1. Vergangenheit und Gegenwart: eine soziologische Definition des Gedächtnisses Das erste Charakteristikum eines jeden Gedächtnisses liegt in seiner Doppelstruktur: Es ist einerseits ein Ensemble von Erinnerungen und von Bildern; es ist andererseits aber auch ein Gesamtkomplex von Repräsentationen, die mit Werten und Verhaltensnormen verknüpft sind. Der Übergang von der ersten Ebene auf die zweite vollzieht sich jedoch nicht immer automatisch. Natürlich kann man sich, wenn es sich um das eigene Familiengedächtnis handelt, an die Ratschläge erinnern, die uns unsere Mutter für unseren ersten Schultag gegeben hat, an die Lehren, die uns unser Großvater so gerne erteilt hat, wenn er uns auf den Schoß nahm, an die Leitsätze, mit denen Onkel Robert bei Familientreffen seine Reden schmückte, oder an die Prinzipien, die uns unser Vater einschärfte, wenn wir zusammen auf die Jagd nach Schmetterlingen gingen. Diese verschiedenen Ereignisse aus unserer Vergangenheit werden so direkt mit Normen und Werten verbunden. Ebenso oft jedoch erinnert man sich nur noch an die Bilder, die mit diesen Ereignissen zusammenhängen: an unsere Mutter, wie sie uns an der Hand nahm, und an unsere Tränen, weil wir sie verlassen mussten; an den faszinierenden Nippes, der Großvaters Schreibtisch zierte, an Onkel Robert, der an sein Glas schlug, weil er um Ruhe bitten wollte, an einen wunderschönen Sommertag, an dem wir in unserem Netz einen riesigen Käfer fingen, der uns Angst machte. Mit Hilfe der Sprache, die die Inhalte des Gedächtnisses weitergibt, eröffnen diese Bilder – ebenso wie die Gerüche und die Gefühle, die sie begleiten – jedoch den Zugang zu dieser Welt der Bedeutungen, die sie widerspiegeln. Tatsächlich präsentiert derjenige, der die Vergangenheit erzählt, durch die Wahl seiner Worte, durch die Verknüpfungen, die er zwischen seinen Erinnerungen herstellt, durch ihre Anordnung in einem mehr oder weniger kohärenten Bericht sehr viel mehr als Fotografien, Stimmungen, Gerüche, Gefühle, Personen, Ereignisse ... Er beschreibt eine bestimmte Weltanschauung. Auch die Wörter sind nicht neutral. Aber muss man daran wirklich erinnern? Wörter sind Begriffe, die stark durch sich selbst und durch ihre Anordnung dazu beitragen, die Wirklichkeit zu strukturieren und ihr Sinn zu verleihen. Und genau von dieser Feststellung geht Halbwachs bei der Entwicklung seiner Theorie des kollektiven Gedächtnisses aus. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2002 15 1.1 Der Begriff »kollektives Gedächtnis« 1.1.1 Die Theorie von Maurice Halbwachs In dem ersten Werk, das sich jemals mit der soziologischen Analyse des Gedächtnisses beschäftigte – Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925) – widmet Halbwachs diesem Charakteristikum der Sprache tatsächlich einen bedeutenden Teil seiner Anstrengungen. Er betont, dass die Wörter nicht einfach nur abstrakte Begriffe, leere Formen sind. Für das Individuum, das sie gebraucht, sind sie immer auch konkrete Repräsentationen der Wirklichkeit. So sind, sagt er zum Beispiel, die Begriffe, die mit der Familie zusammenhängen – Vater und Mutter, Sohn und Tochter... – sehr wohl allgemeine Begriffe, die miteinander unter dem Dach eines kohärenten Ganzen, dem System der Verwandtschaftsbeziehungen verbunden sind. Diese bezeichnen ein Ensemble von gesellschaftlich definierten sowie kulturell und geschichtlich determinierten Rechten und Pflichten, das heißt, ein Ensemble von festlegten Rollen in der Familie. Dies allerdings sind nicht die Begrifflichkeiten des Autors. Aber, so fährt er fort, mit