1 Die Kirche und ihr Verhältnis zum Judentum

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Die Kirche und ihr Verhältnis zum Judentum – Umkehr und Erneuerung
von Pfarrer Michael Schankweiler am 23.11.2013 um 15.00 Uhr in der Friedenskirche zu
Remagen zum Tag der Demokratie
Aus der Ankündigung des Vortrages: Die Kirche und ihr Verhältnis zum Judentum
Das Verhältnis der Kirchen zum Judentum war jahrhunderte lang von Rivalität und
Feindschaft geprägt. Der kirchliche Antijudaismus war auch Nährboden für den politischen
und rassistischen Antisemitismus der Nazis. Darum leider gab es kaum Widerstand, als die
Machthaber im Dritten Reich die jüdischen Bürger peu a peu immer stärker bedrängten bis
hin zu der größten Menschheitskatastrophe des vergangenen Jahrhundert, dem
millionenfachen Völkermord an den europäischen Juden. Mit großem Erschrecken mussten
die Kirchen nach 1945 erkennen, dass sie nicht schuldlos waren am Holocaust. Zwar zu spät,
aber zumindest nach dem Krieg begann in beiden großen Kirchen darum ein Umkehr –und
Erneuerungsprozess im Verhältnis zum Judentum, das sich in Konzilstexten und dem
berühmten Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980 niederschlug.
Pfarrer Michael Schankweiler zeichnet in seinem Vortrag die Entwicklung des kirchlichen
Antijudaismus nach bis zu der epochalen Umkehr in Theologie und Kirche.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Der bayrische Kabarettist Gerhardt Polt erklärt folgendes in seinem Büchlein: Heute wegen
Tod geschlossen, Dialoge von A nach B
Wenn wir es nun hören, kann es einem das Gruseln lehren. Das anfängliche Lachen bleibt uns
im Halse stecken. Und wir denken: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem es kroch, (Bert
Brecht). Irgendwo, heute, an einem Stammtisch, vielleicht sogar im Münchner Hofbräuhaus.
Wer weiß?
Jubiläum
A: Und, weißt´schon?
B: Was is?
A: Heut is a Jubiläum.
B: Was für a Jubiläum?
A: Ja, weißt denn du das nicht, schaust du denn nicht fern?
B: Freilich schau ich fern.
A: Ja, dann musst du doch wissen, dass heute a Jubiläum ist.
B: Was für a Jubiläum?
A: Ja, der Holocaust. Es ist jetzt siebzge Jahre her, wo mir die Juden vergast haben.
B: A geh – ist des schon wieder so lang her!
Die Grundthese meiner Ausführungen lautet:
Die feindliche Haltung der Kirchen gegenüber dem Judentum, sprich - der christliche
Antijudaismus - hat dem Judenmord der Naziverbrecher mit den Boden bereitet!
Und weiter: Es hat wenig Sinn, wenn wir uns etwa kopfschüttelnd oder zornig abwehrend von
den antijüdischen Greultaten der Nazis distanzieren, jedoch ganz vergessen, dass die Wurzeln
dieser Judenfeindschaft auch im christlichen Boden liegen und gerade auch der christliche
Antijudaismus den Naziverbrechern Nahrung gegeben hat. Ich sage, die Kirche hat mit den
Boden bereitet und auch Nahrung gegeben. Auch und Mit. Sie war nicht allein.
