Volksentscheid von oben

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# 2000/37 Ausland
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Amtszeitverkürzung des französischen Präsidenten
Volksentscheid von oben
Von Bernhard Schmid
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In diesen Tagen sind Frankreichs Straßen und Plätze wieder einmal mit Plakaten
geschmückt. Anlass ist ein Referendum am 24. September, bei dem die Bevölkerung
entscheidet, ob die Amtszeit des französischen Präsidenten von derzeit sieben auf fünf
Jahre verkürzt werden soll.
Betrachtet man die Plakate, meint man freilich, einer surrealistischen Darbietung
beizuwohnen. Denn eine Reihe politischer Kräfte hat sich dafür entschieden, entweder
bewusst an der gestellten Frage vorbei zu werben - die Linksradikalen der Partei Lutte
Ouvrière etwa ziehen es vor, »lieber von dem zu reden, was die Arbeiter interessiert« oder gleich zum Boykott des Referendums aufzurufen. »Schwindel-Abstimmung: Ohne
mich!« plakatieren die Kommunisten.
Dabei hat es das Thema des Referendums durchaus in sich, rührt es doch an der
zentralen politischen Institution der Fünften Republik: dem Präsidenten. Das auf den
Staatschef zugeschnittene System stellt fast so etwas wie eine Wahl-Monarchie dar, die
jedoch schon Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal in Frage gestellt wurde. Damals
wollten die Sozialisten die im Vergleich zu anderen bürgerlichen Demokratien überaus
lange Amtsperiode verkürzen, um zu einer »demokratischen Normalisierung« zu
gelangen. Jacques Chirac, heutiger Amtsinhaber, wehrte sich zunächst dagegen, um dann
im Juni dieses Jahres eine viel beachtete Kehrtwende hinzulegen. Seitdem klar ist, dass
Premierminister Lionel Jospin von der Sozialistischen Partei und der Neogaullist Chirac bei
den Präsidentenwahlen 2002 gegeneinander antreten werden, liefern sich die beiden eine
Art »Reform-Wettlauf« nach dem Motto »öfter wählen heißt mehr Demokratisierung«.
Den Urhebern der Reform geht es dabei vor allem darum, künftigen Präsidenten eine
Periode der Cohabitation - der Koexistenz mit einer Parlamentsmehrheit aus dem
gegnerischen Lager - zu ersparen. Sollte das Referendum durchgehen, werden sowohl
Parlament als auch Präsident künftig alle fünf Jahre gewählt. Damit entfallen im Prinzip
auch jene Perioden, in denen die Parlaments- und die Präsidenten-Mehrheit nicht
übereinstimmen, die für das politische System Frankreichs der letzten 15 Jahre prägend
waren.
Das Fernziel besteht darin, ein Parteiensystem wie in den USA zu schaffen. Rund um die
Figuren der Präsidentschafts-Kandidaten würden sich dann zwei große, inhaltsleere
Blöcke formieren. Kritik an dem Vorhaben kommt von links wie von rechts: Während die
KP und die Linksradikalen eine verstärkte Präsidialisierung der französischen Politik
befürchten, sehen die rechten Gegner in der geplanten Verfassungsänderung eine
Schwächung des Staatschefs. Dessen exponierte Stellung werde gefährdet, wenn er sich
künftig öfter den Wählern stellen und in die Niederungen der Wahlpolitik herabsteigen
müsse, kritisieren die Rechten.
Die von der KP angekündigte »offensive und aktive Enthaltung« dürfte aber kaum
notwendig sein, um das Vorhaben zu stoppen. Denn das Hauptproblem, mit dem die
großen Parteien zu kämpfen haben, ist das gähnende Desinteresse der Wähler an dem
Referendum. Da macht es Sinn, dass die Kommunisten ausdrücklich bekräftigten, weder
Wahllokale blockieren noch Stimmzettel verbrennen zu wollen. Nutzen nämlich würde
auch das nichts: Die Wahlbeteiligung kann noch so gering sein, weil die Mehrheit der
Stimmen für den vorgelegten Entwurf zählt.
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