diesen Rahmen sind für die Mitglieder einer jeden Familie auch präzise Bilder von Personen mit individuellen Charaktereigenschaften, Vorzügen und Fehlern verknüpft. So ist im Geist eines jeden die Form mit einer Repräsentation verbunden. Natürlich, stellt Halbwachs klar, ist die eine oder andere Seite den jeweiligen Umständen entsprechend stärker oder schwächer ausgeprägt. Im Falle eines Erbschaftsstreits zum Beispiel treten die allgemeinen Kategorien in den Vordergrund. Im täglichen Leben jedoch stehen die Individuen im Mittelpunkt. Aber, so fügt er hinzu, die beiden Blickwinkel sind untrennbar miteinander verbunden. In Wirklichkeit werden sie oft miteinander verwechselt. Denn wenn man zu sehr die persönlichen Beziehungen auf Kosten der Verwandtschaftsbeziehungen betont, läuft man Halbwachs zufolge Gefahr, die Familie als Ganzes mit ihren spezifischen Eigenheiten ganz einfach aus den Augen zu verlieren. Wenn man jedoch die Verwandtschaftsbeziehungen auf Kosten der persönlichen Beziehungen aufwertet, wird das Leben innerhalb der Familie schwieriger. Aber – und das ist wichtig für die Argumentation, die zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses führt – die Inhalte sind nicht enger an die Person gebunden als die sie enthaltenden Formen. Diesem Gedanken widmet Halbwachs die ersten beiden Kapitel seines Werkes von 1925. Um ihn zu untermauern, geht er von einer detaillierten Analyse des 16 Aus: Josette Coenen-Huther – Das Familiengedächtnis Traums aus. Ein Mensch, der gerade eingeschlafen ist, sagt er, ist alleine mit sich selbst. Er ist abgeschieden von der Welt und seinesgleichen und demnach auch von den herrschenden sozialen Konventionen. Seine Träume reflektieren und belegen diesen Zustand fehlender Ordnung. Natürlich bestehen die Träume aus Elementen, die der Träumende erlebt hat, aber die Anordnung dieser Elemente gehorcht nicht der gesellschaftlichen Logik. Es sind zusammengewürfelte, heteroklite Bauwerke, deren Konstruktionspläne Freud in seinem Buch Die Traumdeutung dargelegt hat. Mit diesem Buch hat sich Halbwachs intensiv auseinandergesetzt. In ihrer Gesamtheit entsprechen diese Montagen keiner Wirklichkeit. Das heißt: der Schlafende verfügt über die Primärinstitution Sprache und damit auch über die Fähigkeit, Dinge zu benennen und Formen wieder zu erkennen. Dafür hat er den Inhalt und die Grammatik ihrer Gedankenverknüpfungen verloren. Vor allem verfügt er im Schlaf nicht mehr über diese grundlegenden gesellschaftlichen Rahmungen, die seine Zeitgenossen (re)produzieren, indem sie Raum und Zeit strukturieren. Halbwachs zeigt, dass man also Traum und Erinnerungen nicht gleichsetzen kann. Erinnerungen umfassen eine Vielzahl von Bildern, die mit sozialen Repräsentationen verbunden und entsprechend der in der Wirklichkeit vorherrschenden Logik strukturiert sind. Im Gegensatz zu den Träumen, schreibt der Autor, können die Erinnerungen also nicht außerhalb von kollektiven Rahmen existieren. Folglich hat diese Behauptung in seiner Theorie eine doppelte Bedeutung. Zunächst strukturieren die sozialen Konventionen und die Traditionen, die von den verschiedenen Gruppen gepflegt werden, die Wahrnehmung selbst. »Das heißt, dass wir in Wirklichkeit niemals alleine sind. Es ist nicht notwendig, dass andere, die sich von uns materiell unterscheiden, anwesend sind: Denn wir tragen eine Vielzahl von Personen mit uns und in uns ...