Prekarisierung von Erwerbsarbeit - DGB

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Erscheint 2004 in: Heitmeyer, W. / P. Imbusch (Hg.), Desintegration in modernen Gesellschaften (Arbeitstitel),
VS-Verlag, Wiesbaden.
Prekarisierung von Erwerbsarbeit
Zur Transformation eines arbeitsweltlichen Integrationsmodus
Klaus Kraemer und Frederic Speidel
In der viel beachteten Studie Les métamorphoses de la question sociale hat Robert Castel
(1995, dt. 2000) die These einer doppelten Spaltung der Erwerbsgesellschaft formuliert. Im
Einzelnen diagnostiziert er eine schrumpfende „Zone der Normalität“ mit
Beschäftigungsverhältnissen, die nicht frontal den Unwägbarkeiten kurzatmiger Märkte
ausgesetzt sind, sondern eine stabile gesellschaftliche Existenz ermöglichen und soziale
Sicherheit durch Rechtsgarantien und andere Schutzmaßnahmen gewährleisten. Dieser relativ
geschützten Zone steht eine größer werdende „Zone der Entkoppelung“ gegenüber, in der sich
die „Entbehrlichen“ und „Überflüssigen“ der Arbeitsgesellschaft befinden, die nicht nur
temporär, sondern dauerhaft aus dem Beschäftigungssystem ausgeschlossen sind (vgl.
Kronauer 2002; Franzpötter 2003). Zwischen diesen beiden Polen der Erwerbsgesellschaft hat
sich Castel zufolge eine „Zone der Prekarität“ heraus gebildet, die eine Vielfalt flexibilisierter
Arbeitsverhältnisse umfasst und sowohl Zeit- und Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung und
marginale Selbstständigkeit als auch befristete Projektarbeit sowie Vollerwerbsarbeit im
Niedriglohnsektor umfasst (vgl. hierzu Letourneux 1998; Giesecke/Groß 2002; Vogel 2003;
Noller 2003; Pietrzyk 2003; Kim/Kurz 2003). Die kontinuierliche Ausbreitung der „Zone der
Prekarität“ interpretiert Castel als schleichende Rekommodifizierung der Arbeitskraft, da die
für die fordistische Erwerbsgesellschaft noch charakteristische enge Kopplung von
Berufsarbeit und sozialen Sicherheitsgarantieren aufgehoben wird. Für Castel ist
Beschäftigung in der „Zone der Prekarität“ in besonderer Weise „verwundbar“ geworden, da
kollektive Regelungssysteme geschwächt und soziale Sicherungen abgebaut werden. Diese
Überlegungen verdichten sich in der These, dass mit der Ausbreitung ungeschützter
Erwerbsarbeitsformen ein zentrales „Fundament der gesellschaftlichen Integration“ (2001:
88) zur Disposition gestellt wird.1
In diesem Beitrag wird die These von der Schwächung erwerbsarbeitsbezogener
Integrationspotentiale durch die Ausbreitung atypischer, prekärer Beschäftigung in kritischer
Absicht diskutiert. Dies erscheint umso dringlicher, da bei der Erforschung von
Desintegrationsprozessen die Bedeutung von Erwerbsarbeit in aller Regel nur im Hinblick auf
die sozialen Folgen der Exklusion aus der Arbeitswelt (Arbeitslosigkeit) berücksichtigt wird,
während Desintegrationspotentiale deregulierter Beschäftigungsformen innerhalb der
1
In Abgrenzung zu einer anthropologisch-normativen Aufladung des Arbeitsbegriffs ist in diesem
Zusammenhang der Hinweis von Castel (2001: 111) bedeutsam, dass nicht „Arbeit als solche“, sondern sozial
abgesicherte Erwerbsarbeit eine zentrale Möglichkeitsbedingung sozialer Integration ist.
1
Arbeitswelt weithin ausgeklammert bleiben. Demgegenüber ist in diesem Beitrag eine
Perspektivenverschiebung vorzunehmen. Nicht die Exklusion, sondern der Wandel von
Erwerbsarbeitsformen und ihre Prekarisierung soll als Integrationsproblem thematisiert
werden. Im Einzelnen ist folgende Vorgehensweise vorgesehen: Zunächst ist
herauszuarbeiten, warum ungeachtet der wiederkehrenden sozialwissenschaftlichen Debatten
zum „Ende der Arbeitsgesellschaft“ der Institution der Erwerbsarbeit auch weiterhin eine
herausragende Bedeutung im Hinblick auf soziale Integrations- und Desintegrationsprozesse
zuzuschreiben ist (1). Sodann ist zu klären, was in einem engeren soziologischen Sinne unter
prekärer Erwerbsarbeit überhaupt zu verstehen ist, um hieran anschließend unterschiedliche
Dimensionen von Prekarisierung unterscheiden zu können (2). Darüber hinaus soll
herausgearbeitet werden, dass prekäre Erwerbsarbeit nicht nur arbeitsweltliche
Desintegrationserfahrungen schüren kann, sondern oftmals mit unterschiedlichen ReIntegrationsbemühungen der Prekarisierten einher geht (3). Wie sodann aufzuzeigen ist,
gewinnt mit der Diffusion von Prekarisierungsängsten innerhalb und außerhalb der „Zone der
Prekarität“ ein arbeitsweltlicher Integrationsmodus an Bedeutung, der weniger auf Teilhabe,
sondern auf Disziplinierung und Drohung gründet (4). Abschließend wird die Frage
aufgeworfen, inwiefern dieser Integrationsmodus politische Einstellungsmuster und
Orientierungen begünstigen kann, die für rechtspopulistische und fremdenfeindliche
Zuspitzungen offen sind.
1. Erwerbsarbeit und soziale Integration
Unter dem Schlagwort von der „Krise der Arbeitsgesellschaft“ (Matthes 1983) ist seit den
1980er Jahren immer wieder die These vertreten wurden, dass mit der Verkürzung der
Wochen- und Jahresarbeitszeit sowie mit der Verringerung der in der Arbeitswelt verbrachten
Lebenszeit die soziale Institution der Erwerbsarbeit an gesellschaftlicher Relevanz verloren
habe. Dieser Bedeutungsverlust werde von einem tiefgreifenden Wandel von Arbeitswerten
und Arbeitsverhalten begleitet. Vor allem in der umfangreichen Lebensstilforschung der
1980er und 1990er Jahre ist diese Grundannahme aufgegriffen und der Nachweis versucht
worden, dass die soziale Positionierung des Individuums immer weniger von der Stellung
innerhalb der Arbeitswelt abhängt. An deren Stelle seien andere Handlungsfelder und
Aktivitätszentren außerhalb von Büro und Betrieb (Freizeit, Massenkultur etc.) getreten, in
denen sich neuartige soziale Identitäten und Vergemeinschaftungsformen herausbilden
würden, die von weitaus größerer subjektiver Relevanz seien (Schulze 1992). In jüngerer Zeit
hat Ulrich Beck (1999; 2000b) die Debatte zur „Krise der Erwerbsgesellschaft“ wieder
aufgegriffen und mit dem Vorschlag zur Förderung von „Bürgerarbeit“ sowie anderen
Formen „bürgerschaftlichen Engagements“ den Stellenwert der marktvermittelten
Erwerbsarbeit zugunsten anderer „nützlicher Tätigkeiten“ zu relativieren versucht. Damit ist
2
die Hoffnung verknüpft, dass der an klassische Erwerbsarbeit gekoppelte Integrationsmodus
der Arbeitsgesellschaft, in der die Erwerbsarbeit selbst zu einem knappen Gut geworden ist,
gelockert und auf andere, nicht-marktgängige gemeinwohlorientierte Tätigkeiten im sog.
Dritten Sektor erweitert werden könne. Dem liegt die Erwartung zugrunde, dass die normative
Aufwertung von „Bürgerarbeit“ dazu beitragen könne, sinnvolle und notwendige Tätigkeiten
jenseits von Markt und Staat zu schaffen, um das Angebot an Erwerbsarbeit auf dem
Arbeitsmarkt zu verringern und die sozialen Sicherungsnetze zu stabilisieren. Aus einem
anderen theoretischen Blickwinkel formulieren schließlich Kocka/Offe (2000: 11) die
Hoffnung, dass angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit „Erwerbsarbeit zukünftig
nicht mehr die zentrale Rolle für Identitätsbildung und Lebensplanung, soziale Beziehungen
und gesellschaftlichen Zusammenhalt spielen wird, wie wir es aus der Vergangenheit
kennen.“ Sicherlich ist unbestritten, dass die Arbeitswelt schon lange nicht mehr als
unhinterfragter Mittelpunkt der subjektiven Lebenswirklichkeiten angesehen werden kann.
