Hessinger NETZWERK

Werbung
Philipp Hessinger
„Es gibt kein richtiges Netzwerk im Falschen“ Ein Versuch über Patronage und Post-Demokratie und die jüngere Entwicklung
des postindustriellen Kapitalismus
Einleitende Bemerkungen
Der folgende Essay beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Gesellschaft aussieht, die
sich selber mit der Netzwerkmetapher beschreibt. In Anlehnung an Marx und Engels
berühmter Formulierung aus dem „Kommunistischen Manifest“, dass „alles Ständische
und Stehende verdampft“, welches mit der Dynamik des modernen Kapitalismus in
Berührung komme, ist in Theorien des Netzwerkkapitalismus von einem „Verschwinden des Sozialen“ die Rede. Alles wird mit allem vernetzt, die informationstechnologische Revolution hat eine enorme Beschleunigung der Kapitalzirkulation auf den Weltmärkten begünstigt, im gleichen Zug erodieren jene Strukturen, welche dem sozialen
Leben bisher Halt und Festigkeit gegeben haben – Nationalstaat, Parteien, Familie,
Gewerkschaften und Unternehmen. Freilich handelt es sich im Falle dieses Gebrauchs
des Begriffs „Netzwerk“ um eine unklare und metaphorische Verwendung dieses Terminus, gleichwohl wird dabei ein gewisser Punkt getroffen. „Netze“ sind in ihrer basalen Form nicht Zweier- sondern Dreierbeziehungen. Der hinzukommende Dritte kann
nun aus der Sicht der ersten Zwei aus der Beziehung ein - oder ausgeschlossen sein. Im
ersten Fall haben wir es mit sozialen Netzen in Form von „Gemeinschaften“ zu tun, im
zweiten Fall jedoch mit einer Beziehungsfigur, die ein Entfremdungs- und Alteritätsmoment ins Spiel bringt. Im ersten Fall mit einer Form sozialer Integration, im zweiten
Fall mit einer der sozialen Desintegration. Genau auf diese letztere Figur rekurrieren die
genannten zeitdiagnostischen Theorien. Behauptet wird in diesem Zusammenhang auch,
dass damit ein Zugewinn an Handlungsfreiheit für den Einzelnen einhergehe.
Im folgenden Essay wird diese Behauptung gleichsam gegen den Strich gebürstet. Formen der Gemeinschaftsbildung – und insbesondere das, was Parsons die „gesellschaftliche Gemeinschaft“ nennt – schaffen nämlich in vieler Hinsicht erst die Voraussetzungen
für so etwas wie „agency“, d.h. dafür, dass die Individuen handlungsfähig sind. Hand-
1
lung und „agency“ – so eine Einsicht der klassischen Soziologie – ist keineswegs ein
primäres Phänomen, so wie es sich für die „Spontansoziologie“ des Alltagsbewusstseins
darstellt, sondern vielmehr ein abgeleitetes Phänomen. Die These vom „Verschwinden
des Sozialen“, die in diesem Sinne auf eine Schwächung der integrativen Kräfte in unseren Gesellschaften hinzielt, überspielt diesen Sachverhalt eher als dass sie ihn aufhellt.
Keine komplexe Gesellschaft kann ohne so etwas wie eine „gesellschaftliche Gemeinschaft“ – und ein in diesem Rahmen definiertes System von Anrechten und sozialen
Bürgerrechten – auskommen. Schwindet deren integrative Kraft, so stellt sich das Problem, was dann an die Stelle des Vorhandenen tritt.
In der gesellschaftlichen Figur der „Nutzfreundschaft“ werden nun tatsächlich integrative Funktionen von „Netzen“ gleichsam mitgedacht. Die Figur des „gemeinschaftlich
eingeschlossenen“ Dritten ist in diesem Kontext freilich nur ein Annex einer konkurrenz- und nutzenbezogenen Beziehungsfigur, in der der „ausgeschlossene Dritte“ die
Richtung vorgibt. Die außerordentliche Verbreitung dieser Denkfigur – und der damit
verbundenen Denkungsart – lässt die Vermutung aufkommen, dass die genannten zeitdiagnostischen Ansätze hier so etwas wie ihren empirischen Kern haben. Wenn man
nun ein rein metaphorisches Verständnis von Netzwerk hinter sich lässt und sich auf
eine genauere Analyse der empirischen Veränderungen der gesellschaftlichen Handlungsbedingungen einlässt, wird aber gleichzeitig der trügerische Charakter von „gesellschaftlicher Integration“ unter den gegebenen Bedingungen deutlich. Die zentrale These
dieses Essays ist, dass „Nutzfreundschaft“ tendenziell in „Patronage“ umschlägt. Die
scheinbare Steigerung der Handlungsoptionen von Einzelnen führt dann gesamtgesellschaftlich betrachtet zu einer Verengung der Handlungshorizonte der desintegrierten
Vielen.
Im ersten Kapitel stelle ich kurz einige formale Aspekte und Figuren einer soziologischen Netzwerkanalyse vor. Im zweiten Kapitel werden dann drei unterschiedliche
Theorien des Netzwerkkapitalismus vorgestellt. Im Anschluss daran werden im dritten
Kapitel jene Mechanismen beschrieben, welche patronageartigen Herrschaftsverhältnissen zugrunde liegen. Diese Analyse benutze ich im Folgenden dann gleichsam als „Sonde“, um in den darauffolgenden drei Kapiteln die Veränderung der gesellschaftlichen
Handlungsbedingungen im heutigen postindustriellen Kapitalismus in sozialer, wirtschaftlich-organisatorischer und politischer Hinsicht zu untersuchen. Die vorliegende
Studie ist ein Essay – es geht hier nicht um die Repräsentativität der Befunde sondern
2
um die Plausibilität der Argumentation. Sollte der Autor durch die weitere gesellschaftliche Entwicklung ins Unrecht gesetzt werden, so würde es ihn freuen.
1. Netzwerke und gesellschaftliche Asymmetrien
Die Beschäftigung mit und die Untersuchung von sozialen Netzwerken ist ein altes
Thema der Sozialanthropologie. Jeder Mensch, so die Grundeinsicht, verfügt über ein
bestimmtes soziales Netzwerk. Die Rollentheorie geht dabei davon aus, dass jedes soziale Individuum in seiner Person eine Vielzahl von Rollen bündelt – eine familiale Rolle
als Bruder oder Mutter, berufliche Rollen, die Rolle des Gemeindemitgliedes etc.1 Die
Rollentheorie lässt jedoch offen, inwieweit sich die den spezifischen Rollen entsprechenden Kontakte, Freundschaften und Bekanntschaften durchkreuzen und überschneiden, oder ob es sich um klar von voneinander abgegrenzte Bereiche handelt. Jeremy
Boissevain zufolge sind soziale Netze dabei nichts anderes als die Struktur dieser Kontakte, wobei diese ein bestimmtes Maß an Überlappung der verschiedenen Rollenbereiche beschreiben.2 Kurz zusammengefasst: Netzwerke liegen quer zu den gesellschaftlichen Rollenstrukturen und den ihnen zugrunde liegenden Formen organisatorischer und
funktionaler Differenzierung. Gerade in Gesellschaften, die erst auf dem Weg waren,
sich zu modernen, funktional differenzierten Gesellschaften zu entwickeln und in denen
sich die traditionalen und lokal gebundenen Gemeinschaften in offener Auflösung befanden, war die Untersuchung sozialer Netzwerke deswegen von großem Interesse.3
In der aktuellen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung ist dieser „subversive“ Charakter von Netzwerken erneut in den Blick geraten. In der heutigen Diskussion standen
freilich zunächst nicht so sehr personale Netze und „Cliquen“ im Vordergrund, sondern
Beziehungsnetze in kontaktfreien Räumen. Hierbei handelt es sich um Neubeschreibungen der Funktionsweise von Märkten und Konkurrenzbeziehungen. Der „lachende Dritte“ in Konkurrenzbeziehungen ist so gesehen der, der es schafft, einen kontaktfreien
Raum zu überbrücken und neue Märkte zu erschließen. In Ronald Burt’s Theorie „struk1
Siehe dazu Bahrdt, Hans-Paul,Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen,
München 2000, S. 66 ff; Popitz, Heinrich, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen
Theorie, Tübingen 1967.
2
Jeremy Boissevain, Friends of Friends. Networks, Manipulators, and Coalitions, Oxford 1974.
3
Barth, Fredrik, Scale and Network in Urban Western Society, in: ders. (Hg.): Scale and Social Organisation, Oslo/Bergen/Tromsö 1978, S. 163-183; Boissevain, Jeremy und Mitchell, Clyde (Hg.), Network
Analysis. Studies in Human Interaction, The Hague/Paris 1973; Mitchell, Clyde (Hg.), Social Networks in
Urban Situations, Manchester 1969.
3
tureller Löcher“ sind kontaktfreie Räume Vorraussetzung für unternehmerisches Handeln, aus der Asymmetrie von Zugangschancen resultieren dann Profite.4 Aus dieser
Perspektive besteht die „rationale“ Strategie eines Netzwerkakteurs darin, redundante
Kontakte zu vermeiden. Beziehungsinvestitionen sind also Distanzinvestitionen.
Eng verbunden mit dieser Theorie ist die These von der Auflösung sozialer Beziehungen im Netz. Gemeint ist damit vor allem die Auflösung hierarchischer Strukturen und
Loyalitäten in nutzenorientierte horizontale Beziehungsmuster. Unternehmer sind immer weniger Chefs und immer mehr Makler und „Zwischenhändler“.5
Neben der auf einer horizontalen Achse platzierten Beziehungsfigur des Maklers sind
Patron/Klient-Beziehungen, die auf einer vertikalen Achse liegen, ein weiteres Thema
der Netzwerkforschung.6 Der Makler beobachtet Gelegenheiten und steht dabei in einer
Mitteilungsbeziehung zu entsprechenden Interessenten. Der Patron dient hingegen als
Bürge- und Vertrauensintermediär, der seinen Klienten Zugangschancen eröffnen kann.
In beiden Fällen werden dann von den Tauschpartnern Gegenleistungen erwartet. Die
Instrumentalisierung von Patronagefunktionen ist nun gerade in horizontalen Netzen
von Geschäftsbeziehungen von großem Nutzen. Zwar wird die Bezeichnung „Patronage“ in der heutigen Unternehmens- und Managementliteratur (vermutlich aus Gründen
des Anklangs an vermeintlich „vormoderne“ Verhältnisse) eher selten benutzt, gleichwohl dürfte Einigkeit dahingehend bestehen, dass die Netze der „Information und des
Zugangs“ in enger Wechselbeziehung stehen (und stehen müssen) zu den Netzen von
„Macht und Einfluss“.7 Weiter wird oft darauf hingewiesen, dass in dieser Hinsicht
personalen Verpflichtungen eine überragende Bedeutung zukommt. Auf nichts anderes
zielt aber der Begriff Patronage, der selber mit Blick auf ein Modernisierungsphänomen
ausgearbeitet wurde. Gerade der Aspekt des ökonomischen Eigeninteresses des „Bürgen“ oder Patrons ist nun unter den aktuellen Bedingungen, in denen es zu Netzwerkausbeutung und „Netzwerkopportunismus“ kommen kann, von besonderem Interesse.
Es lassen sich also an der Außenseite der Organisation Strukturen ausmachen, die in
4
Burt, Ronald , Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge/Mass. 1992.
Hessinger, Philipp, Dominanz und Balance in industriellen Netzwerken, in: Fischer, Joachim und Gensior, Sabine (Hg.): Netzspannungen. Trends in der sozialen und technischen Vernetzung von Arbeit, Berlin
1995, S. 157-183.
6
Boissevain, Friends of Friends, S.147 f.
7
Vgl. Powell, Walter und Smith-Doerr, Laurel, Networks and Economic Life, in: Smelser, Neil, und
Swedberg, Richard, (Hg.), The Handbook of Economic Sociology, Princeton/New York 1994, S. 368402.
5
4
gewisser Analogie stehen zu den Principal/Agenten-Beziehungen8 – und der mit ihnen
verbundenen Kontroll- und Informationsproblematik – im Binnenbereich der Organisation.
Die Art der Gegenleistungen in solchen Tausch- und Informationsnetzwerken wird
dabei in der Regel auch dadurch bestimmt, dass derartige Beziehungsnetze auf sozialen
Parallelstrukturen aufsatteln. Maklerbeziehungen integrieren sich oft in Nutzfreundschaften, Patron/Klient-Beziehungen haben demgegenüber oft einen familialen Anstrich
und stützen sich auf entsprechende Werte. In beiden Fällen dienen diese Beziehungsnetze dazu, den Handlungsradius von Akteuren zu erweitern. Die formale Netzwerktheorie
lässt sich deswegen im Prinzip gut in eine atomistisch angelegte Handlungstheorie – wie
etwa die von James Coleman entwickelte – integrieren.9 Die Perspektive wird dabei
freilich etwas verschoben. Während die Rational Choice-Theorie die Handlung von
Einzelakteuren ausgehend beobachtet, beschreibt die Netzwerktheorie Handlungen, die
ihren Verlauf gleichsam „durch die Akteure hindurch“ nehmen.10
In diesem Zusammenhang ist noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung. Coleman zufolge werden fast allen Handlungen bestimmte „Handlungsrechte“ zugeordnet.11 Im Falle
ökonomischen Handelns sind das etwa Eigentums- und Verfügungsrechte. Um diese
Handlungsrechte zu sichern, ist es überdies notwendig, Kontrollbefugnisse auf andere
Akteure zu übertragen, die so als Garanten fungieren können. In diesem Sinne sind
Patrone Bürgen der Handlungsrechte ihrer Klienten.12 Allerdings handelt es sich dabei
nur um einen Sonderfall von Herrschaft. Allgemein gilt jedenfalls, dass Handeln in
Netzwerken – in den Termini der Simmelschen Soziologie – gleichermaßen einen eingeschlossenen und einen ausgeschlossenen Dritten impliziert.13 Der ausgeschlossene
8
Vgl. 1995 Ebers, Mark und Gotsch, Wilfried, Institutionentheoretische Theorien der Organisation, in:
Kieser, Alfred, (Hg.), Organisationstheorien, (2. Aufl.), Stuttgart/Berlin/Köln 1995.
9
Coleman, James, Grundlagen der Sozialtheorie, Band 1-3, München 1991.
10
Barnes, John A., Networks and Political Process, in: Mitchell, Clyde, (Hg.), Social Networks in Urban
Situations, Manchester 1969, S. 51-76, hier S. 65.
