfassen auch kontaktfreie Räume. Kontaktfreie Räume sind wiederum gekennzeichnet durch eine Wechselbeziehung von Kontaktanhäufung und Kontaktleere (vgl. Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 393). Anders ausgedrückt: der Begriff des „totalen Netzes“ liegt gleichsam quer zum Systembegriff. Er umfasst also einerseits Handlungen, die Selektionen im Hinblick auf ein gegebenes System darstellen. Dieser Netzwerkbegriff – so könnte man in Anschluss an Luhmann sagen – liegt auf der markierten Seite der Unterscheidung von Organisation und Umwelt (Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 123 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband, Frankfurt a.M. 1997, S. 190 ff.). Andererseits diskriminiert das totale Netz selber nicht zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Netze – im Sinne ihres Beziehungsmusters von strukturellen Löchern – liegen also nur im Grenzfall (etwa im Fall einer gelingenden Profitrealisierung) innerhalb des „marked space“ der Organisation. Im Normalfall hingegen sind Netze so gesehen aus der Organisationsperspektive ein „unmarked space“. All das trägt wiederum dazu bei, dass sich die organisationsrelevanten Handlungen zunehmend der direkten organisatorischen Kontrolle entziehen. Das hat wiederum den paradoxen Effekt, dass nicht auf die primär intern definierten Aspekte von „Koordination“ und „Kooperation“ das Hauptaugenmerk in den organisatorischen Entscheidungsprozessen gelegt werden muss, sondern auf die Form des organisatorischen Grenzmanagements (Tacke, Veronika, Systemrationalisierung an ihren Grenzen – Organisationsgrenzen und Funktionen von Grenzstellen in Wirtschaftsorganisationen, in: Schreyögg, Georg und Sydow, Jörg (Hg.): Gestaltung von Organisationsgrenzen. Managementforschung 7, Berlin/New York 1997, S. 1-43). Das Schlagwort von der „entgrenzten Organisation“ steht dabei nur für eine sehr verkürzte Sichtweise auf diese komplexe Problematik. 65 Friedberg, Ehrhard, Ordnung und Macht. Dynamiken organisierten Handelns, Frankfurt a.M./New York 1995: S. 169 ff. 66 Sennett, Die Kultur des Neuen Kapitalismus; Minssen, Heiner (Hg), Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin 2000; Altmann, Norbert und Sauer, Dieter (Hg.), Systemische Rationalisierung und Zulieferindustrie. Sozialwissenschaftliche Aspekte zwischenbetrieblicher Arbeitstei- 24 beschreibt die diesbezüglich relevanten Organisationspraktiken als eine Art „Dreischritt“ der „Flexibilisierung der Belegschaft“, der „Abflachung der Hierarchie“ und die „Ermöglichung nicht-linearer Abläufe“.67 Problematisch erscheint in dieser Perspektive weniger der Prozess der Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse. Brisant ist vielmehr die damit verbundene Auflösung eines klar definierten Mitgliedschaftsstatus. Typisch für dieses neue Organisationsmodell ist eine Tendenz, durch die Betonung außen-gerichteter Kontakte ein Moment von Konkurrenz in die innerbetrieblichen Beziehungen einzuführen. Sennett stimmt zwar Granovetter zu, dass in flexiblen Organisationen „offene zwischenmenschliche Beziehungen“ eine große Rolle spielen können.68 Aber er betont gleichermaßen, dass in denselben Zusammenhängen in der Regel ein hohes Maß von Stress und Unsicherheit existiert. Das im Wettbewerb zwischen Projektgruppen oft angewandte „the winner takes all“-Prinzip, führt dabei ihm zufolge in vielen Betrieben dazu, dass sich ein Klima diffuser Ängste verbreitet. Seine Diagnose steht damit in direktem Gegensatz zu Powells Ansicht, dass sich „eingebettete Organisationen“ durch eine hoch entwickelte Vertrauenskultur auszeichnen. Pointiert ausgedrückt könnte man sagen: Powell beschreibt das Unternehmensklima aus der Perspektive erfolgreicher Netzwerker, die an den „Grenzstellen“ (und in den Spitzenpositionen) der Unternehmen agieren, Sennett hingegen aus der Perspektive der Angehörigen des technisch-organisatorischen Kerns, in deren Alltagshandeln gleichsam „von außen her“ zunehmend Unsicherheit „einsickert“. Die Problematik der Kommunikation über Grenzstellen69 ist dabei nicht zu trennen von der Frage der innerorganisatorischen Machtverteilung. Typischerweise haben nämlich Grenzstellen-Akteure mehr Macht als „normale“ Organisationsmitglieder.70 Aus ihrer Fähigkeit, Informationskanäle und Handlungschancen zu monopolisieren, resultieren deswegen in der Regel mehr oder weniger informell abgesicherte Handlungsrechte. Ein wesentliches Problem besteht nun darin, dass diese Umverteilung von Handlungsrechten zugunsten einiger Organisationsmitglieder den Mitgliederstatus aller Organisationsmitglieder nachhaltig beeinflusst. Der verbreiteten Praxis der Auszahlung von Prämien, Sonderzahlungen oder Aktienbeteiligungen an bestimmte privilegierte Betriebsangehörige, steht dann die zunehmende Prekarisierung anderer nicht-privilegierter Beleglung, Frankfurt a.M./New York 1989. 