State of the Union Man kann nicht alle immer bescheissen (A. Lincoln) Autor: Frank Unger Datum: 24. Januar 2007 Am Dienstag hat Präsident George W. Bush die für jeden Präsidenten turnusmäßig jeweils Ende Januar fällige Rede zur »Lage der Nation« gehalten. Für ihn war es eine neue Situation, weil er sie zum ersten Mal vor einem Kongress zu halten hatte, in dem die Mehrheit der Mitglieder ihm feindlich gesonnen war. Nicht nur, weil jetzt die Demokraten in der Mehrheit sind, besonders im Repräsentantenhaus, sondern auch, weil immer mehr Republikaner sich von ihm zu entfernen beginnen, denn sie wissen, er ist kein »winning horse« mehr, mit ihm zusammen oder mit dem Ruf, ihm nahe zu sein, ist künftig kein Blumentopf, sprich: neues Mandat von den Wählern zu gewinnen. Alle erwarteten, dass er angesichts dieser Situation nervös, unsicher und gehemmt sein würde, aber das war nicht der Fall. Die New York Times weiß zu berichten, dass er »selbstbewusst und mit entspanntem Lächeln« seine Botschaft verlas. Dies ist insofern nicht weiter verwunderlich, weil für die Initiierung einer Gemütsverfassung von Nervosität und Unsicherheit angesichts persönlich unangenehmer Situationen bestimmte Mindestmengen an Intellekt und Sensibilität Voraussetzung sind. Beide stehen nun einmal diesem Präsidenten nicht zur Verfügung.Was hat der immerhin noch gut zwei Jahre in seinem Amt vor sich habende Präsident seinem Volk Wesentliches gesagt? Reden wir zunächst davon, wovon n i c h t gesprochen hat: Vor gut zwei Wochen hat die deutsche Bundeskanzlerin Merkel den amerikanischen Präsidenten besucht und ihm, wollte man den deutschen Presseberichten über diesen »enorm wichtigen« Besuch Glauben schenken, die amerikanische Selbstverpflichtung abgenommen, nun aber ganz mächtig gewaltig und mit von Frau Merkel inspiriertem neuem Schwung die »Nahostfrage«, sprich: den Kriegszustand zwischen Israel und den Palästinensern anzugehen, und zwar mit Hilfe des »Nahost-Quartetts«. Das haben auch nur die deutschen Pressehansel Ernst genommen, sonst niemand auf der Welt. Deshalb darüber auch keine Silbe im außenpolitischen Teil seiner Rede, dafür der mittlerweile 1|4 Quelle: http://www.rationalgalerie.de/state-of-the-union.html Heruntergeladen am 05.04.2017 schon beinahe rührend wirkende Versuch, den Irak-Krieg zu rechtfertigen und die Zustimmung der Nation zu seiner »Neuen Strategie« zu gewinnen. Worin die besteht? Nun, indem man 30.000 frische Truppen hinschickt und das Oberkommando einem General übergibt, dessen spezielle Qualifikation in angeblichen Spezialkenntnissen in der Guerilla-Bekämpfung besteht. Der hatte am Morgen noch vor dem Streitkräfte-Ausschuss des Senats auf direktes Befragen erklärt: »Die Lage im Irak ist schlimm.« Um das auszugleichen, versuchte der Präsident demonstrativ, beim innenpolitischen Teil zu punkten. Zum Beispiel sprach er plötzlich davon, den Zugang der Millionen Nicht-Versicherten zu bezahlbarer Gesundheitsfürsorge zu verbessern; und das von seinem ehemaligen Konkurrenten Al Gore publikumswirksam aufs Tapet gebrachte Thema der globalen Erwärmung versprach er dadurch anzugehen, dass er irgendwie dafür sorgen wolle, den Kraftstoffverbrauch der US-Autos in den nächsten zehn Jahren um 20% zu reduzieren. Das hört sich wahnsinnig radikal an, aber die Leser von Stars and Stripes sollten wissen, dass die Gesetzeslage dafür bereits seit den Jahren Jimmy Carters und der so genannten »zweiten Ölkrise« besteht, aber von den amerikanischen Autoherstellern mithilfe juristischer Spitzfindigkeit souverän missachtet werden durfte, weil man ihnen gestattete, die in den USA so überaus beliebten SUVs (hochkarossige »Geländewagen« in Luxusausstattung mit dem Spritverbrauch eines Panzerspähwagens) vor dem Gesetz als »Lastwagen« (keine Einzelrad-Aufhängung!) durchgehen zu lassen, für die natürlich andere Verbrauchsgrenzwerte gelten als für PKWs. Dass man dieser Praxis ja bloß einen Riegel vorzuschieben brauchte, erwähnte der Präsident nicht. Wahrscheinlich weiß er es gar nicht.Als weiteres innenpolitisches Programm für seine verbleibende Amtszeit kündigte er an, die Einwanderungsgesetze zu reformieren, auf ein ausgeglichenen Staatshaushalt hinzuarbeiten, sich um die finanzielle Sanierung von Medicare (Krankenversicherung für Leute über 65) und Medicare (Medizinische Notfallversorgung für Mittellose) kümmern zu wollen und sich um die Verbesserung der staatlichen Schulen zu bemühen. Alle diese Ansagen sind natürlich »soft« und werden auch so verstanden. Die Demokraten im Kongress, in den letzten Jahren eingeschüchtert