Die veränderte Stellung von Erwerbsarbeit hat allerdings keineswegs zur Folge, dass sie an
sozialer Relevanz verliert. Ganz im Gegenteil: Obwohl die Erwerbsarbeit quantitativ an
Umfang eingebüßt hat und die Freizeit deutlich gewachsen ist, muss oftmals der individuelle
Aufwand intensiviert werden, um den eigenen Arbeitsplatz nicht zu gefährden (höhere
Arbeitsbelastung), berufliche Arbeit dauerhaft ausüben und zunehmende Erwerbsrisiken
bewältigen zu können (berufliche Weiterbildung, „lebenslanges Lernen“). Mit anderen
Worten wird Erwerbsarbeit subjektiv unwichtiger und zugleich immer wichtiger (vgl. bereits
Voß 1993: 109).
Visionäre Spekulationen zur „Überwindung der Erwerbsgesellschaft“ kollidieren nicht
nur mit der – empirisch nachgewiesenen – ausgeprägten Erwerbsorientierung breiter
Bevölkerungsgruppen (vgl. Holst/Schupp 1995), die sich gerade auch unter Frauen immer
mehr durchgesetzt hat, sondern sie stehen auch quer zu dem Umstand, dass Erwerbsarbeit
weiterhin einen uneingeschränkt hohen Stellenwert für die Positionierung des Individuums im
sozialen Raum zugeschrieben werden muss. Der Arbeitsmarkt repräsentiert neben dem
Bildungssystem (Müller 1998) eine zentrale Drehscheibe der ungleichen Zuteilung von
Lebenschancen (Kreckel 1992). Die ungebrochene Strahlkraft von Erwerbsarbeit besteht
darin, dass mit ihr eine Reihe fundamentaler Erwartungshaltungen verbunden sind, die eine
stabile soziale Existenz und eine längerfristige Lebensplanung möglich machen. Wenn man
einmal von Einkommen aus Besitz (Vermietung, Verpachtung) und Privatvermögen
(Zinserträge) absieht, dann sind die Reproduktions- und Konsumchancen der allermeisten
Privathaushalte dauerhaft an die Erwerbsbedingungen der modernen Lohnarbeit gebunden.
Auf dem Arbeitsmarkt fallen die Entscheidungen über Art und Niveau der materiellen
Versorgung des Individuums und damit über die soziale Verteilung begehrter Güter. Dies
trifft übrigens auch in gleichem Maße für die nicht-erwerbstätige Bevölkerung zu, die ihren
Lebensunterhalt über Versicherungsleistungen bzw. Versorgungsansprüche bestreitet. So
bemisst sich die Einkommenshöhe von Erwerbslosen, Rentnern oder Studenten an der
3
eigenen früheren bzw. an der zukünftig erwarteten Erwerbstätigkeit. Und die
sozioökonomische Stellung der Empfänger privater Unterhaltszahlungen wie nichterwerbstätiger Ehepartner und Kinder hängt wiederum von der Erwerbsposition des
Unterhaltspflichtigen ab. Es sind also nicht nur die Arbeitenden in aller Regel auf
Erwerbsarbeit angewiesen, sondern gerade auch die von ihnen wirtschaftlich abhängigen
Haushaltsmitglieder. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass angesichts hoher
Scheidungsraten die Ehe immer weniger als lebenslange Versorgungsinstitution gesehen
werden kann. In diesem Zusammenhang signalisiert der säkulare Anstieg der Erwerbsquote
von Frauen in den letzten Jahrzehnten einen weiteren Bedeutungszuwachs marktorientierter
Erwerbsarbeit. Hinzu kommt, dass Familienhaushalte zunehmend auf zwei
Erwerbseinkommen angewiesen sind, wenn ein bestimmter Lebensstandard gesichert werden
soll. Dass weder von einem subjektiven noch von einem objektiven Bedeutungsverlust der
sozialen Institution Erwerbsarbeit gesprochen werden kann, zeigt sich schließlich auch bei
jenen, die unfreiwillig ausgeschlossen sind, den Arbeitslosen (Kronauer/Vogel/Gerlach 1993:
220ff.).
Die normative Ausstrahlungskraft von Erwerbsarbeit lässt sich auch daran ermessen,
dass durch sie die materiellen Bedingungen (Geldverfügbarkeit) definiert werden, unter denen
viele nicht-erwerbsbezogene Motive überhaupt erst verfolgt werden können. Unter
Bedingungen einer entwickelten „Marktgesellschaft“ ist Geld ein generalisierter
Eigentumstitel, der die Institution des Sacheigentums transzendiert, da fast schon beliebig
unterschiedliche Wertobjekte erworben werden können. Außerdem ist Geld hinsichtlich
seiner Zweckverwendung offen. Es ist nämlich ein absolut unverzichtbares Mittel, um nicht
nur zweckrationale Motive, sondern insbesondere auch solche wertrationaler oder expressiver
Natur in nicht-vermarktlichten, vergemeinschafteten Handlungsfeldern wie Familie, Haushalt,
Freundeskreis und Massenkultur verfolgen zu können (Simmel 1989). Mit anderen Worten ist
marktvermittelte Erwerbsarbeit gewissermaßen Mittel zum Zweck der Realisierung nichtmarktlicher Motive außerhalb der Arbeitswelt. Verallgemeinernd folgt hieraus: Stabile und
auf Dauer gestellte Erwerbschancen sind nicht nur eine wichtige Möglichkeitsbedingung für
ökonomische Integration, sondern zugleich auch konstitutiv für alltagspraktische und
symbolische Teilhabechancen an den pluralen Optionen der materiellen Kultur. Diese
Bedeutung der materiellen Kultur für soziale Integrationsprozesse (vgl. Brock 1993; Kraemer
2002) bleibt unverstanden, wenn sie – wie so oft – aus der Introspektive eines akademischen
Bildungsmilieus als kompensatorischer Konsumismus kulturkritisch beklagt wird.
Die ungebrochene soziale Geltung legaler, marktvermittelter Erwerbsarbeit – auch
Beck (2000a: 46) spricht bezeichnenderweise von einem „Art Daseins-Monopol in unserem
kulturell verordneten Selbstwertgefühl“ – resultiert allerdings nicht nur aus dem Tatbestand,
dass sie die eigenständige Erwirtschaftung des Lebensunterhalts und die Teilhabe an der
materiellen Kultur ermöglicht. Über stabile, kontinuierliche Erwerbsarbeit wird zudem soziale
Anerkennung zugeschrieben. Die identitätsstiftende Bedeutung von Erwerbsarbeit strahlt im
4
übrigen auch auf nichterwerbstätige Haushaltsmitglieder der Erwerbstätigen aus sowie auf
diejenigen, die noch im Ausbildungssystem sind (z.B. Studenten) oder bereits aus dem
Erwerbsleben ausgeschieden sind (Langzeitarbeitslose, Rentner). Diese innerhalb und
außerhalb der Arbeitswelt zugeschriebene soziale Anerkennung interpretiert Richard Sennett
als „Chemie sozialer Inklusion“ (2000: 433). So wird etwa innerhalb der Arbeitswelt durch
die Zuschreibung von Anerkennung ein wechselseitiges soziales Verhältnis konstituiert, das
als spezifische Norm sozialer Reziprozität (Mauss 1990) interpretiert werden kann. Dadurch
werden Sozialbeziehungen im Arbeitsteam, in der Abteilung, innerhalb der
Unternehmenshierarchie stabilisiert und auf Dauer gestellt. Genauer betrachtet handelt es sich
keineswegs um einen symbolischen Austausch unter Statusgleichen, sondern um Rituale
gegenseitiger Anerkennung zwischen den Inhabern unterschiedlicher Status- und
Machtpositionen. In diesen Ritualen wird betriebsöffentlich vergegenwärtigt und zugleich
bezeugt, dass „die Angestellten von den Firmen, für die sie arbeiten, wahrgenommen und
gehört werden“ (Sennett 2000: 433). Diese Rituale können in institutionalisierter Form in den
Ablauf von Betriebsversammlungen, Konferenzen oder Abteilungssitzungen eingebunden
sein oder in den eingeschliffenen Gesten des Betriebsalltags sichtbar werden. Selbst die
vermeintlich sachlichen Tarif- und Entlohnungssysteme transportieren die symbolische
Botschaft der reziproken Anerkennung. Mit der Bezahlung wird nämlich nicht nur in
zweckrationaler Weise eine arbeitsvertragliche Vereinbarung abgegolten, sondern auch
soziale Wertschätzung der geleisteten Arbeit zugeschrieben. Mit der „Deregulierung“ der
Arbeitsmärkte breiten sich nun prekäre Beschäftigungsformen aus, die enger an
(vermeintliche oder tatsächliche) unternehmerische Markterfordernisse gekoppelt werden.
Dadurch wird sowohl das funktionale als auch das symbolische Integrationspotential von
Erwerbsarbeit geschwächt. Wenn Arbeitsverhältnisse nur vorübergehend eingegangen werden
und Beschäftigte zwischen befristeten Erwerbsarbeits- und Arbeitslosigkeitszeiten pendeln,
wird nämlich nicht nur die Einkommenssituation prekär, sondern auch der an Erwerbsarbeit
gekoppelte soziale Status.
