Die Islamische Republik Iran als Gottesstaat, Orientalistik / Sinologie

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Oliver Borszik
Die Islamische Republik Iran als Gottesstaat
Anspruch und Wirklichkeit der Staatsideologie Khomeinis
Magisterarbeit
Die Islamische Republik Iran als Gottesstaat –
Anspruch und Wirklichkeit der Staatsideologie
Khomeinis
Wissenschaftliche Hausarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
eines Magister Artium
der Universität Hamburg
vorgelegt von
Oliver Borszik
geboren in Karl-Marx-Stadt
Hamburg 2006
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
S. 4
2. Historische und ideologische Dimension
S. 8
2.1. Historisch-religiöse Ausgangslage und Entwicklungen des schiitischen
Islams im Hinblick auf die Rolle der Rechtsgelehrten
S. 10
2.2. Schiitischer Revivalismus in Iran im Zeitalter der Moderne
S. 20
2.3. Perspektiven der Weltanschauung Khomeinis
S. 26
2.3.1. Khomeini zwischen Dogmatismus, Verstand und Mystik
2.3.1.1.
Dogmatismus, Rhetorik und Überlieferung
2.3.1.2.
Überlegungen zum Verhältnis von Verstand
2.3.1.3.
S. 31
S. 32
und Überlieferung
S. 37
Religiöses Bewusstsein und Mystik
S. 42
2.4. Politische Theorie: islamische Ordnung und die Konzeption
der Staatsideologie der Islamischen Republik Iran
3. Verfassungsmäßige Dimension
S. 46
S. 57
3.1. Quellen und Methoden des islamischen Rechts in der Verfassung
S. 61
3.2. Veränderliche und feststehende Sphären des islamischen Rechts
S. 62
3.3. Zur Diskrepanz zwischen religiösen und weltlichen Elementen
S. 66
3.3.1. Absolute Gottessouveränität vs. eingeschränkte Volkssouveränität
S. 68
3.3.2. Absolute Herrschaft des Rechtsgelehrten vs. Gewaltenteilung
S. 71
4. Politische und gesellschaftliche Dimension
4.1. Auswirkungen des Ersten Golfkriegs auf Politik und Gesellschaft
4.2. Ayatollah ‘Ali Khamene’i zwischen marºaþÍyat und velÁyat-e faqÍh
1
S. 75
S. 78
S. 87
4.3. Machtkämpfe zwischen Linksislamisten, Rechtstraditionalisten,
Technokraten und Reformern
S. 93
4.3.1. Zur staatlichen Einflussnahme linker Islamisten
S. 94
4.3.2. Zeitweilige Koalition zwischen Technokraten
und Rechtstraditionalisten
S. 96
4.3.3. Zum Scheitern der Reformer
S. 98
4.4. Indoktrinierte oder autonome Zivilgesellschaft?
S. 104
5. Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit
S. 110
6. Fazit
S. 113
Literaturverzeichnis
S. 118
2
Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten;
Unter Lieben, Trinken, Singen
Soll dich Chisers Quell verjüngen
Dort, im Reinen und im Rechten,
Will ich menschlichen Geschlechten
In des Ursprungs Tiefe dringen,
Wo sie noch von Gott empfingen
Himmelsehr in Erdesprachen,
Und sich nicht den Kopf zerbrachen.
Johann Wolfgang Goethe
3
1. Einführung
In der vorliegenden Magisterarbeit wird bei arabischen Namen und Begriffen die Transkription nach der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) verwendet. Persische Namen
und Begriffe werden ebenfalls nach dem System der DMG transkribiert, wobei die persische
Aussprache der Vokale und einiger Konsonanten berücksichtigt wird. Begriffe, die aus dem
Arabischen oder Persischen in die deutsche Sprache eingegangen sind, werden nicht transkribiert. Zitate werden unverändert übernommen.
