Kapitel 3 Kontinuumsphysik ausgewählter elektrodynamischer

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Kapitel 3
Kontinuumsphysik ausgewählter
elektrodynamischer Probleme
3.1
Ziele
Eine große Klasse von Materialien ist nicht nur Träger von Masse, sondern
auch von elektrischer Ladung. Die hierdurch erzeugten Phänomene sind
Gegenstand der Elektrodynamik.
Ältere Anwendungen der Elektrodynamik sind
• Konstruktion von Elektromotoren und die Erzeugung hochfrequenter
Wellen für die Nachrichtenübertragung
• Konstruktion von Halbleiterschaltkreisen
Besonders wichtig in neuerer Zeit sind Anwendungen in den Bereichen
• Herstellung von Solarsilizium. Hier werden sehr heiße Siliziumschmelzen durch wandernde Magnetfelder homogenisiert.
• Herstellung von Brennstoffzellen und von Lithium-Ionen- Batterien.
Dieses Kapitel ist eine Einführung in die elektrodynamische Theorie. Deren
Basis sind die MAXWELLschen Gleichungen, die analog zu den Bilanzgleichungen für Masse, Impuls und Energie von universell gültiger Natur sind.
Aber auch die MAXWELLschen Gleichungen müssen durch Materialgleichungen ergänzt werden, was wir hier im Kontext der genannten modernen
Anwendungen tun.
63
3.2
Die MAXWELLschen Gleichungen
Grundsätzliches und Historisches. Entdeckt wurden elektrodynamische Kräfte durch Experimente mit kleinen elektrisch geladenen Teilchen.
Deren Ladung induziert zwei unterschiedliche Felder, die sich durch Kraftwirkungen zwischen geladenen Teilchen bemerkbar machen. Die beiden Felder werden durch Funktionen von Zeit und Raum modelliert und heißen
elektrische Feldstärke und magnetische Induktion.
Allerdings wurde zunächst nicht gesehen, dass elektrisch geladene Teilchen
auch ein magnetisches Feld erzeugen. In dieser Periode der elektrodynamischen Theorie gab es zwei getrennte Bereiche: Elektrisch geladenen Teilchen
und magnetisch geladener Materie. Die jeweiligen Kräfte zwischen elektrischen Teilchen bzw. zwischen Magneten wurden getrennt untersucht.
Nach Etablierung des Atoms mit innerer Struktur als Grundbaustein der
makroskopischen Materie, und insbesondere nach Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie ist klar, dass magnetisches und elektrisches Feld
eine Einheit im elektromagnetischen Feld bilden. Es gibt keine magnetische
Materie. Es gibt ausschließlich elektrische Ladungen. Die Relativgeschwindigkeit zwischen Beobachter und Ladung entscheidet, ob ein elektromagnetisches Feld als elektrisch oder als magnetisch interpretiert wird oder ob
beide Anteile vorhanden sind.
Die Vermessung der Kräfte durch die resultierenden Bewegungungen von
geladenen Teilchen in elektromagnetischen Feldern führte schließlich zur
Aufstellung der elektrodynamischen Theorie.
MAXWELL
schuf die vier
Gleichungen, die
seinen
Namen
tragen,
mittels
aberwitzigster
Motivationen. Insbesondere führte
er einen mechanistischen Äther
mit Wirbeln und
Rädern ein, der
seit 110 Jahren
wieder abgeschaft
ist. Überraschender Weise aber
konstituieren die
MAXWELLschen
Gleichungen die
am besten bestätigte Theorie der
Physik .
Die Grundgleichungen der Elektrodynamik sind die MAXWELLschen Gleichungen. Es wurde schnell erkannt, dass diese Gleichungen, die durch das
Studium von diskreten geladenen Teichen gewonnen wurden, auch die elektromagnetischen Vorgängen in kontinuierlichen Materialien beschreiben.
Dieser Bereich wird im Folgenden im Vordergrund stehen.
Die elektrische Ladung. Das Studium von Experimenten mit gewissen
Materialien hat die Existenz von elektrischer Ladung aufgezeigt. Obwohl
elektrische Ladungen besonders einfache Eigenschaften haben, ergab sich
zur Zeit ihrer Entdeckung noch ein verwirrendes Bild. Hauptsächlich, weil
der Aufbau der Materie aus Atomen noch nicht bekannt war. Heutzutage
ist das Schema der Natur in diesem Kontext aber sehr einfach.