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Es gab auch andere Verantwortliche wie die Philosophie oder spinnige Rassetheoretiker. Aber
– die Kirche trägt einen großen Anteil daran, den es aufzuzeigen und zu verantworten gilt. Die
Synodalerklärung der Evangelischen Kirche von 1980 zur Umkehr und Erneuerung des
Verhältnisses der Kirche zum Judentum spricht ausdrücklich von Mitverantwortung und
Schuld der Kirche. Schuld ist ein großes und schwerwiegendes Wort. Dennoch meine ich,
wurde es zu Recht gebraucht und gesagt und bekannt. Viel zu spät. Schuld ist immer
persönlich. Es gab und gibt wirkliche Täter und wirkliche Opfer, aber auch die schweigende
Masse, die etwas wusste, aber zum Unrecht schwieg. Darum ist Schuld auch kollektiv. Fragte
man die damals Lebenden meiner Eltern und Großelterngeneration, was sie vom Judenmord
wussten, kam einhellig: Davon haben wir nichts gewusst. Und das mag so stimmen. Fragte
man jedoch nach: Habt ihr nicht mitbekommen den Boykott jüdischer Geschäfte am 1.April
1933, den Synagogenbrand, dass jüdische Mitschüler fehlten, dass die Juden gen Osten
transportiert wurden, dann kam nach und nach heraus, dass man es eben doch wusste aber
schwieg, wohl ahnte, dass es Unrecht war. Aber für Menschen, die auf den Unwert von
Ungeziefer herabdekliniert wurden, gab es kein Erbarmen, sondern Zyklon B. Schon beim
Boykott der jüdischen Geschäfte hätte die Kirche die Gelegenheit gehabt für die Juden zu
schreien. Stattdessen zollte der rheinische Generalsuperintendent Stoltenhoff in Koblenz in
einem Briefwechsel mit einem Kölner Pfarrer vollstes Verständnis und sein Wohlwollen für
den Boykott am 1. April 1933: „. ….dass man es doch verstehen müsse, dass sich der Ärger
über die Juden mal ordentlich Luft mache.“
Also:
Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich Ihnen belegen, wie sehr auch die Kirchen mit
ihrer Judenfeindschaft über Jahrhunderte die Köpfe der Menschen vergiftete und Schuld und
Mitverantwortung am Holocaust trägt. Im zweiten Teil werde ich aufzeigen, wie diese große
Menschheitskatastrophe ein radikales Umdenken und Neubesinnen, eine Umkehr und
Erneuerung des Verhältnisses der Kirchen zum Judentum eröffnete. (Wobei ich mich schon
so oft gefragt habe, warum es immer erst zu wirklichen Katastrophen kommen muss, ehe die
Menschen aufwachen und von ihren bösen Wegen abkehren? Und wobei ich mich frage,
inwieweit diese Umkehr und Erneuerung wirklich die Gemeindebasis erreicht hat??)
Ich spreche nicht von Antisemitismus. Der Begriff Semitismus meint ursprünglich eine
Sprachkategorie, d.h. zu der semitischen Sprachfamilie gehörende Menschengruppen, die
arabischen Völker und andere längst vergangene Volksgruppen wie Hethiter und Assyrer. Der
Begriff Semitismus und dann der Begriff Antisemitismus sind ja erst spät, eigentlich erst im
19. Jahrhundert zum Rassebegriff geworden. Der Antisemit ist ja, wie wir wissen gar nicht
Gegner aller Semiten schlechthin, sondern eben doch nur der Juden, so dass man treffender
von Judenfeindschaft reden sollte. Ich spreche also von Antijudaismus und meine damit die
judenfeindliche Haltung, die es schon in der Antike gab, eigentlich seit den Anfängen des
jüdischen Volkes als Religion und Volksgemeinschaft. Schon in der Antike kam es bisweilen
zu Massenaufwiegelungen gegen die Juden, die außer in Palästina im ganzen Mittelmeerraum
und im Mittleren Osten siedelten. Wenn irgendetwas geschehen war, für das man einen
Schuldigen suchte, waren es gerne auch da schon die Juden.
Die Judenfeindschaft der Christlichen Kirchen
Die Judenfeindschaft der christlichen Gemeinden ist das Ergebnis eines
Entfremdungsprozesses, ja eines Trennungsprozesses zwischen Juden, Judenchristen und
Heidenchristen. Die erste christliche Gemeinde, nennen wir sie vereinfachend die
Urgemeinde, war eine Gruppe messianischer Jüdinnen und Juden innerhalb des Judentums,
die Jesus als den gekommenen Messias ansahen, ihn verehrten und an seine Auferweckung
durch Gott glaubten. Die ersten Christen waren und blieben Juden. Petrus und Paulus. Alle
neutestamentlichen Schriften sind jüdische Schriften.
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Die Hoffnung auf den Messias, auf seine Wiederkunft, der Glaube an eine Auferstehung der
Toten, das sind alles jüdische Themen, die niemanden vom Judentum trennte, der oder die es
glaubte und bekannte. Die Apostelgeschichte berichtet, wie die Mitglieder der Jerusalemer
Urgemeinde ganz selbstverständlich zum Gebet und Opferdienst in den Tempel gingen (2,46)
und wie sie sich wie jede jüdische Familie in ihren Häusern zusätzlich zu Studium, Gebet und
gemeinsamer Mahlzeit trafen. Die Urgemeinde war eine Gruppe innerhalb des vielschichtigen
und lebendigen Judentums im Palästina des 1. Jahrhunderts neben Pharisäern, Sadduzäern,
Essenern, Qumranleuten, der Priesteraristokratie und anderer Gruppen.