Für die wissenschaftliche Bearbeitung des gestellten Themas halte ich den meta-analytischen
Ansatz für besonders geeignet. Eine der wichtigen Aufgaben, die im Rahmen der MetaAnalyse oder Meta-Forschung geleistet werden kann ist, noch unerforschte Bereiche oder bisher ungelöste Probleme zu veranschaulichen. Eine weitere Zielsetzung dieser wissenschaftlichen Methode besteht darin, die theoretischen Erkenntnisse verschiedener Autoren in ihrem
jeweiligen Forschungsgebiet und den allgemeinen Forschungsstand durch Wissenstransfer auf
einer höheren Ebene zu generalisieren. Durch diese Art der Erfassung und Bewertung verschiedener Erkenntnisse oder Vermutungen soll eine möglichst hohe Synthetisierung dieser
Erkenntnisse und eine zuverlässige Aussagequalität über das gestellte Thema erreicht werden.1 Darüber hinaus ziehe ich selbstverständlich die mir vorliegenden Primärquellen heran,
da nur diese einen authentischen Zugang zur Ideologie Khomeinis liefern. Das im Folgenden
diskutierte Thema der Arbeit wird in drei Dimensionen entfaltet: Erstens in der historischen
und ideologischen Dimension, zweitens in der verfassungsmäßigen- und drittens in der politischen und gesellschaftlichen Dimension. Meines Erachtens eignet sich die islamwissenschaftliche Perspektive mit ihrem breiten Themenspektrum mehr als andere wissenschaftliche Perspektiven – wie die der Geschichts-, der Politik-, der vergleichenden Religions-, der Rechtsund Sozialwissenschaften oder der Philosophie – um die Staatsideologie Khomeinis und deren
Entfaltung in der Wirklichkeit auf ihre Tragfähigkeit hin zu untersuchen.
Seit der islamischen Frühzeit ist die politische Philosophie im Vorderen Orient von religiösen und rechtlichen Aspekten geprägt. Der Prophet (arab. al-rasÚl) und Begründer des Islams,
Mohammed, war während der medinischen Phase in den Prozess der Begründung des Staatswesens involviert.2 Er war also einerseits religiöses Oberhaupt und schlichtete – legitimiert
durch seine Erfahrung der göttlichen Offenbarung, die im Koran (arab. qurÿÁn; pers. qorÿÁn)
1
2
Renger, Populärer Journalismus, S. 27 f.
Die Auswanderung (arab. hiºra) des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina erfolgte im Jahr 622
christlicher Zeitrechnung (arab. sana masͽÍya). Die Auswanderung Mohammeds markiert den Beginn der
medinischen Phase. Mit diesem Jahr beginnt die islamische Zeitrechnung (arab. sana hiºrÍya); im Folgenden
mit A.H. (Anno Hiºra) bezeichnet. Arabische bzw. persische Begriffe werden im Folgenden mit den Abkürzungen „arab.” bzw. „pers.” versehen.
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ihren Ausdruck findet – in rechtlichen Streitfragen, andererseits war er aber auch Staatsoberhaupt. Nach dem Tod Mohammeds stellte sich schließlich die Frage der politischen Nachfolgeregelung. Diese Angelegenheit wurde allerdings nicht nur politisch beantwortet und gedeutet, sondern stets auch religiös interpretiert. Bis zum Zeitpunkt der Ermordung des dritten Kalifen þUÝmÁn im Jahr 656 (35 A.H.) aufgrund von Auseinandersetzungen um seine Nachfolge
war das politische Wesen in der islamischen Welt in Bezug auf die Akzeptanz seiner Führungsfiguren von einem allgemeinen Konsens getragen. Ausgelöst durch die unklaren Verhältnisse um die politische Nachfolgeregelung hingegen spaltete sich die islamische Urgemeinde nun in verschiedene Gruppen (arab. firaq, sing. firqa) – hauptsächlich in Sunniten und
Schiiten –, was sich in den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten von Koran und Sunna
(die in der ¼adÍÝ-Literatur kompilierte vorbildliche Handlungsweise des Propheten in allen
Lebensbereichen) äußerte und bis in die Gegenwart hineinreicht. Dieser Bruch führt hin zu
der Bedeutung beider Überlieferungsquellen als religiöses und rechtliches Erbe der Muslime.