In den Sozialwissenschaften wird der Desintegrationsbegriff nicht selten als
allgemeine Erklärungsformel verwendet, um relativ unabhängig von konkreten
Entwicklungsprozessen Probleme oder „Störungen“ moderner Gesellschaften (Gewalt,
Anomie, soziale Bindungslosigkeit, Normerosion etc.) beschreiben zu können (vgl. Peters
1993; Friedrichs/Jagodziniski 1999). Demgegenüber soll im Folgenden der
Desintegrationsbegriff nur in einem eingeschränkten Sinne verwendet und ausdrücklich auf
eine konkrete ökonomisch-politisch-soziale Konstellation bezogen werden, nämlich auf die
voranschreitende Internationalisierung nationaler Ökonomien und die Infragestellung lange
Zeit selbstverständlicher sozial- und tarifpolitischer Regulierungsnormen (vgl.
Dörre/Anders/Speidel 1997). Genauer betrachtet bezieht sich der verwendete Begriff
Desintegration darauf, dass soziale Erwartungen bzgl. der Teilhabe am wirtschaftlichen
Fortschritt und gesellschaftlichen Wohlstand enttäuscht werden. Sowohl die Chance eines
5
kollektiven sozialen Aufstiegs seit den 1950er Jahren als auch das Niveau der
sozialstaatlichen Absicherung des „rheinischen Kapitalismus“ sind im Laufe der letzten
Jahrzehnte zu einem festen Bestandteil legitimer „Anrechte“ (Dahrendorf 1992) geworden,
auf deren Erfüllung sich bislang gesellschaftliche Integration gründete. Im Zuge der
„Globalisierung“ wirtschaftlicher Beziehungen und der voranschreitenden „Deregulierung“
der Arbeitsmärkte scheint nun die für die fordistische Epoche charakteristische
Selbstverständlichkeit, dass ökonomische Wertzuwächse der gesellschaftlichen
Wohlfahrtsproduktion zugute kommen, zur Disposition gestellt zu werden. Jedenfalls werden
seit geraumer Zeit die institutionellen Arrangements zur De-Kommodifizierung der
Erwerbsarbeit sukzessive wieder eingeschränkt und zurück genommen. Zu beobachten ist
eine breit angelegte, in vielen Bereichen der Arbeitswelt um sich greifende „Verschiebung der
Marktgrenzen“ (Brinkmann 2003), in deren Verlauf marktförmige Kontroll- und
Steuerungsmechanismen an Bedeutung gewinnen. Vor dem Hintergrund dieser und anderer
Entwicklungen verblasst das für die politisch-institutionelle Ordnung der Bundesrepublik
konstitutive Versprechen, am „Wohlstand für alle“ teilhaben zu können, solange man
„normaler“ Erwerbsarbeit nachgeht oder zumindest im Falle von Arbeitslosigkeit bereit ist,
„normale“ Erwerbsarbeit anzunehmen, die dem eigenen beruflichen Qualifikationsniveau
entspricht. Im Ergebnis wird der am Modell „normaler“ Erwerbsarbeit eng gekoppelte
Integrationsmodus in Frage gestellt.
2. Prekäre Erwerbsarbeit – was ist das?
Soziologisch betrachtet gibt es keine Erwerbsarbeit, die aufgrund spezifischer Merkmale oder
Eigenschaften an und für sich als „prekär“ bezeichnet werden könnte. Erwerbsarbeit und die
sozialen Umstände, unter denen sie verrichtet wird, sind nicht allein schon deshalb als prekär
zu bezeichnen, weil sie so sind wie sie sind, sondern weil sie in Relation zu anderen
Beschäftigungsformen und ihren jeweiligen sozialen Umständen als prekär bewertet werden.
„Prekarität“ ist das Ergebnis sozialer Zuschreibungen und Klassifikationen auf der Basis eines
normativen Vergleichsmaßstabs. Genauer formuliert kann die „Prekarität“ einer
Erwerbsarbeit
nicht
substantialistisch,
sondern
nur
im
Verhältnis
zu
Beschäftigungsverhältnissen bestimmt werden, deren soziale Geltung üblicherweise mit den
Attributen „regulär“ oder „normal“ umschrieben wird. Bevor also geklärt werden kann, was
unter „prekärer“ Erwerbsarbeit zu verstehen ist, ist zunächst der normative Referenzmaßstab
von prekärer Erwerbsarbeit selber, d.h. „normale“ Erwerbsarbeit, in den Blick zu nehmen.
Im Unterschied zu anderen abhängigen Beschäftigungsformen wird oder wurde doch
zumindest lange Zeit von regulärer, „normaler“ Erwerbsarbeit immer dann gesprochen, wenn
mit ihrer Ausübung spezifische Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche verbunden sind,
die eine stabile gesellschaftliche Statusposition begründen. Genauer betrachtet wird das
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„Normale“ an „Normalarbeitsverhältnissen“ (Mückenberger 1985) auf sozial generalisierte
Erwartungsmuster bezogen, die mit einem spezifischen Arbeitnehmerstatus verbunden sind:
Diese Erwartungsmuster rekurrierten erstens auf die Unbefristung eines Arbeitsvertrages, die
als selbstverständlich angesehen wird und berufliche bzw. biografische Planungssicherheit
verspricht; zweitens auf ein Arbeitszeitmodell, das sich an der Norm der
Vollzeitbeschäftigung orientiert und auf die wöchentlichen Werktage gleichmäßig verteilt ist;
drittens auf eine stabile Entlohnung der Arbeitsleistung nach Arbeitszeit, beruflichem Status
und familiärer Stellung; sowie viertens auf ein bestimmtes Niveau der sozialen und
arbeitsrechtlichen Absicherung Bezug nimmt, das – von Männern – als obligatorisch
angesehen wird, um als „Ernährer“ den Lebensunterhalt einer Familie bestreiten zu können.
Ein derartiges „Normalarbeitsverhältnis“ garantiert gesetzliche Schutzrechte, kollektive
Tarifleistungen und betriebliche Vergünstigungen (Betriebsrenten, Sozialpläne,
Qualifizierungsmaßnahmen), wobei hervorzuheben ist, dass das Niveau der sozialen
Absicherung mit Dauer der Betriebszugehörigkeit (Senioritätsprinzip) und der Kontinuität der
Erwerbsbiografie (Sozialversicherungsansprüche) zunimmt. In diesem Zusammenhang ist
bedeutsam, dass diese Standards auch heute noch in großen Teilen der Bevölkerung die
Vorstellung von „normaler“ Erwerbsarbeit prägen, obwohl ihre normative Gültigkeit von
maßgeblichen gesellschaftlichen Eliten in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft erheblich
unter Druck gesetzt worden ist.2 An der schrittweisen Neuausrichtung der
arbeitsmarktpolitischen Gesetzgebung der Bundesrepublik seit Mitte der 1980er Jahre ist
jedenfalls abzulesen, dass das Normalitätsmuster abhängiger Erwerbsarbeit in der bislang
gültigen Form seine Selbstverständlichkeit als normativer Bewertungsmaßstab für die
gesetzliche Regulierung von abhängiger Beschäftigung verloren hat. War es beispielsweise
noch bis Anfang der 1970er Jahre das erklärte Ziel von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsrecht,
atypische Beschäftigungsformen an die sozialen Standards „regulärer“ Beschäftigung
heranzuführen, so hat sich das Blatt inzwischen vollständig gewendet. Die Neuausrichtung
wird mit der Erwartung verbunden, dass eine reibungsärmere Reintegration von Erwerbslosen
in den Arbeitsmarkt besser gelingen könne. So sind in den letzten beiden Jahrzehnten mit
Inkrafttreten bzw. Novellierung u.a. des Beschäftigungsförderungsgesetzes (1985), des
Arbeitszeitgesetzes (1994), des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes (1996),
des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (2001), Job-AQTIV-Gesetzes (2002) sowie des ersten
(„Hartz 1“) und zweiten („Hartz 2“) Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
(2003) sukzessive neue gesetzliche Grundlagen geschaffen worden, die darauf abzielen, auf
breiter Linie „atypische“ Beschäftigungsformen zu fördern (vgl. Jahn/Rudolph 2002a, 2002b;
Rudolph 2003). Hinzu kommen eine Reihe weiterer sozial- und arbeitsmarktpolitischer
2
So besitzt die normative Ausstrahlungskraft „regulärer“ Beschäftigungsverhältnisse gerade auch weiterhin für
diejenigen Beschäftigten Gültigkeit, die sich aus Mangel an „normalen“ Erwerbsmöglichkeiten mit atypischer
Arbeit begnügen müssen. Im sozialen Gespür für den Grad der eigenen erwerbsbiografischen Gefährdung
manifestiert sich die unangefochtene soziale Geltung, die „normale“ Erwerbsarbeit als Richtschnur für ungewollt
befristete und prekär Beschäftigte ausübt.