67 Sennett, Die Kultur des Neuen Kapitalismus, S. 43. 68 Ebd., S. 44. 69 Vgl. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 220ff. 70 Crozier, Michel und Friedberg, Ehrhard, L´acteur et le système, Paris 1977, S. 139 ff. 25 schaftsanteile gegenüber. Daraus ergibt sich das Dilemma, dass es schwierig ist, die – gewünschte – Loyalität in den grenzüberschreitenden Netzbeziehungen mit der – notwendigen – Loyalität in den organisatorischen Binnenbeziehungen zu vereinbaren. Das ist wiederum untrennbar damit verbunden, was Sennett die „neue Geographie der Macht“ im Unternehmen nennt: „Das Zentrum kontrolliert die Peripherie innerhalb einer Institution mit immer weniger bürokratischen Zwischenschichten [...]. In der Organisation avancierten Typus stellen sich Defizite der Loyalität, des informellen Vertrauens und des akkumulierten institutionellen Wissens ein. Für die Einzelnen kann Arbeit zwar weiterhin großen Wert haben, doch das moralische Ansehen der Arbeit verändert sich“.71 Im Gegenzug wurde der „Embeddedness-Ansatz“ in der eher Management-orientierten Organisationsforschung weiter „ausbuchstabiert“. Das Forschungsinteresse richtet sich hier auf die Herausbildung von so etwas wie eigenständigen Handlungssphären mit je eigenen Standards und Qualitätskonventionen, welche sich an „Objekten“ festmachen lassen. Derartige Netze erfordern also immer erhebliche „Forminvestitionen“ in die Aushandlung von Standards und Objektqualitäten.72 Luhmann folgend kann man in diesem Zusammenhang von „Zwischensystemen“ sprechen.73 Die fortschreitende Stabilisierung solcher Zwischensysteme bietet dann u.U. die Möglichkeit, soziale Anrechte auf Basis „gerechter Statuszuordnungen“ und Entlohnungsrichtlinien zu reinstitutionalisieren. Bedingung dafür ist freilich eine Orientierung an gleichsam reflexiv angelegten und individuell spezifizierbaren Gerechtigkeitsformeln, die sich grundlegend von dem Muster des „Normalarbeitsverhältnisses“ unterscheiden, welches noch in der „fordistischen“ Phase der Entwicklung der modernen Industrie vorherrschte. Boltanski und Chiapello sprechen in dieser Hinsicht von einer „Projektpolis“, deren „Wertigkeiten“ und Gerechtigkeitsstandards der Realität hochmobiler Arbeitsverhältnisse entspricht.74 Das betrifft etwa Rechte auf Weiterbildung und Qualifizierung, Mobilitätsrechte u.Ä., wodurch der Übergang in neue Arbeitsverhältnisse erleichtert wird, ohne dass die Sichtbarkeit der in den ehemaligen Projekten erbrachten Arbeitsleistungen verloren geht. Nur durch derartige – gleichsam „kontingenzfeste“ – Regularien wird es vermutlich in Zukunft möglich sein, jene neuen Formen sozialer Ausbeutung zu bekämpfen, welche die 71 Sennett, Die Kultur des Neuen Kapitalismus, S. 65f. Vgl. Thévenot, Laurent, Les investissements de forme, in: Conventions économiques. Cahiers du centre d´études de l´emploi (1985), S. 21-71. 73 Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation , S. 227. 74 Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 147 ff. 72 26 genannten AutorenInnen als „Netzwerkopportunismus“ bezeichnen.75 Betrachtet man Netzwerk als auf Organisationen zugerechnete Handlungen, so kommen verschiedene Formtypen organisatorischer „Zwischensysteme“ in den Blick. Diese Formtypen unterscheiden sich nun hinsichtlich des Maßes an Selektivität, welches sich in den interorganisatorischen Netzen in den Handlungen der Akteure herausgebildet hat. Das höchste Maß an Selektivität (und selektiver Komplexität) betrifft Netzwerke „systemischer Rationalisierung“, d.h. enge strukturelle Verkopplungen verschiedener Organisationen – wie sie z.B. im Zuge der Entwicklung von Just-in-Time- Zulieferbeziehungen oder Partnerschaften von „System-Zulieferern“ entstanden sind.76 Ein Beispiel hierfür sind die außerordentlich fein abgestimmten Kooperationsbeziehungen zwischen Endfertigern und Systemzulieferern, welche sich ausgehend vom so genannten „Toyota-Modell“ mittlerweile weltweit in der Automobilindustrie durchgesetzt haben. Einen zweiten Formtyp stellen „strategische Netze“ dar, die in ihrer Eigenschaft als „Unternehmungsnetze“ immer nur sehr begrenzte Überschneidungsbereiche in der zwischenorganisatorischen Kommunikationen und Handlungen betreffen. Jörg Sydow und Arnold Windeler sprechen hier von einer „Quasi-Externalisierung“ und einer „QuasiInternalisierung“ von Aktivitäten in den organisatorischen Zwischensystemen.77 Beispiele hierfür sind etwa strategische Allianzen, globale Warenketten und locker gekoppelte Zuliefernetze, Industriedistrikte und regionale