Beide Quellen stellen im Islam die Legitimationsbasis politischer Herrschaft dar. Wie bereits
angedeutet, liegen die Wurzeln der Politisierung des Islam also bereits in dessen Frühzeit. Die
Staatsinteressen wurden an islamischen Interessen ausgerichtet. Die Frage nach dem rechtmäßigen Herrscher als dem Stellvertreter Gottes auf Erden, ob Kalif (arab. ¿alÍfa) oder Imam
(arab. imÁm), war in der Geschichte sowohl theologischer, als auch politischer Kernbestandteil des Islams. Während der Kalif jedoch von einem Gremium gewählt wurde, war die Nachfolgeregelung des Imams genealogischer Natur.
Der Islam war und ist seit seiner Entstehung eine alle Lebensbereiche umfassende Religion,
die von einem Pluralismus der Interpretationsmöglichkeiten seiner Überlieferungsquellen geprägt ist. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts entstand dadurch eine Vielzahl schriftlich festgehaltener Rechtswerke. Ausdruck dieses Pluralismus sind die sich herausbildenden Lehrmeinungen (arab. ÁrÁÿ; sing. raÿy) und die verschiedenen Wege und Methoden der sich entwickelnden Rechtsschulen (arab. maªÁhib; sing. maªhab), die keinen universalen Gültigkeitsanspruch erheben können, sondern vielmehr eine von vielen Facetten des
islamischen, von Menschen kodifizierten Rechts darstellen. Die Tatsache, dass der Islam in
Teilen der islamischen Welt auf die eigene Wahrnehmung und somit auf den alleinigen Gültigkeitsanspruch der eigenen Interpretation seiner Quellen reduziert und der gelebte Pluralismus somit bestritten wird, stellt bis in die Gegenwart das Hauptproblem des politischen Islam
dar.
Einer der bekanntesten Wortführer des politischen Islam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ¼a±rat ÀyatollÁh al-þUãmÁ RÚ½ollÁh al-Musavi al-¾omaynÍ, besser bekannt als
5
Ayatollah Khomeini (1902/1320 A.H.-1989/1410 A.H.). Er gab etwa 1300 Jahre nach der
Spaltung der islamischen Gemeinschaft eine Antwort auf die zentrale Frage der Schiiten, wer
den legitimen Anspruch erheben darf, während der Zeit der Verborgenheit (pers. ™eybat) des
Zwölften Imams als dessen Stellvertreter aufzutreten. In seiner Staatsideologie wird politisches Denken in die Theologie inkorporiert. Khomeini ist zunächst Verfechter, später der
geistige Führer einer revolutionären Re-Islamisierung, eines „Islamic Revival”. Mit der Gründung der Islamischen Republik Iran (pers. ¹omhÚrÍ-ye EslÁmÍ-ye ÌrÁn) ist es erstmals einem
Fürsprecher des politischen Islam gelungen, seine Ideologie als offizielle Staatsideologie zu
etablieren. Die Islamische Republik Iran (IRI) wurde bereits mehrfach als Gottesstaat bezeichnet.3 Khomeinis allumfassende religiöse, rechtliche, gesellschaftliche und schließlich
politische Ideologie des islamischen Gottesstaates manifestierte sich unmittelbar nach der Islamischen Revolution4 durch dessen politische Einflussnahme in der Zeit der Moderne (arab.
½adÁÝa) – in der Realität der Islamischen Republik.5
Die IRI ist einer der derzeit 57 Mitgliedstaaten der Organization of Islamic Conference
(OIC). Alle 57 Mitgliedstaaten der OIC können als souveräne, moderne islamische Staaten
bezeichnet werden, die theoretisch durch ihr gemeinsames islamisches Erbe, eine gemeinsame
Tradition und gegenseitige Solidarität miteinander verbunden sind. Die meisten dieser Staaten
sind Republiken, während einige wenige Länder als Staaten und Königreiche bezeichnet werden. Zwei einzelne Staaten sind als Sultanat bzw. als Union deklariert.6 Die IRI wurde am 1.
April 1979 durch ihr geistiges Oberhaupt und zugleich den offiziellen Führer der Islamischen
Revolution, den Ayatollah Khomeini, ausgerufen. Seither ist die IRI eine von drei Islamischen
Republiken.7
Khomeinis ideologischer Ansatz zur Schaffung der Rahmenbedingungen für das Zusammenleben in einer „wahren” und „gerechten” muslimischen Gesellschaft innerhalb eines ideali3
4
5
6
7
So etwa bei Steinbach, Die „Zweite Islamische Republik”. Der Gottesstaat auf dem Weg in die Normalität,
Halm, Die Schia, S. 158-166 oder bei Nirumand, Iran-Report, Januar und Februar 2006.
