Europa ohne Frankreich ? Anmerkungen zum französischen Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag von MARKUS C. KERBER1 Wenn heute der französische Verfassungsgesetzgeber - also die vereinigten Mitglieder von Senat und Nationalversammlung2 - über den europäischen Verfassungsvertrag abzustimmen hätte, würde es, wenn auch keine überwältigende, so doch eine eindeutige Mehrheit für dieses Vertragswerk geben. Zu sehr folgen die Abgeordneten beider Häuser den Weisungen ihrer politischen Oberhirten. Und diese –also der Chef der französischen Sozialisten, Hollande, und der Vorsitzende der Partei des Staatspräsidenten, UMP, Sarkozy, haben sich trotz unterschiedlich ausgeprägter Gefolgschaft bei ihrer Basis für die Annahme des Vertrags ausgesprochen. Dennoch hat in der französischen Bevölkerung das Nein gegen den Verfassungsvertrag an Boden gewonnen. Dies liegt nicht nur an zunehmenden Anzahl von Abweichlern in den einzelnen Parteien, die ohne Rücksicht auf Mehrheitsbeschlüsse ihrer Organisationen die Stunde ihres großen Auftritts gekommen sehen. Vielmehr ist das Nein gerade deshalb auch in bürgerlichen, prinzipiell pro-europäisch eingestellten Kreisen, gesellschaftsfähig geworden, weil die Zahl der Franzosen, die am Sinn und Zweck des europäischen Integrationsprozesses zweifeln, heute im Europa der 25 größer ist als jemals zuvor. Europa erscheint nicht länger als ein Instrument der Fortsetzung eigener Großmachtpolitik mit gemeinschaftlichen Mitteln, sondern ein Prozeß, der den Franzosen –einschließlich ihrer politischen Klasse - entglitten ist. Ob die liberale Dienstleistungsrichtlinie des ehemaligen Kommissars Bolkestein die Gemüter rührt oder der vielgeliebte service public (Gas, Wasser, Strom, Verkehr) bedroht scheint, die Franzosen sind sich Europas nicht mehr sicher. Hinzu kommt die Art, in der insbesondere von Gi s c ar dd’ Es t ai ngde nFr a nz os e n„ s e i n“ Vertragswerk schmackhaft gemacht wurde. Da für ihn die institutionellen Fortschritte des Vertrags auf der Hand lagen, ging es nur darum, möglichst schnell den Vertrag zu 3 r a t i f i z i e r e n.„ LaCons t i t ut i onvi t e ,vi t e ! “ , forderte er in einem Leitartikel im Sommer letzten Jahres. Doch nun rächt sich, daß der von Giscard in Brüssel geleitete Verfassungskonvent eben keine verfassungsgebende Versammlung war, sondern lediglich ein in nationaler Hinsicht repräsentativer Expertenclub, dem indessen jegliche demokratische Legitimität fehlt. Ferner stellt sich als gravierender Fehler heraus, dass niemand in Frankreich den Mut zu einer echten Debatte über den Inhalt des Verfassungsvertrages aufbringen wollte. Die Franzosen sollen also einem Vertragswerk 1 Dr. iur. Priv.-Doz. für Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin der sogenannte Kongress 3 „ Di eVe r f a s s ungs c hne l ls c hne l l “ 2 zustimmen, das vollständig ausgehandelt war, obgleich dessen Mängel - von der Wissenschaft –allerorts beschrieben wurden4. Das wachsende Lager des Neins ist also einerseits eine Trotzreaktion, die in einem Land mit so stark ausgeprägter nationalsouveräner Tradition nicht verwundert. Zum anderen handelt es sich um jenes typische Verhalten bei Referenden, welches Mitterrand zunächst daran zweifeln ließ, ob er die Franzosen überhaupt über den Maastricht-Vertrag abstimmen lassen sollte. Das Volk antwortet, so sagte er damals, nie auf die Frage, die man ihm stelle. So ist es gewiss auch beim gegenwärtigen Referendum. Es wird gleichzeitig über die Regierungspolitik und die politische Integration Europas insgesamt befunden. Dabei kommen durch die faktische Allianz von Links-Souveränisten und Rechts-Souveränisten Thesen - besser gesagt: ideologische Abfallprodukte - zum Vorschein, die belegen, dass in weiten Teilen des politischen Frankreichs die Vorteile des gemeinsamen Marktes mit einer europäischen Wettbewerbspolitik und weitgehenden Subventionsverboten nicht consensus omnium sind. Wettbewerb, Kartellverbot, Fusionskontrolle oder gar Begriffe wie Freihandel und Liberalismus sind in Frankreich noch immer ambivalent besetzt. Wie reagiert die politische Klasse auf das Grollen des französischen Demos? Mit einer Mischung aus Panik und überholendem Chauvinismus. So argumentiert Sarkozy für den Verfassungsvertrag, weil er Frankreichs Rolle stärke und insbesondere im Vergleich zum Nizza-Vertrag dem Land 30% mehr Stimmrechte bringe. Gleichzeitig wendet er sich gegen die Richtlinie Bolkestein und verfällt bei der Industrie- und Handelspolitik in einen protektionistischen Diskurs. Dies belegt die Panik, die sich bei den Vertragsbefürwortern links und rechts ausbreitet. Wenn die Franzosen Nein sagen würden, wäre nicht nur der europäische Verfassungsvertrag bis auf weiteres ad acta gelegt. Mehr noch: Die politische Klasse Frankreichs wäre in Brüssel weit weniger gesellschaftsfähig. Für ihre nationalistischen Postulate würde sie dann nicht mehr als ein mitleidiges Lächeln ernten. Daher kämpft die Pariser Elite beim Referendum zu aller erst für sich selbst. Und allen Beobachtern wird zunehmend klar: Frankreich ist längst noch nicht in Europa angekommen. 4 Vgl. hierzu die in der Anlage die Thesen zum Europäischen Verfassungsvertrag