11
Coleman, James, Grundlagen der Sozialtheorie, Band 1, München 1991, S. 56 ff.
12
Ebd., S. 232 ff.
13
Die Logik des eingeschlossenen Dritten beschreibt Simmel wie folgt: „Wo drei Elemente eine Gemeinschaft bilden, kommt zu der unmittelbaren Beziehung, die z.B. zwischen A und B besteht, die mittelbare
hinzu, die sie durch ihr gemeinsames Verhältnis zu C gewinnen … Entzweiungen, die die Beteiligten nicht
von sich allein aus wieder einrenken können, werden durch den Dritten oder durch ihr Befaßtsein in einem
umschließenden Ganzen zurechtgebracht“ (Simmel, Georg, Soziologie. Gesamtausgabe, hg von Ottheim
Rammstedt , Bd. 11, Frankfurt a.M. 1992, S. 114 f.). Die Logik des ausgeschlossenen Dritten beschreibt
Simmel hingegen in seiner Soziologie der Konkurrenz als ein „Herangedrängt-Werden“ an den Dritten
und als Umlenkung der Orientierung auf Ziele auf den Vergleich der Mittel in einem „gemeinsamen Kreis
der Orientierung“ (Simmel, Georg, Soziologie der Konkurrenz, in: Neue Deutsche Rundschau XIV,
Berlin [1903], S. 1009-1023).
5
Dritte wird durch die Mithilfe von Maklern und Patronen partiell wieder mit eingeschlossen. Der eingeschlossene Dritte ist demgegenüber der Bürge der Handlungsrechte
der Akteure und damit auch der potentielle Schiedsrichter bei Streitigkeiten im Netz.
Der wichtigste Bürge, der in dieser Hinsicht infrage kommt, war bisher in allen modernen Gesellschaften der Staat. Die These von der Auflösung des Sozialen – wie sie in den
verschienen Theorien der Netzwerkgesellschaft vertreten wird – zielt deswegen auf die
strukturelle Schwächung staatlicher Macht und territorial gebundener Institutionen- und
Beziehungsgefüge im Kontext der Entwicklung weltweiter Austausch- und Beziehungsnetze. Meine These ist nun: die These vom „Verschwinden des Sozialen“ bzw. vom
„Ende der soziozentrischen Gesellschaften“14 bezieht sich auf nichts anderes als die in
diesem Zusammenhang wirksamen Prozesse der „Verschiebung“,15 von denen oft angenommen wird, dass sie gleichsam auf Dauer gestellt sind. Dabei existiert so etwas wie
eine Wahlverwandtschaft zwischen den netzwerktheoretischen Beschreibungsmustern
und der Analytik solcher Verschiebungsphänomene. Mit anderen Worten: Die Netzwerktheorie privilegiert „Agency“ (Handlungsfähigkeit) gegenüber „Handlung“ und
„Deregulierung“ gegenüber „Institutionalisierung“. Die These vom „Verschwinden des
Sozialen“ ist deswegen Theorien dieses Typs gleichsam immanent, wenn sie zu gesellschaftsdiagnostischen Zwecken eingesetzt werden. Meine zweite These ist nun: der
antiinstitutionalistische, gleichsam „unternehmerische“ Impuls sowie der Akzent auf
„Offenheit“ in diesen Theorien steht in gewissem Widerspruch zu empirischen Tendenzen der heutigen „Netzwerkgesellschaften“, die sich der Meinung einiger kritischer
Soziologen zufolge – im Zuge der zunehmenden Verflechtung von Politik und Ökonomie – auf die (Wieder-) Erstehung relativ geschlossener Elitenzirkel hinbewegen. Darauf zielt der von Colin Crouch in die Diskussion gebrachte Begriff der „PostDemocracy“.16 Kommt es zu einem Ausfall des staatlichen Bürgen, treten ihm zufolge
so etwas wie Patronagenetzwerke an seine Stelle.
2. Theorien der Netzwerkgesellschaft: die These vom Verdampfen des Sozialen
Als Theorien der Netzwerkgesellschaften bezeichne ich jene Gruppe von Arbeiten, die
sich von der formalen Netzwerktheorie – so wie sie von Ronald Burt, Barry Wellman
14
Lash, Scott und Urry, John, Economies of Signs and Space, London/Thousand Oakes/New Delhi 1994.
Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 72 ff.
16
Crouch, Colin, Post-Democracy, Cambridge U.K./Malden U.S.A. 2004.
15
6
und Harrison White vertreten wird – in zweierlei Hinsicht unterscheiden. Zum einen
wird in diesen Theorien die formale Netztheorie in einen Rahmen integriert, der durch
die Marx’sche Kapitalismus-Analyse getragen ist. Im Gegensatz dazu stehen die Vertreter der formalen Netztheorie der neoklassischen Ökonomie und deren methodischen
Individualismus recht nahe. Aus dieser Perspektive betrachtet ist gesellschaftliches
Handeln im Wesentlichen identisch mit dem Handeln atomistischer Akteure im Netz.
Die ehemalige britische Premierministerin Margret Thatcher brachte diese Sichtweise
mit der knappen Bemerkung auf den Punkt: „There is no such thing like society.“ Zum
anderen basieren Theorien der Netzwerkgesellschaft (im Gegensatz zur formalen Netzwerktheorie) auf einer kommunikations- und handlungstheoretischen Grundlage, die es
ermöglicht, die Veränderung sozialer Identitäten in den Blick zu bekommen. Ich denke
in diesem Zusammenhang insbesondere an Manuel Castells Arbeiten über das „Informationszeitalter“ (Bd.1: Die Netzwerkgesellschaft), Scott Lashs und John Urrys „Economies of signs and space“ und die Studie „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Luc
Boltanski und Eve Chiapello.
Die These vom „Verschwinden“ oder dem „Verdampfen“ des Sozialen im Netz ist also
eher ein kritisches Szenario und keineswegs eine bloße Tatsachenbehauptung. Diese
These impliziert freilich nicht die des Verschwindens gesellschaftlicher Realitäten insgesamt. Sie bezieht sich vielmehr auf die bisher wirkmächtige Sichtweise von Dingen
und Beziehungen, die seit etwa den 30er Jahren des 20en Jahrhunderts fest etabliert ist
und in ihren Ursprüngen auf die Große Französische Revolution zurückgeht. „Dabei
wurde eine Gesellschaftskonzeption allgemeinverbindlich, nach der eine Gesellschaft
ein Gebilde aus sozialen Berufsgruppen im nationalstaatlichen Rahmen ist. Diese Gesellschaft ist funktionsfähig, wenn die Beziehung zwischen den Gruppen, aus denen sie
sich zusammensetzt, auf der Basis einer in etwa gerechten Verteilung privater und öffentlicher Güter sowie – gegebenenfalls der auf nationaler Grundlage berechneten
Wachstumsgewinne – gerechtfertigt werden kann. Der Staat wacht über dieses Gleichgewicht und mithin über den sozialen Frieden“.17 Von Gesellschaft in diesem Sinne
kann deswegen immer nur dann die Rede sein, wenn es zu einer Verknüpfung von sozialen Anrechten mit gesellschaftlichen Handlungs- und Kontrollrechten kommt. In dieser
Hinsicht gilt: „dass der moderne soziale Konflikt mit dem Bürgerstatus, dem Wirtschaftswachstum und der Bürgergesellschaft den Rahmen geschaffen hat, innerhalb
17
Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 339.
7
dessen sich fast alle bekannten Probleme anpacken lassen“.18
Die These vom Verschwinden des Sozialen zielt nun knapp zusammengefasst auf einen
doppelten Befund. Erstens wird konstatiert, dass sich Macht in der global vernetzten
Welt aus Mobilitätsdifferentialen ableitet. Mobilere Akteure haben mehr Macht als
weniger mobile. Die mobilsten Akteure in der globalisierten Ökonomie sind dabei die
international operierenden Investment-Fonds, gefolgt von den transnationalen Unternehmen. Im Gegensatz zu diesen Akteuren, die sich in Castells Worten in einem „Raum
der Ströme“ bewegen, sind die zentralen Akteure des klassischen Sozialstaats – Staat
und Gewerkschaften – an einen konkreten Ort gebunden. Im Zuge der gesteigerten
Standortkonkurrenz im globalen Maßstab resultiert daraus eine Erosion ihrer Machtbasis, welche auf lokal bzw. national vereinheitlichten Steuer- und Lohntarifen beruht.
Zweitens ist die Folge der Erosion dieses Handlungsrahmens, dass endogen bestimmte
soziale Strukturen verschwinden und durch exogene und Weltmarkt bestimmte Strukturen ersetzt werden. Diese – sehr starke – These von Lash und Urry wird von Castells
geteilt, von Boltanski und Chiapello freilich auch kritisch hinterfragt.
Zunächst: Castells Analyse basiert auf der Vorstellung, dass das Informationszeitalter
einen neuen technologischen „Entwicklungsmodus“ (mode de dévelopement) darstellt.
Mit diesem – von Alain Touraine entlehnten und an Marx angelehnten – Begriff meint
er technologische Arrangements, durch die gesellschaftliche Akteure ihre materielle
Umwelt und zugleich sich selbst verändern. Dieser neue technologische Entwicklungsmodus führt nicht zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse aber zu
einer fundamentalen Verschiebung der gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen. „Während also kapitalistische Produktionsverhältnisse weiterbestehen und in vielen Volkswirtschaften die herrschende Logik sogar strikter kapitalistisch ist als jemals zuvor,
tendieren Kapital und Arbeit doch zunehmend dazu, in unterschiedlichen Räumen und
Zeiten zu existieren: im Raum der Ströme und im Raum der Orte, Instant-Zeit der Computernetzwerke gegenüber der Uhrenzeit des Alltagslebens [...]. Das Kapital tendiert
dazu, in einen Hyperspace der reinen Zirkulation zu entweichen, während sich die kollektive Einheit der Arbeit in eine unendliche Variation der Existenzen auflöst. Unter den
Bedingungen der Netzwerkgesellschaft ist das Kapital globalisiert, die Arbeit ist indivi-
18
Dahrendorf, Ralf, Der moderne soziale Konflikt. Essays zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992, S.76.
8
dualisiert“.19 Der eigentliche Prozess der Wertschöpfung findet dabei im Netz statt, d.h.
er ist immer weniger auf die Leistung einzelner Personen oder Arbeitsgruppen zurechenbar. „Können wir sagen, dass demgegenüber die Wert produzieren, die ComputerFreaks sind, die [die, Ph.H.] neuen Finanzinstrumente entwickeln [oder die, Ph.H.] [...],
deren Arbeitsergebnisse von Konzernmaklern enteignet werden? Wer trägt in der Elektronikindustrie zur Wertschöpfung bei: diejenigen, die in Silicon Valley Chips konstruieren oder die junge Frau in der südostasiatischen Fabrik? Sicherlich beide, wenn auch in
unterschiedlichem Ausmaß. Sind sie also gemeinsam die neue Arbeiterklasse? [...] Es
gibt in der Gesamtheit dieser komplexen, globalen Interaktionsnetzwerke durchaus die
Einheit des Arbeitsprozesses. Aber es gibt zugleich die Differenzierung der Arbeit, die
Segmentierung der Arbeitenden und die Desaggregation der Arbeit auf globaler Stufenleiter“.20
Die zugrunde liegenden Prozesse der Identitätsbehauptung zielen dabei auf die Fähigkeit
der sozialen Akteure zur „Selbstprogrammierung“ in einer Kultur der „realen Virtualität“. Die Netzwerkgesellschaft ist so gesehen eine Welt ortloser Räume und zeitloser
Zeit, die die Fähigkeit zur Bildung neuer Identität eher korrumpiert als befördert. Widerständige Projektidentitäten kommen deshalb Castells zufolge eher von außerhalb aus
lokalen Gemeinschaften, die es schaffen, sich ihrerseits global zu vernetzen. Castells
geht von allen Autoren in seiner Analyse den negativen Folgen der Auflösung traditioneller, staatlich gerahmter institutioneller Strukturen wohl am weitesten (vor allem in
den Bänden 2 + 3 seiner Trilogie). Sehr pointiert beschreibt er beispielsweise die Auflösung der Kernfamilie und ihre Ersetzung durch patronageartige Parallelstrukturen, die
oft von erheblichem wirtschaftlichem Nutzen sind. Auch die Erosion staatlichen Machtpotentials im Zusammenhang mit den sozialstaatlichen Regulierungsformen wird von
ihm beeindruckend vorgeführt. Sehr eindringlich sind auch seine Analysen der Auflösung gesellschaftlicher Solidaritätsmuster in Patronagestrukturen in einigen peripheren
Regionen der Weltgesellschaft, in denen sich ein Mafiakapitalismus durchgesetzt hat.
Offen bleibt freilich, bis zu welchem Punkt dieser Auflösungsprozess voranschreiten
kann, ohne die basalen Handlungsrechte der Akteure in dieser globalen Netzwerkgesellschaft zu gefährden?
19
20
Castells, Manuel, Die Netzwerkgesellschaft, Bd. 1: Das Informationszeitalter, Opladen 2001, S. 534.
Ebd., S. 533 f.
9
Lash und Urry teilen im Wesentlichen diese Einschätzung von Castells.21 Sie entleihen
ihr soziales Identitätskonzept nicht der arbeitsoziologischen, sondern eher einer handlungstheoretischen Theorietradition. Noch pointierter als Castells verweisen sie darauf,
dass der treibende Motor der Netzwerkgesellschaft in jenen Strukturen der „Zirkulation
des Kapitals“ zu suchen ist, die Marx im zweiten Band „Des Kapitals“ beschrieben hat.