Ein erster Konflikt innerhalb der christlichen Urgemeinde trat da auf, als auch Menschen, die
nicht jüdisch waren, die nicht zum Volk Israel gehörten, die zu den Völkern gehörten,
Christen sein wollten. Wir unterscheiden diese von den Judenchristen mit der Bezeichnung
Heidenchristen. Und der Konflikt bestand darin, ob die, die vorher heidnisch waren, erst auch
Juden werden müssen, um Christen zu sein. Sprich: Ob sie, wenn sie Männer waren,
beschnitten werden müssen, ob sie alle 613 Ge- und Verbote einhalten müssen und auch ob
sie sich an die Speisegebote des Judentums halten müssen? Mit einem ersten Konzil, das uns
in Apostelgeschichte 15 überliefert ist, traf man eine für das Zusammenbleiben von Juden und
Christen folgenreiche Entscheidung: Man entschied: Heiden, die Christen werden wollen,
brauchen nicht die Beschneidung, nicht die vollen Speisegebote und nicht die Einhaltung aller
Gebote. Damit war fürs erste das Zusammenbleiben zwischen Judenchristen und
Heidenchristen gerettet, aber zum Judentum war hiermit eine erste große Schranke aufgebaut
worden. Und weil die Beschneidung und die Reinheits –und Speisegebote für das Judentum
so wesentlich waren und sind, war letztlich die Trennung von Christen und Judentum auch
schon vorprogrammiert. Judenchristen und Heidenchristen blieben zwar zusammen, aber
gegenüber dieser Aufweichung jüdischer Normen, gab es im Judentum enormen Widerstand.
Und auch die Streitfrage, ob Jesus von Nazareth wirklich der Messias, der Christus ist, wird
nicht unerheblich gewesen sein hinsichtlich der Trennung von Judentum und Christentum.
Als dann im Jahre 70 nach Christus die Römer den Tempel zerstörten und bis 135 nach
Christus verschiedene Aufstände das Land verheerten, kam es zum wirklichen Bruch
zwischen Judentum und christlicher Urgemeinde. Das Judentum konstituierte sich neu in
Javne, einem kleinen Ort in der Nähe des Mittelmeeres. Mit der Neuorientierung fand auch
eine Neubestimmung statt, wer denn zum Judentum gehöre und was jüdisch sei. Die
christliche Urgemeinde aus Judenchristen und Heidenchristengehörte ab da ganz offiziell
nicht mehr zum Judentum und galt als Sekte. Auch sie, die christliche Gemeinde litt unter der
Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Auch sie konstituierte sich neu und überlebte in
Paella, einem Ort östlich des Jordan. Judentum und Christentum gingen aber von da an
getrennte Wege.
Zwar mahnte der zum Christen gewordene Rabbiner Paulus in seinem Römerbrief die
Heidenchristen in der Weltstadt davor, ihr jüdisches Erbe und ihre Verwurzelung im
Judentum nicht gering zu achten oder zu vergessen, „Nicht Du trägst die Wurzel, die Wurzel
trägt Dich!“Röm11,18. Dennoch, die christliche Gemeinde mit einem immer geringer
werdenden Anteil an messianischen Jüdinnen und Juden und einem immer stärker
anwachsenden Anteil an Gemeindegliedern aus den Völkern, vergaß nach und nach ihre
Verbundenheit mit dem Judentum und ihre Verwurzelung in ihr. Die gemeinsam erlebte und
durchlittene Katastrophe, nämlich die Zerstörung des Tempels im Jahre 70, wurde so auch im
Zuge des Vergessens nicht mehr als gemeinsames Unglück betrachtet, sondern mehr und
mehr von den Heidenchristen als Strafe für die Juden angesehen, als Strafe dafür, dass sie an
der Kreuzigung des Jesus von Nazareth beteiligt waren. Das historische Israel war nun nach
Meinung der Kirche untergegangen und durch sie selbst, das wahre Israel…..“das Israel
rechter Art!“ wie Luther das später ausdrückte – ersetzt worden. Juden wurden nun –
pauschal und kollektiv – als Gottesmörder diffamiert und beschuldigt. Dazu trat sehr früh eine
Geschichtsideologie, nach der die von Gott verworfenen und zerstreuten Juden ihre
Heimatlosigkeit als verdiente Strafe empfinden sollten, und dass der Fluch der auf ihnen
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lastete, sich eben auch darin erweise, dass sie zahlreiche Leiden auf sich nehmen müssten und