Ballungen. Schließlich können „interaktive Netze“ als ein dritter Formtyp unterschieden werden. In diesem Fall existieren noch keine direkten Überschneidungen und strukturelle Kopplungen zwischen Organisatoren. Hier handelt es sich um relativ eng begrenzte Kooperationen, wie z.B. Vertriebspartnerschaften, die sich im Falle der Herausbildung klarer Machtverhältnisse in strategische Netze transformieren können. Kommunikationen und 75 Ebd., S. 422 ff. Sabel, Charles, Learning by Monitoring: The Institutions of Economic Development, in: Smelser, Neil und Swedberg, Richard (Hg.), The Handbook of Economic Sociology, Princeton 1994, S. 137-165; Altmann, Norbert und Dieter Sauer, Systemische Rationalisierung und Zulieferindustrie. In diesem Fall steht das organisatorische Zwischensystem gleichsam „orthogonal“ zur Autopoiesis der beteiligten Organisationen: Irritationen im gegenseitigen Verkehr werden nicht nur vermieden, sondern gezielt gesucht und genutzt, um so die Bewältigung von Ungewissheit und Unsicherheit im organisationsinternen Bereich zu stimulieren (vgl. Tacke, Systemrationalisierung an ihren Grenzen – Organisationsgrenzen und Funktionen von Grenzstellen in Wirtschaftsorganisationen; Teubner, Gunther, Die vielköpfige Hydra. Netzwerke als Kollektive Akteure höherer Ordnung, in: Krohn, Wolfgang und Küppers, Günter (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M, 1992, S. 189-216). 77 Windeler, Arnold , Unternehmungsnetzwerke. Konstitution und Strukturation, Opladen 2001; Sydow, Jörg, Strategische Netzwerke. Evolution und Organisation, Wiesbaden 1993. 76 27 Handlungen im Netz beziehen sich auf „Aktivitäten“ und „Ressourcen“ im Feld, die gleichsam als externe „Objekte“ beobachtet und davon ausgehend miteinander nach strategischen Gesichtspunkten verknüpft werden.78 Derartige interaktive Netzwerke stellen so etwas wie den materiellen Hintergrund von „strategischen Netzen“ dar. Sie betreffen dabei im Wesentlichen die Handlungs- und Objektstruktur von Handlungsfeldern und – noch – nicht Organisationsstrukturen im eigentlichen Sinne. Insgesamt betrachtet kann dann diese dreifache Formtypik auch als ein Prozess der graduellen Zunahme von selektiver Komplexität in den organisatorischen Zwischensystemen verstanden werden. Aber auch wenn die Etablierung organisatorischer Zwischensysteme ein gewisses Maß an Stabilität in den interorganisatorischen Beziehungen ermöglichen sollte, die von Sennett so bezeichnete „neue Geographie der Macht“ impliziert ein gegenläufiges Moment. Letztlich haben wir es mit einer grundlegenden Neubestimmung der arbeitsorganisatorischen Hintergrundsstrukturen des Mitgliedschaftsstatus zu tun. Denn die Ausstattungsmerkmale dieses Status leiten sich zunehmend nicht mehr direkt aus Kriterien der Zugehörigkeit zur Organisation ab (formelle Position, interne Laufbahn, institutionelles Wissen), sondern aus der Netzwerkmacht – und den damit zusammenhängenden Mobilitätsvorteilen – der Akteure. Das wiederum bedeutet, dass das Problem des Netzwerkopportunismus – anders als eine weit verbreitete, affirmativ eingestellte Managementliteratur glauben machen möchte – von konstitutiver Bedeutung für das moderne Netzwerkunternehmen ist. Im Zentrum steht dabei das Problem der Veränderung der moralischen Anerkennungsgrammatik der Arbeit im Betrieb. Auf die moralische Komponente in betrieblichen Kooperationsprozessen hat vor allem Chester Barnard – einer der Begründer der modernen Organisationssoziologie – aufmerksam gemacht.79 Ihm zufolge ist es unmöglich, das Zustandekommen von Kooperation aus den individuellen Handlungslogiken der einzelnen Teammitglieder zu begreifen. Der jeweils Einzelne neigt aus vermeintlich „rationalen“ Motiven nämlich immer zum „Trittbrettfahrerverhalten“. Die entscheidende Größe in Prozessen gelingender Kooperation sind deswegen die „hinzukommenden“ Akteure, die die interne Balance der Gruppe verändern.80 U.U. kommt es dann zur Entstehung eines „Gemeinschafts78 Vgl. Axelsson, Björn und Easton, Geoffrey (Hg.), Industrial Networks. A New View of Reality, London/New York 1992; Håkansson, Hakan, Corporate Technological Behaviour, Cooperation and Networks, London/New York 1989. 79 Barnard, Chester, The Function of the Executive, Cambridge/Mass. 1960. 