Atome als Teilchen betrachtet sind elektrisch neutral, sie bestehen aber aus
positiv geladenen Kernen und einer gleich großen aber negativ geladenen
Ladungsmenge. Die Träger der negativen Ladungen sind die Elektronen,
64
welche die Hülle des Atomkerns bilden. Das einzelne Elektron ist Träger der
Elementarladung −e0 . Elektronen können weder erzeugt noch vernichtet
werden.
Atome können sich zu Molekülen oder direkt zu makroskopischen Materialien verbinden. Global gesehen sind die makroskopischen Körper ungeladen.
Jedoch können die in den Körpern enthaltenen positiven und negativen Ladungsbestandteile getrennt werden, so dass lokal eine der beiden Ladungssorten überwiegt. Auf der makroskopischen Skala gibt es im wesentlichen
drei Methoden der Ladungstrennung:
1. Durch Anwesenheit eines elektromagnetischen Feldes.
2. Durch Zerfall eines Körpers in elektrisch geladene Teilkörper, was
beispielsweise in einer wässrigen Lösung passieren kann.
3. Durch mechanische Reibung. Hierdurch lassen sich nämlich aus manchen Materialien die Elektronen der äußeren Atomhülle sehr einfach
entfernen und werden dabei auf den reibenden Körper übertragen.
Übung 3.1 Konsultiere ein Buch zur experimentellen Bestimmung der elektrischen Ladung.
a.) Erläutere die historischen Meßverfahren zur
Quantifizierung der Ladung eines Körpers. Beachte hierbei, dass die Ladung zunächst über eine
Kraftmessung und später über eine Strommessung
bestimmt wurde.
b.) Erläutere das historische Umfeld der Dimension der elektrischen Ladung. Beschreibe insbesondere den Unterschied zwischen der elektrostatischen und der elektrodynamischen Ladungseinheit, und stelle einen Zusammenhang zu der heutigen Ladungseinheit COULOMB her.
Dies alles fassen wir noch einmal zusammen.
65
Die Eigenschaften der elektrischen Ladung:
1. Ein Körper kann neben seiner Masse eine elektrische Ladung besitzen.
2. Es gibt zwei unterschiedliche Sorten von elektrischer Ladung.
3. Die elektrische Ladung ist charakterisiert durch einen Betrag und
ein Vorzeichen. Wir sprechen deshalb von positiver und negativer
elektrischer Ladung.
4. Der Betrag einer elektrische Ladung ist immer ein ganzzahliges Vielfaches einer Grundladung, die wir Elementarladung nennen. In modernen Einheiten hat die Elementarladung den Wert
e0 = 1.602 10−19 COULOMB (C),
(3.1)
wobei ein COULOMB gleich einer AMPERE×Sekunde ist, also 1
C=1 As.
5. Ein ungeladener Körper hat gleiche Mengen an positiven und negativen Ladungen.
6. Die elektrische Ladung eines Körpers ist eine additive Größe.
7. Die Ladung eines abgeschlossenen Körpers ist eine Erhaltungsgröße.
Sie kann weder erzeugt noch vernichtet werden, sondern kann nur
von einem Ort zu einem anderen Ort fließen.
Die elektromagnetische Kraft. Ein elektrisch geladenes Teilchen erfährt
eine elektromagnetische Kraft K, welche durch andere Teilchen erzeugt
wird. Das Teilchen selbst ist aber auch Erzeuger einer solchen Kraft.
Zur Vermessung der Kraft ist es nützlich die beiden Phänomene zu trennen.
Zu diesem Zweck wird ein sogenanntes Probeteilchen eingeführt. Hierunter
verstehen wir ein kleines Teilchen, d.h. ein Massepunkt, mit Masse m und
Ladung ze0 , dessen erzeugtes Kraftfeld vernachlässigt werden kann.