dass Gott es in seinem unerforschlichen Ratschluss wohl auch so füge, mitunter die Christen
als Vollstrecker seines Zorns zu benutzen. Selbst der von mir so sehr geschätzte und verehrte
Dietrich Bonhoeffer, der im Jahre 1933 einen Aufsatz schrieb mit dem Titel: Die Kirche vor
der Judenfrage – Die Evangelische Kirche übernahm für ihren Bereich kurzer Hand und ohne
theologischen Nachdenkens den Arierparagraphen für ihre Pfarrer und Kirchenbeamten –
schrieb Bonhoeffer, noch die alten antijüdischen Gedankenmuster aufnehmend: „ Die
staatlichen Maßnahmen gegen das Judentum stehen für die Kirche aber noch in einem ganz
besonderen Zusammenhang. Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren
gegangen, dass das „auserwählte Volk“, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer
Leidensgeschichte den Fluch seines Tuns tragen muss.“ D. Bonhoeffer. Die Kirche vor der
Judenfrage, GS Bd. II S. 49 . Bonhoeffer sah wohl das Unrecht, dass diesen Menschen
angetan wurde, aber er selbst war da noch blind für den Segen, mit dem die Kirche durch
Israel gesegnet ist und die theologische Würde des zeitgenössischen Judentums. Erst viele
Jahre später kommt er für sich zu einer Neubewertung des Judentums, davon zum Schluss.
Doch zurück – nun ins Mittelalter. Während noch in den ersten Jahrhunderten Juden und
Christen wie zum Beispiel im syrischen Antiochien schiedlich friedlich nebeneinander
existieren konnten, sich sogar gegenseitig besuchten– nur die christlichen Theologen regten
sich darüber auf, dass man samstags in die Synagoge und des Sonntags in die Kirche ging –
verschlechterte sich die Lage der jüdischen Gemeinden im Mittelalter in Europa. Die
Kreuzzüge und Kreuzzugsstimmungen entfachten einen regelrechten Judenhass, der sich in
einer Reihe von Pogromen entlud. Allein in Mainz wurden im März 1096 über 1000 Juden
hingeschlachtet. Das alles geschah weithin unter Billigung, wenn nicht gar Förderung der
kirchlichen Stellen. In Trier erwiderte der um Hilfe angegangene Erzbischof:
“Ha, jetzt sind über euch Elende eure Sünden gekommen, weil ihr den Sohn Gottes verwerft
und seine Mutter schmäht; bekehrt euch, so gebe ich euch Frieden und ruhigem Genuss eurer
Güter. Bleibt ihr aber verstockt, so wird mit eurem Leib auch eure Seele untergehen.“
Mit der vierten Lateransynode von 1215 erreichte das Hochmittelalter seinen Scheitelpunkt.
Papst Innocenz der III. bezeichnete die Juden als gottverdammte Sklaven, sie sollten unter das
Joch dauernder Knechtschaft gebeugt werden und es wurden auf diesem Konzil
Bestimmungen über die Kleidung der Juden festgelegt. Sie sollten „vor den Augen der
Öffentlichkeit ein Merkmal tragen“, einen gelben Ring und einen spitzen Hut. Und auch die
auf dieser Synode verabschiedete Transsubstantiationslehre und Erhebung zum Dogma, das
heißt die Wandlung der Elemente des Abendmahls Brot und Wein zur Gegenwart des Leibes
Christi hatte nicht wenige Auswirkungen auf das Judentum. Dunkelste Gerüchte über die
Juden kamen in Umlauf und wurden mit einem Schuss Aberglaube genährt, dass sie Hostien
aufstachen, das daraus fließende Blut für ihre Mazzenbäckerei verwendeten und weiteres
mehr. Im südlich von uns gelegenen Bacharach am Rhein kam es deswegen zu einem
fürchterlichen Pogrom und zur Misshandlung der dort ansässigen jüdischen Mitbewohner.
Auch für die Pestzeiten, die in Wellen über die Menschen mit Schrecken hereinbrachen, hatte
man alsbald den Schuldigen gefunden. Die Juden. War es doch sonderbar, dass in den
Häusern der Juden viel weniger Menschen an der Epidemie starben. Dass allein die
hygienischen Bestimmungen wie das Händewaschen oder die regelmäßigen Tauchbäder den
jüdischen Familien mehr Schutz vor Ansteckung boten, darauf kamen die Menschen damals
noch nicht. Selbst der Papst in Avingnon ließ große Feuer um seinen Thron brennen, weil er
dachte, die Mal – Aria, übersetzt, die schlechte Luft, sei für die Ansteckung verantwortlich.