Durch die Beschleunigung der Zirkulation des Kapitals werden die räumlichen und
zeitlichen Variationsspielräume der Produktion erhöht. In dem dadurch geschaffenen
ort- und zeitlosen, d.h. bedeutungslosen, Raum werden dann durch das Kapital bedeutungsvolle und designintensive „Objekte“ wieder eingeführt. Die „Kulturindustrie“
spielt deswegen in ihrer Analyse des heutigen Kapitalismus eine zentrale Rolle.22 Die
Identitätsbehauptung sozialer Akteure beweist sich ihnen zufolge dann darin, ob sie es
schaffen, diesen „Objekten“ gegenüber eine reflexive Haltung einzunehmen. Voraussetzung dafür ist die Teilhabe an Kommunikations-/Informationsstrukturen, die von den
Autoren gleichzeitig als Interpretationsgemeinschaften gefasst werden. Die Autoren
sprechen dabei von einer Tendenz der Aushöhlung kollektiver und gemeinsam geteilter
Bedeutungen. Das geschieht dadurch, dass das Selbst in eine immer schnellere Zirkulation von Bildern, Geld, Ideen und anderer Selbste hineingezogen wird. Die Folge ist
eine Konvertierung des sozialen „Wir“ ins atomisierte „Ich“. Dieser Vorgang wird als
ein herrschaftsbestimmter Prozess der „Normalisierung“ im Foucaultschen Sinne betrachtet. Wo aber diese neue Ökonomie von Zeichen und Räumen in eine soziale Informations- und Kommunikationsstruktur eingebettet ist, sind weniger unglückliche Formen der Individualisierung möglich. Diese verweisen auf so etwas wie ein „reflexives
Ich“. Voraussetzung dafür sind aber hermeneutisch-kommunikative Kompetenzen, also
in etwa das, was der Ökonom Robert Reich als die Fähigkeit zur „Symbol-Analyse“
bezeichnet.23 Fehlen diese Kompetenzen, so besteht die Gefahr der Umkehrung des
Konvertierungsprozesses vom Wir zum normalisierten Ich in Richtung auf die Entstehung eines modernen Barbarentums. Die Autoren sprechen hier von der sozialen Konstruktion „neuer Stämme“ im Sinne der Regression auf das Niveau vormoderner Stammeskulturen, die allerdings heute spezifischer, d.h. politischer, rassischer oder ethnischer Provenienz sind (die Neo-Nazi-Szene in Ostdeutschland, der Gangsta-Rap und die
21
Lash und Urry, Economies of Signs and Space.
Vgl. Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente,
Frankfurt a.M. 1969.
23
Vgl. Reich, Robert, The Work Of Nations. Preparing Ourselves for 21st-Century Capitalism, New York
1991, S. 225 ff.
22
10
Gangkultur der Ghettos der USA oder der serbische Ethno-Rassismus aus der Zeit der
jüngeren Balkankriege). Diese „wilden Zonen“ der Globalisierung finden sich typischerweise in den desindustrialisierten oder sozial abgekoppelten Räumen der solcherart
globalisierten Nationalökonomien (wie etwa dem „Rust-Belt“ der USA, dem Osten
Deutschlands etc.).
Die These vom Verschwinden des Sozialen (d.h. vom Verschwinden eines authentischen Wir) wird dann freilich von den Autoren durch die Gegenthese der Möglichkeit
eines „reflexiven Wir“ ergänzt. Die Entwicklung dieses „reflexiven Wir“ ist dabei gerade in jenen kapitalistischen Nationalgesellschaften von Bedeutung, deren Produktionsstrukturen selber in einem kollektiven Wir – mit entsprechenden kollektiven und berufszentrierten Formen der Wissensproduktion – verankert sind: Das betrifft insbesondere
Deutschland und Japan. Die Autoren denken in dieser Hinsicht etwa an die Beteiligung
von Gewerkschaften und Verbänden an den betrieblichen oder wirtschaftspolitischen
Willensbildungsprozessen in Deutschland oder an die Einbettung der japanischen Unternehmen in gemeinschaftsförmige Allianznetze. Den Hintergrund dafür bilden neue
Formen eines „globalisierten Wir“, die man auch als „virtuelle Gemeinschaften“ bezeichnen könnte. Diese durch das Internet vorangetriebene Entwicklung ist mittlerweile
ein weltweites Phänomen.
Auch wenn in Lashs und Urrys Analyse deswegen die Erosion staatlicher und insbesondere sozialstaatlicher Strukturen nicht in demselben Maße als pures Faktum betrachtet
wird als bei Castells – offen bleibt auch hier, in welcher Weise die Nutzung und Beobachtung gesellschaftlicher Asymmetrien in der Netzwerkgesellschaft tatsächlich langfristig mit den Integrations- und Wachstumsimperativen entwickelter Gesellschaften
vereinbar ist?
Boltanski und Chiapello ergänzen die von Castells und Lash und Urry vorgelegten Befunde und Interpretationen durch eigene Analysen, welche sich auf den Umbruch von
„Wertigkeitsordnungen“ (Polis) beziehen.24 Anders als diese Autoren sprechen sie allerdings nicht von einem „Verschwinden des Sozialen“, sondern sehr viel konkreter von
einer „Abnahme der Widerstandskraft der Arbeitswelt“ gegenüber den Herausforderungen des neuen globalen Kapitalismus. Der Grund für diese Abnahme der Widerstandskräfte wird dabei nicht nur in äußeren Ursachen, sondern auch in inneren Verschiebun24
Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus.
11
gen von Wertigkeitsordnungen gesehen. Damit rückt die Analyse der Erosionsprozesse
kollektiver Identitäten in das Zentrum ihrer Analyse. Anders als in der Theorie von
Castells und Lash und Urry wird dabei nicht bloß der nutzenorientierte Aspekt des Handelns in Netzwerken beleuchtet, vielmehr geht es den Autoren darum, die gesamte arbeitssoziologische Problematik der Arbeit in vernetzten Projektzusammenhängen in den
Blick zu bekommen. Gesellschaftliche Identitätsbildung verweist ihnen zufolge auf
Aushandlungsprozesse in Wertigkeitsordnungen bzw. auf die Durchsetzung und Legitimierung von neuen Wertigkeitsordnungen (Polis). In diesem Rahmen spielt die „Kritik“
am Kapitalismus eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Weiterentwicklung seiner institutionellen Rahmenbedingungen. Der in der heutigen Wirtschaftsordnung weitverbreitete Typ projektorientierter Arbeit impliziert ihnen zufolge nun eine gänzlich
neue „Polis“, die auf den Prinzipien „Flexibilität“, „Employability“ und „Kontaktoffenheit“ beruht. Im Zentrum des korrespondierenden Modells der Arbeitsorganisation steht
dabei die Nutzung „schwacher Bindungen“ bei gleichzeitiger Abwertung „starker Bindungen“ in den Geschäfts- und Informationsbeziehungen.25 Die alte Wertigkeitsordnung
der „fordistischen Phase“ der kapitalistischen Entwicklung mit ihrer hohen Wertschätzung von „Verlässlichkeit“, „Firmenbindung“ und „Loyalität“ sehen die AutorenInnen
demgegenüber als im Schwinden begriffen an. Das Aufkommen eines neuen projektorientierten Kapitalismus ist so gesehen im historischen Rückblick betrachtet keineswegs
die bloße Folge der Auflösung sozialer Strukturen in „normfreie Netze“ – wie Habermas
sagen würde –, sondern auch Folge – vermeintlich oder wirklich – „fortschrittlicher“
arbeitspolitischer Praktiken und Reformen. Während bei Castells und Lash und Urry die
neuen Netzunternehmer die zentralen Akteure der neuen gesellschaftlichen Formation
sind, berücksichtigen Boltanski und Chiapello auch den Einfluss von Gewerkschaften,
linken Parteien und sozialen Bewegungen – insbesondere der 68er Protestbewegung.
Gerade dadurch gelingt es ihnen, die vertikale Beziehungsdimension im projektorientierten Netzwerkhandeln wieder genauer auszuleuchten. Deutlich wird das am Beispiel
ihrer Theorie des Netzopportunismus bzw. der Netzwerkausbeutung. Ein Netzopportunist ist jemand, der Informationen und Kontaktmöglichkeiten monopolisiert und seine
Mitarbeiter von diesen ausschließt. Der opportunistische Netzunternehmer handelt so
gesehen im Sinne Gouldners als eine Art „Kosmopolit“, der die lokalen Akteure zentraler Handlungsressourcen und Handlungsrechte beraubt. Damit wird einerseits ein Mo25
Vgl. Granovetter, Mark, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78, No 6
12
ment an Patronage im Netzwerkhandeln deutlich. Boltanski und Chiapello zufolge kann
in diesem Fall tatsächlich von Ausbeutung im strengen Sinne gesprochen werden, da die
Immobilität der einen die Vorraussetzung der Mobilität der anderen darstellt.26 Die
niedrigen Wertigkeitsträger in dieser Ordnung sind deswegen so etwas wie „Doubles“
der hohen Wertigkeitsträger, indem sie für letztere während deren Abwesenheit „vor
Ort“
die
Kontaktpflege
übernehmen.
So
gesehen
besteht
eine
Art
Herr-
schafts/Knechtschafts-Dialektik in der Beziehung von „Double“ und hohem Wertigkeitsträger.27 Deswegen hat die Überbrückung von kontaktfreien Räumen durch Netzwerkmakler ihre Vorrausetzung in dem Vorhandensein relativ abgeschlossener institutioneller Sphären und Räume. So gesehen ist die Abgrenzung von ökonomischen Sphären
und die Begrenzung von Zugangsrechten selber ein zentrales Interesse von „Netzwerkopportunisten“.
Für Castells und Lash und Urry haben Netzwerkbeziehungen im Kern eine horizontale
(bzw. laterale) Orientierung. Gerade dadurch gelingt es den Netzwerkakteuren vertikale
organisatorische Strukturen zu unterminieren und zu unterlaufen. Mit Blick auf die
Figur des Netzwerkopportunisten von Boltanski und Chiapello wird demgegenüber
deutlich, dass derartige horizontale Beziehungsmuster zu neuen Formen der Hierarchisierung führen können. Gleichzeitig dämmert die Einsicht, dass ein entwickelter Netzwerkkapitalismus auf normative Grundmuster angewiesen ist, die verhindern dass er
durch exzessive Formen des Netzwerkopportunismus lahm gelegt wird. Ich möchte
ausgehend von diesen Überlegungen nun im Folgenden die in der Sozialanthropologie
wohl bekannte Figur der „Patronage“ vorstellen und untersuchen. Zu fragen wäre, ob
Patronage im Grunde nichts anderes ist als eine gesellschaftlich legitimierte Form des
Netzwerkopportunismus.
3. Patronage und Staatsfunktionen in historischer Perspektive
In der ethnologischen und wirtschaftsanthropologischen Patronageforschung gibt es
grob gesprochen zwei Strömungen: zum einen einen Ansatz, der Patronage als eine
Form der Verflüssigung von sozialem Einfluss fasst, die in vertikalen Beziehungsstrukturen geltend und nutzbar gemacht wird. Zum anderen eine Strömung, die Patronage als
(1973), S. 1360-1380.
26
Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 400.
27
Ebd., S. 401.
13
eine Art Ergänzung und Überwölbung von Nutzfreundschaften fasst, die bestimmte
Formen unternehmerischen Handelns möglich macht. Aus der ersten Sichtweise betrachtet, überbrückt Patronage gleichsam die strukturellen Löcher in der Struktur des
modernen Nationalstaates.28 Der Patron besitzt dabei die strukturelle Macht, einem
Klienten Nutzen zu bringen. Unterstellt wird, dass sich diese Klienten aus der fest gefügten Statushierarchie der traditionellen Ordnung herauszulösen beginnen und damit
tendenziell auf Leistungen angewiesen sind, die der noch unentwickelte moderne Staat
nicht zu erbringen in der Lage ist. So beschreibt etwa Jonathan Campbell in seiner Studie „Family, Honour and Patronage“ den Bedarf an Patronage, der aus der vagabundierenden Lebensweise der Zarakistani-Hirten in Mittelgriechenland resultiert.29 Um ihre
Durchsetzungschancen in den landwirtschaftlich dominierten Kommunen zu erhöhen
und in den Genuss von Weiderechten zu kommen, sind diese Hirten auf die Unterstützung örtlicher Patrone angewiesen. Diesen Patronen, die oft als Kindspaten und Trauzeugen herangezogen werden, sind die Hirten innerhalb eines bestimmten Ehrenkodexes
verpflichtet, was auch ökonomische Leistungen ihrerseits impliziert. Michael Korovkin
zufolge wirken diese familialen Parallelstrukturen und die betreffenden Ehrenkodizes
dabei als eine Art ideologisches Schmiermittel, um so soziale Handlungen von der ökonomischen in die kulturelle Sphäre gleiten zu lassen und umgekehrt.30 Die Folge ist
dann freilich, dass Patronage vertikale Asymmetrien in der Gesellschaftsstruktur eher
vergrößert, als dass sie sie mildert. Eine weitere Folge ist, dass die Handlungsmuster
einer konkurrenzorientierten nationalen Ökonomie nicht bis auf die lokale Ebene durchdringen können.
Die zweite Strömung der Patronage-Forschung beschreibt sie als ein Komplement unternehmerischen Handelns. Eric Wolf zufolge tendieren Nutzfreundschaften dazu, überdehnt zu werden.31 Patronage entwickelt sich ihm zufolge dann als Komplement dieser
horizontal angelegten Beziehungsstrukturen. Dabei werden familiale Werte und Wertkodizes benutzt, um diese Patronageform weiter zu festigen. In der Sichtweise von
Yoranz Ben Porath und Mark Granovetter handelt es sich dabei um sogenannte F28
Vgl. Weingrod, Alex, Patrons, Patronage, and Political Practice, in: Comparative Studies in Society and
History, VII, 2 (1968), S. 377-400.
29
Campbell, Jonathan K., Honour, family and patronage: A study of institutions and moral values in a
Greek mountain community, Oxford 1964.
30
Korovkin, Michael, Exploitation, Cooperation, Collusion: an inquiry into patronage, in: Archives
européennes de sociologie, XXIX (1988), S. 105-126.
31
Wolf, Eric, Kinship, Friendship, and Patron-Client relations in Complex Societies, in: Banton, Michael
(Hg), The Social Anthropology of Complex Societies, New York 1966, S. 1-22.
14
Connections – „F“ im Sinne von Family, Friends und Firms –, die innerhalb einer Konkurrenzökonomie bestimmte Spezialisierungsmuster ermöglichen.32 F-Connections
ermöglichen dabei die Senkung von Transaktionskosten in Bereichen, die etwa aufgrund
der schwer zu durchschauenden Qualitätsmerkmale der zu tauschenden Objekte kaum
zu organisieren sind. So war etwa bis vor kurzem der Diamantenhandel in Amsterdam
beinahe ausschließlich in Hand jüdischer Familien, die in der Lage waren, die Bezugsquellen der Diamanten zu kontrollieren und die etwaige Unterschiebung wertloser Steine zu unterbinden.