80 Ebd., S. 246 ff. 28 spiels“ und damit zur Erzielung eines Mehrwerts durch Kooperation. Barnard zufolge besteht die Funktion des Managements dann darin, als eine Art „Bürge“ dieses hinzukommenden Dritten in gelingenden Kooperationsprozessen aufzutreten. Ausgehend davon ist es dann möglich, den Mitgliedschaftsstatus der Mitglieder zu institutionalisieren und bestimmte soziale Garantien in Form legitimer Anrechte festzuschreiben (Lohn, Beschäftigungsdauer, Arbeitsbedingungen etc.). In der „moralischen Ökonomie“ netzwerkorientierter Teamarbeit wird die Absicherung des Mitgliedschaftsstatus mittels eines eingeschlossenen Dritten (Bürgen) nun zunehmend durch externe Loyalitäten ersetzt. Soziale Sicherheit ergibt sich also immer weniger aus der direkten Betriebszugehörigkeit und immer mehr aus der Qualität der eigenen Netzwerkkontakte. Damit tritt an die Stelle des eingeschlossenen Bürgen ein aus den innerbetrieblichen Beziehungen ausgeschlossener Dritter. Dieser beglaubigt dann die Validität der Netzwerkkontakte und er trägt darüber hinaus zur „Evaluierung“ der Arbeit und der Arbeitsleistung bei. Boltanski und Chiapello zufolge ist „Netzwerkopportunismus“ deswegen eine verbreitete Figur des Sozialverhaltens in modernen, „entgrenzten“ Organisationen.81 Der Netzwerkopportunist instrumentalisiert die Kooperation der anderen, ohne selbst zu kooperieren. Er arbeitet also in der Regel in Teams und nutzt seine „Außenkontakte“, um arbeits- und verwertungsrelevante Informationen zu beschaffen und weiterzugeben. In Gegensatz zum seriösen „Netzwerker“ hat er aber kein Interesse an der Weitergabe dieser Informationen und Kontakte ins Team. Er versucht also Informationssymmetrien so gut wie möglich auszunutzen. Dieses individuelle Verhaltensmodell findet seine Fortsetzung auf organisatorischer Ebene im Verhalten ganzer Unternehmen. Die genannten AutorenInnen konstatieren in dieser Hinsicht eine Tendenz – vor allem der transnationalen Unternehmen –, die „Bindung an das Territorium kontinuierlich zu lockern, und in dieser Hinsicht die abhängigen Zulieferer quasi „mitzuziehen“. „Eine Reservearmee, die in der Dritten Welt, den Schwellen- oder auch den ehemals kommunistischen Ländern zur Verfügung steht, kommt den Verschiebungen und dem kapitalistischen Wachstumsschub zugute, denn trotz der Entmutigungen oder der Revolte derjenigen, deren Hoffungen enttäuscht worden sind, finden sich immer wieder Menschen, die bereit sind, sich auf dieses Abenteuer einzulassen“.82 Die Konsequenz ist, dass „in allen Phasen des Wertschöpfungsprozesses der Mobilere dem weniger Mobilen dessen 81 82 Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 397 ff. Ebd., S. 553. 29 Wertzuwachs vorenthält“.83 Die Bedingungsmöglichkeit von Netzwerkopportunismus ist nun, dass die ausgehend von einer gegebenen Organisation „gebahnten“ und genutzten Netze eine „organisationsfremde“ Außenseite haben. (Systemtheoretisch gesprochen sind sie damit ein „unmarked space“, der die Kehrseite der organisationsrelevanten „Bezeichnungen“ und „Unterscheidungen“ darstellt.)84 Kontakte, die derartige kontaktfreie Räume überbrücken, können dabei in den Binnenbereich in die Organisation hineinreichen, so dass eine Zone fremdreferentieller Verweisungen im organisatorischen Handeln entsteht. Die Zwischensysteme sind also permanentem Veränderungsdruck ausgesetzt und dieser Druck verlagert sich in die Organisation selbst. In den organisationssoziologischen Debatten (und der daran anschließenden wirtschaftssoziologischen Literatur) ist dabei von einer grundlegenden Gegentendenz zur „Strukturierung“ und Stabilisierung derartiger organisatorischer Zwischensysteme die Rede. Diese bedingt in periodischen Abständen eine „Heterogenisierung“ und einen damit einhergehenden Orientierungs- und Ordnungsverlust in den zwischenorganisatorischen Beziehungen.85 Der heutige „ungeduldige Kapitalismus“ der Finanzmärkte und der Shareholder-Value-Optimierung mit seinen Macht- und Einflussnetzwerken von Analysten und Beratern, Beteiligungsgesellschaften und Investmentformen „wirbelt“ in gewissen Abständen die organisatorischen Zwischensysteme durcheinander, dringt „von außen“ in die organisatorische Systemrationalität ein und unterwirft diese vorgegebenen und kurzfristig orientierten Zwecken, Zeitzyklen und Profiterwartungen. In den Worten von Sennett: „Die Generäle an der Spitze sind nicht mehr die Unternehmensführer [...], weil ganz neue, von der Seite einwirkende Mächte entstanden sind“.86 Die Folge ist zunächst dass, was Boltanski und Chiapello ein „Regime der Verschiebungen“ nennen, d.h. die permanente Prekarität und Unsicherheit innerorganisatorischer Statuszuweisungen, sozialer Garantien und Anrechte. Die Etablierung neuer Gerechtigkeitsstandards und Anrechte ist unter diesen Bedingungen also z. Zt. noch eine schwierige Angelegenheit, die vermutlich nur in enger Zusammenarbeit von politischen Instanzen, Unternehmen, Gewerkschaften und neuen Protestbewegungen bewerkstelligt werden kann. Die derzeitige Haupttendenz ist deswe- 83 Ebd., S. 411. Vgl. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 190 ff. 85 Vgl. Hessinger, Philipp, Vernetzte Wirtschaft und ökonomische Entwicklung. Organisatorischer Wandel, Institutionelle Einbettung, Zivilgesellschaftliche Perspektiven, Wiesbaden 2001, S. 121 ff.; Håkansson, Hakan, Corporate Technological Behaviour, Cooperation and Networks, S. 31 ff. 86 Sennett, Richard, 2006: S. 35. 84 30 gen möglicherweise nicht die der Etablierung gleichsam „ultrastabiler“ Zwischensysteme, sondern die einer Vertiefung der Prekarisierungs- und Verschiebungsprozesse. In den Betrieben selber manifestiert sich die gleiche Tendenz im Entstehen neuer Konflikt- und Segmentationslinien zwischen den Beschäftigtengruppen. Eine jüngere – in Zusammenarbeit mit der IG-Metall erstellte empirische Studie – konstatiert in dieser Hinsicht einen wachsenden Gegensatz zwischen den gemeinschaftlich-solidarischen Handlungsstrategien der technisch orientierten Beschäftigten und den eher individualistischen Interessenvertretungsstrategien der neu hinzukommenden kaufmännischorganisatorischen Beschäftigten.87 Die Akteure des gemeinschaftlich-solidarischen Typus agieren „mit einer Mischung aus permanenter sozialer Beziehungspflege, kooperativem Umgangsstil und gelegentlichem Druck und Sanktionen [...], sowie mit sehr viel Pragmatismus“.88 Die kaufmännisch-organisatorisch orientierten Akteure „sind höher gebildet, besser qualifiziert und setzen stärker auf Konkurrenz und individuellen Aufstieg. Ihr Habitus und Berufsethos haben eine größere Nähe zu den von Unternehmensseite inzwischen eingeführten Maßnahmen der individuellen Leistungsanreize, die die interne betriebliche Konkurrenz verstärken“.89 Diese neuen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, so spekulieren die AutorInnen, „werden vermutlich längerfristig den traditionellen und gemeinschaftlich orientierten Arbeitnehmertypus in seiner die Betriebskultur prägenden Einflussnahme verdrängen“.90 Barnard folgend könnte man freilich fragen: Wie ist dann unter diesen Bedingungen überhaupt noch Kooperation möglich? Diese Gewichtsverschiebungen der betrieblichen Kräfteverhältnisse scheinen damit unmittelbar mit den im Vorhergehenden beschriebenen Veränderungen in den betrieblichen Kooperations- und Handlungslogiken zu tun zu haben. Colin Crouch geht in diesem Zusammenhang sogar soweit, von einer „De-Institutionalisierung“ des Unternehmens als sozialer Kategorie zu sprechen. Diese wurde ihm zufolge zunächst im privatwirtschaftlichen Sektor der Gesellschaft vorexerziert, um dann in der Folge die moralischen Grundlagen des öffentlich-stattlichen Bereichs zu unterminieren. 6. Post-Demokratie: Veränderungen der politischen Handlungsbedingungen im heutigen 87 Vester, Michael und Teiwes-Kügler, Christa, Die neuen Arbeitnehmer und der neue industrielle Konflikt – Herausforderungen für die gewerkschaftlichen Strategien, in: Widersprüche, Heft 102, Dezember (2006), S. 79-98, hier S. 92 f. 88 Ebd., S. 91. 89 Ebd., S. 92. 90 Ebd. 31 Kapitalismus Eines der Hauptrisiken dieser Entwicklung besteht dann in der „Entkopplung von Kapitalismus und Staat“.91 Denn staatliche Instanzen sind im Kern Gebietskörperschaften, die in dieser Hinsicht ein strukturell kaum kompensierbares Mobilitätsdefizit gegenüber transnationalen Unternehmen, Beteiligungsfonds und Investmentgesellschaften aufweisen. Der Prozess der Erosion von Mitarbeiterrechten auf Unternehmensebene verlängert sich also tendenziell in den staatlichen Bereich und damit in den Bereich staatlich garantierter Bürger- und Sozialrechte. Pointiert ausgedrückt: der „Staat verliert in dieser Hinsicht an Macht, freilich, und das ist entscheidend, nicht seinen Einfluss“.92 In diesem Sinne definiert Crouch den Übergang zur „Post-Demokratie“ als eine Art Sequenz ineinander greifender „Verschiebungen“.93 Mit diesem Begriff versucht Crouch die allzu „einfach gestrickte“ Alternative von Demokratie und Nicht-Demokratie zu umgehen, um so besser die Rückkehr nicht-demokratischer Strukturen in der Demokratie selber zu beschreiben.94 Er sieht dabei eine doppelte Tendenz der Trivialisierung der Politik in Verbindung mit einer Tendenz der zunehmenden Abschottung der politischen Eliten. Diese doppelte Tendenz ist wiederum Ausdruck einer Art Legitimationskrise der Politik in Beziehung zu den transnationalen Unternehmen, die Crouch zufolge die eigentlich zentrale Institution der „Post-Demokratie“ sind.95 Diese einzelnen Aspekte sind dabei für sich selber sicherlich nichts Neues, neu sind jedoch jene Phänomene, die durch Verschiebungsprozesse in der Beziehung der einzelnen Handlungsdimensionen zu einander zustande kommen. So ist die Tendenz der Trivialisierung der Politik sicherlich eng verbunden mit deren Elitencharakter (und dem bekannten Michelschen Oligarchieprinzip). Die – mehr oder weniger – berechtigte Empörung darüber gerät aber unter post-demokratischen Verhältnissen zur allgemeinen Politikerschelte (falls ein gewisses Niveau der Trivialisierung überschritten ist). Neu ist nun, dass es gerade solchen Parteien gelingt, die eng mit den Geschäftseliten verbunden sind, diesen Populismus zu instrumentalisieren. So war die – überaus erfolgreiche – ehemalige italienische Regierungspartei „Forza Italia“ in ihren Ursprüngen nichts weiter als ein Netzwerk von Unternehmen, die ihrerseits von dem stärksten Unternehmer des Landes kontrolliert wur91 Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 553. Castells, Die Macht der Identität, S. 259. 