Dass es sich um einen Krankheitskeim handelte, der von Ratten und deren Flöhen übertragen
wurde, wusste damals niemand.
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Mit der Reformation schien es zunächst, dass sich das Verhältnis der Kirche zum Judentum
zum Positiven hätte verändern können. Der Bibelprofessor und Reformator Martin Luther
kam im Anfang zu einer freundlichen Einschätzung der Juden. In seiner Schrift von
1523:“Dass Jesus ein geborener Jude sei!“ schrieb der junge Reformator:
„Wenn die Apostel, die auch Juden waren mit uns heyden gehandelt, wie wir heyden mit den
Juden, es wäre nie kein Christ unter den heyden geworden. Haben sie denn mit uns heyden so
bruderlich gehandelt, so sollen wir wieder bruderlich mit den Juden handeln….“
Aus Dank dafür haben ihm die Juden in Sachsen eine Ausfertigung des 130. Psalms in
deutscher Sprache in hebräischen Lettern geschenkt: “Aus tiefer Not schrei ich zu dir.“ Und
dennoch, der Ausblick auf ein brüderliches bzw. geschwisterliches Miteinander hielt nicht an.
Denn deren Rufschrei aus tiefer Not hörte der ältere Luther schon nicht mehr. Bei Luther
finden wir die verheerende Schrift, die eine schwere Last im Erbe der Reformationskirchen
darstellt. Luther, wohl erbost darüber, dass sich die Juden nicht zu Christus und seiner
Reformation bekehrten, schrieb die Schreckensschrift: „Von den Juden und ihren Lügen!“
Eine Schrift, die sogar seine Schriften gegen die Bauern an Schärfe und Brutalität übertreffen.
Für die modernen Antisemiten war sie natürlich eine Fundgrube. Was soll man auch sagen,
wenn man liest, dass Martin Luther fast programmatisch empfahl, wie man die Juden
behandeln müsse. 1. man solle ihre Synagogen verbrennen 2. Ihnen ihre Talmudim, ihre
Gebetbüchlein wegnehmen, sie 3. Deportieren und sie zu Zwangsarbeiten heranziehen. Dieses
Erbe Luthers war ein dunkler Fleck und lastete schwer auf dem sonst so strahlenden Stern.
Und tatsächlich, im Jahre 1938, als wirklich die Synagogen in Deutschland brannten, lobte
und dankte der evangelische Landesbischof Thüringens Gott dafür, dass nun endlich der
Heilige Wille Martin Luthers erfüllt sei. Als 1945/46 vor dem Nürnberger Tribunal unter
anderem auch der Herausgeber des größten antisemitischen Hetzblattes Julius Streicher stand
und sich wegen seines Antisemitismus zu verantworten hatte, sagte er, dass statt seiner
eigentlich Luther hier als Angeklagter zu stehen hätte; denn dieser habe lange vor ihm alles
gesagt und noch um vieles schärfer, dessen er jetzt angeklagt sei.
Wir sehen also in der Tat, wie die kirchliche und christliche Judenfeindschaft über
Jahrhunderte die Köpfe der Menschen vergiftete und dem Holocaust mit den Boden bereitete.
Die Nazis mussten nur die bösen Früchte auflesen, die vom Baum der Kirche ihnen vor die
Füße kullerten. Viele christliche Gemeinden machten dann nur zu gerne den Judenhass der
Nazis im Dritten Reich zu ihrer eigenen Sache und forderten die völlige Entjudung ihrer
gottesdienstlichen Sprache. Um nur ein Beispiel zu nennen: Aus dem Antrag der Deutschen
Christen an das Presbyterium der Gemeinde Dortmund-Wickede vom Juli 1934:
“Durchdrungen von der göttlichen Sendung des deutschen Volkes und der Überzeugung von
der rassischen Minderwertigkeit des Judentums, …….stellen wir den Antrag:“ Alle Lieder
und liturgischen Stellen mit den Namen und Ausdrücken wie Gott-Zebaoth, Hosianna,
Abrahams Samen, Jehova, Jakobs Heil, Tochter Zion, Amen und Hallelujah werden im
Gottesdienst nicht mehr gesungen….“ (man vergleiche im Gesangbuch 316, V5 – 317, V5)
Kommen wir zum zweiten Teil: Umkehr und Erneuerung
Als sich zu Kriegsende 1945 die Tore der Konzentrationslager öffnete boten sich den
Befreiern Bilder des Schreckens. Etwas, was sich niemand hat vorstellen können und was an
Grausamkeit und Menschenverachtung seinesgleichen sucht, hatte stattgefunden: Die
fabrikmäßige Vernichtung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden, Kindern und alten
Menschen, auch von Homosexuellen, Widerstandskämpfern, Sinti und Roma.