Ausgehend von diesen und ähnlichen Befunden hat nun Luis Roniger diese seines Erachtens nicht gerechtfertigte Verengung der Patronageforschung auf moderne Nationalstaaten im Entwicklungsstadium kritisiert.33 Die sehr „moderne“, gleichzeitig partikularistische und hierarchische Form der Interessenorganisation, die mit Patronagestrukturen
einhergeht, wird ihm zufolge deswegen nicht wirklich durchschaubar gemacht. Roniger
beschäftigt sich aus diesem Grund eingehender mit den Patronagestrukturen im republikanischen Rom. „Amicitia“ als Beziehungsform betrifft dabei sowohl die Beziehung
eines Patrons und seiner engeren Klienten als auch die eines Patrons zu anderen Mitgliedern der Herrschaftselite. Per definitionem betrifft amicita gleichermaßen Loyalitätsbeziehungen (Klient und Patron) und Nutzfreundschaften zwischen verschiedenen
Machthabern. Der römische Staat – nach innen so gesehen eine Art „Interessenbörse“
der Machthaber – trat demgegenüber nach außen ebenfalls als Bürge für Freundschaft
auf. So waren zu Zeiten der späten Republik ganze Staaten – wie z. B. der archäische
Bund oder das Königreich Pergamon – „Freunde“ des römischen Staates. Roniger zufolge ist die spezifisch mediterrane Verschleifung des Unterschieds von Nutzfreundschaft und Patronage deswegen im Wesentlichen römischen Ursprungs. Ergänzend dazu
könnte man sagen, die ebenfalls mediterrane Unbefangenheit im Umgang mit dem Phänomen Patronage als einem vermeintlich harmlosen Phänomen, welches mit dem Kern
des Staatsaufbaus gut zu vereinbaren ist, ist vermutlich ebenfalls römischen Ursprungs.
Tatsächlich sind aber Patronagebeziehungen mit dem Wesen des modernen bürgerlichen
und demokratischen Staates eher unvereinbar und darüber hinaus gefährden sie eben-
32
Ben-Porath, Yoram , The F-connections: Families, Friends and Firms and the Organisation of Exchange, in: Population and Development Review, Vol. 6, No 4 (1980), S. 1-29; vgl. Granovetter, Mark,
Entrepreneurship, Development, and the Emergence of Firms, WZB-Discussion-Papers, FSI-90-2, Berlin
1990.
33
Roniger, Luis, Modern patron-client relations and historical clientelism. Some clues from ancient
Republican Rome, in: Archives européennes de Sociologie, XXI (1983), S. 93-94.
15
falls die Funktionsweise der modernen Ökonomie. Wie Karl Polanyi etwa gezeigt hat,
geht die Entstehung von offenen, konkurrenzbestimmten Binnenmärkten in den heutigen Nationalstaaten darauf zurück, dass die staatliche Zentralgewalt diese gegenüber
partikularistischen Interessengruppen – wie den Besitzern von Fernhandelsmonopolen –
durchsetzte.34 Die Entstehung dieser Zentralgewalt selber beschreibt Norbert Elias als
den Prozess der Ersetzung privater durch öffentliche Monopole. Am Ende dieses Prozesses stand dann das Gewalt- und Steuermonopol des modernen Staates. Wirklich
verankert war Elias zufolge dieser moderne Staat erst als Zentralorgan einer „funktionsteiligen Gesellschaft“, in der die Verfügung über Geld – und nicht die über militärische
und Grund-und-Boden-Machtmittel – zur dominanten Besitzform geworden ist.35 Antonio Gramsci hat schließlich beschrieben, dass die Entstehung moderner Parteien diesen Zentralisierungsprozess einerseits voraussetzt und ihn andererseits auf einer anderen
Ebene weiter vorantreibt.36 Gramsci zufolge wachsen die modernen Parteien aus ihren
ursprünglichen Formen der patronageorientierten Honoratiorenherrschaft nach und nach
heraus. Ihre ursprüngliche Polizei- und Schutzfunktion wird so ergänzt und überlagert
durch ihre Integrationsfunktion. Gramsci zufolge besteht nämlich der Kern modernen
parteipolitschen Handelns in einer Problemlösungsformel, die selber in einem bestimmten „Proportionsgesetz“ verankert ist. Die Entwicklung der modernen Parteiendemokratie geht damit eng einher mit einem Prozess der Verallgemeinerung von Bürgerrechten,
die zu den basalen Handlungsrechten in einer modernen marktwirtschaftlichen Ökonomie geworden sind. Thomas Marschall hat diesen Prozess der Entstehung und Verallgemeinerung von Bürgerrechten am Beispiel der Entwicklung Englands als einen dreiphasigen Prozess beschrieben37
-
die Entstehung juristisch/rechtsstaatlicher Rechte im 18. Jahrhundert
-
die Entstehung politischer Wahlrechte im 19. Jahrhundert
-
und schließlich die Entstehung sozialstaatlicher Anrechte im 20. Jahrhundert.
Die gesellschaftliche Finalität in der Herausbildung von „Citizenship“ besteht ihm zu34
Polanyi, Karl, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften
und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M. 1978, S. 96 ff.
35
Elias, Norbert, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt
a.M. 1990, S. 142 f., 224 ff.
36
Gramsci, Antonio, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, hg. Von Christian Riechers, Frankfurt a.M.
1967, S. 302 ff.
37
Marshall, Thomas H., Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: ders., Bürgerrechte und soziale
16
folge in der radikalen Abschaffung qualitativer Unterschiede in den Anrechten der
„Bürger“ bei Beibehaltung der quantitativen. „Die menschliche Grundgleichheit der
Mitgliedschaft ist nun durch eine neue Substanz angereichert und einen erstaunlichen
Kranz von Rechten ausgestattet worden. Sie ist zudem eindeutig mit dem Status des
Bürgers identifiziert worden“.38 In welchem Maße in diesem Sinne Zugangsrechte Voraussetzung für die Entstehung von Handlungsrechten in modernen Gesellschaften sind,
macht etwa Bourdieu mit Blick auf die sub-proletarischen Existenzen in der algerischen
Übergangsgesellschaft der 50er Jahre deutlich: „Tatsächlich konnte ich empirisch nachweisen, dass unterhalb eines gewissen Niveaus ökonomischer Sicherheit, beruhend auf
der Sicherheit des Arbeitsplatzes und der Verfügung über ein Minimum regelmäßiger
Einkünfte, Akteure nicht imstande sind, die Mehrheit jener Handlungen durchzuführen,
die eine Anstrengung hinsichtlich einer Bemächtigung der Zukunft implizieren. D.h.
dass es ökonomische und kulturelle Bedingungen des Zugangs zu jenem Verhalten gibt,
welches man allzu voreilig als für jedes menschliche Wesen normal anzusehen bzw.
schlimmer noch als natürlich zu erachten tendiert“.39
Ich möchte nun im Folgenden in lockerer Anlehnung an die Typisierung von Marshall
die Veränderungen in den sozialen, wirtschaftlich-organisatorischen und politischen
Handlungsbedingungen im heutigen postindustriellen Kapitalismus untersuchen. Die
Grundidee ist, dass ein – wie immer auch ausgestaltetes – System von Anrechten und
sozialen Bürgerrechten die so etwas wie die Basis für die effektive Handlungsfreiheit
der Individuen in der heutigen Gesellschaft darstellt. Umgekehrt behindert das Aufkommen patronageartiger Strukturen ebensosehr die Handlungsfreiheit der Individuen
im Einzelnen wie den demokratischen Prozess im Ganzen.
4. Die Erosion politischer und sozialer Bürgerrechte: Veränderungen der sozialen Handlungsbedingungen in der heutigen Gesellschaft
Vor allem Bourdieu hat nun in seiner großangelegten Studie über die Veränderungen in
den Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnissen des Frankreichs der 90er Jahre tiefgreifende Prozesse der Prekarisierung und des „Leidens an der Gesellschaft“ ausgemacht
Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaats, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 33-94.
38
Zitiert nach Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 61.
39
Bourdieu, Pierre, Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstruktur
am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft, Konstanz 2000, S. 20.
17
und in außerordentlich anschaulicher Weise aufgearbeitet und dargestellt.40 Ein oft
übersehener Aspekt dieser Studie, welcher mit Bourdieus spezifischem erkenntnistheoretischen Ansatz in enger Verbindung steht, ist die Dimension „symbolischer Gewalt“ in
diesen Verhältnissen, die jenseits der Dimension subjektiven Leidens auch die Frage der
Handlungsfähigkeit und der Handlungsrechte der Individuen betrifft.41 Genau im Hinblick auf diesen Aspekt hat Castells in seiner Theorie der Netzwerkgesellschaft gezeigt,
dass der Prozess der „Inklusion“ durch die Entstehung weltweiter Austausch- und Maklernetze mittlerweile zum Stillstand gekommen ist und sogar in Teilbereichen umgekehrt zu werden droht.42 Dabei trennt allerdings Castells – durchaus im Sinne der oben
erwähnten mediterranen Perspektive auf Patronage- und Freundschaftsnetzwerke – zu
wenig die vertikale von der horizontalen Dimension des Netzwerkhandelns. Tatsächlich
gibt es aber auch und gerade in seiner Studie eine Reihe Beispiele dafür, dass die durch
die Zersetzung des modernen Staates – und der ihr korrespondierenden Form der Öffentlichkeit – entstandenen Patronagenetze Flexibilität und Kontaktoffenheit der Akteure behindern.43
Ein Beispiel dafür ist die Entstehung eines modernen Mafiakapitalismus, der gleichermaßen von außen wie auch von innen in die Staatsstrukturen so genannter „Failed States“ hineingreift.44 Durch ihre internationale Vernetzung haben die betreffenden kriminellen Netzwerke gegenüber der lokal gebundenen staatlichen Instanz einen erheblichen
Vorteil. Andererseits entstehen im Inneren dieser zerfallenen Gebilde neue Patronagestrukturen, die so etwas wie funktionale Äquivalente für die erodierten juridischen,
interessenpolitischen und sozialrechtlichen Handlungsrechte der Individuen zur Verfügung stellen. Dass mafiakapitalistische Vergesellschaftungsformen gewissermaßen die
Lücke ausfüllen können, die der Zusammenbruch des Wohlfahrtstaates hinterlassen hat,
macht beispielsweise auch Niklas Luhmann deutlich.45 Wichtig ist in diesem Kontext,
dass das zentrale Ziel der maßgeblichen Akteure darin besteht, strukturelle Löcher in
diesem umfassenden Machtnetz zu schließen. Derartige patronageorientierten Netze
sind tendenziell im Sinne vor Marcel Maus so etwas wie totale soziale Phänomene, die
40
Bourdieu, Pierre, Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnose alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997.
41
Bourdieu, Pierre, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001.
42
Castells, Die Netzwerkgesellschaft, S. 313 ff.; Castells, Manuel, Jahrtausendwende, Bd. 3: Das Informationszeitalter, Opladen 2003.
43
Castells, Manuel, Die Macht der Identität, Bd. 3: Das Informationszeitalter, Opladen 2002, S. 259 ff.
44
Castells, Jahrtausendwende, S. 175 ff.
45
Luhmann, Niklas, Inklusion und Exklusion, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Opladen 1995,
18
alle gesellschaftlichen Bereiche – wie Kultur, Politik, Wirtschaft, Massenmedien etc. –
miteinander verknüpfen.46
Mafiakapitalistische Strukturen im engeren Sinne sind in der heutigen Weltgesellschaft
sicherlich ein krasser Sonderfall, aus dem sich gleichwohl einiges lernen lässt. Interessant ist vor allem die innere Verbindung von Autoritarismus und ökonomischem Angebot bei gleichzeitiger Erosion demokratischer und sozialer Anrechte. Ralf Dahrendorf
zufolge haben soziale Anrechte, so wie sie sich in den westlichen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, einen „universellen“ und uneingeschränkten
Charakter: das Wahlrecht, das Recht als eigenständige Rechtsperson zu handeln, aber
auch sozialökonomische Bürgerrechte – wie z.B. das Recht auf Ausbildung, eine lebenserhaltende Gesundheitsversorgung oder das Recht auf sozialen Schutz im Alter47 –
gelten unbedingt. Diese Anrechte implizieren deswegen einen politischen Anspruch, der
erst mit der Entstehung des modernen Nationalstaates aufkommen konnte. Die über die
französische Revolution überkommene Konzeption der Nationalvertretung ging davon
aus, dass die Bürger „von jeder Form der lokalen und beruflichen Bindung, die an Partikularismen […] gemahnt, absehen und sich dem Allgemeinwohl widmen“.48 Ausgehend
von dieser Fiktion kam es dann zur Etablierung ökonomischer Bürgerrechte, die rein
politisch definiert werden konnten.
Anrechte werden andererseits durch das gesellschaftliche und ökonomische „Angebot“
ermöglicht, wobei dieser Begriff Dahrendorf zufolge einen gradualistischen Charakter
hat. Mafiakapitalistische Gesellschaften wie das Russland der 90er, Süditalien oder
Kolumbien heute lassen sich nun Luhmann folgend als periphere Zonen der Weltgesellschaft – und im Falle Süditaliens der betreffenden Nationalgesellschaft – begreifen, in
denen das Niveau funktionaler Differenzierung gleichsam „von außen“ vorgegeben ist.
In Anschluss daran macht es Sinn, den Integrationsmodus dieser Gesellschaften, welcher auf Ein- und Unterordnung in mafiaähnliche Patronagenetze beruht, als eine Art
Ersatz für das Nichtvorhandensein sozialökonomischer Anrechte im Dahrendorfschen
Sinne zu begreifen. Diese Anrechte – sofern sie überhaupt bestehen – haben in diesem
Falle einen seltsam eingeschränkten und gradualistischen Charakter, da sie an das „Angebot von Einfluss“ gebunden sind. Das bedeutet, dass der Staat als eingeschlossener
S. 237-264.
46
Hessinger, Philipp, Mafia und Mafiakapitalismus als totales soziales Phänomen. Eine vergleichende
Perspektive auf die Entwicklung in Italien und Russland, in: Leviathan, 30. Jg., Heft 4 (2002), S. 482-508.
47
Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 22 ff.
48
Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 339.
19
Dritter in diesen Netzen nicht auftaucht. Umgekehrt muss die Bürgschaft der eigenen
Handlungs- und Bürgerrechte von einem ausgeschlossenen Dritten quasi zugekauft
werden. Anders ausgedrückt: in Gesellschaften diesen Typs ist nicht „Inklusion“, sondern „Exklusion“ der gesellschaftliche Primärsachverhalt und die Teilhabe an gesellschaftlichen Grundrechten wie Unversehrtheit der Person und des Eigentums oder soziale Sicherheit sind an die Teilhabe an Netzwerken gekoppelt und damit mehr oder weniger nach sozialer Situation und sozialer Leistungsfähigkeit abgestuft. In dieser – und nur
in dieser – Hinsicht gibt es Analogien zwischen den Strukturen in diesen peripheren
Gesellschaften und denen im Zentrum der Weltgesellschaft.