« (1950:2, posthum). »Nehmen wir an,«, fährt er fort, »dass ich alleine spazieren gehe. Wird man behaupten, dass ich an diesen Spaziergang nur ganz individuelle Erinnerungen haben kann, die nur mir gehören? Doch ich bin nur scheinbar allein spazieren gegangen. Als ich an Westminster vorbeikam, habe ich an das gedacht, was mir mein Freund, ein Historiker, darüber erzählt hat (oder was ich darüber in einem Geschichtsbuch gelesen habe, was allerdings aufs Gleiche rauskommt). Als ich eine Brücke überquerte, habe ich mir Gedanken über den perspektivischen Effekt gemacht, auf den mich mein Freund, ein Maler, aufmerksam gemacht hat (oder der Effekt, der mir auf einem Bild oder in einer Gravur ins Auge gesprungen ist) ...« (ebd.:3). © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2002 17 Aber da ist noch mehr, behauptet Halbwachs: die Erinnerungen können nur mit Hilfe dieser gleichen gesellschaftlichen Muster fortbestehen. Ihm zufolge wird die Vergangenheit tatsächlich nicht unverändert in dem Gedächtnis gespeichert: man erlebt sie nicht noch einmal, man rekonstruiert sie. Folgen wir dem Beispiel, das er anführt, um seine Theorie darzulegen. Wenn ich als Erwachsener wieder in einem Buch schmökere, das mir in meinen jungen Jahren viel Vergnügen bereitet hat, kann ich das Bewusstsein nicht wieder heraufbeschwören, das die Lektüre damals in mir hervorgerufen hat. Das heißt, meine Denkweise und meine Art, die Welt zu sehen, haben sich tiefgreifend verändert. Ich lese nicht mehr mit denselben Augen, und weil ich mich nicht in die Haut des Kindes, das ich damals war, zurückversetzen kann, bin ich nicht in der Lage, von neuem die Gefühle kennen zu lernen, die das Buch wachgerufen hat. Ich kann auch nicht die Identifikationen neu erleben, die es ausgelöst hat, und mich auch nicht aufs Neue den Träumereien hingeben, zu denen mich das Buch inspirierte ... Ich kann mich daran nur annähern, indem ich mich bemühe, durch meine Gedanken, aber auch mit Hilfe der Erinnerungen anderer den zeitlichen, örtlichen, kognitiven familiären Bezugsrahmen wiederzufinden, in dem das Kind lebte, als es dieses bestimmte Buch las. Nach Halbwachs kann man sich nur dann etwas ins Gedächtnis zurückrufen, wenn der Kontakt mit der Gruppe, an die die Erinnerung gebunden ist, aufrechterhalten blieb, wodurch auch die Denkmuster, in denen sich die Erinnerung herausgebildet hatte, fortbestehen konnten, oder aber wenn die Fähigkeit bewahrt wurde, sich mental in diese Denkmuster zurückzuversetzen. Auch wenn es »Individuen sind, die sich erinnern« (1950:33), auch wenn »jeder nach seiner Veranlagung und nach den Lebensumständen, in denen er sich befindet, ein Gedächtnis hat, das sich von allen anderen unterscheidet« (1925:196), und auch wenn sich die »Familienerinnerungen wie auf so vielen anderen unterschiedlichen Feldern in den Bewusstseinsstrukturen der verschiedenen Haushaltsmitglieder entwickeln ...« (ebd.:199), bezieht »jedes individuelle Gedächtnis auf diese Art einen Standpunkt gegenüber dem kollektiven Gedächtnis« (1950:33), ungeachtet der Tatsache, dass »sich dieser Standpunkt entsprechend dem Platz, den ich darin einnehme, verändert, und dass sich dieser Platz selbst verändert, und zwar in Abhängigkeit von den Beziehungen, die ich mit anderen Milieus unterhalte« (ebd.). Aufgrund dieser Tatsache, aber auch weil jeder Mensch mehreren Gruppen angehört, ähnelt ein individuelles Gedächtnis weder irgendeinem anderen noch schließt es irgendein kollektives Gedächtnis vollständig ein. 18 Aus: Josette Coenen-Huther – Das Familiengedächtnis Halbwachs stellt fest, dass diese Rekonstruktion, die immer mit einer Geistesanstrengung verbunden ist, nur unvollständig und nur eine Annäherung sein kann. Für ihn ergeben