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Für den Holocaust oder die Schoa (hebr. Die Katastrophe) finden sich bis heute kaum Worte,
die die Furchtbarkeit dessen ausdrücken können, was im Namen des deutschen Volkes verübt
wurde. (Jad VaSchem) Die Philosophin Hanna Arendt schrieb: „Das Höchste, was man
erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist!“ Im
Sommer 1945 sprachen Repräsentanten der Ev. Kirche gegenüber Besuchern aus der
weltweiten Ökumene ihre Mitschuld am Entstehen und den Folgen der Nazidiktatur aus,
darunter Martin Niemöller als Vertreter der Bekennenden Kirche, der über Jahre in Haft und
KZ war. Sie äußerten sich so: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches
Leid über viele Völker und Länder gebracht worden…..wir klagen uns an, dass wir nicht
mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und brennender geliebt
haben!“ Das größte Verbrechen aber, das am jüdischen Volk, wurde hier nicht ausdrücklich
erwähnt. Erst 1950, bei der Synode der Evangelischen Kirche in Berlin-Weißensse, hieß es:
„Wir sprechen aus, dass wir durch Unterlassen und Schwiegen vor Gott dem Barmherzigen,
mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden
begangen worden ist.“
Und danach? Es legte sich ein Mantel des Schweigens und Verdrängens über das, was die
Deutschen den Juden angetan hatten. Und in der Kirche? Und in den Kirchen?
Es gab da diese tiefe Wunde im Leib Christi, die nicht heilen wollte, ein böses Geschwür,
nämlich die eigene Judenfeindschaft. Sie galt es nun zu benennen. Von ihr galt es Abstand zu
nehmen. Sie als Irrlehre zu verwerfen. Ihr galt es eine Absage zu erteilen. Einige
nachdenkliche Christinnen und Christen in den verschiedenen Kirchen spürten auch, dass in
Auschwitz nicht das Judentum gestorben war, sondern das Christentum. Es war sinnlos
geworden an den Tagen, da es zu dem Unrecht schwieg. Oder wie es der Theologe Hans
Iwand nach dem Krieg sagte: „Jetzt erst haben wir begriffen, dass wir aufhörten Kirche Jesu
Christi zu sein, als wir Israel preisgaben. Denn Israel ist die Wurzel, die uns alle trägt.“
(Iwand, Seim, S. 238) Zur Kirche gehört Israel hinzu und nicht weg! Karl Barth: „Eine
ökumenische Versammlung, aus der die Juden ausgeschlossen sind, wäre keine christliche,
sondern eine heidnische Versammlung!“ Wie beschämend, ja bestürzend muss es für die, die
sich in den Kirchen der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Israel stellten, gewesen
sein, als sie erkannten, dass nicht irgendwelche bösen Nazis, nein, sondern sie selber und ihre
Kirchen der Judenfeindschaft über Jahrhunderte Tür und Tor öffneten. Ein neues und noch
genaueres Lesen der Bibel öffnete die Augen, dass nicht Unheil, sondern das Heil von den
Juden kommt. Es war wie eine beginnende Blindenheilung. Das Neue Testament zum
Beispiel sprach ganz anders von den Juden und dem jüdischen Volk, von seiner Verheißung
und von seiner Bedeutung in der Welt als es die Kirchen über Jahrhunderte glauben machen
wollten. So bestätigt der Apostel Paulus:“ Gott hat sein Volk nicht verstoßen!“ Römer 11,2
Im Johannesevangelium heißt es: „Das Heil kommt von den Juden!“ Joh.4,22
Mit dem II. Vaticanum begann auch in der Römisch-katholischen Kirche ein
Erneuerungsprozess im Verhältnis zum Judentum. Der großartige Johannes XXIII. hatte ein
Gespür für die Notwenigkeit der christlichen Judenfeindschaft eine endgültige Absage zu
erteilen. Ihm wird folgendes Gebet zugeschrieben, in dem er die Geschichte von Kain und
Abel aufnimmt. Kain, der seinen Bruder erschlägt.