7
Weichenstellungen,
die
sich
vom
normativen
Leitbild
sozial
geschützter
Normalarbeitsverhältnisse abwenden. Zu nennen ist etwa die Absenkung gesetzlicher
Mindeststandards von Arbeitsverträgen, die Lockerung des Kündigungsschutzes sowie
Leistungskürzungen bei Krankenversicherung und gesetzlichen Rentenbezügen. Und
schließlich wird der Druck zur Aufnahme unterdurchschnittlich geschützter „atypischer“
Erwerbsarbeit dadurch erhöht, dass Unterstützungsleistungen für Erwerbslose gekürzt und
Zumutbarkeitsregeln der Arbeitsvermittlung verschärft werden (vgl. Lessenich 2003).
Wie kann nun aber genauer Prekarität in einem relationalen Sinne bestimmt werden?
In der einschlägigen Literatur gilt eine Erwerbsarbeit dann als „prekär“, wenn die für ein
Normalarbeitsverhältnis charakteristischen sozialen, rechtlichen und betrieblichen Standards
unterschritten werden. Demzufolge ist Prekarität nicht identisch mit vollständiger
Ausgrenzung aus dem Erwerbssystem, absoluter Armut, totaler sozialer Isolation,
irreversiblem Kontrollverlust und absoluter Apathie. Prekarität kann nur an gesellschaftlichen
Normalitätsstandards gemessen werden, die ihrerseits historischen Veränderungen unterliegen
(vgl. Mayer-Ahuya 2003: 14ff.). Die Vorzüge einer derartigen Definition liegen in der strikt
relationalen Herangehensweise sowie darin begründet, dass die strukturellen Veränderungen
von Arbeitsverhältnissen zum Bezugspunkt der Analyse gemacht werden. Um die
Prekarisierungsproblematik in ihrer ganzen gesellschaftlichen Bedeutung in den Blick
nehmen zu können, ist es gleichwohl unverzichtbar, Prekarisierung nicht nur als objektive
Benachteiligung im Sinne einer statistischen Abweichung von einem Normalstandard zu
fassen. Um die Integrationsproblematik atypischer Beschäftigungsformen in einem
umfassenderen Sinne thematisieren zu können, erscheint es sinnvoll, die „objektive“
Identifikation von Prekarisierungsprozessen um eine „subjektive“ Komponente zu erweitern.
Die Differenzierung zwischen objektiven Prekarisierungsprozessen und subjektiven
Prekarisierungsängsten ist insofern von zentraler Bedeutung für die hier verfolgte
integrationstheoretische Fragestellung, als dadurch die relationale Wahrnehmung zwischen
Prekarisierten und Nicht-Prekarisierten eingefangen werden kann. Neben den
sozioökonomischen und institutionellen Strukturmerkmalen prekärer Beschäftigung dürfen
latente oder manifeste Prekarisierungsängste nicht übersehen werden. So ist immer zugleich
auch die subjektiv artikulierte Sorge in den Blick zu nehmen, die eigene, bisher als sicher
wahrgenommene Beschäftigungssituation könne in einem wachsenden Umfeld prekarisierter
Erwerbsarbeit an Stabilität und Sicherheit einbüßen, selbst wenn dies aufgrund der eigenen
„objektiven“ Beschäftigungslage noch so unwahrscheinlich erscheint. Es sind also nicht nur
objektive Prekarisierungsprozesse zu thematisieren, sondern zudem jene subjektiven
Prekarisierungsängste, die auch in bisher noch integrierten Sektoren des Arbeitsmarktes
anzutreffen sind.
Prekarisierungsängste sind oftmals latenter Natur. Sie können allerdings buchstäblich
über Nacht manifest werden, wenn etwa Befürchtungen aufkeimen, der bisherige berufliche
Werdegang könne in eine prekäre Befristungskarriere einmünden; wenn mit der Übernahme
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des Betriebes durch ein konkurrierendes Unternehmen die im Laufe der
Unternehmenszugehörigkeit erworbenen Rechtsansprüche und Schutzregelungen unterminiert
werden; wenn unternehmensinterne Reorganisationen und Umstrukturierungen die eigene
Position innerhalb der betrieblichen Statushierarchie schwächen; wenn der eigene
Arbeitsplatz durch unternehmensexternes Personal („Outsourcing“) substituiert wird; oder
wenn private Finanzierungsmodelle, auf denen ganze Lebensplanungen (z.B. Hausbau,
Immobilienerwerb, private Altersvorsorge) gründen, im Falle von erzwungener
Arbeitslosigkeit wie ein Kartenhaus in sich zusammen fallen. Prekarisierungsängste sind
somit sowohl innerhalb als auch außerhalb einer als objektiv prekär definierten Zone des
Arbeitsmarktes in den Blick zu nehmen. Die Ausbreitung derartiger Verunsicherungen und
Prekarisierungsängste (vgl. Fuchs/Conrads 2003) verweist auf den Grad der
Verallgemeinerung sozialer Verunsicherung. Von sozialer Verunsicherung kann immer dann
gesprochen werden, wenn sowohl einzelne Lebenspläne als auch umfassendere
Lebenskonzepte bis hin zur Konstruktion berufsbiografischer Identitäten als bedroht
wahrgenommen werden. Nur wenn eine derartige erweiterte Perspektive eingenommen wird,
kann auch das Bedrohungspotential von Prekarisierung und seine soziale „Ausstrahlung“ auf
andere, bislang standardisierte Beschäftigungsformen problematisiert werden. Selbst wenn
nach objektiver Definition Prekarität gegenwärtig nicht die Mehrheit der
Beschäftigungsverhältnisse kennzeichnet, sondern sich auf bestimmte Segmente der
Arbeitswelt beschränkt, so können Prekarisierungsängste gesellschaftsweit diffundieren und
in Bereiche vordringen, in denen man diese aufgrund eines (über-)durchschnittlichen sozialen
Absicherungsniveaus von Erwerbsarbeit bislang kaum vermuten konnte.
Prekäre Erwerbsarbeit ist in einem weiten Spektrum atypischer Beschäftigungsformen
anzutreffen, das Zeit- und Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit, Teilzeitarbeit, geringfügige
Beschäftigung und Vollerwerbsarbeit im Niedriglohnsektor sowie befristete Erwerbsarbeit auf
Projekt- und Werkvertragsbasis umfasst. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass
allerdings nicht jede atypische Beschäftigung als prekär bezeichnet werden kann. Hinter ein
und derselben Beschäftigungsform können sich unterschiedliche arbeitsweltliche
Wirklichkeiten verbergen. Stets ist in Rechnung zu stellen, dass ein und dieselbe Arbeitsstelle
mit vergleichbaren sozialen Merkmalen und institutionellen Rahmenbedingungen
unterschiedlich bewertet werden kann. Die Bewertung ist immer zugleich auch von den
berufsbiografisch, soziallagespezifisch oder geschlechtlich gefilterten Erwartungshaltungen
abhängig. Für die allermeisten Formen flexibler, atypischer Beschäftigung gilt gleichwohl,
dass sie ein prekäres Potential (Mayer-Ahuja 2003: 29; Dörre 2003: 24) beinhalten, welches
sich unter genauer zu eruierenden Bedingungen entfalten oder auch eingehegt werden kann.
Das prekäre Potential einer geringfügigen Beschäftigung auf 400-Euro-Basis wird
beispielsweise dann nicht geweckt, sondern schlummert lediglich weiter, wenn diese Tätigkeit
nur deswegen aufgenommen worden ist, um das Erwerbseinkommen eines Familienhaushalts
aufzubessern („Hinzuverdienst“) oder familiäre Verpflichtungen (Kinderbetreuung)
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wahrgenommen werden und die betreffende Person ansonsten, etwa über risikoabsorbierende
Haushaltsstrukturen bzw. stabile Partnerbeziehung abgesichert ist. Ändern sich jedoch infolge
von Scheidung oder Trennung die Lebensumstände, dann wird das schlummernde prekäre
Potential buchstäblich über Nacht sozial wirksam und die vormals erwünschte geringfügige
Beschäftigung leicht zu einer Armutsfalle. In aller Regel reicht eine geringfügige
Beschäftigung nämlich weder zur eigenständigen Bestreitung eines existenzsichernden
Lebensunterhalts aus noch garantiert sie die üblicherweise an reguläre Dauer- und
Vollzeitbeschäftigung
gekoppelten
Rechtsansprüche
wie
Kündigungsschutz,
Abfindungsregelungen oder Anwartschaften für Rentenansprüche.
Auch reicht der Tatbestand der Befristung keineswegs aus, um das
Prekarisierungspotential eines Arbeitsverhältnisses abschätzen zu können. Vielmehr müssen
die mit einem befristeten Beschäftigung verbundenen Erwartungshaltungen, Erwerbsmotive
und Handlungsoptionen selbst in den Blick genommen werden. Zu fragen wäre deswegen, ob
die Aufnahme einer atypischen Beschäftigung gewollt oder erzwungen ist? Dient diese als
„Sprungbrett“, um auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen oder wird sie als provisorische
„Übergangslösung“ wahrgenommen, um eine erwerbsbiografische Lücke auszufüllen?