Dahrendorf sieht freilich auch im globalen Maßstab eine doppelte Tendenz in Richtung
auf eine Fusion von Kapitalismus und Autoritarismus einerseits und eine in Richtung
der Aushöhlung politischer und sozialer Bürgerrechte andererseits.49 Das heißt nicht,
dass die formale Demokratie auf dem Rückzug ist – im Gegenteil. Und das heißt auch
nicht, dass wir es in den entwickelten Industriegesellschaften mit totalitären Tendenzen
zu tun haben, wie sie in mafia-kapitalistischen Gesellschaften anzutreffen sind.50 Autoritarismus ist nicht Totalitarismus. Dahrendorf skizziert im groben Umriss drei Szenarien, die mit einander verwoben sind. Zum einen sieht er in den Transformationsgesellschaften Osteuropas in vielen Bereichen jene „unerfreuliche Verbindung von Spekulanten, Mafiosi, ja Gangstern, und Gesichtern der alten Nomen-Klatura“,51 von denen gerade die Rede war. Das zweite Szenario bezieht sich auf den ostasiatischen Kapitalismus.
Im Falle des japanischen „Allianz-Kapitalismus“ ist es das Gespinst informeller Patronagenetze auf Unternehmerebene, welches zu einer autoritären „Deformation“ des Kapitalismus beiträgt. Allerdings ist es gerade in diesem Fall zu einer relativ stabilen Institutionalisierung sozialen Anrechts auf Unternehmens- und Betriebsebene gekommen.52
Schließlich sieht Dahrendorf im Neo-Liberalismus einer Margret Thatcher autoritäre
Tendenzen am Werk. „Sie definiert Freund und Feind sehr klar, wendet sich gegen die
Bürgergesellschaft als Ressource der Feinde, und stärkt die Zentralisierung mitsamt
49
Dahrendorf, Ralf, Die Quadratur des Kreises: Wirtschaftlicher Wohlstand, sozialer Zusammenhalt und
politische Freiheit, in: ders., Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak,
München 2004, S. 103-131.
50
Dahrendorf, Ralf , Über die Verflechtungen von Ökonomie und Politik, in: ders., Der Wiederbeginn der
Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, München 2004, S. 88-102.
51
Ebd., S. 99.
52
Dieses Gegenmodell unterscheidet sich freilich in seinen normativen politischen Grundlagen von dem
westlichen Ur-Modell, so wie es in der Französischen Revolution aus der Taufe gehoben wurde (vgl.
Hessinger, Philipp, Die „Governance“. Depression in Japan. Überlegungen zur Strukturkrise der japanischen Wirtschaft, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 33, Heft 4 (2004), S. 321-344.
20
ihren zahlreichen unkontrollierten Agenturen zum Nutzen der Freunde“.53 Colin Crouch
spricht in diesem Zusammenhang von den 80er Jahren als den Beginn der „postdemokratischen Ära“. Diese zeichnet sich nicht nur durch eine schleichende Aushöhlung des politischen Bürgerrechts, sondern insbesondere auch der sozialen Anrechte
aus.54
Dahrendorf wiederum sieht in dieser Ära den Beginn des Aufstiegs einer neuen sozialen
Klasse, deren Mitglieder in besonderer Weise von Gelegenheiten und Risiken der neu
entstehenden Netzwerkgesellschaft profitieren. Der gesellschaftliche Vorrang und die
soziale Macht dieser neuen „globalen Klasse“ leitet er in Anschluss an Rosabeth Moss
Kanter von den drei „großen K´s“ ab: „Konzeption“, „Kompetenz“ und „Kontakte“.55
„Konzepte“ steht für die besten und neuesten Kenntnisse und Ideen, „Kompetenz“ für
die Fähigkeit, auf dem „höchsten Niveau“ jedes gegebenen Ortes zu funktionieren,56
und „Kontakte“ für die besten Beziehungen, „die Zugang verschaffen zu den Ressourcen anderer Menschen und Organisationen rund um die Welt“.57 Mit Blick auf die von
Robert Reich Anfang der 90er ins Spiel gebrachte These von der „Sezession der Erfolgreichen“58 sieht auch Richard Rorty die Gefahr der Entstehung einer von bürgerschaftlichen Verpflichtungen weitgehend „freien“ kosmopolitischen Klasse. Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung schätzt der engagierte Philosoph sehr ähnlich
ein wie der ehemalige amerikanische Arbeitsminister. „Der neue wirtschaftliche Kosmopolitismus lässt eine Zukunft ahnen, in der der Lebensstandard der übrigen drei Viertel ständig sinkt. Uns steht wahrscheinlich am Ende ein Amerika der erblichen Kasten
bevor [...]. Eine der erschreckendsten sozialen Tendenzen spiegelt sich in der Tatsache
wider, dass von den Kindern des oberen sozioökonomischen Viertels der amerikanischen Familien 1979 viermal so viele einen College-Abschluss hatten wie aus dem
unteren Viertel, heute aber [1994, Ph.H.] zehnmal so viele“.59
Zum ideologischen Habitus dieser globalen Klasse gehören eine starke Gegenwartsorientierung, eine teils zynische, teils euphorische Bejahung der spezifischen Kontingenz
53
Dahrendorf, Ralf, Die Quadratur des Kreises: Wirtschaftlicher Wohlstand, sozialer Zusammenhalt und
politische Freiheit, in: ders., Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak,
München 2004, S. 99.
54
Crouch, Post-Democracy.
55
Dahrendorf, Ralf, Die globale Klasse und die neue Ungleichheit, in: ders., Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, München S. 251-264, hier S. 254.
56
Ebd.
57
Ebd.
58
Reich, The Work Of Nations. Preparing Ourselves for 21st-Century Capitalism, S. 282 ff.
59
Rorty, Richard, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt a.M.
21
und Riskiertheit der „post-modernen“ Handlungs- und Lebensbedingungen sowie eine
gewisse Verliebtheit in Paradoxien und Ambivalenzen.60 Hier gibt es vermutlich deutliche Unterschiede zu der Haltung der modernen Unterklasse. Sennett zufolge sind die
dichten und weitgreifenden Kontaktnetze der Mitglieder der Oberschicht so etwas wie
die soziale Basis dieser verbreiteten Rationalitätsskepsis ihrer Mitglieder.61 Demgegenüber verfügen die Mitglieder der Unterklasse nur über dünne Kontaktnetze. Das bedeutet, dass sie für ihr eigenes Überleben in viel stärkerem Maße auf „strategisches Denken“ angewiesen sind, d.h. es gibt so etwas wie das Bedürfnis nach einem „lesbaren
sozialen Plan“.62 Umgekehrt, so macht schon ein kurzer Blick in die betreffende Managementliteratur deutlich, ist für die Mitglieder der globalen Klasse die spezifische
Brüchigkeit und Kontingenz organisatorischen Handelns die unerschöpfliche Quelle
eines gehobenen Amüsements.
5. Organisationen und Netzwerkopportunismus: Veränderungen der organisatorisch –
wirtschaftlichen Handlungsbedingungen
Dieses neue soziale Schichtungsmodell, welches an dieser Stelle nur in sehr groben
Umrissen skizziert werden kann, korrespondiert mit Veränderung der sozialen Beziehungen in den Unternehmen. Interessant ist, dass es in der heutigen Organisations- und
Arbeitsoziologie zwei grundlegend verschiedene Perspektiven auf das moderne „Netzwerkunternehmen“ gibt, die eigentümliche Parallelen mit den beiden genannten Interessenperspektiven aufweisen. Den ersten Ansatz könnte man als die „EmbeddednessPerspektive“ in der modernen Organisationsforschung bezeichnen, den zweiten Ansatz
als die dazu komplementäre „Entgrenzungs-Perspektive“. Beide Ansätze stehen in enger
Beziehung zu einander, weil sie sich beide auf das Phänomen interorganisatorischer
Netzwerke beziehen – allerdings aus unterschiedlichen Blickrichtungen.
Die Mitglieder der „globalen Klasse“, so wie sie Dahrendorf beschreibt, sind in einem
umfassenden Sinne „Netzwerker“. Das bedeutet, dass sie sich in stabilen Netzen bewegen und im Falle beruflicher Unsicherheit auf frühere Kontakte und „Adressen“ zurück-
1999, S. 83.
60
Man könnte vielleicht sagen, die Weltanschauung dieser neuen globalen Klasse ist „marchistisch“, (im
Sinne des Duktus der Organisationstheorie von James Garner March), die der neuen Unterklasse hingegen in geringem Maße noch „marxistisch“.
61
Sennett, Richard, Die Kultur des Neuen Kapitalismus, Berlin 2005, S. 64.
62
Ebd., S. 65.
22
greifen können. Sie gehören gewissermaßen zur „eingebetteten Klasse“. Die Mitglieder
der „abhängigen Klasse“ agieren demgegenüber eher im Binnenbereich der Organisation. Aufgrund ihrer eher dünnen Netzwerke sind sie deswegen tendenziell eher Objekte
als Subjekte des organisatorischen Wandels. Dieser wird in ihren Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen dann als Flexibilisierungs- und Prekarisierungsdruck wirksam,
welcher sich wiederum aus der zunehmenden „Entgrenzung“ der organisatorischen
Beziehungen nach außen ergibt.
Der „Embeddedness-Ansatz“ geht auf einen berühmten Ansatz von Mark Granovetter
zurück, der dann durch einen weiteren Ansatz von Walter Powell weiter vertieft und
ausgearbeitet wurde.63 Knapp zusammengefasst zielt Granovetters Argumentation darauf, dass die zwischenorganisatorischen Austauschbeziehungen in der Regel nicht reine
Transaktionssequenzen darstellen, die unter Transaktionskostengesichtspunkten beliebig
auflösbar und wiederknüpfbar sind. Vielmehr sind die Austauschbeziehungen der Organisationen im Normalfall – aus Gründen begrenzter Rationalität – relativ stabil. Überdies haben sie in ihrer Eigenschaft als „ongoing relations“ eine Eigenlogik des interaktiven Miteinanders, aus der heraus sich Vertrauen und „Normen der Reziprozität“ entwickeln können. Auf den letzten Aspekt legt vor allem Powell einen deutlichen Akzent. So
gesehen sind Netze Handlungen, die Selektionen im Hinblick auf die je gegebene Organisation darstellen, und die entsprechenden „Bindungen“ und „Beziehungen“ sind vor
allem die Bindungen, die aus höheren Statuspositionen heraus (allerdings nicht notwendigerweise aus einer höheren hierarchischen Position heraus) in die Umwelt hinausreichen. Aus systemtheoretischer Blickrichtung könnte man also sagen: Granovetters „ongoing relations“ stellen so etwas wie die Verlängerung der organisationsinternen
„Kommunikationswege“ in die Umwelt dar.64 Das heißt, Entscheidungsprozesse in
63
Granovetter, Mark, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology, 91, No 3 (1985), S. 481-510.
64
Dem systemtheoretischen Konzept der „Kommunikationswege“ liegen netzwerktheoretische Überlegungen zugrunde (Luhmann, Niklas, Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1995, S. 190 ff.).
Die zentrale Idee ist, dass das unvermeidbare Rationalitätsdefizit in den organisatorischen Entscheidungsprozessen dazu zwingt, auf die strukturellen Gegebenheiten des Organisationsaufbaus Bezug zu nehmen.
Diese werden dann gleichsam als „Entscheidungsprämissen“ wirksam (Luhmann, Niklas, Organisation
und Entscheidung, Opladen 2000, S. 222). Luhmann spricht dabei sogar von so etwas wie einem unvermeidbaren „blinden Fleck“ in den organisatorischen Entscheidungsprozessen. Neben der „Personalauswahl“ und der „Programmstruktur“ der Organisation ist die Ausgestaltung der „Kommunikationswege“ in
diesem Sinne eine Entscheidungsprämisse. Dieser letztere Terminus verweist im Unterschied zum Begriff
der „Befehlskette“ darauf, dass Kommunikationsprozesse in Organisationen beidseitig orientiert sind. Die
Grundannahme ist nun, dass der „Prozess des Organisierens“ darin besteht, Kommunikationswege und netze selektiv und problemorientiert auszugestalten. „All-Kanal-Netze“ – mittels derer jeder mit jedem
kommunizieren kann – stellen dabei ein Null-Niveau von Organisation und ein Maximum an inhaltlicher
23
Organisationen sind pfadabhängig und eine entscheidende Dimension von Pfadabhängigkeit ist die Einbettung organisatorischen Handelns in interorganisatorische Netze mit
ihren je spezifischen „lokalen Rationalitäten“.65
Die Forschungsperspektive auf organisatorische „Entgrenzungsprozesse“ wurde demgegenüber weniger in der eigentlichen Organisationssoziologie, sondern eher in der Industrie- und Arbeitssoziologie eingenommen und weiterverfolgt.66 Richard Sennett
Kommunikation dar (Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 198; Scott, Richard,
Grundlagen der Organisationstheorie, Frankfurt a.M./New York 1986, S. 208). „Sternförmige Netze“, so
wie sie für pyramidenförmige Organisationen typisch sind, haben demgegenüber den Vorteil von Tempogewinn. Der Nachteil einer derartigen, „vertikalen“ Struktur von Kommunikationswegen gegenüber einer
horizontal angelegten Struktur besteht freilich in einer relativ geringen Aufnahmefähigkeit von komplexen
Problemlagen (Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 199 ff.). Damit besteht die
Gefahr, dass sich die Kontakte an der Organisationsspitze gleichsam „heiß laufen“. Die Ausgestaltung von
Kommunikationswegen in der organisatorischen Umwelt folgt dabei der gleichen Logik. Auch im Hinblick auf die Umweltkontakte gilt also dasselbe „Gesetz“ der beschränkten Rationalität“, was sich konkret
darin bemerkbar macht, dass ab einer gewissen Problemkomplexität keine „All-Kanal-Netze“ in der
Umwelt zur Verfügung stehen. Auch hier sind also selektive Einschränkungen der Kommunikationsstruktur Folge begrenzter Rationalität und begrenzter Informationsgewinnungskapazität (Tushman, Michael,
Communication across organisational boundaries, in: Administrative Science Quarterly, 4 [1977], S. 624645). Pointiert ausgedrückt: das Problem der Ausgestaltung von organisatorischen Netzwerkbeziehungen
im Außenbereich ist die Kehrseite des Problems der Schaffung selektiver Komplexität in den organisatorischen Binnenstrukturen.