sich die Notwendigkeit der Rekonstruktion und deren nur auf Näherungswerten beruhender Charakter nicht ausschließlich aus der Tatsache, dass wir uns verändert haben, dass sich unser Leben in weiter gefassten und zahlreicheren Milieus vollzieht als in unserer Kindheit. Sie ergeben sich ebenso aus der Entwicklung der kollektiven Bezugsrahmen, mit denen die Erinnerung verbunden ist. Im Laufe der Zeit selektieren alle Gruppen nach Halbwachs das Vergangene. Dabei speichern sie nur einen kleinen Teil der zahlreichen Ereignisse und Personen, die ihre Geschichte ausgemacht haben, nämlich diejenigen, die sinnstiftend auf ihr gegenwärtiges Leben wirken, und aus denen sie Lehren dafür ziehen können. Aber auch die Gedächtnisse von Gruppen, sprich: die verschiedenen kollektiven Gedächtnisse, werden von der jeweiligen Umwelt beeinflusst. Halbwachs beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: neue Ideen und Konzepte entstehen, weil sich die Gesellschaft ändert, weil bis dato unbekannte Bedürfnisse auftauchen, die von der Gesellschaft in ihrem aktuellen Zustand nicht befriedigt werden können. Halbwachs zeigt dies am Beispiel der Begriffe, die den Adel begründet haben: Hierarchie, Erbfolge, Kriegstugenden, ritterliche Loyalität. Diese Begriffe mussten ihren Platz in dem Augenblick anderen überlassen, als die ökonomischen Bedingungen durch den aufkeimenden Kapitalismus hinfällig wurden. Wenn sich diese neuen Sichtweisen in Milieus auszubreiten beginnen, die »aufgrund verschiedener Umstände mehr oder minder stark unter dem Druck von Glaubensüberzeugungen aus vergangenen Zeiten« stehen (1925:395), entwickeln sich diese Sichtweisen allmählich und verbreiten sich auch in den anderen Gruppen, und zwar in einem Rhythmus, der von Gruppe zu Gruppe variiert, je nachdem wie stark die in der Gruppe hochgehaltenen Traditionen die Widerstandskraft prägt. So wandeln sich die kollektiven Gedächtnisse, wenn sie neue Gedanken aufnehmen und sie in neue Repräsentationen kleiden. Das heißt nach Halbwachs nicht, dass sie ihre Vergangenheit vollkommen ablehnen. Die kollektiven Gedächtnisse interpretieren die Vergangenheit neu. Und sie restrukturieren sie innerhalb des Rahmens, den die neuen Begriffe abstecken. Vergessen werden nur die Erinnerungen, die in keinem Zusammenhang mehr zu den Anforderungen der Gegenwart1 stehen. 1 Näheres zu diesem Prozess, siehe Halbwachs (1941). © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2002 19 Mit anderen Worten: die Art und Weise, wie man sich etwas ins Gedächtnis zurückruft, hängt wesentlich von der Gegenwart ab. Sie greift schon sehr früh ein, indem sie nämlich die Fragen formuliert, die an die Vergangenheit gestellt werden. Halbwachs sagt, dass es tatsächlich zwei Arten des Erinnerns gibt. Man kann etwas empfinden, zum Beispiel ein »déjà-vu-Gefühl«, und sich bemühen, die Ursache dieser Empfindung aufzuspüren. Aber, und das geschieht nach Halbwachs am häufigsten, man kann auch ein Zeitalter ins Gedächtnis rufen und dabei nach den Bildern suchen, die mit dem abstrakten Rahmen in Einklang stehen. So, schreibt Halbwachs, beschäftigen sich alte Leute deshalb mehr mit ihrer Vergangenheit als diejenigen, die mitten im Leben stehen, weil sie – frei von den Sorgen und Turbulenzen des Erwerbslebens – über mehr Zeit verfügen, und weil die Erinnerungsarbeit auch ihre Aufgabe ist. Dieser kurze Einblick in das Denken von Halbwachs hat nichts mit Exegese-Lust zu tun und auch nichts mit irgendeiner Art von Ahnenkult, schon gar nicht in Verbindung mit dem Erkenntnisgegenstand dieses Buches. Vielmehr hat seine Theorie in vieler Hinsicht ihren Wert bewahrt. Sie bietet außerdem wertvolle Forschungsansätze. Keinesfalls soll sie aber kritiklos übernommen werden. 