Ermöglicht sie den Wiedereinstieg ins Berufsleben, z.B. nach der Betreuungsphase von
Kindern im eigenen Haushalt? Wird sie als schlichter „Hinzuverdienst“ angesehen, um das
Haushaltseinkommen „aufzubessern“? Oder wird sie als aufgeherrschter Dauerzustand
angesehen, der keine alternativen Beschäftigungsoptionen mehr zulässt? In dem einen Fall ist
man beispielsweise von Befristung „betroffen“, weil sie die einzige Erwerbsalternative zu
Arbeitslosigkeit darstellt. In dem anderen Fall kann Befristung aber auch eine kaum
vermeidbare Episode im Verlauf einer Erwerbsbiografie sein, um sich bestimmte
Berufschancen und Karrierewege offen zu halten. Natürlich kann sich auch im zweiten Falle
das prekäre Potential einer Befristung entfalten; und zwar zeitversetzt immer dann, wenn sich
die mit dem Umweg einer Befristung verbundenen beruflichen Erwartungen als unrealistisch
erweisen. Allgemeiner formuliert: Ohne einem strukturvergessenen Voluntarismus das Wort
reden zu wollen, ist die Frage der Handlungsfähigkeit (capability) (Giddens 1988)
aufzuwerfen und auf die Gruppe atypisch Beschäftigter zu beziehen, da ansonsten das prekäre
Potential
atypischer
Beschäftigungsformen
unter
unterschiedlichen
sozialen
Kontextbedingungen nicht annäherungsweise abgeschätzt werden kann. Gerade aus einer
aufgeklärten akteurs- bzw. handlungstheoretischen Perspektive, die zugleich den strukturellen
Kontext, in dem gehandelt wird, in Rechnung stellt, macht es jedenfalls einen bedeutsamen
Unterschied, ob einer befristeten Erwerbsarbeit mangels Einkommens- oder
Beschäftigungsalternativen nachgegangen werden muss oder ob unter Abwägung tatsächlich
vorhandener oder erwartbarer alternativer Beschäftigungschancen sowie unter
Berücksichtigung des prinzipiell nie auszuschließenden Prekarisierungsrisikos atypischer
Beschäftigung eine Befristung eingegangen wird. Der Prekarisierungsgrad hängt also immer
auch von den verfügbaren Entscheidungsoptionen bzw. der Wahrscheinlichkeit eines
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Wechsels auf eine alternative Stelle (exit option) ab. Mit anderen Worten handeln die sozialen
Akteure in prekärer Beschäftigung stets innerhalb eines Erfahrungshorizontes, der durch die
jeweiligen Grade der objektiven und subjektiv wahrgenommenen Gefährdung der eigenen
Erwerbsbiografie geprägt ist. Auf jeder Prekarisierungsstufe gibt es Beschäftigte, die ihre
Erwerbssituation besser bewältigen können als andere, da sie über Entscheidungsoptionen,
Netzwerke und Ressourcen verfügen, die es erlauben, eher im Sinne eigener Orientierungen
zu handeln. Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass prekäre Erwerbsarbeit nicht zwangsläufig in
prekärem Wohlstand einmünden muss. Zwar geht eine prekäre Erwerbslage oftmals mit einer
prekärer Lebensführung einher. Aber prekäre Erwerbsarbeit sollte trotzdem nicht mit
prekärem Wohlstand gleichgesetzt werden. Erfahrungen von Prekarisierung innerhalb der
Arbeitswelt können nämlich, aber müssen nicht außerhalb des Erwerbsbereichs ihre
Fortsetzung finden; sie können auch aufgefangen oder abgemildert werden. Dies hängt von
weiteren, im Folgenden allerdings zu vernachlässigenden außerarbeitsweltlichen
Einflussfaktoren ab, wie z.B. der Stabilität familiärer und anderer gemeinschaftlicher
Netzwerke, der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des gesamten Haushalts, der
individuellen „Kapitalausstattung“ im Sinne Pierre Bourdieus usw.
3. Prekäre Erwerbsarbeit zwischen Desintegration und Reintegration
Von prekärer Arbeit kann gesprochen werden, wenn sich die Erwerbslage von anderen, als
„normal“ oder „regulär“ wahrgenommenen Beschäftigungsverhältnissen durch strukturelle
Benachteiligungen unterscheidet, die den Zugang zu Ressourcen und Rechten sowie die
Zuschreibung von Anerkennung betreffen. Es handelt sich hierbei um Beschäftigungsformen,
die durch eine Verallgemeinerung sozialer Unsicherheitserfahrungen gekennzeichnet sind.
Prekäre Erwerbsarbeit kann in mehrfacher Hinsicht desintegrierend wirken: Erstens
ermöglicht sie allenfalls vorübergehend, aber nicht dauerhaft ein existenzsicherndes
Erwerbseinkommen. Im Gegensatz zu Festangestellten partizipieren prekär Beschäftigte auch
an sonstigen betrieblichen Entgeltregelungen (z.B. Höhergruppierung, Überschussbeteiligung,
Weihnachts- und Urlaubsgeldansprüche) nicht oder nur unzureichend. Zweitens werden im
Regelfall soziale Sicherheitsgarantien wie Kündigungsschutz, Abfindungsansprüche und
sonstige betriebliche Leistungen ausgehöhlt, die üblicherweise an „Normalerwerbsarbeit“
gekoppelt sind. Drittens werden institutionell garantierte Partizipationschancen in der
Arbeitswelt wie betriebliche Interessenvertretung nicht oder nur unzureichend gewährt.
Viertens herrscht aufgrund von befristeten Arbeitsverträgen mehr oder weniger permanente
Beschäftigungsunsicherheit vor. Fünftens ist unter diesen Beschäftigungsbedingungen jede
längerfristige Planungssicherheit für den eigenen Lebensentwurf blockiert. So können
beispielsweise Elternschaft oder Wohneigentum zu einem nicht kalkulierbaren sozialen
Risiko werden, wenn der Lebensunterhalt eigenständig erwirtschaftet werden muss. Wenn
11
Beschäftigte
nur
befristet
erwerbstätig
sind,
ist
das
zwangsläufig
mit
Unsicherheitserfahrungen verbunden. Das gilt um so mehr, wenn die Übergänge zwischen
den Arbeitsplätzen durch Phasen erzwungener Arbeitslosigkeit unterbrochen sind, deren
Dauer von vornherein nicht abgeschätzt werden kann. Zudem kann der stete Wechsel
zwischen unterschiedlichen Arbeitsplätzen die private Organisation des Alltags erheblich
beeinträchtigen, da ein verlässlicher Zeitrahmen für kontinuierliche lebensweltliche
Aktivitäten in Familie, Freundeskreis und Freizeit nicht gegeben ist. Selbst mit Blick auf
kürzere Fristen wird ein bestimmtes Maß der für ein „gutes“ Leben unverzichtbaren privaten
Planungssicherheit erschwert. Je entwickelter bestimmte berufsbezogene Ansprüche an
Erwerbsarbeit sind, desto intensiver kann prekäre Erwerbsarbeit sechstens im Sinne einer
klassischen Statusinkonsistenz auch als ausbildungsinadäquate, unterwertige Beschäftigung
wahrgenommen werden, die zu einer berufsbiografischen Bedrohung heranwächst, je länger
Beschäftigte
in
dieser
Erwerbslage
verharren
müssen.
Der
gegenüber
„Normalarbeitsverhältnissen“ benachteiligte Zugang zu betrieblichen Anrechten und
Privilegien wird innerhalb der betrieblichen Sozialhierarchie siebtens in Form
unterschiedlichster Grenzmarkierungen und Anerkennungszuschreibungen reproduziert.
Hierbei dürfen die ausgrenzenden Effekte keineswegs unterschätzt werden, die von der
Setzung symbolischer Unterscheidungen ausgehen können.3 So kann beispielsweise die
ohnehin schon prekäre ökonomische und arbeitsvertragliche Stellung von Zeit- und
Leiharbeiternehmern durch ihren Status verstärkt werden, der die gleichberechtigte
Zugehörigkeit zu betrieblichen Gemeinschaften im besten Falle auf Zeit gewährt. Auch kann
der stete Wechsel des Arbeitsplatzes als Sprung ins Ungewisse erlebt werden, der das
jeweilige Unternehmen und seine betriebliche Ordnung „unlesbar“ (Sennett 2000: 440)
macht.
Für Beschäftigte in einer prekärer Erwerbslage sind Unsicherheit und Diskontinuität
ein generalisiertes Erfahrungsmuster, wodurch soziale Desintegration begünstigt wird. Die
Ungewissheit, die mit derartigen Beschäftigungsformen einher geht, erstreckt sich über weite
Bereiche der sozialen Existenz, erfasst sowohl berufliche als auch private
Zukunftserwartungen und spiegelt sich nicht zuletzt in der Einschätzung der eigenen Stellung
auf dem Arbeitsmarkt und im betrieblichen Alltag. Diese generalisierte Unsicherheit kann als
fluide Schwebelage ohne kalkulierbare Verortung im betrieblichen und außerbetrieblichen
3
So kann beispielsweise der soziale Status eines Leiharbeitnehmers selbst dann rasch desintegrierend wirken,
wenn es vergleichsweise gut gelingt, ihn für die Zeit der Beschäftigung im Entleihunternehmen zu integrieren.