Das Problem der selektiven Komplexität von Netzen wird im „Einbettungs“- und im „Entgrenzungsansatz“ der Organisationsforschung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Der EmbeddednessAnsatz beobachtet nämlich primär solche Handlungen im „totalen Netz“ (vgl. Barnes, Networks and
Political Process), die ihrerseits Selektionen im Hinblick auf ein gegebenes Organisationssystem darstellen. Der Entgrenzungs-Ansatz hingegen geht davon aus, dass Netze per se auch auf (aus der jeweiligen
Organisationsperspektive) nicht beobachtbare Fremdreferenzen verweisen. M.a.W. – Netze stellen nicht
nur selektive Komplexität zur Verfügung, sie umfassen auch kontaktfreie Räume. Kontaktfreie Räume
sind wiederum gekennzeichnet durch eine Wechselbeziehung von Kontaktanhäufung und Kontaktleere
(vgl. Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 393). Anders ausgedrückt: der Begriff
des „totalen Netzes“ liegt gleichsam quer zum Systembegriff. Er umfasst also einerseits Handlungen, die
Selektionen im Hinblick auf ein gegebenes System darstellen. Dieser Netzwerkbegriff – so könnte man in
Anschluss an Luhmann sagen – liegt auf der markierten Seite der Unterscheidung von Organisation und
Umwelt (Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 123 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft.
Erster Teilband, Frankfurt a.M. 1997, S. 190 ff.). Andererseits diskriminiert das totale Netz selber nicht
zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Netze – im Sinne ihres Beziehungsmusters von strukturellen
Löchern – liegen also nur im Grenzfall (etwa im Fall einer gelingenden Profitrealisierung) innerhalb des
„marked space“ der Organisation. Im Normalfall hingegen sind Netze so gesehen aus der Organisationsperspektive ein „unmarked space“. All das trägt wiederum dazu bei, dass sich die organisationsrelevanten
Handlungen zunehmend der direkten organisatorischen Kontrolle entziehen. Das hat wiederum den paradoxen Effekt, dass nicht auf die primär intern definierten Aspekte von „Koordination“ und „Kooperation“
das Hauptaugenmerk in den organisatorischen Entscheidungsprozessen gelegt werden muss, sondern auf
die Form des organisatorischen Grenzmanagements (Tacke, Veronika, Systemrationalisierung an ihren
Grenzen – Organisationsgrenzen und Funktionen von Grenzstellen in Wirtschaftsorganisationen, in:
Schreyögg, Georg und Sydow, Jörg (Hg.): Gestaltung von Organisationsgrenzen. Managementforschung
7, Berlin/New York 1997, S. 1-43). Das Schlagwort von der „entgrenzten Organisation“ steht dabei nur
für eine sehr verkürzte Sichtweise auf diese komplexe Problematik.
65
Friedberg, Ehrhard, Ordnung und Macht. Dynamiken organisierten Handelns, Frankfurt a.M./New York
1995: S. 169 ff.
66
Sennett, Die Kultur des Neuen Kapitalismus; Minssen, Heiner (Hg), Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin 2000; Altmann, Norbert und Sauer, Dieter (Hg.), Systemische
Rationalisierung und Zulieferindustrie. Sozialwissenschaftliche Aspekte zwischenbetrieblicher Arbeitstei-
24
beschreibt die diesbezüglich relevanten Organisationspraktiken als eine Art „Dreischritt“ der „Flexibilisierung der Belegschaft“, der „Abflachung der Hierarchie“ und die
„Ermöglichung nicht-linearer Abläufe“.67 Problematisch erscheint in dieser Perspektive
weniger der Prozess der Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse. Brisant ist
vielmehr die damit verbundene Auflösung eines klar definierten Mitgliedschaftsstatus.
Typisch für dieses neue Organisationsmodell ist eine Tendenz, durch die Betonung
außen-gerichteter Kontakte ein Moment von Konkurrenz in die innerbetrieblichen Beziehungen einzuführen. Sennett stimmt zwar Granovetter zu, dass in flexiblen Organisationen „offene zwischenmenschliche Beziehungen“ eine große Rolle spielen können.68
Aber er betont gleichermaßen, dass in denselben Zusammenhängen in der Regel ein
hohes Maß von Stress und Unsicherheit existiert. Das im Wettbewerb zwischen Projektgruppen oft angewandte „the winner takes all“-Prinzip, führt dabei ihm zufolge in
vielen Betrieben dazu, dass sich ein Klima diffuser Ängste verbreitet. Seine Diagnose
steht damit in direktem Gegensatz zu Powells Ansicht, dass sich „eingebettete Organisationen“ durch eine hoch entwickelte Vertrauenskultur auszeichnen. Pointiert ausgedrückt könnte man sagen: Powell beschreibt das Unternehmensklima aus der Perspektive erfolgreicher Netzwerker, die an den „Grenzstellen“ (und in den Spitzenpositionen)
der Unternehmen agieren, Sennett hingegen aus der Perspektive der Angehörigen des
technisch-organisatorischen Kerns, in deren Alltagshandeln gleichsam „von außen her“
zunehmend Unsicherheit „einsickert“.
Die Problematik der Kommunikation über Grenzstellen69 ist dabei nicht zu trennen von
der Frage der innerorganisatorischen Machtverteilung. Typischerweise haben nämlich
Grenzstellen-Akteure mehr Macht als „normale“ Organisationsmitglieder.70 Aus ihrer
Fähigkeit, Informationskanäle und Handlungschancen zu monopolisieren, resultieren
deswegen in der Regel mehr oder weniger informell abgesicherte Handlungsrechte. Ein
wesentliches Problem besteht nun darin, dass diese Umverteilung von Handlungsrechten
zugunsten einiger Organisationsmitglieder den Mitgliederstatus aller Organisationsmitglieder nachhaltig beeinflusst. Der verbreiteten Praxis der Auszahlung von Prämien,
Sonderzahlungen oder Aktienbeteiligungen an bestimmte privilegierte Betriebsangehörige, steht dann die zunehmende Prekarisierung anderer nicht-privilegierter Beleglung, Frankfurt a.M./New York 1989.
67
Sennett, Die Kultur des Neuen Kapitalismus, S. 43.
68
Ebd., S. 44.
69
Vgl. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 220ff.
70
Crozier, Michel und Friedberg, Ehrhard, L´acteur et le système, Paris 1977, S. 139 ff.
25
schaftsanteile gegenüber. Daraus ergibt sich das Dilemma, dass es schwierig ist, die –
gewünschte – Loyalität in den grenzüberschreitenden Netzbeziehungen mit der – notwendigen – Loyalität in den organisatorischen Binnenbeziehungen zu vereinbaren. Das
ist wiederum untrennbar damit verbunden, was Sennett die „neue Geographie der
Macht“ im Unternehmen nennt: „Das Zentrum kontrolliert die Peripherie innerhalb
einer Institution mit immer weniger bürokratischen Zwischenschichten [...]. In der Organisation avancierten Typus stellen sich Defizite der Loyalität, des informellen Vertrauens und des akkumulierten institutionellen Wissens ein. Für die Einzelnen kann
Arbeit zwar weiterhin großen Wert haben, doch das moralische Ansehen der Arbeit
verändert sich“.71
Im Gegenzug wurde der „Embeddedness-Ansatz“ in der eher Management-orientierten
Organisationsforschung weiter „ausbuchstabiert“. Das Forschungsinteresse richtet sich
hier auf die Herausbildung von so etwas wie eigenständigen Handlungssphären mit je
eigenen Standards und Qualitätskonventionen, welche sich an „Objekten“ festmachen
lassen. Derartige Netze erfordern also immer erhebliche „Forminvestitionen“ in die
Aushandlung von Standards und Objektqualitäten.72 Luhmann folgend kann man in
diesem Zusammenhang von „Zwischensystemen“ sprechen.73 Die fortschreitende Stabilisierung solcher Zwischensysteme bietet dann u.U. die Möglichkeit, soziale Anrechte
auf Basis „gerechter Statuszuordnungen“ und Entlohnungsrichtlinien zu reinstitutionalisieren. Bedingung dafür ist freilich eine Orientierung an gleichsam reflexiv angelegten
und individuell spezifizierbaren Gerechtigkeitsformeln, die sich grundlegend von dem
Muster des „Normalarbeitsverhältnisses“ unterscheiden, welches noch in der „fordistischen“ Phase der Entwicklung der modernen Industrie vorherrschte. Boltanski und
Chiapello sprechen in dieser Hinsicht von einer „Projektpolis“, deren „Wertigkeiten“
und Gerechtigkeitsstandards der Realität hochmobiler Arbeitsverhältnisse entspricht.74
Das betrifft etwa Rechte auf Weiterbildung und Qualifizierung, Mobilitätsrechte u.Ä.,
wodurch der Übergang in neue Arbeitsverhältnisse erleichtert wird, ohne dass die Sichtbarkeit der in den ehemaligen Projekten erbrachten Arbeitsleistungen verloren geht. Nur
durch derartige – gleichsam „kontingenzfeste“ – Regularien wird es vermutlich in Zukunft möglich sein, jene neuen Formen sozialer Ausbeutung zu bekämpfen, welche die
71
Sennett, Die Kultur des Neuen Kapitalismus, S. 65f.
Vgl. Thévenot, Laurent, Les investissements de forme, in: Conventions économiques. Cahiers du centre
d´études de l´emploi (1985), S. 21-71.
73
Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation , S. 227.
74
Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 147 ff.
72
26
genannten AutorenInnen als „Netzwerkopportunismus“ bezeichnen.75
Betrachtet man Netzwerk als auf Organisationen zugerechnete Handlungen, so kommen
verschiedene Formtypen organisatorischer „Zwischensysteme“ in den Blick. Diese
Formtypen unterscheiden sich nun hinsichtlich des Maßes an Selektivität, welches sich
in den interorganisatorischen Netzen in den Handlungen der Akteure herausgebildet hat.
Das höchste Maß an Selektivität (und selektiver Komplexität) betrifft Netzwerke „systemischer Rationalisierung“, d.h. enge strukturelle Verkopplungen verschiedener Organisationen
–
wie
sie
z.B.
im
Zuge
der
Entwicklung
von
Just-in-Time-
Zulieferbeziehungen oder Partnerschaften von „System-Zulieferern“ entstanden sind.76
Ein Beispiel hierfür sind die außerordentlich fein abgestimmten Kooperationsbeziehungen zwischen Endfertigern und Systemzulieferern, welche sich ausgehend vom so genannten „Toyota-Modell“ mittlerweile weltweit in der Automobilindustrie durchgesetzt
haben.
Einen zweiten Formtyp stellen „strategische Netze“ dar, die in ihrer Eigenschaft als
„Unternehmungsnetze“ immer nur sehr begrenzte Überschneidungsbereiche in der zwischenorganisatorischen Kommunikationen und Handlungen betreffen. Jörg Sydow und
Arnold Windeler sprechen hier von einer „Quasi-Externalisierung“ und einer „QuasiInternalisierung“ von Aktivitäten in den organisatorischen Zwischensystemen.77 Beispiele hierfür sind etwa strategische Allianzen, globale Warenketten und locker gekoppelte Zuliefernetze, Industriedistrikte und regionale Ballungen.
Schließlich können „interaktive Netze“ als ein dritter Formtyp unterschieden werden. In
diesem Fall existieren noch keine direkten Überschneidungen und strukturelle Kopplungen zwischen Organisatoren. Hier handelt es sich um relativ eng begrenzte Kooperationen, wie z.B. Vertriebspartnerschaften, die sich im Falle der Herausbildung klarer
Machtverhältnisse in strategische Netze transformieren können. Kommunikationen und
75
Ebd., S. 422 ff.
Sabel, Charles, Learning by Monitoring: The Institutions of Economic Development, in: Smelser, Neil
und Swedberg, Richard (Hg.), The Handbook of Economic Sociology, Princeton 1994, S. 137-165;
Altmann, Norbert und Dieter Sauer, Systemische Rationalisierung und Zulieferindustrie. In diesem Fall
steht das organisatorische Zwischensystem gleichsam „orthogonal“ zur Autopoiesis der beteiligten Organisationen: Irritationen im gegenseitigen Verkehr werden nicht nur vermieden, sondern gezielt gesucht
und genutzt, um so die Bewältigung von Ungewissheit und Unsicherheit im organisationsinternen Bereich
zu stimulieren (vgl. Tacke, Systemrationalisierung an ihren Grenzen – Organisationsgrenzen und Funktionen von Grenzstellen in Wirtschaftsorganisationen; Teubner, Gunther, Die vielköpfige Hydra. Netzwerke
als Kollektive Akteure höherer Ordnung, in: Krohn, Wolfgang und Küppers, Günter (Hg.): Emergenz: Die
Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M, 1992, S. 189-216).
77
Windeler, Arnold , Unternehmungsnetzwerke. Konstitution und Strukturation, Opladen 2001; Sydow,
Jörg, Strategische Netzwerke. Evolution und Organisation, Wiesbaden 1993.
76
27
Handlungen im Netz beziehen sich auf „Aktivitäten“ und „Ressourcen“ im Feld, die
gleichsam als externe „Objekte“ beobachtet und davon ausgehend miteinander nach
strategischen Gesichtspunkten verknüpft werden.78 Derartige interaktive Netzwerke
stellen so etwas wie den materiellen Hintergrund von „strategischen Netzen“ dar. Sie
betreffen dabei im Wesentlichen die Handlungs- und Objektstruktur von Handlungsfeldern und – noch – nicht Organisationsstrukturen im eigentlichen Sinne. Insgesamt betrachtet kann dann diese dreifache Formtypik auch als ein Prozess der graduellen Zunahme von selektiver Komplexität in den organisatorischen Zwischensystemen verstanden werden.
