NZZ 30. November 2012 Ungebremster Trend zur Polarisierung im amerikanischen Kongress Erste Analysen nach den Wahlen vom 6. November deuten auf eine deutliche Schwächung der kompromisswilligen Lager hin Der Trend zur Polarisierung im amerikanischen Kongress hat sich in den Wahlen vom 6. November fortgesetzt. «Brückenbauer» sind in beiden Kammern rarer geworden. Dafür haben mehr Frauen und Immigranten einen Sitz errungen. Peter Winkler, Washington Gut drei Wochen nach den Wahlen stehen die Kräfteverhältnisse im neuen amerikanischen Kongress nun fest. Im letzten parteipolitisch umstrittenen Wahlkreis gestand der republikanische Kandidat am Mittwoch seine Niederlage gegen seinen demokratischen Rivalen ein. Insgesamt ist damit die demokratische Delegation im Repräsentantenhaus gegenüber den Wahlen 2010 von 193 auf 201 Mitglieder angewachsen. Die Zahl der Republikaner schrumpfte von 242 auf 234. Ein Rennen in Louisiana wird zwar noch in einer Stichwahl im Dezember entschieden, doch sind beide Kandidaten dort Republikaner. Tea-Party kaum geschwächt Die Verhältnisse im Senat - 55 Demokraten, einschliesslich zweier mit ihnen verbündeter Unabhängiger, sowie 45 Republikaner - hatten bereits früher festgestanden. Während sich an den Mehrheitsverhältnissen in beiden Kongresskammern grundsätzlich nichts änderte, deutet eine erste Bilanz doch darauf hin, dass der Trend zur Polarisierung der Fraktionen ungebremst voranschreitet. Zwar haben einige republikanische Heisssporne und Tea-Party-Ikonen wie etwa der schwarze Abgeordnete Allen West aus Florida ihre Wiederwahl verpasst. Auch die Gründerin der TeaParty-Gruppe im Kongress, Michele Bachmann, musste um ihren Sitz im Repräsentantenhaus bangen. Zudem mussten die Republikaner zusehen, wie sicher geglaubte Senatssitze beispielsweise in Indiana und Missouri verloren gingen, weil Tea-Party-Konservative und christliche Fundamentalisten in der jeweiligen Parteibasis Kandidaten ins Rennen geschickt hatten, die nicht mehrheitsfähig waren. Doch von den 55 Mitgliedern des Tea Party Caucus, die sich für Abgeordnetensitze in der grossen Kammer bewarben, wurden 51 - nach erfolgtem Entscheid in Louisiana möglicherweise 52 - wiedergewählt. Auf der anderen Seite des parteipolitischen Grabens, bei den Demokraten, erlitten die sogenannten Blue Dogs eine weitere herbe Niederlage. Die Blue Dogs Coalition, die ihre Wurzeln in den Südstaaten hat, vereint konservative demokratische Kongressmitglieder, und sie stellte vor der Erneuerungswahl von 2010 mit 54 Mitgliedern noch das wichtigste Gegengewicht zum linken Parteiflügel dar. Doch nun wurde ihre Mitgliederzahl bereits zum zweiten Mal in Folge praktisch halbiert. Die Neudefinition der Wahlkreise - das berüchtigte, alle zehn Jahre durchgeführte Redistricting - spielte bei diesem schroffen Niedergang ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass viele frühere Blue Dogs nicht mehr zur Wahl angetreten waren. Doch das heisst im Grunde nur, dass die Gruppe ein ernstes Nachwuchsproblem hat, und das wiederum passt genau in den generellen Trend zur Polarisierung. Bereits 2011 hatte das «National Journal» festgestellt, dass der Kongress sich zunehmend als Volksvertretung in einer parlamentarischen Demokratie gebärde, wo die Mehrheit jeweils die 1 Regierung stelle, während die Gründer der Vereinigten Staaten ein System der Gewaltenteilung mit ständiger Kompromisssuche und Kooperation vorgesehen hätten. Eine Analyse des Abstimmungsverhaltens zeigt laut der Zeitschrift, dass vor 30 Jahren sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat die Mehrheit der Volksvertreter Positionen einnahmen, die irgendwo zwischen jener des «liberalsten» Republikaners und jener des konservativsten Demokraten lagen. 2011 schrumpfte diese Gruppe auf 17 Abgeordnete im Repräsentantenhaus, während sie im Senat gar nicht mehr existierte. Mehr Frauen, vor allem links Eine deutliche Veränderung bewirkte die Wahl 2012 beim Anteil der Frauen, der im amerikanischen Kongress mit 18,3 Prozent sogar noch tiefer liegt als der weltweite Durchschnitt nationaler Volksvertretungen (19,3). In nordischen europäischen Staaten sind Frauenanteile von über 40 Prozent die Regel, im Deutschen Bundestag liegt er bei knapp einem Drittel. Im amerikanischen Senat werden nun zwar 20 Frauen ihren Sitz einnehmen, was einen Rekord darstellt. Aber das Ungleichgewicht der Parteien hat sich verstärkt. Im gegenwärtigen Senat stellen die Republikaner noch 6 der 17 Senatorinnen, in der neuen kleinen Kammer nur noch 4 von 20. Neue Immigranten Im Vergleich zum Bevölkerungsanteil untervertreten sind auch Immigranten. Die frühere Kommissarin für Immigrationsfragen der Stadt New York, Sayu Bhojwani, bereitet mit ihrer Organisation New American Leaders Project gezielt Immigranten der ersten und zweiten Generation für politische Ämter vor. Laut ihren Daten stellten sich im November mehr als 80 solcher Zuwanderer zur Wahl. 45 von ihnen erreichten das Ziel, unter ihnen 4 arabischstämmige, 10 asiatischstämmige und 30 Latinos. Auch das ist ein Rekordergebnis, doch weist Bhojwani darauf hin, dass die Kongressdelegation der Latinos gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil von 16 Prozent mehr als 80 Mitglieder zählen müsste. Bei den asiatischstämmigen Amerikanern läge die entsprechende Zahl bei 31. Auch in der Gruppe der gewählten «neuen» Immigranten sind Demokraten in der Mehrheit. NZZ, 30.12. 2012 2