Die Vermessung der Kraft geschieht über die Vermessung der Bewegung
x(t) des Probeteilchens in einem elektromagnetischen Feld. Für kleine Geschwindigkeiten des Probeteilchens relativ zum felderzeugenden Körper gilt
die NEWTONsche Bewegungsgleichung
m
d2 x
= K.
dt2
66
(3.2)
Durch experimentelle Auswertung der linken Seite dieser Gleichung läßt
sich dann eine Darstellung der elektromagnetischen Kraft gewinnen. Es
hat sich herausgestellt, dass das Kraftfeld aus zwei Anteilen von unterschiedlicher Struktur besteht:
K = ze0 (E(t, x) +
dx
× B(t, x)).
dt
(3.3)
Diese Kraft heißt LORENTZ Kraft und die hier auftretenden neuen Größen
haben die Namen
• E - elektrische Feldstärke
• B - magnetische Flussdichte oder magnetische Induktion
Aufgrund der bereits vorhandenen Einheiten von Kraft und Ladung, NEWTON (N) bzw. COULOMB (C), liegen die Einheiten der elektromagnetischen Felder fest:
[E] =
V
N
=
C
m
und [B] =
N
Vs
= 2,
Cm/s
m
Hendrik Antoon
Lorentz besaß bereits vor Einstein
die formale Struktur der speziellen
Relativitätstheorie. Fast alle seine
Resultate
aber
interpretierte er
falsch .
(3.4)
wobei meistens die Einheit VOLT (V) anstelle von Nm/C genommen wird.
Der Betrag der Geschwindigkeit des Probeteilchens wird ausschließlich von
der elektrischen Feldstärke geändert. Über das Magnetfeld kann nur die
Richtung der Geschwindigkeit geändert werden kann. Durch skalare Multiplikation der Bewegungsgleichung mit der Geschwindigkeit folgt nämlich
m d dx 2
dx
( ) = ze0
· E.
2 dt dt
dt
(3.5)
Als nächstes betrachten wir den Spezialfall wo das felderzeugende Teilchen
mit der Ladung z1 e0 die gleiche Größenordnung wie das Probeteilchen hat.
Falls außerdem kein Magnetfeld vorliegt, dann zeigen Messungen bei kleinen Relativgeschwindigkeiten der beiden Teilchen das einfache Gesetz
K=f
ze0 z1 e0
r,
r3
also E = f
z1 e0
r.
r3
(3.6)
Hier ist r der Abstandsvektor der beiden Teilchen. Die Größe f stellt sich
als eine Naturkonstante heraus. Im hier verwendeten Einheitensystem gilt
f = 9 109 Vm/C. Die Kraft (3.6)1 heißt COULOMB Kraft.
67
Charles Augustin
de Coulomb war
ein
unglaublich
vielseitiger
Forscher,
wie
er
heute nicht mehr
angetroffen wird .
Zur Illustration der möglichen Bahnkurven eines geladenen Probeteilchens
in vorgegebenen elektromagnetischen Feldern, betrachten wir zwei Beispiele.
Übung 3.2 Ein Probeteilchen mit Masse m und elektrischer
Ladung e bewegt sich in einem konstanten homogenen Magnetfeld B = (0, 0, B). Zerlege die Geschwindigkeit des Teilchens in Komponenten parallel und senkrecht zu B, d.h. υ = υ || + υ ⊥ .
a.) Zeige, dass gilt
υ || = konstant und |υ ⊥ | = konstant.
(3.7)
b.) Leite eine Beziehung her zwischen dem Krümmungsradius der Bahnkurve und |υ ⊥ |. Diskutiere
die Bewegung.
Übung 3.3 Ein Probeteilchen mit Masse m und elektrischer
Ladung e bewegt sich in einem konstanten homogenen elektromagnetischen Feld (E, B).
a.) Betrachte zunächst nur eine Komponente E ||
parallel zu B und gib die Bahnkurve an.
b.) Nimm an E · B = 0. Zeige, dass sich das Problem über den Ansatz
υ = υE + υ1
mit υ E =
E×B
B2
(3.8)
reduzieren läßt auf das Problem
mυ̇ 1 = eυ 1 × B.
(3.9)
c.) Berechne die Bahnkurve und erläutere das Resultat.
Beschreibung der elektrischen Ladung von kontinuierlichen Körpern. In dieser Vorlesung über Kontinuumsphysik haben wir bisher nur
1-Stoff-Systeme behandelt. Kontinuierliche Körper mit elektrischen Ladungen sind aber grundsätzlich Mehr-Stoff-Systeme. Zur Illustration betrachten wir drei Beispiele.