Auf die Ereignisse und die Bedeutung der Islamischen Revolution wird im Rahmen der Arbeit lediglich eingegangen, insofern sie in Bezug zur Thematik der Arbeit stehen. Stellvertretend für die umfassende Literatur
zur Islamischen Revolution in Iran seien an dieser Stelle folgende Autoren erwähnt: Cottam, The Iranian Revolution; Kamrava, Revolution in Iran; Milani, The Making of Iran’s Islamic Revolution; Naficy, Klerus, Basar und die iranische Revolution und Parsa, Social Origins of the Iranian Revolution.
Gemäß Habermas sind die Herausforderungen der Moderne erstens die Tatsache des religiösen Pluralismus,
zweitens der Aufstieg der modernen Wissenschaften und drittens die Durchsetzung von positivem Recht und
profaner Gesellschaftsmoral. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, S. 143.
Diese beiden Staaten sind das Sultanat Oman und die Union der Komoren. Bezüglich der Mitgliedstaaten der
OIC siehe die offizielle Homepage der OIC: http://www.oic-oci.org/english/main/member-States.html.
Mauretanien und Pakistan sind die beiden anderen Islamischen Republiken. Die Islamische Republik Mauretanien wurde bereits am 28.11.1958 als autonomer Staat innerhalb der Communaute Francaise proklamiert,
d.h. die Kolonialmacht Frankreich hat auf diese Weise dem Druck innerer mauretanischer Kräfte nachgegeben. „[...] Am 2.11.1953 erklärte die „Verfassungsgebende Versammlung“ in Karachi (Pakistan) das Land zur
„Islamischen Republik Pakistan“ und prägte so diesen Terminus.” Ebert, Staat, Verfassung und Islam, S. 118.
6
sierten islamischen Staates – in der wissenschaftlichen Literatur taucht der Begriff Khomeinismus auf, was bereits auf die Bedeutung seines ideologischen Erbes hinweist8 – entfaltete
unmittelbar nach der Islamischen Revolution seine Wirkungen als in der Verfassung der IRI
verankerte Staatsideologie erst- und einmalig in einem der Mitbegründerstaaten der OIC.
Auch wenn die Mitgliedstaaten der OIC gewissermaßen eine ideelle Staatengemeinschaft darstellen, so zeichnete sich rasch ab, dass der angestrebte Revolutionsexport Khomeinis eine
Illusion war. Angesichts des vorherrschenden Pluralismus der Meinungen bezüglich der Rolle
des Islams in dieser Staatengemeinschaft und der Verschiedenheit von Schiiten und Sunniten
war dieses Vorhaben Khomeinis zum Scheitern verurteilt und wird im Rahmen dieser Arbeit
nicht diskutiert werden.
Dennoch, die von Khomeini konzipierte und religiös sowie vernunftsmäßig legitimierte
Herrschaft des Rechtsgelehrten (pers. velÁyat-e faqÍh) hat in der IRI auch 27 Jahre nach ihrer
Gründung Bestand.9 In einer globalisierten und in allen Lebensbereichen der Modernisierung
verpflichteten Welt erweisen sich die ideologischen Fundamente der IRI als weitestgehend
stabil. In Anbetracht dieser Tatsache werden in der vorliegenden Magisterarbeit die folgenden
Fragen gestellt und so weit wie möglich beantwortet werden: von welchen historischen Errungenschaften der Schia in Iran profitierte Khomeinis Staatsideologie? Welche Rolle spielen
Dogmatismus, Überlieferung (arab. und pers. naql), Verstand (arab. und pers. þaql) und Mystik (pers. þerfÁn; arab. at-taÈawwuf) innerhalb seiner Denkweise? Worin liegen die grundlegenden Widersprüche und die theoretische Inkonsistenz der Staatsideologie Khomeinis, die
Eingang in die Verfassung fand? Inwiefern konnte Khomeinis Staatsideologie, seine Vorstellungen von einem idealen islamischen Staat und einer „wahren” und „gerechten” islamischen
Gesellschaft verwirklicht werden? Welchen Nutzen zog die iranische Bevölkerung aus den
umfassenden Wandlungsprozessen seit der Politisierung der Geistlichkeit und der ReIslamisierung von Staat und Gesellschaft?