und stets ängstlich bemüht, nicht als »unpatriotisch« oder »altmodisch« zu gelten, beginnen langsam, sich sowohl ihrer neuen Macht als auch der bestehenden Stimmungslage im Lande bewusst zu werden. Zwei Drittel der Amerikanerinnen und Amerikaner sprechen sich bei Umfragen konsistent für 2|4 Quelle: http://www.rationalgalerie.de/state-of-the-union.html Heruntergeladen am 05.04.2017 einen Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak aus, damit gegen die von Bush verkündete »neue Strategie«. Das Problem ist nur, dass eine ganze Reihe der demokratischen Kongress-Abgeordneten sowohl im Senat wie im Repräsentantenhaus 2002 mehr oder weniger enthusiastisch für den Angriff auf den Irak gestimmt hatten, und dies auch dann nicht wieder zurücknahmen, nachdem längst klar geworden war, dass der angegebene Kriegsgrund (Massenvernichtungswaffen!) eine platte Lüge war. Senatorin Hillary Rodham Clinton ist eine von ihnen. Jetzt können sie schlecht so tun, als hätten sie immer schon gewusst, dass der Krieg eine Fehlentscheidung war und in einem Desaster enden würde, obwohl die meisten es zu opportunistischen Zwecken liebend gern tun würden.Dennoch gibt es mehr als zarte Anzeichen für eine Politikwende im Lande. In der öffentlichen Diskussion tauchen plötzlich Themen auf, die über ein ganzes Jahrzehnt und in vielen Fällen noch länger niemand zu erwähnen wagte: Umweltfragen, Bildungsfragen, ein nationales Gesundheitssystem und generell die politisch-ökonomische Entwicklung in den Vereinigten Staaten, die immer mehr Menschen in absolute Armut treibt, andererseits einem winzigen Teil der Bevölkerung obszöne Reichtümer zukommen lässt. Dies zu kritisieren, galt unter der ideologischen Hegemonie der republikanischen Rechten als unamerikanisch, aber inzwischen haben einige Demokraten entdeckt, dass es sich wahlarithmetisch lohnt, wenn sie sich dem neoliberalen Gesinnungsterror nicht länger unterwerfen, sondern sich offensiv wieder auf die Seite der »kleinen Leute« stellen.Es ist nur eine Frage der Zeit, dann werden die Mehrheitsdemokraten im Repräsentantenhaus den Präsidenten massiv in die Mangel nehmen, wenn sie sich erst einmal daran gewöhnt haben, dass sie die Mehrheit haben. Ein seit langem ungewohntes Gefühl für sie. Wie weit sie gehen werden, um den Präsidenten zu zwingen, den für das Land im Ganzen (vom Irak selbst zu schweigen!) desaströsen Krieg zu beenden, ist jedoch ungewiss. Dazu bedürfte es wahrscheinlich noch etwas stärkeren Druckes entweder in der amerikanischen Öffentlichkeit oder von außen. Einer jüngsten Umfrage der BBC nach gibt es praktisch überhaupt kein Land in der Welt mehr, in dem die Bevölkerung eine positive Ansicht über die Politik der USA hat. Am kritischsten über die Rolle der USA in der heutigen Welt denken übrigens die Bevölkerungen in Indonesien und Deutschland, wo jeweils drei von vier Befragten angaben, sie hätten »einen negative Meinung über die Politik der USA«. Selbst in einem Land wie Polen hat sich die Meinung über die USA in den letzten vier Jahren massiv in Richtung auf kritische und 3|4 Quelle: http://www.rationalgalerie.de/state-of-the-union.html Heruntergeladen am 05.04.2017 ablehnende Positionen hin verändert: nur noch ganze 38% in unserem östlichen Nachbarland meinen, dass die USA eine gute Rolle in der Weltpolitik spiele. Ähnliches gilt auch für die USA selbst: Nur noch knapp über die Hälfte der Befragten in den USA gaben an, dass sie den Einfluss ihres Landes auf den Rest der Welt als »im Ganzen positiv« einschätzten, beinahe ein Drittel (der Amerikaner!) lehnen diese Einschätzung »entschieden ab«. Weit über die Hälfte sind gegen die Position ihrer Regierung in Fragen der Klimapolitik! Kluge Leser wissen natürlich, dass »Demokratie« zwar so heißt, in Wirklichkeit aber keineswegs die Durchsetzung des Volkswillens bedeutet, sondern die des Willens seiner gewählten und selbsternannten Repräsentanten. Dennoch: Dauerhaft eine Politik gegen den Willen der Mehrheit zu machen, das stößt selbst unter dem systematisch individualisierenden und damit von bewusster politischer Teilnahme fernhaltenden Regime der Mediengesellschaft irgendwo an seine Grenzen. »You can’t fool all of the people all of the time”, wie schon Abraham Lincoln wusste. Das Bush-Regime ist von der Erreichung dieser Grenzen nicht mehr weit entfernt. Der Versuch des Präsidenten, mit einer zündenden Rede zur Lage der Nation das Volk wieder hinter sich zu bringen, ist eindeutig gescheitert. 4|4 Quelle: http://www.rationalgalerie.de/state-of-the-union.html Heruntergeladen am 05.04.2017