68
Ein Kuperdraht besteht aus einem festen Kristallgitter, welches von positiv
geladenen Kupferionen (Cu+ ) gebildet wird. In dieser Umgebung gibt es
die leicht beweglichen (Leitungs-) Elektronen (e− ). Kupfer ist also ein 2Stoff-System.
Eine metallische Siliziumschmelze (Si) besteht aus positiv geladenen Siliziumatomen Si+ und Elektronen e− . Auch hier haben wir es mit einem
2-Stoff-System zu tun.
Wenn wir Kochsalz (NaCl) in Wasser (H2 O) geben, zerfällt das Salz in seine
geladenen Bestandteile Na+ und Cl− . Der Gesamtkörper besteht also aus
drei Komponenten: Ungeladenes Wasser, positiv geladene Natriumionen
und negativ geladene Clorionen. Dieser Körper heißt Elektrolyt und ist ein
3-Stoff-System.
Die Ladungen der drei Beispiele werden wir in Zukunft freie Ladungen (F)
nennen. Es gibt aber noch einen weiteren Ladungstyp. Dieser ist fest an die
neutralen Atome bzw. neutralen Moleküle gebunden und heißt Polarisationsladung (P). Beispielsweise kann es passieren, dass sich der Atomkern
aufgrund eines äußeren elektrischen Feldes gegen seine Hülle verschiebt.
Dadurch gibt es im Atom zwei getrennte Ladungszentren mit unterschiedlichem Vorzeichen. Es ist ein Dipol entstanden. Auf der Längenskala der
Atome gibt es also neue Ladungen, die makroskopisch als sogenannte Polarisationsladung in Erscheinung treten. Im gleichen Kontext gibt es weitere
Phänomene.
Als nächstes widmen wir uns der mathematischen Beschreibung von Ladungen in einem kontinuierlichen Körper. Hierzu betrachten wir ein Gebiet Ω ⊂ 3 mit einer Mischung von N eventuell geladenen Komponenten
A1 ,A2 ,...,AN . Die Komponenten indizieren wir durch griechische Buchstaben α, β, ... ∈ {1, 2, ..., N }. Die kleinsten Teilchen der Komponenten haben
Massen mα und Ladungen zα e0 mit zα ∈ {... − 2, −1, 0, 1, 2, 3...}.
Auf der Skala der Kontinuumsphysik werden die Komponenten charakterisiert durch Teilchenzahldichten nα und Geschwindigkeiten υ α . Diese
Grundgrößen sollen Felder sein, d.h. sie sind gegeben durch Funktionen von
Zeit und Raum: nα : t ∈ [0, ∞) × x ∈ Ω → + und υ α : t ∈ [0, ∞) × x ∈
Ω→ .
Aus den Grundgrößen bilden wir die Massen- und freie Ladungsdichten der
Komponenten,
ρ α = mα nα
und nFα = e0 zα nα .
(3.10)
Die entsprechenden Massenstromdichten und freie elektrischen Stromdich69
ten sind
j α = mα nα υ α
und j F α = e0 zα nα υ α .
(3.11)
Massendichte und freie Ladungsdichte der Mischung werden definiert durch
ρ=
N
X
ρα
F
und n =
α=1
N
X
nFα .
(3.12)
α=1
Ferner definieren wir die baryzentrische Geschwindigkeit der Mischung, sowie die Diffusionsgeschwindigkeiten der Komponenten durch
ρυ =
N
X
ρα υ α
und uα = υ α − υ
α=1
⇒
N
X
ρα uα = 0.
(3.13)
α=1
Die oben beschriebene Polarisationsladung wird ebenfalls durch eine Ladungsdichte und eine Stromdichte beschrieben. Für diese Dichten führen
wir zunächst nur neue Symbole ein, nämlich nP für die Dichte der Polarisationsladung und j P für die Polarisationsstromdichte. Später werden wir
die hinter diesen Symbolen liegende Struktur genauer untersuchen.
Schließlich sind dann die gesamte Ladungsdichte ne und die gesamte Stromdichte gegeben durch
n e = nF + nP
und j e = j F + j P .
(3.14)
Bilanzgleichungen für die Partialmassen der Mischung. Wir betrachen ein Volumen Ω, dessen Oberfläche ∂Ω sich mit der Geschwindigkeit w
bewegt. Für eine in Ω glatte Massendichte mα nα lautet die Bilanzgleichung
I
Z
Z
d
mα nα dx = − mα nα (v α − w) · nda + rα dx.