93 Vgl. Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 362 ff. 94 Crouch, Post-Democracy. 95 Ebd., S. 31 ff.. 92 32 den. Das führt zum einen in einer Art Kurzschlusseffekt zur weiteren Verstärkung des Elitencharakters der Politik. Zum anderen wird der Interessencharakter von Politik zunehmend vage. Ein Politiker dieses neuen Typs, wie der ehemalige italienische Ministerpräsident Berlusconi, agiert dann nicht mehr als Mittler von Allgemein- und Partikularinteressen, sondern als entschiedener Anwalt von (seinen eigenen) Partikularinteressen. Gerade deswegen wird er zum „Anwalt“ des „kleinen Mannes“. Politiker dieses Typs agieren also eher als „Patrone“ denn als „Staatsmänner“, insofern sie anstelle der Gewährung allgemeiner Anrechte die – vermeintliche oder wirkliche – Ermöglichung individueller und persönlicher Zugangsrechte setzen. Eine Politik dieses Typs ist deswegen autoritär, ohne jedoch im formalen Sinne anti-demokratisch zu sein. Überdies ist sie in der Tendenz anti-egalitär, als sie über die Delegitimierung des Staates zur Delegitimierung staatlich verbriefter Anrechte beiträgt. Die derzeitige Delegitimierung des Steuerstaats ist dabei gleichermaßen Konsequenz des Drucks der Geschäftsinteressen auf die Politik und des Protestes gegen diese Form der Einflussnahme. Die in allen OECD-Staaten seit den frühen 80ern zu beobachtende Verschiebung der Steuerlast von den Unternehmen auf die Gruppe Einkommens- und Lohnsteuer zahlender Lohnabhängiger ist in dieser Hinsicht vermutlich von zentraler Bedeutung.96 Unnötig zu sagen, dass das so entstandene populistische „Steuerrebellentum“ sich wiederum leicht von Parteien einfangen lässt, die ihrerseits als der verlängerte Arm von Geschäftsinteressen fungieren. Diese Delegitimierung des Staates verstärkt dann weiter den Druck auf die Privatisierung staatlicher Leistungsangebote und Aufgabenbereiche. Das wiederum führt zu Verschiebungen der Interessensphären, als die privaten Privatisierungsinteressenten nun ihrerseits verstärkt Einfluss auf die Politik nehmen.97 Diese – nur noch selten hinterfragte – Privatisierungslogik führt dann wiederum zu Verschiebungen der Wissens- und Kompetenzpotentiale vom öffentlichen in den privaten Bereich, so dass die staatlichen Instanzen das in Jahrzehnten erworbene Organisationswissen, welches gleichzeitig ein Wissen über den spezifischen Charakter „öffentlicher Güter“ ist, aus der Hand geben. Ein klassisches Beispiel hierfür ist etwa die Privatisierung der Energieversorgung in den 96 Bofinger, Peter, Wir sind besser als wir glauben. Wohlstand für alle, München 2005, S. 191 ff.; Kesssler, Wolfgang, Wirtschaften im Dritten Jahrtausend, Oberursel 1996, S. 26 ff. 97 Im Grunde ist der Bertelsmann-Konzern zweierlei: zum einen eine Stiftung, die in vielen Bereichen als durchaus innovativer Ideengeber auftritt, zum anderen die Gruppe, zu der das europaweit größte Unternehmen (Arvato) von Dienstleistungen im Bereich „public-private partnerships“ gehört. 33 USA.98 Der anti-egalitäre Grundzug post-demokratischer Politik hat dabei zwei eng miteinander verwobene Ursachen. Zum einen hat sich durch die Deregulierung der Finanzmärkte in den frühen 80ern der Kernbereich der ökonomischen Dynamik vom Massenkonsum wegbewegt und hin zur Maximierung von Shareholder-Value-Interessen verlagert. Für die Unternehmen selber bedeutet das, dass der Aktienkurs und nicht die Dividende zum zentralen Erfolgsindikator wird (und der Aktienkurs steigt gerade dann, wenn es zu drastischen Einschnitten bei den Löhnen und den Sozialleistungen kommt). Zum anderen hat sich der Charakter der politischen Parteien zunehmend verändert. Der Idealtyp einer „klassischen“ demokratischen Partei lässt sich Crouch zufolge als ein System konzentrischer Kreise bezeichnen, in deren Zentrum sich die Parteiführung befindet und in deren Außenbereich die Wählerschaft platziert ist.99 Die Parteimitgliedschaft fungiert in diesem System dann als ein intermediärer Zirkel, in dem die Verbindung von Wählerschaft und Führung hergestellt