Aber auch wenn die Etablierung organisatorischer Zwischensysteme ein gewisses Maß
an Stabilität in den interorganisatorischen Beziehungen ermöglichen sollte, die von
Sennett so bezeichnete „neue Geographie der Macht“ impliziert ein gegenläufiges Moment. Letztlich haben wir es mit einer grundlegenden Neubestimmung der arbeitsorganisatorischen Hintergrundsstrukturen des Mitgliedschaftsstatus zu tun. Denn die Ausstattungsmerkmale dieses Status leiten sich zunehmend nicht mehr direkt aus Kriterien
der Zugehörigkeit zur Organisation ab (formelle Position, interne Laufbahn, institutionelles Wissen), sondern aus der Netzwerkmacht – und den damit zusammenhängenden
Mobilitätsvorteilen – der Akteure. Das wiederum bedeutet, dass das Problem des Netzwerkopportunismus – anders als eine weit verbreitete, affirmativ eingestellte Managementliteratur glauben machen möchte – von konstitutiver Bedeutung für das moderne
Netzwerkunternehmen ist. Im Zentrum steht dabei das Problem der Veränderung der
moralischen Anerkennungsgrammatik der Arbeit im Betrieb.
Auf die moralische Komponente in betrieblichen Kooperationsprozessen hat vor allem
Chester Barnard – einer der Begründer der modernen Organisationssoziologie – aufmerksam gemacht.79 Ihm zufolge ist es unmöglich, das Zustandekommen von Kooperation aus den individuellen Handlungslogiken der einzelnen Teammitglieder zu begreifen. Der jeweils Einzelne neigt aus vermeintlich „rationalen“ Motiven nämlich immer
zum „Trittbrettfahrerverhalten“. Die entscheidende Größe in Prozessen gelingender
Kooperation sind deswegen die „hinzukommenden“ Akteure, die die interne Balance
der Gruppe verändern.80 U.U. kommt es dann zur Entstehung eines „Gemeinschafts78
Vgl. Axelsson, Björn und Easton, Geoffrey (Hg.), Industrial Networks. A New View of Reality, London/New York 1992; Håkansson, Hakan, Corporate Technological Behaviour, Cooperation and Networks, London/New York 1989.
79
Barnard, Chester, The Function of the Executive, Cambridge/Mass. 1960.
80
Ebd., S. 246 ff.
28
spiels“ und damit zur Erzielung eines Mehrwerts durch Kooperation. Barnard zufolge
besteht die Funktion des Managements dann darin, als eine Art „Bürge“ dieses hinzukommenden Dritten in gelingenden Kooperationsprozessen aufzutreten. Ausgehend
davon ist es dann möglich, den Mitgliedschaftsstatus der Mitglieder zu institutionalisieren und bestimmte soziale Garantien in Form legitimer Anrechte festzuschreiben (Lohn,
Beschäftigungsdauer, Arbeitsbedingungen etc.). In der „moralischen Ökonomie“ netzwerkorientierter Teamarbeit wird die Absicherung des Mitgliedschaftsstatus mittels
eines eingeschlossenen Dritten (Bürgen) nun zunehmend durch externe Loyalitäten
ersetzt. Soziale Sicherheit ergibt sich also immer weniger aus der direkten Betriebszugehörigkeit und immer mehr aus der Qualität der eigenen Netzwerkkontakte. Damit tritt
an die Stelle des eingeschlossenen Bürgen ein aus den innerbetrieblichen Beziehungen
ausgeschlossener Dritter. Dieser beglaubigt dann die Validität der Netzwerkkontakte
und er trägt darüber hinaus zur „Evaluierung“ der Arbeit und der Arbeitsleistung bei.
Boltanski und Chiapello zufolge ist „Netzwerkopportunismus“ deswegen eine verbreitete Figur des Sozialverhaltens in modernen, „entgrenzten“ Organisationen.81 Der Netzwerkopportunist instrumentalisiert die Kooperation der anderen, ohne selbst zu kooperieren. Er arbeitet also in der Regel in Teams und nutzt seine „Außenkontakte“, um
arbeits- und verwertungsrelevante Informationen zu beschaffen und weiterzugeben. In
Gegensatz zum seriösen „Netzwerker“ hat er aber kein Interesse an der Weitergabe
dieser Informationen und Kontakte ins Team. Er versucht also Informationssymmetrien
so gut wie möglich auszunutzen. Dieses individuelle Verhaltensmodell findet seine
Fortsetzung auf organisatorischer Ebene im Verhalten ganzer Unternehmen. Die genannten AutorenInnen konstatieren in dieser Hinsicht eine Tendenz – vor allem der
transnationalen Unternehmen –, die „Bindung an das Territorium kontinuierlich zu
lockern, und in dieser Hinsicht die abhängigen Zulieferer quasi „mitzuziehen“. „Eine
Reservearmee, die in der Dritten Welt, den Schwellen- oder auch den ehemals kommunistischen Ländern zur Verfügung steht, kommt den Verschiebungen und dem kapitalistischen Wachstumsschub zugute, denn trotz der Entmutigungen oder der Revolte derjenigen, deren Hoffungen enttäuscht worden sind, finden sich immer wieder Menschen,
die bereit sind, sich auf dieses Abenteuer einzulassen“.82 Die Konsequenz ist, dass „in
allen Phasen des Wertschöpfungsprozesses der Mobilere dem weniger Mobilen dessen
81
82
Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 397 ff.
Ebd., S. 553.
29
Wertzuwachs vorenthält“.83
Die Bedingungsmöglichkeit von Netzwerkopportunismus ist nun, dass die ausgehend
von einer gegebenen Organisation „gebahnten“ und genutzten Netze eine „organisationsfremde“ Außenseite haben. (Systemtheoretisch gesprochen sind sie damit ein „unmarked space“, der die Kehrseite der organisationsrelevanten „Bezeichnungen“ und
„Unterscheidungen“ darstellt.)84 Kontakte, die derartige kontaktfreie Räume überbrücken, können dabei in den Binnenbereich in die Organisation hineinreichen, so dass eine
Zone fremdreferentieller Verweisungen im organisatorischen Handeln entsteht. Die
Zwischensysteme sind also permanentem Veränderungsdruck ausgesetzt und dieser
Druck verlagert sich in die Organisation selbst. In den organisationssoziologischen
Debatten (und der daran anschließenden wirtschaftssoziologischen Literatur) ist dabei
von einer grundlegenden Gegentendenz zur „Strukturierung“ und Stabilisierung derartiger organisatorischer Zwischensysteme die Rede. Diese bedingt in periodischen Abständen eine „Heterogenisierung“ und einen damit einhergehenden Orientierungs- und Ordnungsverlust in den zwischenorganisatorischen Beziehungen.85 Der heutige „ungeduldige Kapitalismus“ der Finanzmärkte und der Shareholder-Value-Optimierung mit seinen
Macht- und Einflussnetzwerken von Analysten und Beratern, Beteiligungsgesellschaften
und Investmentformen „wirbelt“ in gewissen Abständen die organisatorischen Zwischensysteme durcheinander, dringt „von außen“ in die organisatorische Systemrationalität ein und unterwirft diese vorgegebenen und kurzfristig orientierten Zwecken,
Zeitzyklen und Profiterwartungen. In den Worten von Sennett: „Die Generäle an der
Spitze sind nicht mehr die Unternehmensführer [...], weil ganz neue, von der Seite einwirkende Mächte entstanden sind“.86 Die Folge ist zunächst dass, was Boltanski und
Chiapello ein „Regime der Verschiebungen“ nennen, d.h. die permanente Prekarität und
Unsicherheit innerorganisatorischer Statuszuweisungen, sozialer Garantien und Anrechte. Die Etablierung neuer Gerechtigkeitsstandards und Anrechte ist unter diesen Bedingungen also z. Zt. noch eine schwierige Angelegenheit, die vermutlich nur in enger
Zusammenarbeit von politischen Instanzen, Unternehmen, Gewerkschaften und neuen
Protestbewegungen bewerkstelligt werden kann. Die derzeitige Haupttendenz ist deswe-
83
Ebd., S. 411.
Vgl. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 190 ff.
85
Vgl. Hessinger, Philipp, Vernetzte Wirtschaft und ökonomische Entwicklung. Organisatorischer Wandel, Institutionelle Einbettung, Zivilgesellschaftliche Perspektiven, Wiesbaden 2001, S. 121 ff.; Håkansson, Hakan, Corporate Technological Behaviour, Cooperation and Networks, S. 31 ff.
86
Sennett, Richard, 2006: S. 35.
84
30
gen möglicherweise nicht die der Etablierung gleichsam „ultrastabiler“ Zwischensysteme, sondern die einer Vertiefung der Prekarisierungs- und Verschiebungsprozesse.
In den Betrieben selber manifestiert sich die gleiche Tendenz im Entstehen neuer Konflikt- und Segmentationslinien zwischen den Beschäftigtengruppen. Eine jüngere – in
Zusammenarbeit mit der IG-Metall erstellte empirische Studie – konstatiert in dieser
Hinsicht einen wachsenden Gegensatz zwischen den gemeinschaftlich-solidarischen
Handlungsstrategien der technisch orientierten Beschäftigten und den eher individualistischen Interessenvertretungsstrategien der neu hinzukommenden kaufmännischorganisatorischen Beschäftigten.87 Die Akteure des gemeinschaftlich-solidarischen
Typus agieren „mit einer Mischung aus permanenter sozialer Beziehungspflege, kooperativem Umgangsstil und gelegentlichem Druck und Sanktionen [...], sowie mit sehr viel
Pragmatismus“.88 Die kaufmännisch-organisatorisch orientierten Akteure „sind höher
gebildet, besser qualifiziert und setzen stärker auf Konkurrenz und individuellen Aufstieg. Ihr Habitus und Berufsethos haben eine größere Nähe zu den von Unternehmensseite inzwischen eingeführten Maßnahmen der individuellen Leistungsanreize, die die
interne betriebliche Konkurrenz verstärken“.89 Diese neuen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, so spekulieren die AutorInnen, „werden vermutlich längerfristig den traditionellen und gemeinschaftlich orientierten Arbeitnehmertypus in seiner die Betriebskultur
prägenden Einflussnahme verdrängen“.90 Barnard folgend könnte man freilich fragen:
Wie ist dann unter diesen Bedingungen überhaupt noch Kooperation möglich?
Diese Gewichtsverschiebungen der betrieblichen Kräfteverhältnisse scheinen damit
unmittelbar mit den im Vorhergehenden beschriebenen Veränderungen in den betrieblichen Kooperations- und Handlungslogiken zu tun zu haben. Colin Crouch geht in diesem Zusammenhang sogar soweit, von einer „De-Institutionalisierung“ des Unternehmens als sozialer Kategorie zu sprechen. Diese wurde ihm zufolge zunächst im privatwirtschaftlichen Sektor der Gesellschaft vorexerziert, um dann in der Folge die moralischen Grundlagen des öffentlich-stattlichen Bereichs zu unterminieren.
6. Post-Demokratie: Veränderungen der politischen Handlungsbedingungen im heutigen
87
Vester, Michael und Teiwes-Kügler, Christa, Die neuen Arbeitnehmer und der neue industrielle Konflikt – Herausforderungen für die gewerkschaftlichen Strategien, in: Widersprüche, Heft 102, Dezember
(2006), S. 79-98, hier S. 92 f.
88
Ebd., S. 91.
89
Ebd., S. 92.
90
Ebd.
31
Kapitalismus
Eines der Hauptrisiken dieser Entwicklung besteht dann in der „Entkopplung von Kapitalismus und Staat“.91 Denn staatliche Instanzen sind im Kern Gebietskörperschaften,
die in dieser Hinsicht ein strukturell kaum kompensierbares Mobilitätsdefizit gegenüber
transnationalen Unternehmen, Beteiligungsfonds und Investmentgesellschaften aufweisen. Der Prozess der Erosion von Mitarbeiterrechten auf Unternehmensebene verlängert
sich also tendenziell in den staatlichen Bereich und damit in den Bereich staatlich garantierter Bürger- und Sozialrechte. Pointiert ausgedrückt: der „Staat verliert in dieser Hinsicht an Macht, freilich, und das ist entscheidend, nicht seinen Einfluss“.92
In diesem Sinne definiert Crouch den Übergang zur „Post-Demokratie“ als eine Art
Sequenz ineinander greifender „Verschiebungen“.93 Mit diesem Begriff versucht Crouch
die allzu „einfach gestrickte“ Alternative von Demokratie und Nicht-Demokratie zu
umgehen, um so besser die Rückkehr nicht-demokratischer Strukturen in der Demokratie selber zu beschreiben.94 Er sieht dabei eine doppelte Tendenz der Trivialisierung der
Politik in Verbindung mit einer Tendenz der zunehmenden Abschottung der politischen
Eliten. Diese doppelte Tendenz ist wiederum Ausdruck einer Art Legitimationskrise der
Politik in Beziehung zu den transnationalen Unternehmen, die Crouch zufolge die eigentlich zentrale Institution der „Post-Demokratie“ sind.95 Diese einzelnen Aspekte sind
dabei für sich selber sicherlich nichts Neues, neu sind jedoch jene Phänomene, die durch
Verschiebungsprozesse in der Beziehung der einzelnen Handlungsdimensionen zu einander zustande kommen. So ist die Tendenz der Trivialisierung der Politik sicherlich
eng verbunden mit deren Elitencharakter (und dem bekannten Michelschen Oligarchieprinzip). Die – mehr oder weniger – berechtigte Empörung darüber gerät aber unter
post-demokratischen Verhältnissen zur allgemeinen Politikerschelte (falls ein gewisses
Niveau der Trivialisierung überschritten ist). Neu ist nun, dass es gerade solchen Parteien gelingt, die eng mit den Geschäftseliten verbunden sind, diesen Populismus zu instrumentalisieren. So war die – überaus erfolgreiche – ehemalige italienische Regierungspartei „Forza Italia“ in ihren Ursprüngen nichts weiter als ein Netzwerk von Unternehmen, die ihrerseits von dem stärksten Unternehmer des Landes kontrolliert wur91
Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 553.
Castells, Die Macht der Identität, S. 259.
93
Vgl. Boltanski und Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 362 ff.
94
Crouch, Post-Democracy.
95
Ebd., S. 31 ff..
92
32
den. Das führt zum einen in einer Art Kurzschlusseffekt zur weiteren Verstärkung des
Elitencharakters der Politik. Zum anderen wird der Interessencharakter von Politik zunehmend vage. Ein Politiker dieses neuen Typs, wie der ehemalige italienische Ministerpräsident Berlusconi, agiert dann nicht mehr als Mittler von Allgemein- und Partikularinteressen, sondern als entschiedener Anwalt von (seinen eigenen) Partikularinteressen. Gerade deswegen wird er zum „Anwalt“ des „kleinen Mannes“. Politiker dieses
Typs agieren also eher als „Patrone“ denn als „Staatsmänner“, insofern sie anstelle der
Gewährung allgemeiner Anrechte die – vermeintliche oder wirkliche – Ermöglichung
individueller und persönlicher Zugangsrechte setzen. Eine Politik dieses Typs ist deswegen autoritär, ohne jedoch im formalen Sinne anti-demokratisch zu sein.