(3.15)
dt
Ω
Ω
∂Ω
Die anschauliche Bedeutung der hier durchgeführten Bilanzierung ist offensichtlich: (i) Durch eine Fläche mit Flächennormale n und Geschwindigkeit w, treten Teilchen der Komponente α mit der Relativgeschwindigkeit
(v α − w) · n. (ii) Das Volumenintgral auf der rechten Seite von (3.15) beschreibt die Produktion von Masse der Komponente α durch chemische
Reaktionen in Ω. Die Größe rα heißt Massenproduktionsdichte mit der
Einheit kg/s m3 .
Das Gebiet Ω wird jetzt durch eine singuläre Fläche I mit Eigenleben in
zwei Teile Ω+ und Ω− zerlegt. Hierbei wird auf ∂Ω eine Linie ∂I generiert.
70
Die entsprechende Bilanzgleichung für die Masse der Komponente α lautet
dann
Z
Z
Z
Z
d
mα nα dx + mα nI,α da) = rα dx + rI,α da +
(
dt
Ω
I
Ω
I
I
I
−
mα nα (v α − w) · nda − mα nI,α (v I,α − w) · eda. (3.16)
∂Ω
∂I
Hier bezeichnen: nI,α - Flächenmassendichte, rI,α - Flächenproduktionsdichte, v I,α - tangentiale Geschwindigkeit. Das Linienintegral repräsentiert
den Massenfluß tangential zur Fläche I und normal zum Rand ∂I. Entsprechend ist e ein Tangentialvektor welcher Normal auf ∂I steht. Für die
Details der geometrischen Verhältnisse konsultiere die Abbildungen I-3.5,
I-3.6 und I-2.6.
Herkunft der elektromagnetischen Gleichungen. In den nächsten
Paragraphen werden wir das System der Gleichungen für das elektromagnetische Feld (E, B) aufstellen. Dieses System basiert auf zwei Erhaltungssätzen:
• Erhaltung der elektrischen Ladung
• Erhaltung des magnetischen Flusses
Die Bilanzgleichung der elektrischen Ladung. Die Gesamtladung unserer Mischung ist eine Erhaltungsgröße. Sie kann im Gebiet Ω kann weder
erzeugt noch vernichtet werden. Für eine im ganzen Gebiet Ω glatte Ladungsdichte ne läßt sich der Erhaltungssatz der elektrischen Ladung deshalb schreiben:
Z
I
d
e
n (t, x)dx = − (j e − ne w) · nda.
(3.17)
dt
Ω
∂Ω
Falls das Gebiet Ω durch eine singuläre Fläche I in zwei Teile Ω+ und
Ω− zerlegt wird, und falls es auf I eine elektrische Flächenladungsdichte
neI : t ∈ [0, ∞) × x ∈ I → + nebst zugehöriger Flächenstromdichte jIe
gibt, dann lautet der Erhaltungssatz der elektrischen Ladung
Z
Z
d
e
( n (t, x)dx + neI (t, x)da) =
dt
Ω
I Ω
I
(3.18)
− (j e − ne w) · nda − (jIe − neI w) · eda.
∂Ω
∂I
71
Wir sind nun natürlich auch an den lokalen Versionen der Bilanzgleichung
für die elektrische Ladung interessiert. Zunächst betrachten wir aber nur
eine singuläre Fläche ohne Eigenleben. Dann folgt mittels der Transporttheoreme für Volumina und Flächen aus Teil I dieser Vorlesung, sowie der
dort ausführlich behandelten Argumente die
Lokale Darstellung der Ladungserhaltung:
∂ne
+ div(j e) = 0 in Ω,
∂t
(3.19)
Auf einer Fläche I ohne Eigenleben mit Normalgeschwindikkeit wν haben
wir
(3.20)
−wν [[ne ]] + [[j e]] · ν = 0.
Die Erhaltung des magnetischen Flusses. Dieses Phänomen folgt aus
einem bemerkenswert einfachen Experiment.
Abbildung 3.1: FARADAYs Experiment: Eine Drahtschleife bewegt sich in
einem magnetischen Feld.