wird. Dieses Parteikonzept lag auch noch der Theorie Gramscis zugrunde, nach der Parteien um eine Problemlösungsformel herum organisiert sind.100 Crouch zufolge gibt es aber mittlerweile neue Wege, „den Zugang zur Wählerschaft zu finden“. Er spricht in dieser Hinsicht von der „elliptischen Partei“, in der der Führungszirkel seinen Einfluss über die Parteimitgliedschaft direkt in den Bereich der Wählerschaft ausdehnt. Zur „Ellipse“ gehört dann ein ganzes Netzwerk von Beratern, Lobbyisten und Meinungsforschungsexperten, wobei diese zusammen mit den Politikern ihren Einfluss mit Gewinn verkaufen (im Falle der Politiker wohl typischerweise immer – noch – nach Ablauf ihrer Regierungszeit). Der Grund für den zunehmenden Einfluss dieser Ellipsen im Vergleich zur eigentlichen Parteimitgliedschaft ist die Tatsache, dass sie in der Regel über echtes „Expertenwissen“ im Hinblick auf das Wählerverhalten verfügt, welches dem – mehr oder weniger – naiven „Amateurenthusiasmus“ der einfachen Parteimitglieder überlegen ist. Durch diese ineinander greifenden Verschiebungen in den politischen Handlungsdimensionen verändert sich tendenziell der Charakter der Politik selber. An die Stelle der Abwägung von Allgemeinwohl und partikularistischer Interessenvertretung treten zunehmend halbprivate Netzwerke, in denen mit öffentlichem Einfluss „gehandelt“ wird. Der Staat wird damit anstatt eines eingeschlossenen Dritten, der die Handlungsrechte 98 Vgl. Stiglitz, Joseph, Die Roaring Nineties. Der entzauberte Boom, Berlin 2003, S. 109 ff., 237 ff. Crouch, Post-Democracy, S. 70 ff. 100 Gramsci, Philosophie der Praxis, S. 302 ff. 99 34 und die sozialen Anrechte der Bürger garantiert, zu einem ausgeschlossenen Dritten, der seinerseits als Netzwerker agiert und die vormals „global“ verstandenen Anrechte zu bloßen „Zugangsrechten“ umdefiniert. Von entscheidender Bedeutung ist deswegen, ob diese Zugangsrechte selber als öffentliche Güter begriffen werden. Die aktuelle Debatte um den „aktivierenden Sozialstaat“ ist deswegen von der Debatte über die Gefahren, die mit der Entwicklung post-demokratischer Strukturen verbunden sind, nicht zu trennen.101 7. Schlussbetrachtung: „Gesellschaft“ Diese anti-egalitären und autoritären Tendenzen von „Netzwerkgesellschaft“ und „PostDemokratie“ stehen in auffälligem Gegensatz zu jenen Momenten an Offenheit, Spontaneität und Selbstorganisation, welche gemeinhin seit den Zeiten Morenos mit dem Netzwerkbegriff in Verbindung gebracht werden. Fast ist man versucht, die von Eric Wolf skizzierte Tendenz der Transformation von Nutzfreundschaft in Patronage als eine dialektische Figur zu interpretieren.102 So gesehen führt die nutzenorientierte Durchdringung und „Öffnung“ der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche zur Entstehung neuer Nischen und Sphären. Von zentraler Bedeutung ist also weniger die Tendenz zur Öffnung und – weltweiter – Vernetzung, sondern die Frage des Zugangs, die eben so oder so „geregelt“ werden kann. Im Grunde ist damit die Beschreibung der heutigen Gesellschaft als „Netzwerkgesellschaft“ nur ein anderer Ausdruck für ihre vollständige Durchökonomisierung. Jürgen Habermas geht demgegenüber von einem Gegensatz von „Netzwerk“ und „Lebenswelt“ aus. Dieser drückt sich ihm zufolge in einem – die gesamte neuere abendländischen Geschichte durchziehenden – Wechselspiel von gesellschaftlichen „Öffnungstendenzen“ aus, die durch „normfreie“ Netze des Handels, Transports und der Information vorangetrieben werden, und dazu komplementären Phasen gesellschaftlicher „Schließung“, in deren Verlauf sich die Normstruktur der Institutionen wieder aus der Sphäre der gesellschaftlichen Lebenswelt regeneriert.103 So gesehen handelt es sich bei der Theorie der Netzwerkgesellschaft um eine Krisendiagnose im Hinblick auf das noch bis Ende der 70er Jahre weitgehend intakte Modell des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus, welches auf einem im nationalstaatlichen Rahmen 101 Bofinger, 2005, S. 195 ff.; Kessler 1996, S. 98 ff. Wolf, Kinship, Friendship, and Patron-Client relations in Complex Societies. 