„Wir erkennen nun, dass viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen bedeckt haben, so
dass wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht
nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wieder erkennen. Wir erkennen, dass das
Kainszeichen auf unserer Stirn steht. Jahrhundertlang hat Abel daniedergelegen in Blut und
Tränen, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns die Verfluchung, die wir zu Unrecht
aussprachen über dem Namen der Juden. Vergib uns, dass wir Dich in ihrem Fleisch zum
zweiten Mal kreuzigten….Denn wir wussten nicht, was wir taten!“
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Das erneuerte Verhältnis zum Judentum schlug sich dann auch in einer neuen Liturgiesprache
nieder. Wurde früher im römischen Messbuch am Karfreitag für die „ungläubigen Juden
gebetet, heißt es nun: „Lasset uns beten für die Juden, zu denen Gott zuerst gesprochen hat,
dass sie seinen Namen immer mehr lieben und in Treue fortschreiten auf dem Weg, den sein
Bund ihnen gewiesen hat.“ Wir hören eine deutliche Veränderung. Nicht Bekehrung von
Ungläubigen, sondern die Anerkennung eigener religiöser Dignität und die Wertschätzung der
Besonderheit des jüdischen Volkes und Glaubens. Nicht wir bringen das Heil zu den Juden,
nein, es kommt zu uns von ihnen!
Im Jahr 1980 hat dann die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland in Bad
Neuenahr den viel beachteten Beschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und
Juden gefasst und darin unter anderem erklärt:
1. Die Mitverantwortung und Schuld am Holocaust
2. Die Gemeinsamkeit an den Schriften, dem Alten Testament
3. Die bleibende Erwählung Israels
4. Den Verzicht auf Judenmission zugunsten des jeweiligen Zeugnisses von Juden und
Christen vor der Welt
5. Die Gemeinsamkeit mit Israel im Glauben an den Schöpfer und in der Hoffnung auf einen
neuen Himmel und eine neue Erde.
1995 hat meine Kirche sogar den Grundartikel ihrer Kirchenordnung um folgenden Satz
ergänzt: Sie – die Kirche – bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes
Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Damit ist
meiner Kirche ins Stammbuch geschrieben, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus die
Verbundenheit zu Jüdinnen und Juden, die Absage an Judenfeindschaft und das Bejahen der
Treue Gottes zu seinem Volk mit einschließen.
Bei allem Stolz über diese Erklärung – ohne sie könnte ich heute nicht Pfarrer sein in dieses
Kirche – weiß ich dennoch – und das macht mich auch bis heute traurig…..Für viele viele
unschuldige Menschen kam sie zu spät!
Auch gibt es in allen Kirchen bis heute Menschen, die sich entweder mit der Problematik
christlicher Judenfeindschaft und deren Auswirkungen bisher nicht beschäftigt haben oder an
Bekehrung der Juden und Judenmission weiter festhalten wollen. Dazu zahlen evangelikale
Gruppen im protestantischen Lager, sei es in Deutschland oder in den USA. Eine nicht
unerhebliche Verschlechterung des Verhältnisses von Christen und Juden in den letzten
Jahren ging auf das Konto von Benedikt XVI. Bei aller Wertschätzung vor dessen
Lebensleistung und Wissen muss man leider sagen, dass dieser Papst wirklich jedes
Fettnäpfchen im Bereich anderer Religionen und Kirchen treffsicher fand, hinein
trat und immer wieder heftige Irritationen auslöste. In seiner Anbiederung an die rechten
Piusbrüder (Erzbischof Williams) erlaubte er die Feier der lateinischen Messe nach dem
tridentinischen Ritus. Benedikt selber war klar, dass er die dortige Karfreitagsbitte in ihrer
scharfen antijüdischen Aussage so nicht stehen lassen konnte. Er selber – höchstpersönlich
formulierte sie neu. Es ist insofern interessant, weil wir diesem Papst in sein theologisches
Hirn und Herz sehen dürfen. Und er formulierte so, dass die Juden nun doch wieder erleuchtet
werden müssen. Zwar seien sie, die „treulosen Juden“ nicht in „Finsternis“, aber – und so
formulierte Benedikt, „Gott möge ihre Herzen erleuchten, dass sie Christus erkennen!“ Das
bedeutete einen tatsächlichen Rückschritt zu der Formulierung des römischen Messbuches
von 1970. Bei Benedikt führt der Weg für Jüdinnen und Juden zu Gott nur über Christus und
nicht, wie die Neufassung von 1970 in ihrer Weite und Anerkennung des eigenständigen
jüdischen Erbes betonte, auf einem eigenen Bundesweg mit Gott. Nun ist und bleibt der
tridentinische Ritus eine Ausnahmeliturgie in Latein, dennoch löste diese „Rolle Rückwärts“
Benedikts im Judentum nicht wenige Ängste vor neuer Missionierung und Bekehrung wach.