Wird eine geschlossene Drahtschleife in einem gegebenen Magnetfeld B
mit der Geschwindigkeit W bewegt, so entsteht während der Bewegung
im Draht ein elektrisches Feld E, welches einen Strom elektrisch geladener
Ladungsträger (Elektronen) erzeugt. Das in diesem Experiment gefundene
Gesetz heißt
FARADAYsches Induktionsgesetz (Experimentelle Version):
Z
I
d
B · nda = −
(E + W × B) · τ ds.
(3.21)
dt
A(t)
∂A(t)
Bemerkung zur Historie: Nach 9 Jahren vergeblicher Suche fand FARADAY dieses Gesetz im Jahr 1831. Die experimentelle Realisierung des FA72
RADAYschen Induktionsgesetzes ist allerdings kombiniert mit dem sogenannten OHMsche Materialgesetz: Damit in einem elektrischen Leiter ein
Strom I fließt, muss eine Spannung U anliegen. Nach OHM gilt U = RI, wo
R eine Materialkonstante für den verwendeten Leiter ist. In seiner Urform
wurde deshalb das FARADAYsche Induktionsgesetz als materialabhängiges
Gesetz geschrieben:
Z
d
RI = −
B · nda.
(3.22)
dt
A(t)
Erst nach einiger Zeit wurde klar, dass der elektrische Leiter aus Abbildung 3.1 zur Gültigkeit von (3.21) nicht notwendig ist. Aber wegen seiner
Bedeutung im Zusammenhang mit bewegten elektrischen Leitern hat das
Linienintegral in (3.21) einen eigenen Namen bekommen und heißt
Elektromotorische Kraft:
I
(E + W × B) · τ ds.
E=
(3.23)
∂A(t)
Übrigens: Die Geschwindigkeit W ist die Geschwindigkeit des Leiters bezogen auf den felderzeugenden Magnet. Auf die hiermit zusammenhängende
Problematik kommen wir noch ausführlich zurück.
Übung 3.5 Ein quadratischer Rahmen aus Kupfer mit der
Kantenlänge l = 1m und dem Kupferquerschnitt
A = 10−5 m2 wird mit der Geschwindigkeit W =
10m/s unter einem rechten Winkel in ein konstantes Magnetfeld B = 1Vs/m2 hineingeschoben. Für
Kupfer gilt das OHMsche Materialgesetz zwischen
Spannung und Strom U = RI und die Leistung ist
L = U I. R = A/(4lσ) heißt Widerstand, und σ ist
die spezifische Leitfähigkeit von Kupfer.
Berechne die entstehende Spannung sowie die notwendige Kraft, die benötigt wird, den Rahmen in
das Magnetfeld zu schieben.
Als nächstes betrachten wir strömende Materie mit dem Geschwindigkeitsfeld υ(t, x). Wir übertragen das FARADAYsche Induktionsgesetz per Postulat auf eine materielle Fläche in dieser Strömung. Die Fläche A(t) mit
Normalenvektor n soll offen sein und hat den Rand ∂A(t). Diesem ist ein
73
Tangentenvektor τ zugeordnet.
Abbildung 3.2: Materielle Fläche zur Formulierung des Induktionsgesetzes
FARADAYsches Induktionsgesetz (Postulat):
Z
I
d
B · nda = −
(E + υ × B) · τ ds,
dt
A(t)
(3.24)
∂A(t)
woraus für eine geschlossene Fläche folgt
I
d
B · nda = 0.
dt
(3.25)
A(t)
Ein Magnetfeld läßt sich abschalten, und darum folgt aus (3.25)
I
B · nda = 0.
(3.26)
A(t)
Wir können das FARADAYsche Induktionsgesetz als Bilanzgleichung interpretieren. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die bereits behandelten Bilanzgleichungen die Größen Masse, Impuls, Energie und elektrische Ladung an einem gegebenen Volumen bilanzieren. Dagegen wird im
FARADAYsche Induktionsgesetz eine Größe auf einer gegebenen Fläche
bilanziert. Wir sagen: Der Fluß
Z
B · nda
(3.27)
Φ=
A(t)
des magnetischen Feldes durch eine beliebige offene Fläche A(t) kann nicht
74
durch Quellen auf A(t) verändert werden, sondern nur durch einen Randfluß auf ∂A(t).