Schließlich handelt es sich lediglich um Bindungen auf Zeit. Im temporären Integrationsfall ist Anerkennung nur
für den Zeitraum der Betriebszugehörigkeit „geliehen“. Mit dem obligatorischen Ausscheiden aus einem
Beschäftigungsverhältnis wird die erworbene Anerkennung wieder entwertet, so dass sie auch bei jedem
Arbeitseinsatz wieder aufs Neue erworben werden muss. Zum fast schon unvermeidbaren symbolischen
Anerkennungszyklus prekärer Beschäftigung vgl. Kraemer/Speidel (2004b). Im Falle einer zeitlich befristeten
Beschäftigung in einem Unternehmen besitzt – mit Sennett (2000) gesprochen – der reziproke Austausch
sozialer Anerkennung nur provisorische Geltung. Allgemeiner formuliert können Strukturen ökonomischer
Privilegierung/Benachteilung immer auch als Anerkennungskonflikte gelesen werden. Vgl. grundsätzlich zum
Stellenwert von Anerkennungsbeziehungen im ökonomischen Feld die Kontroverse bei Fraser/Honneth (2003)
sowie Voswinkel (2001).
12
Sozialraum beschrieben werden. Und trotzdem sollten die mit prekärer Erwerbsarbeit
verbundenen Desintegrationspotentiale nicht hypostatiert werden. Anzunehmen ist nämlich,
dass gerade prekär Beschäftigte, die weder der „Zone der Normalität“ noch der „Zone der
Exklusion“ zugerechnet werden können, vor dem Hintergrund der Desintegrationserfahrungen
vielfältige Reintegrationsanstrengungen unternehmen, die allesamt von der Hoffnung leben,
die eigene instabile Erwerbslage könne überwunden und die „Normalität“ eines
„Normalarbeitsverhältnisses“ (wieder) hergestellt werden. Das Bemühen um Reintegration
ist umso wahrscheinlicher wie die Erwartung nicht dauerhaft enttäuscht wird, dass prekäre
Erwerbsarbeit den (Wieder-)Einstieg in akzeptable, „normale“ Beschäftigung ermöglichen
oder der unterbrochene berufliche Weg wieder fortgesetzt werden könnte. Im umgekehrten
Fall ist die Sorge um die eigenen Beschäftigungschancen umso verbreiteter, wenn prekäre
Erwerbsarbeit nicht mehr als „Übergangslösung“ wahrgenommen wird, um etwa eine durch
Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung hervorgerufene erwerbsbiografische Lücke
auszufüllen, sondern als unvermeidbare neue Normalität. Der reintegrative Effekt prekärer
Erwerbsarbeit, der ihre desintegrierenden Folgen gewissermaßen temporär einhegt, basiert im
Wesentlichen darauf, dass diese Beschäftigungsform als einzig noch verbleibende Exit-Option
aus der Arbeitslosigkeit wahrgenommen wird und die Hoffnung auf geschütztere
Anschlussoptionen auf dem Arbeitsmarkt nährt, auch wenn diese im Einzelfall noch so vage
und unbestimmt bleiben mag. Geradezu paradox wurzelt die Attraktivität prekärer
Erwerbsarbeit in der Möglichkeit ihrer Überwindung. Mit anderen Worten kann prekäre
Erwerbsarbeit nicht nur desintegrierend, sondern zugleich solange integrierend wirken, wenn
die Erwartung, in dieser unsicheren Erwerbslage nur für eine überschaubare Zeit verharren zu
müssen, nicht dauerhaft enttäuscht wird. Aufgrund der gegenwärtigen Arbeitsmarktprobleme
ist gleichwohl davon auszugehen, dass die Hoffnung prekär Beschäftigter, in ein festes
Arbeitsverhältnis übernommen zu werden, ganz erheblich mit dem Lebensalter, dem
Qualifikationsniveau und dem beruflichen Erwartungshorizont korreliert. Insbesondere bei
älteren Arbeitnehmern kann die auf eine unbestimmte Zukunft projizierte Hoffnung rasch der
resignativen Gewissheit weichen, dass prekäre Beschäftigung keine vorübergehende Episode,
sondern ein erzwungener Dauerzustand ist, der den Zugang zu einer qualifikationsadäquaten
Dauerbeschäftigung mit „normalem“ sozialen Absicherungsniveau versperrt und dazu zwingt,
ganze Lebenspläne zu korrigieren (kumulative Negativkarriere). Das spezifische Integrationsund Desintegrationspotential einer prekären Beschäftigung hängt also immer auch von der
wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit ab, die „Zone der Prekarität“ wieder verlassen und in
die „Zone der Normalität“ hinüberwechseln zu können. Es ist allerdings davon auszugehen,
dass die skizzierten Reintegrationspotentiale in der „Zone der Prekarität“ in dem Maße
schwächer werden wie sich die Grenzen dieser Zone verfestigen und Übergänge in
„Normalarbeit“ schwieriger werden.
13
4. Prekarisierungsängste und Wandel des Integrationsmodus
Wenn man Prekarität in einem objektivistischen Sinne zu bestimmen versucht, dann sind die
Unterschiede zwischen prekären und „normalen“ Erwerbslagen erheblich. Gleichwohl wäre
es ein Fehlschluss, die „Zone der Prekarität“ und die „Zone der Normalität“ als eindeutig
abgrenzbare Segmente der Arbeitsgesellschaft zu konzeptionalisieren. Es sind vielmehr
fließende Übergänge und Abstufungen zwischen stabilen und instabilen Erwerbslagen in
Rechnung zu stellen. Eine trennscharfe Unterscheidung von prekären und nicht-prekären
Arbeitsverhältnissen wird zudem dadurch erschwert, dass instabile Erwerbslagen
verunsichernd und disziplinierend auf geschützte Normarbeitsverhältnisse zurückwirken. Von
einer disziplinierenden Wirkung prekärer Arbeit auf „regulär“ beschäftigte
Stammbelegschaften kann insbesondere immer dann gesprochen werden, wenn eine
vergleichsweise reibungsarme temporäre Integration von prekär Beschäftigten in betriebliche
Arbeitsabläufe gelingt. So kann sich innerhalb der Stammbelegschaft ein diffuses Gefühl der
Ersetzbarkeit ausbreiten, wenn beispielsweise befristet Beschäftigte (etwa Leih- und
Zeitarbeiter, Kontingentarbeitnehmer aus Billiglohnländern) dieselben Arbeitstätigkeiten wie
Festangestellte durchführen, ohne in der gleichen Lohngruppe eingruppiert zu werden oder im
größeren Stile externe Arbeitskräfte als „Freelancer“ bzw. auf Werkvertragsbasis eingestellt
werden, weil diese flexibler einsetzbar und leichter kündbar sind (vgl. Kraemer/Speidel
2004a; 2004b). Um derartige Rückwirkungen der „Zone der Prekarität“ auf die „Zone der
Normalität“ in ihrer ganzen Tragweite erfassen zu können, ist in Abgrenzung zu einfachen
Erklärungsmodellen der Prekarisierungsbegriff nicht nur als Unterschreitung spezifischer
sozioökonomischer und rechtlicher Normalitätsstandards von Erwerbsarbeit zu bestimmen.
Wenn man der Frage nachgeht, inwiefern die Verbreitung prekärer Beschäftigungsformen das
gesellschaftliche Integrationspotential von Erwerbsarbeit insgesamt schwächt, dann müssen
über die strukturellen sozioökonomischen oder arbeitsrechtlichen Benachteiligungen hinaus
Prekarisierungsängste innerhalb der „Zone der Normalität“ analytisch einbezogen werden.
Wie Bourdieu (1998) aufgezeigt hat, wird mit der Prekarisierung von
Beschäftigungsverhältnissen ebenfalls in der „Zone der Normalität“ auf subtile Weise soziale
Verunsicherung geschürt. Insofern ist Prekarisierung immer auch das Ergebnis einer
relationalen Wahrnehmung von unterschiedlichen Beschäftigtengruppen innerhalb und
außerhalb der „Zone der Prekarität“. Nur wenn man dies in Rechnung stellt, kann auch das
wirklichkeitsmächtige Bedrohungspotential, die soziale Ausstrahlung von Prekarisierung auf
bislang als vergleichsweise sicher geltende Segmente der Arbeitsgesellschaft problematisiert
werden.
Castels zonale Modell der postfordististischen Arbeitsgesellschaft ist mit einer
gewissen Vorentscheidung verbunden. Es wird nämlich nahe gelegt, dass
Beschäftigungsverhältnisse, die aufgrund ihrer formalen Struktur der „Zone der Prekarität“
zuzuordnen sind, soziale Desintegration verursachen oder doch zumindest verstärken können.