Bei der Beschäftigung mit diesen komplexen Fragen ist zu erwarten – so die Hauptthese der
Arbeit –, dass zwangsläufig Diskrepanzen und Widersprüche zwischen ideologischem Anspruch und der Wirklichkeit in dem Gottesstaat entstehen mussten, da Khomeinis Weltanschauung teilweise zu einer vereinfachenden und polarisierenden Sichtweise neigt. Die Untersuchung eben solcher Antagonismen steht im Vordergrund dieser Arbeit und bildet ihren ge8
9
So bei Abrahamian, Khomeinism, Introduction, S. 1-12.
Dem Begriff velÁyat-e faqÍh folgend, spreche ich von der Herrschaft des (ranghöchsten) Rechtsgelehrten. Die
Singularität des Begriffs wurde von Khomeini nicht explizit erklärt. Ich gehe jedoch davon aus, dass Khomeini die Herrschaft des (ranghöchsten) Rechtsgelehrten als Stellvertreter des Verborgenen Imam als eine von
nur einem Rechtsgelehrten stellvertretend übernommene Herrschaft deklariert, um dessen Charisma in seiner
Funktion hervorzuheben. Vermutlich geschah dies in Anlehnung an die Tatsache, dass auch die rechtgeleiteten Imame das souveräne Herrschaftsrecht ausschließlich allein ausübten.
7
danklichen Rahmen. Schier unüberwindbare Widersprüche ergeben sich aber auch aus einem
miteinander nahezu unvereinbaren Spektrum der vom geistlichen Establishment jeweils vertretenen Positionen innerhalb eines heterogenen politischen Machtgefüges im Gottesstaat bezüglich der staatlichen Machtbefugnisse, des Einflusses der Bevölkerung auf die politische
Entwicklung in Form von Wahlen sowie der zu verfolgenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Das Verhältnis zwischen der Überlieferung von Koran und Sunna
einerseits und den rationalen Erkenntnissen Khomeinis andererseits, mit denen dieser argumentiert, ist meines Erachtens von zentraler Bedeutung, um einen Zugang zu seinem religiösen, rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Anspruchsdenken zu finden. Eine Untersuchung dieses Zusammenhangs kann wesentlich zur Klärung der gestellten Fragen beitragen.
2. Historische und ideologische Dimension
Um den Anspruch Khomeinis an den gegenwärtigen islamischen Staat, die Islamische Republik Iran (IRI), nachzuvollziehen und die Tradition, innerhalb derer er argumentiert zu verstehen, ist zunächst eine nähere Betrachtung der schiitischen Geschichte von besonderer Bedeutung. Wie zu zeigen sein wird, offenbaren die historischen Entwicklungen der Schia – von
den Anfängen über die Æafaviden-Dynastie bis hin zur neueren Geschichte – und die Staatsideologie Khomeinis eine Vielzahl von Analogien. Mehr noch: die im Zusammenhang mit
Khomeini häufig genannten Begriffe Re-Islamisierung oder Islamic Revival erhalten erst ihre
volle Bedeutung durch ein gewisses historisches Verständnis der Schia. Es sei darauf hingewiesen, dass die Ausführungen in Kapitel 2.1. keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben,
sondern vielmehr hilfreich sein sollen für das Verständnis des ideologischen Anspruchs Khomeinis.