Transporttheoreme für Flächenintegrale. Zur Aufstellung der lokalen
Versionen der magnetischen Flußerhaltung benötigen wir ein Transporttheorem für Flächen. Im Teil 1 dieser Vorlesung haben wir bereits Transportheoreme für Volumina kennengelernt. Auch ein Transportheorem für
Flächen kennen wir aus Teil 1. Aber nur für Funktionen, die ausschließlich
auf der Fläche leben. Die hier vorliegende Situation ist anders, denn das
Magnetfeld ist im ganzen Raum 3 definiert, und nicht nur auf der Fläche
A(t) ⊂ 3 .
Wir betrachten ein Feld B : t ∈ [0, ∞) × x ∈ 3 → 3 und das Integral
(3.27) über eine Fläche A(t), die sich mit der Geschwindigkeit W durch
den 3 bewegt. Siehe hierzu die Abbildung 3.2. Es gilt dann das
Transporttheorem für Flächenintegrale:
Z
Z
I
∂B
d
B ·nda =
(
(B ×W )·τ ds. (3.28)
+W div(B))·nda+
dt
∂t
A(t)
A(t)
∂A(t)
Für materielle Flächenhaben wir W = υ. Hier können wir den Beweis mittels der Umrechnung von EULER- auf LAGRANGE- Koordinaten durchführen. Mit Hilfe des Deformationsgradienten F und der bekannten Formel
−1
dai = J Fji dAj wird zunächst das zeitabhängige aktuelle Flächenelement
auf ein Flächenelement in der Referenzkonfiguration zurückgeführt. Außerdem wird der Integrand mit Bezug auf diese Referenzkonfiguration angegeben. Nach dieser Aktion ziehen wir die Zeitableitung unter das Integral
und rechnen das Resultat (3.28) nach bekannten Regeln formal aus.
Für nichtmaterielle Flächen ist der Beweis schwieriger. Manche Größen,
wie beispielsweise die Flächengeschwingigkeit W , sind dann nämlich nur
auf der Fläche definiert und müssen geeignet in den einbettenden Raum
fortgesetzt werden. Die hiermit zusammenhängende Problematik ignorieren
wir in dieser Vorlesung.
Übung 3.6 Beweise das Transportheorem (3.24) für materielle
Flächen und orientiere dich an den entsprechenden
Aufgaben aus Teil I dieser Vorlesung.
Etwas komplizierter wird es, falls A(t) durch eine singuläre Fläche I(t)
in zwei Teile gemäß A = A+ ∪ A− aufgeteilt wird. Die singuläre Fläche
75
I(t) hat die Flächennormale ν und bewegt sich mit der Geschwindigkeit
w durch den Raum. Hierbei wird auf A(t) eine singuläre Linie L(t) mit
Tangente t und Geschwindigkeit w generiert. Wie üblich vereinbaren wir,
dass A+ auf der Seite liegt, wo ν hinzeigt.
Abbildung 3.3: Eine singuläre Fläche I teilt eine materielle Fläche A durch
Generierung einer singulären Linie L in zwei Teile.
Für diese Situation gibt es ein
Transportheorem für Flächen bei Vorhandensein einer singulären Linie:
d
dt
Z
A+ (t)∪A− (t)
B · nda =
Z
∂B
+ W div(B)) · nda +
(3.29)
∂t
A+ ∪A−
I
I
(B × W ) · τ ds − ([[B]] × w) · tds
(
∂A+ \L∪∂A− \L
L
Lokale Version der magnetischen Flußerhaltung. Mit Hilfe der beiden Transporttheoreme (3.28) und (3.29) ist es eine leichte Aufgabe, die
Aussagen (3.24) und (3.26) des globalen FARADAYschen Induktionsgesetzes, in die entsprechenden lokalen Formen zu bringen. Wir betrachten
zunächst den Fall ohne singuläre Linie, und eliminieren die Zeitableitung
in (3.24) über das Transportheorem (3.28). Auf das Linienintegral wenden
wir den Satz von STOKES an, siehe (I-2.11), so dass wir mit einem Flächenintegral über eine beliebige Fläche enden, welches Null ist. Es folgt,
dass dann auch der Integrand null sein muss. Die Ausage (3.26) formen wir
76
mit dem Satz von GAUSS um, siehe (I-2.6), und schließen analog. Es folgt
das
Lokale FARADAYsche Induktionsgesetz in regulären Punkten:
∂B
+ rot(E) = 0 und div(B) = 0.