1.1.2. Kritikpunkte und Vorbehalte Zunächst kann der Begriff »kollektives Gedächtnis« als solcher nicht einfach so übernommen werden. Gleichgültig ob man darunter die Summe der von Generation zu Generation überlieferten Erinnerungen versteht – die so eine Art gemeinsames Gedächtnis bildet – oder ob man auf diesen Begriff zurückgreift, um die Summe der Werke aus der Vergangenheit zu bezeichnen, die – als historisierende Bücher einer bestimmten Zeit – mit uns direkt kommunizieren: dieser Ausdruck kann nie nur eine Metapher sein, denn es handelt sich streng genommen um ein Gedächtnis. Halbwachs selbst war sich offenbar dieses Problems bewusst, als er 1925 schrieb: »Es ist natürlich, dass wir der Auffassung waren, die Gruppe besitze die Fähigkeit, sich zu erinnern (...) Das ist keine Metapher.« (S. 199, von mir hervorgehoben). In dem Werk, das nach seinem Tod veröffentlicht wurde (1950:35) liest man: »Man hat sich noch nicht daran gewöhnt, vom Gedächtnis einer Gruppe zu sprechen, auch nicht metaphorisch« (von mir hervorgehoben). Der Fachausdruck hat dennoch seinen Weg gemacht, nicht nur in den Massenmedien, sondern auch in den Sozialwissenschaften. Vielleicht liegt das daran – 20 Aus: Josette Coenen-Huther – Das Familiengedächtnis wie schon Bloch in seiner Kritik am Konzept von Halbwachs (1925:78) betonte –, dass er gleichzeitig ausdrucksvoll und bequem ist. Anderes stört jedoch noch mehr. In dem Maße, wie der Begriff »kollektives Gedächtnis« den Begriff kollektives Bewusstsein impliziert, bietet er zahlreichen Kritikern, die genau hier2 ansetzen, eine große Angriffsfläche. Selbstverständlich kann der vollkommen zwingende Charakter des Begriffs nicht akzeptiert werden. Hierauf spielt Halbwachs immer wieder an. So schreibt er zum Beispiel: »Auf welche Art man auch in eine Familie eintritt, durch Geburt, durch Heirat, oder auf eine andere Art, immer wird man feststellen, dass man einer Gruppe angehört, in der unser Platz nicht durch unsere persönlichen Gefühle, sondern von Regeln und Gebräuchen bestimmt wird, die nicht von uns abhängen, und die schon vor uns existierten. Das spüren wir sehr wohl, und wir verwechseln unsere Eindrücke und affektiven Reaktionen im Beisein unserer Verwandten nicht mit den Gedanken und den Gefühlen, die sie uns einflößen (...) Solche Gefühle, so spontan sie auch sein mögen, folgen vorgezeichneten Bahnen, die nicht von uns gelegt werden. Ihre Richtung wird vielmehr von der Gesellschaft festgelegt.« (1925:201, 203)3. Aber so fährt er fort: »außer diesen gemeinschaftlichen Regeln in einer Gesellschaft, gibt es Bräuche und Denkweisen, die einer jeden Familie eigen sind, und die ihren Stempel den Meinungen und Gefühlen ihrer Mitglieder gleichermaßen, ja fast noch eindringlicher aufdrücken.« (ebd.:206) Aus seiner Feder stammt auch die folgende Passage über die Entwicklung der Traditionen: »Die Gesellschaft vergegenwärtigt sich die Vergangenheit auf verschiedene Arten, und zwar entsprechend den herrschenden Umständen und den historischen Phasen. Dabei modifiziert sie ihre Konventionen. Da sich alle ihre Mitglieder ihren Konventionen unterwerfen, lenken sie auch ihre Erinnerungen in die gleiche Richtung ...