14
Und umgekehrt wird auf der begrifflichen Ebene unterstellt, dass in der „Zone der
Normalität“ Erwerbstätige anzutreffen sind, die über Normarbeitsverhältnisse scheinbar
problemlos in die Arbeitsgesellschaft integriert werden. Eine eindeutige Zuordnung von
Integrations- und Desintegrationsprozessen zu unterschiedlichen Zonen erscheint allerdings
gerade dann wenig sinnvoll zu sein, wenn die subjektiven Deutungsmuster unterschiedlicher
Beschäftigtengruppen konzeptionell berücksichtigt werden. Wie bereits weiter oben
dargelegt, sind in der „Zone der Prekarität“ – mit unterschiedlicher Gewichtung – nicht nur
Desintegrationseffekte, sondern ebenso Integrationsprozesse anzutreffen. Mehr noch: (Des)Integrationsprozesse erzeugen nicht nur widersprüchliche, sondern mitunter geradezu
paradoxe Effekte. Von einem Integrations-Desintegrationsparadoxon kann immer dann
gesprochen werden, wenn ein und derselbe Prozess mit gegenläufigen Tendenzen innerhalb
einer Zone (intrazonal) oder zwischen den Zonen (interzonal) der Arbeitsgesellschaft einher
geht. Aufgrund der unsicheren Erwerbslage bemühen sich prekär Beschäftigte verstärkt um
Reintegration in die „Zone der Normalität“ und just diese Bemühungen können zugleich
desintegrierende Ängste vor einem erneuten Absturz in die Arbeitslosigkeit, vor dem Entzug
mühsam erworbener symbolischer Anerkennung sowie vor dem erneuten Verzicht auf
Teilhabechancen an der materiellen Kultur erzeugen. Die Integrationsanstrengungen von
Beschäftigten in prekärer Erwerbslage korrespondieren also unmittelbar mit der Befürchtung,
dass sich Desintegration wieder verstetigen könnte. Dies ist um so wahrscheinlicher, wenn die
Bemühungen enttäuscht werden, den Sprung in geschützte Normarbeit schaffen zu können.
In diesem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass sowohl die
Desintegrationserfahrungen von prekär Beschäftigten als auch die unterschwelligen, kaum
ausgesprochenen Befürchtungen von Festangestellten innerhalb der „Zone der Normalität“,
die eigene Beschäftigungssituation könne weitaus instabiler sein als bislang angenommen
wurde, auf beide Gruppen disziplinierend und damit in problematischer Weise reintegrierend
wirken können. Im Gegensatz zum fordistischen Integrationsmodell basiert dieser
Integrationsmodus weniger auf einem Teilhabeversprechen an der ökonomischen
Entwicklung als auf subtilen Ängsten, den Arbeitsplatz zu verlieren und sozial
„abzurutschen“, wenn beispielsweise die Marktnachfrage wegbricht, die Renditeerwartungen
der Anteilseigner enttäuscht werden, betriebliche Leistungskennziffern unterschritten werden,
die Arbeitsproduktivität hinter den Vorgaben des Managements zurück bleibt, die allgemeine
Lohnkostenstruktur gegenüber ausländischen Billiganbietern nicht mehr konkurrenzfähig ist,
usw. Mit anderen Worten sind potentiell alle Beschäftigten der permanenten Drohung des
Arbeitsplatzverlustes ausgesetzt. Dadurch wird, wie Bourdieu (1998: 99) hervorhebt, die
Konkurrenz der Beschäftigten untereinander um knappe Erwerbstellen kontinuierlich
angeheizt: „Die Konkurrenz um die Arbeit geht einher mit einer Konkurrenz bei der Arbeit,
die jedoch im Grunde auch nur eine andere Form der Konkurrenz um die Arbeit ist, eine
Arbeit, die man, mitunter um jeden Preis, gegen die Erpressung mit der angedrohten
Entlassung bewahren muß.“ Unter diesen Bedingungen wird die arbeitsweltliche Integration
15
durch Unterordnung unter das „Marktregime“ (Dörre/Röttger 2003) erzwungen sowie durch
die Bereitschaft hergestellt, zum Zwecke des Arbeitsplatzerhaltes notgedrungen auf kollektive
soziale Errungenschaften zu verzichten. Insofern kann auch nicht pauschal eine schwindende
Integrationskraft der Erwerbsarbeit unterstellt werden, wenn soziale Sicherheitsgarantien der
Erwerbsarbeit abgebaut werden und Prekarisierungsängste um sich greifen. Paradoxerweise
ist vielmehr vom Gegenteil auszugehen. In dem Maße, wie Erwerbsarbeit wieder enger an
kurzfristige unternehmerische Marktrisiken gekoppelt wird und die Arbeitsmarktrisiken
weiter individualisiert werden (Re-Kommodifizierung), scheint jedenfalls auch der
arbeitsweltliche Integrationsmodus sukzessive umgestellt zu werden. Diese Umstellung des
Integrationsmodus von Teilhabe auf Disziplinierung, Einschüchterung und Folgebereitschaft
kann allerdings nur dann in den Blick genommen werden, wenn man sich von einem
integrationstheoretischen Verständnis verabschiedet, das in einem stark normativen Sinne
positive Integration und negative Desintegration gegenüber stellt (vgl. die kritischen Hinweise
bei Heitmeyer 1997: 26f.) und den Zusammenhang von prekärer Erwerbsarbeit und (Des)Integration allzu schematisch interpretiert. Stets sind die gesellschaftlichen, ökonomischen
und politischen Kontextbedingungen von Erwerbsarbeit aufzuhellen, wenn man danach
fragen will, ob ein hoher arbeitsweltlicher Integrationsgrad breite Teilhabechancen und
soziale Sicherheit signalisiert oder Ausdruck eines prekär gewordenen Beschäftigtenstatus ist.
5. Ausgrenzende Integrationsnorm
Im Vorangegangenen ist dafür plädiert worden, die Prekarisierungsproblematik nicht nur auf
eine nach objektiven Merkmalsbündelungen eindeutig definierbare Gruppe von
„Prekarisierten“ zu beschränken, da sich Befürchtungen um die Sicherheit des eigenen
Arbeitsplatzes weit über die „Zone der Prekarität“ hinaus ausgebreitet haben. Angesichts
anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit, verschärfter Standortkonkurrenzen und
internationalisierter Märkte („Globalisierung“) ist sogar davon auszugehen, dass inzwischen
ganze Stammbelegschaften in der „Zone der Integration“ ihre Erwerbslage als latent gefährdet
wahrnehmen und insofern auch von Prekarisierungsängsten erfasst werden. Diese interzonale
Diffusion von Prekarisierungsängsten und sozialen Verunsicherungen lässt den für den
„rheinischen Kapitalismus“ archetypischen arbeitsweltlichen Integrationsmodus verblassen,
der bislang allen Erwerbstätigen ein bestimmtes Maß an Stabilität, Sicherheit und
Teilhabechancen zubilligte. An dessen Stelle schiebt sich sukzessive ein Modus, der
Integration durch die implizite Drohung des Arbeitsplatzverlustes erzwingt und von der
Maxime geleitet wird, dass jede, selbst schlecht bezahlte und sozial ungeschützte Arbeit, die
kein individuelles Auskommen ermöglicht, besser ist als überhaupt keine Arbeit. Diese
Transformation des arbeitsweltlichen Integrationsmodus kann, so lautet die abschließende
These, unter spezifischen Bedingungen Neigungen bzw. Dispositionen zu Überanpassung
16
und ausgrenzenden Integrationsvorstellungen begünstigen. Mit ethnischen oder
nationalistischen Konstruktionen verknüpft, können diese Vorstellungen sogar zu scharfer
Ausgrenzung gegenüber Bevölkerungsgruppen führen, die solch einseitig definierten
Integrationsnormen nicht entsprechen. Abschließend ist diese ausgrenzende Integrationsnorm
kurz zu charakterisieren.
Unbestritten ist, dass die skizzierten arbeitsweltlichen Prekarisierungstendenzen und
(Des-)Integrationserfahrungen nicht geradlinig spezifische politische Verarbeitungsformen
bedingen. Deswegen wäre es beispielsweise auch abwegig, Affinitäten oder Übergänge zu
rechtspopulistischen Orientierungen als kausale Entsprechung zum wahrgenommenen
Ausmaß sozialer Desintegration zu begreifen. Organisationen und Akteure der Arbeitswelt
wirken lediglich als Instanzen einer sekundären politischen Sozialisation, die überhaupt erst
mit dem Eintritt in das Erwerbsleben virulent werden können. Im Sinne eines MehrebenenAnalysemodells sind zudem weitere einstellungsrelevante Erklärungsfaktoren außerhalb der
Arbeitswelt wie allgemeine Sozialisationsbedingungen, Generations- und Kohorteneffekte,
soziales Klima und individuelles Kompetenzprofil, Rezeptionsroutinen politischer Ideologien
und mediale Thematisierungszyklen zu berücksichtigen (vgl. ausführlicher Anhut/Heitmeyer
2000: 53ff.). Arbeitsweltliche Prekarisierungs- und (Des-)Integrationserfahrungen liefern
lediglich den Problemrohstoff, der in höchst unterschiedlichen politischen Orientierungen
aufgegriffen und bearbeitet werden.