103 Habermas, Jürgen, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die 102 35 mobilisierten und organisierten sozialen Konsens beruhte.104 Die netzwerktheoretische Beschreibung der Krise ist dieser Situation in doppelter Hinsicht adäquat: Sie bringt zum einen die objektiven Krisentendenzen am besten auf den Punkt. Und sie kann darüber hinaus u.U. zur Erforschung der aus diesen Netzen emergierenden neuen gesellschaftlichen Konstellation beitragen. Aus der Netzwerktheorie ergibt sich freilich nicht bruchlos eine Theorie der Gesellschaft. Diesbezüglich erscheinen die Überlegungen Theodor W. Adornos wieder hochaktuell. In der formalen Netzwerktheorie ist nämlich ein eigentümlicher Gegensatz, wenn nicht Widerspruch, in den zugrundeliegenden Identitätskonzepten auszumachen. Zum einen wird etwa bei Moreno und Granovetter „Vernetzung“ rein interaktionistisch als ein offenes Muster reziproker Verhaltenserwartungen und Identitätszuschreibungen verstanden, in welchem ein Moment schöpferischer Entwicklung enthalten ist.105 In anderen Teilen der Literatur werden die Identitäten der Netzakteure aus einer mechanistischen und reaktiven Perspektive beschrieben, etwa als „Hackordnungen“ bei Harrison White.106 Whites Identitäts-Kontroll-Theorie des Handelns lässt an das denken, was Adorno als „Selbsterhaltung ohne Selbst“ bezeichnet hat.107 Gemeint ist damit nicht nur eine Figur des Handelns, sondern auch eine Gesellschaft, die noch im Banne des Autonomieversprechens des Liberalismus steht, an dieses aber sowohl in praktischer, als auch in theoretischer Hinsicht nicht mehr glaubt. Gerade mit Blick auf die Whitesche Gesellschaftstheorie gilt deswegen: „Der Bruch von Gesellschaft und Individuum selbst wirkt als soziales Gesetz, solange die Gesellschaft nicht die der Individuen ist, sondern ihre Verhältnisse ihnen aufbürdet“.108 D.h. Gesellschaftstheorie ist notwendigerweise mehr als eine Invariantenlehre, die auf dem Prinzip der „Hackordnung“ basiert.109 Man kann daher sagen: sowohl den empirischen Theorien der Netzwerkgesellschaft, als auch der formalen Netzwerktheorie liegt eine unaufgelöste Dialektik von Besonderem und postnationale Konstellation, Frankfurt a.M. 1998, S. 91-169, hier S. 125 ff. 104 Habermas, Jürgen, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? Zum Verhältnis von Nation, Rechtsstaat und Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M.1997, S. 154-184; vgl. insbesondere Wagner, Peter, Soziologie der Moderne, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 119 ff. 105 Granovetter, Economic Action and Social Structure; Moreno, Jacob L., Grundlagen der Soziometrie (2. Auflage), Köln/Opladen 1967. 106 White, Harrison, Identity and Control. A Structural Theory of Social Action, Princeton 1992, S. 23 ff. 107 Adorno, Theodor W., Theorie der Halbbildung, in: ders., Soziologische Schriften 1, hg von Rolf Tiedemann , S.93-122, hier S. 115. 108 Adorno, Theodor W., Einleitung zu Emile Durkheim, „Soziologie und Philosophie“, in: ders., Soziologische Schriften 1, S. 245-279, hier S. 278. 109 Vgl. Emirbayer, Mustafa und Goodwin, John, Network analysis, culture, and the problem of agency, 36 Allgemeinem, Individuum und Gesellschaft zugrunde.110 Das ist auch – und gerade deswegen – der Fall, weil es sich im Falle der ersteren Theorien um eine Krisendiagnose handelt, die sich der formalen Mittel der letzteren bedient. Voraussetzung der Überwindung dieser Krise – das ist die implizite These dieses Essays – ist aber die Wiedergewinnung eines gesellschaftlichen Unterscheidungsvermögens zwischen den Beziehungsformen „Freundschaft“, „Loyalität“ und „Nutzen“. Dies ist aber kein Problem der formalen Beschreibung, sondern ein praktisch-politisches Problem der Wiedergewinnung eines öffentlichen Raums, durchaus im Sinne von Boltanski/Chiapellos Verständnis von „Polis“. In den Theorien der Netzwerkgesellschaft werden freilich alle gesellschaftlichen Vermittlungen in terms von Flexibilität, Mobilität und Konnektivität der Individuen konnotiert und damit tendenziell „unlesbar“ gemacht. Gerade deswegen geht es aber darum, ein neues System von Anrechten und sozialen Bürgerrechten zu schaffen, welches den Realitäten der heutigen Netzwerkgesellschaft entspricht und die Risiken des Netzwerkopportunismus neutralisiert. Die Schwierigkeit besteht dann aber darin, dass wir es heute (wieder) mit einer historischen Konstellation zu haben könnten, „in der alles gesellschaftlich Daseiende so vollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Moment der Vermittlung durch seine Totalität verstellt ist“111. Man könnte das auch in Form eines normativen Satzes so ausdrücken: Es gibt kein richtiges Netzwerk im Falschen. in: American Journal of Sociology, 99 (1994), S. 1411-1454. 110 Dieser Widerspruch ist auch dann nicht zu heilen, wenn man wie Lazega/Favereau fordert, eine zu eng geführte interaktionistische Beschreibung von Netzen durch eine Mehrebenenanalyse zu ersetzen, die Aggregationseffekte berücksichtigt (Lazega, Emanuel und Olivier Favereau, Introduction, in: dies. (Hg.), Conventions and Structures in Economic Organisation, Cheltenham, U.K./Northampton, USA 2002, S. 128, hier S. 24. 111 Adorno, Theodor W., Spätkapitalismus und Industriegesellschaft, in: ders., Soziologische Schriften 1, S.354-370, hier S.369 37