« (ebd.:377). Für Halbwachs scheint das Individuum nur in sehr begrenztem Maße schöpferisch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit einwirken zu können. Im Hinblick auf die Entstehung neuer Familientraditionen schreibt er, dass sich diese nicht durchsetzen könnten, »wenn sie zum Beispiel nur einem Bedürfnis nach Unabhängigkeit und 2 3 Die bis jetzt systematischste Kritik lieferte Gurvitch (1950). Demgegenüber fassen Boudon und Bourricaud (1982:193) ihren Standpunkt sehr lapidar zusammen, wenn sie schreiben, dass die Durkheim’schen Konzepte von »Gesellschaft« und von »kollektivem Bewusstsein« mit einer »unheilbaren Unklarheit geschlagen sind«. In diesen Zitaten sind ebenso wie in den folgenden alle Hervorhebungen von mir vorgenommen worden. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2002 21 Erneuerung entspringen, das einige ihrer Mitglieder spontan empfinden. Die Tradition würde mit solchen Widerständen und zeitlich begrenzten Revolten schnell fertig. In einer isolierten Gesellschaft, in der alle Familien darin übereinstimmen, dass die absolute Autorität des Vaters, die Unauflöslichkeit der Ehe anzuerkennen sind, finden individuelle Ansprüche im Namen der Gleichheit und der Freiheit keinen Widerhall.« (ebd.:395). Dennoch findet man bei Halbwachs erste Anzeichen, die den symbolischen Interaktionismus und – wie Fernand Dumont (1971:vii) betont – die phänomenologisch inspirierte Soziologie vorahnen lassen. Verkennt er wirklich die Bedeutung der Interaktionen für die Identität der Individuen, wenn er unter anderem feststellt, dass »diejenigen, die uns nahe stehen, diejenigen, die in unserer unmittelbaren Umgebung leben (...), Einfluss auf uns nehmen können und das auch tun, genauso wie wir es umgekehrt mit ihnen tun« (1925:185)? Spürt er nicht, wie die Menschen gemeinsam ihre sozialen Repräsentationen konstruieren, wenn er von der zugegebenermaßen begrenzten Immanenz des Bewusstseins spricht, und wenn er mit Blick auf die Mitglieder der häuslichen Gemeinschaft schreibt, dass ihr »Bewusstsein in gewisser Hinsicht undurchlässig für wechselseitige Einflussnahmen sei, wenn auch nur in gewisser Hinsicht? Trotz des Abstands zwischen ihnen aufgrund unterschiedlicher, bisweilen gegensätzlicher Temperamente und der Verschiedenheit der Lebensumstände bemerken die Familienmitglieder doch, dass in ihnen die Gedanken der anderen Spuren hinterlassen haben, und zwar aufgrund der Tatsache, dass man das Alltagsleben miteinander teilt, und dass der ständige Austausch von Eindrücken und Meinungen die gegenseitigen Bindungen gefestigt hat – die Widerstandskraft dieser Bindungen bekommen sie manchmal umso heftiger zu spüren, je intensiver sie sich bemühen, diese Bindungen zu lösen.« (1925:199-200) Entwirft er nicht in groben Zügen eine Theorie der Typenbildung, wenn er zeigt, dass die Vorstellungen des kollektiven Gedächtnisses nie nur einem einzigen Bild entsprechen, sondern aus der Verschmelzung von allem Vorangegangenen und allem Nachfolgenden (ebd.:209), zu einem einmaligen Ereignis in einer einzigartigen Gestalt resultieren? Denn »diese Vorstellungen werden umso realistischer und alles andere als einfacher, je öfter man sich darauf bezieht, und je mehr man darüber nachdenkt ...« (ebd.). Übersieht er wirklich, dass ein individueller Ansatz zur Erfassung des Gedächtnisses denkbar ist? Schließlich beschreibt er das, was die Dynamik der individuellen Gedächtnisse ausmachen könnte, auch wenn er dies nur deshalb tut, um diesen Ansatz zu widerlegen: »Wenn man sich an das individuelle Be22 Aus: Josette Coenen-Huther – Das Familiengedächtnis wusstsein halten würde (...) würden die Vernunft oder die Intelligenz zwischen den Erinnerungen auswählen, einige von ihnen unter den Tisch fallen lassen und die anderen entsprechend unserer augenblicklichen Vorstellungen anordnen ...