∂t
(3.30)
Als nächstes geben wir die entsprechenden Gesetze in singulären Punkten
an. Die singuläre Version von (3.30)1 beschreibt den Übergang an einer
singulären Linie, die eine Fläche in zwei Teile teilt, wie in Abbildung 3.3
illustriert. Dagegen ist die globale Form des Gesetzes (3.30)2 über den Satz
von GAUSS durch Volumenintegral darstellbar. Folglich beschreibt dessen
singuläre Version den Übergang an einer Fläche, welche ein Volumen in
zwei Teile teilt.
Es gilt das
Lokale FARADAYsche Induktionsgesetz in singulären Punkten:
−wν [[B]] + ν × [[E]] = 0 für x ∈ L(t).
(3.31)
[[B]] · ν = 0 für x ∈ I(t).
(3.32)
sowie
Der Beweis bringt keine neuen Einsichten, und deshalb wird er hier unterdrückt. Der Leser sollte trotzdem versuchen, die entsprechenden Schritte
in Analogie zu den bereits mehrfach in dieser Vorlesungen aufgeführten
Argumenten aufzuschreiben.
Zwischenzusammenfassung. Wir haben bisher zwei Erhaltungssätze kennengelernt: Den Satz von der Erhaltung der elektrischen Ladung und den
aus zwei Teilen bestehenden Satz von der Erhaltung des magnetischen Flusses. Beispielsweise haben wir also in regulären Punkten
∂ne
+ div(j e) = 0 und
∂t
∂B
+ rot(E) = 0,
∂t
div(B) = 0.
(3.33)
Weitere Erhaltungsgleichungen, die unabhängig sind von (3.33)-(??) und
deren singulären Versionen, kennt die Elektrodynamik nicht.
Wir haben somit unser Ziel, die Berechnung des elektromagnetischen Feldes
(E, B) aus vorgegebenen Ladungs- und Stromverteilungen, noch nicht erreicht. Denn offensichtlich benötigen wir hierzu noch Materialgleichungen,
welche die in (3.33) auftretenden Felder verknüpfen. Deren Formulierung
basiert auf einem bedeutsamen Zwischenschritt, der jetzt folgt.
77
Ladungspotential und Strompotential. Aus der Erhaltungsgleichung
(3.33) für die elektrische Ladung können wir eine weitere Flächenbilanz
herleiten. Die Gleichung (3.33) kann nämlich durch Einführung von zwei
neuen Größen identisch erfüllt werden.
Darstellung von Ladung und Strom durch Potentiale in regulären Punkten:
ne = div(D) und j e = −
∂D
+ rot(H).
∂t
(3.34)
Die Funktion D : t ∈ [0, ∞) × x ∈ 3 → 3 heißt Ladungspotential, und
H : t ∈ [0, ∞) × x ∈ 3 → 3 ist das Strompotential.
Die Behauptung folgt unmittelbar durch Einsetzen von (3.34) in die lokale
Ladungserhaltung (3.33).
Wir erkennen durch Vergleich mit der Argumentation zum FARADAYschen Induktionsgesetz, dass die Darstellungen (3.34) die lokalen Versionen
von globalen Bilanzgleichungen in regulären Punkten sind.
Aus diesen globalen Bilanzgleichungen, die wir hier aber nicht weiter besprechen, folgt die
Darstellung von Ladung und Strom durch Potentiale in singulären Punkten:
+wν [[D]] + ν × [[D]] = j eI
für x ∈ L(t).
(3.35)
sowie
[[D]] · ν = neI
für x ∈ I(t).
(3.36)
Wir haben diese Zusammenhänge hier nur der Vollständigkeit wegen angegeben. Benutzen werden wir sie in dieser Vorlesung nicht, und darum
verzichten auf den Beweis.
Einige Bemerkungen zum Schluß dieses Abschnittes. Die Gleichungen für
die Felder D und H wurden historisch mittels vollkommen anderer Argumentationsketten gefunden als soeben beschrieben. Deshalb heißen D und
H historisch auch nicht Ladungs- und Strompotential, sondern stattdessen
• D - elektrische Induktionsdichte
• H - magnetische Feldstärke
Aus den Gleichungen (3.35) und (3.36) lesen wir als Einheiten für D und
78
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