Ursprünge der gegenwärtigen „Re-Islamisierung” bzw. „Re-Politisierung” des schiitischen
Islams können in den vergangenen Entwicklungsepochen der Schia ausgemacht werden: so
betont Arjomand die politisch einflussreiche Rolle des Rechtsgelehrten NaÈÍr ad-DÍn aÔ-ÓÚsÍ
(gest. 1274/672 A.H.) im Lager des mongolischen Herrschers Hülegü. Er und dessen Schüler
þAllÁma al-¼illÍ (gest. 1326/726 A.H.) leisteten einen erheblichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Prinzipienlehre der islamischen Rechtswissenschaft (arab. uÈÚl al-fiqh). þAllÁma al¼illÍ etablierte die geistige Anstrengung (pers. eºtehÁd; arab. iºtihÁd) des Verstands (arab.
und pers. þaql) als Prinzip der sich erneuernden Rechtsfindung des Rechtsgelehrten und Theologen (arab. und pers. faqÍh; plur. pers. foqahÁÿ) und ebnete somit bereits im 14. Jahrhundert
8
den Weg für die spätere politische Rolle der Rechtsgelehrten.10 Die rationale Beweisführung
Khomeinis für die legitime politische Herrschaft des Rechtsgelehrten (pers. velÁyat-e faqÍh)
ist aus der historischen Perspektive eine Weiterentwicklung der Kompetenzen der Rechtsgelehrten. Während die þulamÁÿ (arab. sing. þÁlim), die schiitischen Gelehrten der vergangenen
Epochen, lediglich mit religiöser und rechtlicher Autorität ausgestattet waren, befürwortete
Khomeini nunmehr auch die Institutionalisierung der politischen Autorität der ranghöchsten
Rechtsgelehrten und meinte damit in erster Linie seine eigene Person. Der charismatische
Sayyid Mu½ammad NÚrba¿š (gest. 1463/867 A.H.) und Schah IsmÁþÍl I., der Begründer der
Æafaviden-Dynastie, verkörperten mit ihrem populistischen Messianismus die schiitischextremistische Variante einer universalen chiliastischen Eschatologie und stellten in diesem
Zusammenhang die Behauptung auf, sie seien der erwartete MahdÍ.11 In eine solche Art des
religiösen Extremismus ist Khomeini nicht verfallen. Er beschränkt die allumfassende Autorität der Rechtsgelehrten – und somit zunächst seine eigene Autorität – „lediglich” auf die
Funktionen als Stellvertreter des Verborgenen Imam al-MahdÍ. Khomeinis Ideologie rechtfertigt durch eine vergangenheitsbezogene Argumentation die Notwendigkeit der Autoritätserweiterung der ranghöchsten schiitischen Religions- und Rechtsgelehrten Irans – die in der
wissenschaftlichen Literatur auch als „bevollmächtigte maßgebliche Instanz” (pers. marºaþ-e
taqlÍd; plur. marÁºaþ-e taqlÍd) bezeichnet werden – auf den Bereich der politischen Herrschaft. Dabei profitiert er von der innerhalb der Schia bereits etablierten religiösen und rechtlichen Autorität der marÁºaþ-e taqlÍd innerhalb der schiitischen Glaubensgemeinschaft in Iran. Die von Khomeini erlangte politische Autorität ist aus historischer Perspektive meiner
Auffassung nach ein letzter Schritt hin zu einer allumfassenden Autorität der marÁºaþ-e taqlÍd, die den vorläufigen Höhepunkt der Einflussnahme des schiitischen Klerus markiert. Die
daraus resultierende Frage, inwiefern Khomeini ca. 1300 Jahre nach der islamischen Frühzeit
zur Modernisierung des Islam beitrug, oder aber die Moderne (arab. ½adÁÝa) zu islamisieren
versuchte, kann erst nach einer Erläuterung bestimmter historischer Entwicklungen und Errungenschaften der Schia beantwortet werden. Tatsächlich verwirklichte Khomeini mit der
Gründung der IRI ein islamisches Gegenkonzept zur vom Schah verkörperten säkularwestlichen Moderne. Das religiöse Establishment in der IRI liefert gegenwärtig den beständigen Beweis für seine Fähigkeit, die eigene, schiitische Identität in einer modernen, globalisierten Welt zu behaupten: „Die Welt wird immer moderner, aber sie wird davon nicht west-
10
Das arab. Verbalnomen faqÍh wird aus dem Verb faqiha/faqÁha (verstehen, begreifen/Rechtskenntnis besitzen) abgeleitet.
11
Auf die Begriffe Eschatologie und Chiliasmus wird in Kapitel 2.1. näher eingegangen.
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