« (1925:392). 1.1.3 Vom kollektiven Gedächtnis zur Geschichte Wenn Halbwachs, wie Bastide (1970:83) bemerkt, nicht all seine Ahnungen voll ausgeschöpft hat, wenn er bei der Vorstellung eines kollektiven Gedächtnisses stehen geblieben ist, das seine Formen und Repräsentationen den individuellen Gedächtnissen aufzwingt, und wenn er vor allem auf das Gewicht des Sozialen bestanden hat, dann deshalb, weil er ein Mensch »seiner Zeit« (Dumont, 1971:vi) war. Das war er jedoch nicht nur in erkenntnistheoretischer Hinsicht, worauf der Verfasser des Vorworts in seinem Buch hinweist, sondern auch in dem Sinn, dass seine Art zu denken von einer Epoche geprägt ist, die wie ein Scharnier zwei Welten miteinander verbindet: die traditionelle und die moderne Welt. Kehren wir zu den »kollektiven Gedächtnissen« zurück. Kennzeichnend für die traditionelle Welt, zu der Halbwachs noch weitgehend gehört, ist neben der Langfristigkeit die Tatsache, dass »sich Veränderungen <hier> so langsam und unmerklich vollziehen, dass die Großeltern, die ihre neugeborenen Enkelkinder auf dem Arm wiegen, sich für diese keine Zukunft vorstellen können, die sich von ihrer eigenen Vergangenheit unterscheidet. Die Vergangenheit der Erwachsenen ist hier die Zukunft einer jeden neuen Generation ...« (Mead, 1970:27-28). In solchen Verhältnissen gibt es im Grunde keine Vergangenheit, weil die Gegenwart zu einem großen Teil nur die Wiederholung dessen ist, was zu allen Zeiten war. Natürlich vollzieht sich die Reproduktion der bewährten Modelle nie völlig gleich. Lévi-Strauss besteht darauf, dass es sich nicht um immobile, unbewegliche Gesellschaften handelt, sondern um Gesellschaften, die versuchen, »mit Hilfe der Institutionen, die sie sich gegeben haben, auf eine fast automatische Art die Wirkungen außer Kraft zu setzen, die von der Geschichte ausgehen und auf ihr Gleichgewicht und ihre Kontinuität Einfluss nehmen könnten...« (1962:309-310). Und selbst die Neuerungen, die eine notwendige Antwort auf die neuen und unvorhergesehenen Probleme sind, für die die Tradition keine fertige Lösung anbieten kann, materialisieren sich in Kontinuität mit der Vergangenheit. In den »archaischen« Gesellschaften zum Beispiel wurde bei jeder neuen Unternehmung nach einem speziellen Ritual Bezug genommen auf die Sagen und die Handlungsweisen der darin beschriebenen Hel© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2002 23 den, die schon in grauer Vorzeit alles vollbracht haben, was ein Mensch tun kann. (Eliade, 1963:173). Angesichts dieser sehr kontinuitätszentrierten Weltsicht wird die Dauerhaftigkeit der Glaubensüberzeugungen und der Repräsentationen verständlich, die für Halbwachs die »kollektiven Gedächtnisse« ausmachen (sehr frei übersetzt). Mit der Beschleunigung des Wandels ändert sich jedoch die Situation von Grund auf. Halbwachs wusste sehr wohl, dass sich die kollektiven Denkmuster an die neuen Existenzbedingungen anpassen mussten. Wenn die Vergangenheit für den größten Teil der Menschheitsgeschichte als Prototyp (pattern) für die Gegenwart fungierte, so ist sie heute nicht mehr als nur ein Modell, von dem man sich anregen lassen kann (Hobsbawm, 1972). Wie es Ignatieff (1987:21), der das Leben seines Großvaters zu rekonstruieren versuchte, so brillant formulierte: »Seine Identität unterscheidet sich unwiderruflich von meiner, und zwar in einem sehr präzisen Sinne: Er hat sein Schicksal ererbt und es sich ohne Diskussion zu eigen gemacht. Meine Identität, meine Art, Teil der Vergangenheit zu sein, die er mir hinterlassen hat, definiert sich durch die Worte, die ich zu Papier bringen werde ...