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Es gab Proteste dagegen unter den deutschen und amerikanischen Katholiken. Juden sagten:
Seht her, der Panther behält doch seine Flecken bzw. um es in die deutsche Märchensprache
übersetzt: Da mag der Wolf noch soviel Kreide fressen und seine Pfoten weiß anmalen, am
Ende wollen sie uns doch mit Haut und Haaren vernichten. Neues, mühsam erworbenes
gegenseitiges Vertrauen wurde somit aufs Spiel gesetzt. Aber ich schaue nicht nur kritisch auf
die Römisch-katholische Kirche in dieser Frage, sondern auch auf die eigene Kirche. Als
Landessynodaler und Mitglied unseres Kirchenparlamentes habe ich beinahe einen Föhn
bekommen, als sich unsere Evangelische Kirche im Rheinland jüngst das Etikett
„missionarisch Volkskirche sein“ anheftete. Ich habe in den Ausschusssitzungen, in den
Plenarsitzungen nachgefragt, gemahnt, interveniert, getobt, ob dies denn wirklich sein könnte.
Und auf dem Hintergrund meiner heutigen Ausführungen, ob wir uns wirklich als
missionarisch verstehen wollen? Und was dieser Begriff wohl bei den Mitbürgern und
Angehörigen anderer Religionen auslöst? Jawohl, habe ich gesagt, intern, da sollten wir
missionarisch sein, da gibt es nämlich an uns einige schwerwiegende Ansichten zu verändern,
nämlich die immer noch latent und undurchsichtig und bösartige und gar nicht so leicht zu
entdeckende Judenfeindschaft und Fremdenfeindlichkeit in den eigenen Reihen.
Ich komme zum Schluss meiner Ausführungen: Ich habe aufzuzeigen versucht, dass
tatsächlich der christliche Antijudaismus dem Nazigreul und der Judenvernichtung mit den
Boden bereitet hat. Die Kirchen haben nach der Schoah begonnen, erst langsam, aber
immerhin dann Schritt für Schritt ein neues Verhältnis zum Judentum aufzubauen und sich
von einem schlimmen, menschenverachtenden Erbe zu lösen. Das Judentum ist für das
Christentum nicht eine Religion wie jede andere, sondern die lebendige Wurzel des
gemeinsamen Glaubens an den Schöpfer des Himmels und der Erden oder wie es Johannes
Paul II. bei seinem Besuch 1982 in der wunderschönen römischen Synagoge am Tiberufer
sagte: „Das Judentum unserer älteren Brüder (-und Schwestern) ist nicht etwas Äußeres,
sondern gehört zum inneren Kern unseres eigenen Glaubens!“ Dietrich Bonhoeffer schrieb in
seinem Ethikentwurf von 1940: „Weil aber Jesus Christus der verheißene Messias des
jüdischen Volkes ist, muss eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland….die Verstoßung
Christi nach sich ziehen, denn Jesus Christus war Jude.“ Die Vertreibung und Vernichtung
der Juden war, wenn ich Bonhoeffer richtig verstehe, ein immenser Seelenschaden an der
christlichen Kirche selbst. Wo Juden nicht bleiben können, werden am Ende auch Christen
nicht mehr sein. Um Jesu willen gehören wir zusammen. Das Schweigen, Dulden und
Billigen der Kirche an der Judenvernichtung ist neben anderem ein Glaubwürdigkeitsverlust,
der als Kainsmahl uns weiter begleiten wird.
Lernen wir daraus, dass wir die Menschen, die heute zu uns kommen, als Flüchtlinge, als
Menschen aus anderen Kulturen, mit einem anderen Glauben, einem anderen
Lebenshintergrund, einer anderen Philosophie oder Weltanschauung nie mehr als Bürger
unter Vorbehalt ansehen, nie mehr sie im Status des Fremden belassen, ihnen keine Chance
gebend, sondern ihnen Hand, Heimat und Hoffnung anbieten, sie ansehen durch ihr Sosein als
Bereicherung des gemeinsamen Lebens in einer gemeinsamen Welt.
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