Überdies ist sie in der Tendenz anti-egalitär, als sie über die Delegitimierung des Staates
zur Delegitimierung staatlich verbriefter Anrechte beiträgt. Die derzeitige Delegitimierung des Steuerstaats ist dabei gleichermaßen Konsequenz des Drucks der Geschäftsinteressen auf die Politik und des Protestes gegen diese Form der Einflussnahme. Die in
allen OECD-Staaten seit den frühen 80ern zu beobachtende Verschiebung der Steuerlast
von den Unternehmen auf die Gruppe Einkommens- und Lohnsteuer zahlender Lohnabhängiger ist in dieser Hinsicht vermutlich von zentraler Bedeutung.96 Unnötig zu sagen,
dass das so entstandene populistische „Steuerrebellentum“ sich wiederum leicht von
Parteien einfangen lässt, die ihrerseits als der verlängerte Arm von Geschäftsinteressen
fungieren.
Diese Delegitimierung des Staates verstärkt dann weiter den Druck auf die Privatisierung staatlicher Leistungsangebote und Aufgabenbereiche. Das wiederum führt zu Verschiebungen der Interessensphären, als die privaten Privatisierungsinteressenten nun
ihrerseits verstärkt Einfluss auf die Politik nehmen.97 Diese – nur noch selten hinterfragte – Privatisierungslogik führt dann wiederum zu Verschiebungen der Wissens- und
Kompetenzpotentiale vom öffentlichen in den privaten Bereich, so dass die staatlichen
Instanzen das in Jahrzehnten erworbene Organisationswissen, welches gleichzeitig ein
Wissen über den spezifischen Charakter „öffentlicher Güter“ ist, aus der Hand geben.
Ein klassisches Beispiel hierfür ist etwa die Privatisierung der Energieversorgung in den
96
Bofinger, Peter, Wir sind besser als wir glauben. Wohlstand für alle, München 2005, S. 191 ff.; Kesssler, Wolfgang, Wirtschaften im Dritten Jahrtausend, Oberursel 1996, S. 26 ff.
97
Im Grunde ist der Bertelsmann-Konzern zweierlei: zum einen eine Stiftung, die in vielen Bereichen als
durchaus innovativer Ideengeber auftritt, zum anderen die Gruppe, zu der das europaweit größte Unternehmen (Arvato) von Dienstleistungen im Bereich „public-private partnerships“ gehört.
33
USA.98
Der anti-egalitäre Grundzug post-demokratischer Politik hat dabei zwei eng miteinander
verwobene Ursachen. Zum einen hat sich durch die Deregulierung der Finanzmärkte in
den frühen 80ern der Kernbereich der ökonomischen Dynamik vom Massenkonsum
wegbewegt und hin zur Maximierung von Shareholder-Value-Interessen verlagert. Für
die Unternehmen selber bedeutet das, dass der Aktienkurs und nicht die Dividende zum
zentralen Erfolgsindikator wird (und der Aktienkurs steigt gerade dann, wenn es zu
drastischen Einschnitten bei den Löhnen und den Sozialleistungen kommt). Zum anderen hat sich der Charakter der politischen Parteien zunehmend verändert. Der Idealtyp
einer „klassischen“ demokratischen Partei lässt sich Crouch zufolge als ein System
konzentrischer Kreise bezeichnen, in deren Zentrum sich die Parteiführung befindet und
in deren Außenbereich die Wählerschaft platziert ist.99 Die Parteimitgliedschaft fungiert
in diesem System dann als ein intermediärer Zirkel, in dem die Verbindung von Wählerschaft und Führung hergestellt wird. Dieses Parteikonzept lag auch noch der Theorie
Gramscis zugrunde, nach der Parteien um eine Problemlösungsformel herum organisiert
sind.100 Crouch zufolge gibt es aber mittlerweile neue Wege, „den Zugang zur Wählerschaft zu finden“. Er spricht in dieser Hinsicht von der „elliptischen Partei“, in der der
Führungszirkel seinen Einfluss über die Parteimitgliedschaft direkt in den Bereich der
Wählerschaft ausdehnt. Zur „Ellipse“ gehört dann ein ganzes Netzwerk von Beratern,
Lobbyisten und Meinungsforschungsexperten, wobei diese zusammen mit den Politikern ihren Einfluss mit Gewinn verkaufen (im Falle der Politiker wohl typischerweise
immer – noch – nach Ablauf ihrer Regierungszeit). Der Grund für den zunehmenden
Einfluss dieser Ellipsen im Vergleich zur eigentlichen Parteimitgliedschaft ist die Tatsache, dass sie in der Regel über echtes „Expertenwissen“ im Hinblick auf das Wählerverhalten verfügt, welches dem – mehr oder weniger – naiven „Amateurenthusiasmus“ der
einfachen Parteimitglieder überlegen ist.
Durch diese ineinander greifenden Verschiebungen in den politischen Handlungsdimensionen verändert sich tendenziell der Charakter der Politik selber. An die Stelle der
Abwägung von Allgemeinwohl und partikularistischer Interessenvertretung treten zunehmend halbprivate Netzwerke, in denen mit öffentlichem Einfluss „gehandelt“ wird.
Der Staat wird damit anstatt eines eingeschlossenen Dritten, der die Handlungsrechte
98
Vgl. Stiglitz, Joseph, Die Roaring Nineties. Der entzauberte Boom, Berlin 2003, S. 109 ff., 237 ff.
Crouch, Post-Democracy, S. 70 ff.
100
Gramsci, Philosophie der Praxis, S. 302 ff.
99
34
und die sozialen Anrechte der Bürger garantiert, zu einem ausgeschlossenen Dritten, der
seinerseits als Netzwerker agiert und die vormals „global“ verstandenen Anrechte zu
bloßen „Zugangsrechten“ umdefiniert. Von entscheidender Bedeutung ist deswegen, ob
diese Zugangsrechte selber als öffentliche Güter begriffen werden. Die aktuelle Debatte
um den „aktivierenden Sozialstaat“ ist deswegen von der Debatte über die Gefahren, die
mit der Entwicklung post-demokratischer Strukturen verbunden sind, nicht zu trennen.101
7. Schlussbetrachtung: „Gesellschaft“
Diese anti-egalitären und autoritären Tendenzen von „Netzwerkgesellschaft“ und „PostDemokratie“ stehen in auffälligem Gegensatz zu jenen Momenten an Offenheit, Spontaneität und Selbstorganisation, welche gemeinhin seit den Zeiten Morenos mit dem
Netzwerkbegriff in Verbindung gebracht werden. Fast ist man versucht, die von Eric
Wolf skizzierte Tendenz der Transformation von Nutzfreundschaft in Patronage als eine
dialektische Figur zu interpretieren.102 So gesehen führt die nutzenorientierte Durchdringung und „Öffnung“ der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche zur Entstehung
neuer Nischen und Sphären. Von zentraler Bedeutung ist also weniger die Tendenz zur
Öffnung und – weltweiter – Vernetzung, sondern die Frage des Zugangs, die eben so
oder so „geregelt“ werden kann. Im Grunde ist damit die Beschreibung der heutigen
Gesellschaft als „Netzwerkgesellschaft“ nur ein anderer Ausdruck für ihre vollständige
Durchökonomisierung. Jürgen Habermas geht demgegenüber von einem Gegensatz von
„Netzwerk“ und „Lebenswelt“ aus. Dieser drückt sich ihm zufolge in einem – die gesamte neuere abendländischen Geschichte durchziehenden – Wechselspiel von gesellschaftlichen „Öffnungstendenzen“ aus, die durch „normfreie“ Netze des Handels,
Transports und der Information vorangetrieben werden, und dazu komplementären
Phasen gesellschaftlicher „Schließung“, in deren Verlauf sich die Normstruktur der
Institutionen wieder aus der Sphäre der gesellschaftlichen Lebenswelt regeneriert.103 So
gesehen handelt es sich bei der Theorie der Netzwerkgesellschaft um eine Krisendiagnose im Hinblick auf das noch bis Ende der 70er Jahre weitgehend intakte Modell des
wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus, welches auf einem im nationalstaatlichen Rahmen
101
Bofinger, 2005, S. 195 ff.; Kessler 1996, S. 98 ff.
Wolf, Kinship, Friendship, and Patron-Client relations in Complex Societies.
103
Habermas, Jürgen, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die
102
35
mobilisierten und organisierten sozialen Konsens beruhte.104 Die netzwerktheoretische
Beschreibung der Krise ist dieser Situation in doppelter Hinsicht adäquat: Sie bringt
zum einen die objektiven Krisentendenzen am besten auf den Punkt. Und sie kann darüber hinaus u.U. zur Erforschung der aus diesen Netzen emergierenden neuen gesellschaftlichen Konstellation beitragen.
Aus der Netzwerktheorie ergibt sich freilich nicht bruchlos eine Theorie der Gesellschaft. Diesbezüglich erscheinen die Überlegungen Theodor W. Adornos wieder hochaktuell. In der formalen Netzwerktheorie ist nämlich ein eigentümlicher Gegensatz,
wenn nicht Widerspruch, in den zugrundeliegenden Identitätskonzepten auszumachen.
Zum einen wird etwa bei Moreno und Granovetter „Vernetzung“ rein interaktionistisch
als ein offenes Muster reziproker Verhaltenserwartungen und Identitätszuschreibungen
verstanden, in welchem ein Moment schöpferischer Entwicklung enthalten ist.105 In
anderen Teilen der Literatur werden die Identitäten der Netzakteure aus einer mechanistischen und reaktiven Perspektive beschrieben, etwa als „Hackordnungen“ bei Harrison
White.106 Whites Identitäts-Kontroll-Theorie des Handelns lässt an das denken, was
Adorno als „Selbsterhaltung ohne Selbst“ bezeichnet hat.107 Gemeint ist damit nicht nur
eine Figur des Handelns, sondern auch eine Gesellschaft, die noch im Banne des Autonomieversprechens des Liberalismus steht, an dieses aber sowohl in praktischer, als
auch in theoretischer Hinsicht nicht mehr glaubt. Gerade mit Blick auf die Whitesche
Gesellschaftstheorie gilt deswegen: „Der Bruch von Gesellschaft und Individuum selbst
wirkt als soziales Gesetz, solange die Gesellschaft nicht die der Individuen ist, sondern
ihre Verhältnisse ihnen aufbürdet“.108 D.h. Gesellschaftstheorie ist notwendigerweise
mehr als eine Invariantenlehre, die auf dem Prinzip der „Hackordnung“ basiert.109 Man
kann daher sagen: sowohl den empirischen Theorien der Netzwerkgesellschaft, als auch
der formalen Netzwerktheorie liegt eine unaufgelöste Dialektik von Besonderem und
postnationale Konstellation, Frankfurt a.M. 1998, S. 91-169, hier S. 125 ff.
104
Habermas, Jürgen, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? Zum Verhältnis von Nation, Rechtsstaat und Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt
a.M.1997, S. 154-184; vgl. insbesondere Wagner, Peter, Soziologie der Moderne, Frankfurt a.M./New
York 1995, S. 119 ff.
105
Granovetter, Economic Action and Social Structure; Moreno, Jacob L., Grundlagen der Soziometrie
(2. Auflage), Köln/Opladen 1967.
106
White, Harrison, Identity and Control. A Structural Theory of Social Action, Princeton 1992, S. 23 ff.
107
Adorno, Theodor W., Theorie der Halbbildung, in: ders., Soziologische Schriften 1, hg von Rolf
Tiedemann , S.93-122, hier S. 115.
108
Adorno, Theodor W., Einleitung zu Emile Durkheim, „Soziologie und Philosophie“, in: ders., Soziologische Schriften 1, S. 245-279, hier S. 278.
109
Vgl. Emirbayer, Mustafa und Goodwin, John, Network analysis, culture, and the problem of agency,
36
Allgemeinem, Individuum und Gesellschaft zugrunde.110 Das ist auch – und gerade
deswegen – der Fall, weil es sich im Falle der ersteren Theorien um eine Krisendiagnose
handelt, die sich der formalen Mittel der letzteren bedient. Voraussetzung der Überwindung dieser Krise – das ist die implizite These dieses Essays – ist aber die Wiedergewinnung eines gesellschaftlichen Unterscheidungsvermögens zwischen den Beziehungsformen „Freundschaft“, „Loyalität“ und „Nutzen“. Dies ist aber kein Problem der formalen Beschreibung, sondern ein praktisch-politisches Problem der Wiedergewinnung
eines öffentlichen Raums, durchaus im Sinne von Boltanski/Chiapellos Verständnis von
„Polis“. In den Theorien der Netzwerkgesellschaft werden freilich alle gesellschaftlichen Vermittlungen in terms von Flexibilität, Mobilität und Konnektivität der Individuen konnotiert und damit tendenziell „unlesbar“ gemacht. Gerade deswegen geht es aber
darum, ein neues System von Anrechten und sozialen Bürgerrechten zu schaffen, welches den Realitäten der heutigen Netzwerkgesellschaft entspricht und die Risiken des
Netzwerkopportunismus neutralisiert. Die Schwierigkeit besteht dann aber darin, dass
wir es heute (wieder) mit einer historischen Konstellation zu haben könnten, „in der
alles gesellschaftlich Daseiende so vollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Moment der Vermittlung durch seine Totalität verstellt ist“111. Man könnte das auch in
Form eines normativen Satzes so ausdrücken: Es gibt kein richtiges Netzwerk im Falschen.
in: American Journal of Sociology, 99 (1994), S. 1411-1454.
110
Dieser Widerspruch ist auch dann nicht zu heilen, wenn man wie Lazega/Favereau fordert, eine zu eng
geführte interaktionistische Beschreibung von Netzen durch eine Mehrebenenanalyse zu ersetzen, die
Aggregationseffekte berücksichtigt (Lazega, Emanuel und Olivier Favereau, Introduction, in: dies. (Hg.),
Conventions and Structures in Economic Organisation, Cheltenham, U.K./Northampton, USA 2002, S. 128, hier S. 24.
111
Adorno, Theodor W., Spätkapitalismus und Industriegesellschaft, in: ders., Soziologische Schriften 1,
S.354-370, hier S.369
37
Herunterladen