« (von mir hervorgehoben). Einem Autoren wie Nora (1984) zufolge hat man die Schwelle vom Zeitalter der »kollektiven Gedächtnisse« zur Ära der Geschichte überschritten. Halbwachs (1950: Kapitel II,) hatte die beiden Phasen schon klar unterschieden. Bei der ersten handelt es sich um ein lebendes Gedächtnis einer spezifischen Gruppe, die sich mit der Vergangenheit eng verbunden fühlt. Demgegenüber beansprucht die Geschichte eine Einzelgruppen übergreifende Universalität. Außerdem ruft sie vergangene Zeiten ins Gedächtnis. Auch wenn sie sich ganz unmittelbar gibt, spricht sie in Wahrheit doch von Nicht-mehr-Existentem, von Sachverhalten, die schon überholt sind oder es bald sein werden. »Wenn die Sammler der kollektiven Gedächtnisse die Bühne betreten, ist das ein Zeichen dafür, dass gerade etwas abstirbt«, stellt Noiriel fest mit Blick auf den Zuspruch, dessen sich die oral history, die mündlich überlieferte Historiografie, eine Zeit lang erfreute (1986:100)4. Halbwachs war sich der immer rascheren Vergänglichkeit von Repräsentationen und Begriffen, insbesondere auf dem Feld der Familie, vollkommen bewusst. Hier stimmt er mit Durkheim überein. Früher, so sein wesentlicher Gedanke, sicherten die Institutionen den Fortbestand der Familientraditionen, weil ein Ehepartner die des anderen erb4 24 Eine ausgezeichnete Illustration dieser Vergeschichtlichung eines lebenden Gedächtnisses findet man bei Yerushalmi (1984). Aus: Josette Coenen-Huther – Das Familiengedächtnis te. Heutzutage sind diese Institutionen verschwunden. Die Familie ist zur »Ehegemeinschaft« geworden. Die Kontinuitätslinie, die die Eheleute mit der Vergangenheit ihrer beiden Herkunftsfamilien verband, ist abgerissen. Weil sie nicht gemeinsam an die Vergangenheit denken können, machen die Eheleute Halbwachs zufolge lieber »reinen Tisch« damit. Wenn sie jedoch selbst Eltern werden und ihrerseits die entsprechenden Rollen übernehmen, dann – so Halbwachs – verspürten sie sehr wohl die Bindungen zu ihren Erzeugern. Von ihrer Hochzeit an verfügen sie über ein eigenes kollektives Gedächtnis, in das sie Elemente einfügen können, die den Traditionen ihrer Herkunftsfamilie entspringen. Weil Halbwachs nicht ausschließlich nur ein Mann der Tradition war, sondern auch sehr klar sah, wie sehr sich die Welt entwickelte, konnte er ermessen, welch große Rolle die Gegenwart spielt, wenn man sich etwas ins Gedächtnis zurückrufen will. Er konnte so feststellen, dass das menschliche Gedächtnis nicht in einer unveränderlichen Form das bewahrt, was es einmal aufgezeichnet hat, sondern dass es seine Erinnerungen im Laufe einer unaufhörlichen Auseinandersetzung mit der Gegenwart herausbildet und umformt. Seine sehr schöne und ergiebige Studie von der sagenhaften Topografie der Evangelien im Heiligen Land führt uns dies beispielhaft und plastisch vor Augen. Der Kern seiner Ausführungen betrifft die sukzessive Verortung der heiligen Stätten des Christentums in Palästina im Laufe der ersten Jahrhunderte und die ständigen Neuverortungen, die einerseits im Zuge der Niederschrift der Evangelien und andererseits infolge der Zerstörungen der Heiligen Stadt vorgenommen wurden. Man sieht dabei auch, wie sich die Bilder von den Ereignissen entwickeln, von denen man annimmt, dass sie wirklich stattgefunden haben, und wie sich ihre Bedeutung in Abhängigkeit davon verändert, was die Menschen in einer jeden Epoche beschäftigt. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2002 25