Ganz in diesem Sinne wäre es ein deterministischer Kurzschluss, davon auszugehen,
dass die Erosion der sozialen Bindekraft sozialstaatlich regulierter Normarbeitsverhältnisse
mehr oder weniger zwangsläufig zu einer stetigen Kumulation von Desintegrationsprozessen
führen muss. Wie weiter oben ausgeführt worden ist, können die im Verlauf einer prekären
Beschäftigungskarriere gemachten Desintegrationserfahrungen auch einen entgegengesetzten
Effekt haben und die eigenen Reintegrationsbemühungen verstärken. So unternehmen gerade
Beschäftigte, die ihre Erwerbslage als prekär bewerten und die Rückkehr in die „Zone der
Integration“ anstreben, im jeweiligen Betrieb vielfältige Anstrengungen, um
leistungsbezogene Erwartungshaltungen nicht zu enttäuschen und sich geräuschlos in den
Produktionsalltag einzufügen. Die Bereitschaft zur distanzlosen Anpassung an Strukturen,
Normen und Verhaltensanforderungen innerhalb der Arbeitswelt dient letztlich dem alles
überragenden Zweck, der Prekarisierung entfliehen zu können und die Chancen auf
Übernahme in ein festes Arbeitsverhältnis zu wahren. Unter den Bedingungen einer
verschärften Konkurrenz um knappe Erwerbsstellen erscheint zuweilen die angestrebte
Reintegration überhaupt nur noch bei vorbehaltloser Unterordnung unter das betriebliche
Arbeitsregime denkbar zu sein. In eine ähnliche Richtung wirken übrigens auch die gegenüber
Stammbelegschaften
ausgesprochenen
Drohungen
von
Unternehmensleitungen,
Lohnleistungen zu kürzen, Produktionsstandorte zu schließen und in Billiglohnländer zu
verlagern. Selbst wenn im Einzelfall unklar bleibt, ob die angekündigten Drohungen
glaubwürdig und durchsetzungsfähig sind, so wirken sie insofern einschüchternd, da
17
Ungewissheit oktroyiert wird. Angst ist ein verbreiteter Ausdruck dieser Ungewissheit.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die disziplinierende Wirkung dieser
Ungewissheit alle Beschäftigtengruppen selbst dann erfasst, wenn Drohkulissen des
Managements nur selektiv aufgebaut, die Drohungen durch Zugeständnisse entschärft werden
oder nur wenige Beschäftigte vom tatsächlichen Vollzug der angedrohten Konsequenzen
betroffen sind.4
In dem Maße, in dem unter den Beschäftigten die Ungewissheit um die Sicherheit des
eigenen Arbeitsplatzes um sich greift, wird betriebliche Verhaltenskonformität begünstigt.
Diese kann unterschiedliche Formen annehmen und von bloßer Regeltreue bis zu
Unterwürfigkeit und vorauseilendem Gehorsam reichen. Sie dient dem übergeordneten
Zweck, die eigene arbeitsweltliche Integration nicht zu gefährden. Unter noch genauer zu
eruierenden Bedingungen scheint dieses Streben nach Anpassung und Integration innerhalb
der Arbeitswelt (Arbeitsbewusstsein) als normative Referenzfolie zu fungieren, um
gesellschaftliche Probleme (politisches Bewusstsein) zu bewerten. Was man von sich selbst
erwartet, d.h. in diesem Falle die Bereitschaft, sich anzupassen und einzufügen, das erwartet
man auch von Dritten. Mit anderen Worten kann die durch Ungewissheit und
Einschüchterung erzwungene betriebliche Verhaltenskonformität mit einer Integrationsnorm
einhergehen, deren Geltung nicht nur auf das betriebliche Feld beschränkt bleibt, sondern
sozial generalisiert und als legitimer Maßstab zur Bewertung der sozialen Welt herangezogen
wird. Bemerkenswerterweise muss diese Integrationsnorm selbst dann nicht an Attraktivität
einbüßen, wenn die eigene Leistungsbereitschaft im Unternehmen nicht honoriert wird,
unverschuldet Entlassungen drohen oder elementare Prinzipien einer Leistungsgerechtigkeit
durch Managemententscheidungen missachtet werden. In diesem Falle kann das eigene
Integrationsverständnis sogar umso vehementer gegenüber ethnischen Minderheiten und
anderen outgroups eingeklagt werden.
Dieser Integrationsnorm folgend bemisst sich die Legitimität von Ansprüchen an
ökonomischer und gesellschaftlicher Teilhabe daran, ob ein sichtbarer Leistungsbeitrag für
die Gesellschaft erbracht wird. Folge dieser Normgeneralisierung ist, dass all jene Individuen
oder Bevölkerungsgruppen sozialmoralisch stigmatisiert und aus der Gemeinschaft der
Leistungsfähigen symbolisch ausgegrenzt werden, die dieser Norm nicht entsprechen. In
ständig wiederkehrenden Deutungsmustern wird vor allem ethnischen Minderheiten und
anderen sog. Randgruppen Leistungsverweigerung und eine illegitime Vorteilserschleichung
auf Kosten der nationalen Gemeinschaft der Leistungswilligen vorgeworfen. Ihnen wird
pauschal unterstellt, dass sie „nichts leisten“, „nichts auf sich nehmen“, nur „die Hand
aufhalten“, „Ansprüche stellen“ und trotzdem immer wieder von den sozialen
4
Wie bereits Popitz in der allgemeinen Abhandlung Phänomene der Macht (1992: 79ff.) aufgezeigt hat, liegt die
Besonderheit einer Drohung in ihrer „Dehnbarkeit“ begründet. Der Begriff Dehnbarkeit spielt u.a. auf die Macht
der Drohung an, eine „unbestimmte Besorgnis der Angst“ (1992: 85) unter den Adressaten der Drohung zu
schüren. Zur Interaktionsmacht der Drohung und ihrer durchaus ambivalenten Folgewirkungen vgl. den
grundlegenden Beitrag von Paris/Sofsky (1987).
18
Sicherungssystemen „aufgefangen“ werden. Vor allem wird eine mangelnde
Anpassungsbereitschaft von ethnischen Minderheiten an die Mehrheitskultur der
Autochthonen, ihres Wertesystems und ihrer symbolischen Praktiken beklagt. In dieser
Perspektive erscheint Integration als einseitige Bringschuld der zu Integrierenden. Eine
reziproke Anerkennung kultureller Differenzen wird zurück gewiesen und die Integration von
Ausländern allenfalls unter den Bedingungen einer geräuschlos vonstatten gehenden
Assimilierung akzeptiert.
Desintegrationserfahrungen innerhalb der Arbeitswelt können rechtspopulistische
Ausgrenzungen und fremdenfeindliche Ressentiments begünstigen. Das soeben skizzierte
„überintegrierte“ Einstellungsmuster kann allerdings nicht einfach als maßstabsgetreuer
Ausdruck sozialer Desintegrationsprozesse interpretiert werden. Entgegen den
Modellannahmen der Desintegrationshypothese muss paradoxerweise auch vom Gegenteil
ausgegangen werden. Ausgrenzende Deutungsmuster und fremdenfeindliche Ressentiments
können auch als Folge einer spezifischen Integrationsvorstellung gedeutet werden, die im
Verlauf des Erwerbslebens durch arbeitsweltliche Anpassungsleistungen an reale oder
vermeintliche äußere Zwänge genährt worden ist und als normative Referenzfolie
herangezogen wird, um wahrgenommene Problemlagen innerhalb und außerhalb der
Arbeitswelt zu beurteilen. Hieran schließen sich weitere Forschungsfragen an, die bislang
ungeklärt sind. So wäre etwa genauer zu problematisieren, auf welchen Wertorientierungen
diese Überintegration im Einzelnen basiert, durch welche spezifischen Arbeitserfahrungen
diese Wertorientierungen begünstigt werden können, welche Bedeutung marktzentrierten
Kontrollstrategien und Leistungsnormen bei der Stabilisierung dieser Wertorientierungen
zukommt, wie sich der Typus der ausgrenzenden Integrationsnorm zum Deutungsmuster des
„reaktiven Nationalismus“ (Dörre 2001) verhält und welche arbeitspolitischen Strategien
denkbar sind, um die im „überintegrierten“ Typus angelegten Ausgrenzungseffekte
einzudämmen.
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Dr. Klaus Kraemer / Frederic Speidel
FIAB - Forschungsinstitut Arbeit Bildung Partizipation
Institut an der Ruhr-Universität Bochum
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D - 45657 Recklinghausen
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