Sprachen Oliver Borszik Die Islamische Republik Iran als Gottesstaat Anspruch und Wirklichkeit der Staatsideologie Khomeinis Magisterarbeit Die Islamische Republik Iran als Gottesstaat – Anspruch und Wirklichkeit der Staatsideologie Khomeinis Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium der Universität Hamburg vorgelegt von Oliver Borszik geboren in Karl-Marx-Stadt Hamburg 2006 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung S. 4 2. Historische und ideologische Dimension S. 8 2.1. Historisch-religiöse Ausgangslage und Entwicklungen des schiitischen Islams im Hinblick auf die Rolle der Rechtsgelehrten S. 10 2.2. Schiitischer Revivalismus in Iran im Zeitalter der Moderne S. 20 2.3. Perspektiven der Weltanschauung Khomeinis S. 26 2.3.1. Khomeini zwischen Dogmatismus, Verstand und Mystik 2.3.1.1. Dogmatismus, Rhetorik und Überlieferung 2.3.1.2. Überlegungen zum Verhältnis von Verstand 2.3.1.3. S. 31 S. 32 und Überlieferung S. 37 Religiöses Bewusstsein und Mystik S. 42 2.4. Politische Theorie: islamische Ordnung und die Konzeption der Staatsideologie der Islamischen Republik Iran 3. Verfassungsmäßige Dimension S. 46 S. 57 3.1. Quellen und Methoden des islamischen Rechts in der Verfassung S. 61 3.2. Veränderliche und feststehende Sphären des islamischen Rechts S. 62 3.3. Zur Diskrepanz zwischen religiösen und weltlichen Elementen S. 66 3.3.1. Absolute Gottessouveränität vs. eingeschränkte Volkssouveränität S. 68 3.3.2. Absolute Herrschaft des Rechtsgelehrten vs. Gewaltenteilung S. 71 4. Politische und gesellschaftliche Dimension 4.1. Auswirkungen des Ersten Golfkriegs auf Politik und Gesellschaft 4.2. Ayatollah ‘Ali Khamene’i zwischen marºaþÍyat und velÁyat-e faqÍh 1 S. 75 S. 78 S. 87 4.3. Machtkämpfe zwischen Linksislamisten, Rechtstraditionalisten, Technokraten und Reformern S. 93 4.3.1. Zur staatlichen Einflussnahme linker Islamisten S. 94 4.3.2. Zeitweilige Koalition zwischen Technokraten und Rechtstraditionalisten S. 96 4.3.3. Zum Scheitern der Reformer S. 98 4.4. Indoktrinierte oder autonome Zivilgesellschaft? S. 104 5. Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit S. 110 6. Fazit S. 113 Literaturverzeichnis S. 118 2 Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern, Flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten; Unter Lieben, Trinken, Singen Soll dich Chisers Quell verjüngen Dort, im Reinen und im Rechten, Will ich menschlichen Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen, Wo sie noch von Gott empfingen Himmelsehr in Erdesprachen, Und sich nicht den Kopf zerbrachen. Johann Wolfgang Goethe 3 1. Einführung In der vorliegenden Magisterarbeit wird bei arabischen Namen und Begriffen die Transkription nach der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) verwendet. Persische Namen und Begriffe werden ebenfalls nach dem System der DMG transkribiert, wobei die persische Aussprache der Vokale und einiger Konsonanten berücksichtigt wird. Begriffe, die aus dem Arabischen oder Persischen in die deutsche Sprache eingegangen sind, werden nicht transkribiert. Zitate werden unverändert übernommen. Für die wissenschaftliche Bearbeitung des gestellten Themas halte ich den meta-analytischen Ansatz für besonders geeignet. Eine der wichtigen Aufgaben, die im Rahmen der MetaAnalyse oder Meta-Forschung geleistet werden kann ist, noch unerforschte Bereiche oder bisher ungelöste Probleme zu veranschaulichen. Eine weitere Zielsetzung dieser wissenschaftlichen Methode besteht darin, die theoretischen Erkenntnisse verschiedener Autoren in ihrem jeweiligen Forschungsgebiet und den allgemeinen Forschungsstand durch Wissenstransfer auf einer höheren Ebene zu generalisieren. Durch diese Art der Erfassung und Bewertung verschiedener Erkenntnisse oder Vermutungen soll eine möglichst hohe Synthetisierung dieser Erkenntnisse und eine zuverlässige Aussagequalität über das gestellte Thema erreicht werden.1 Darüber hinaus ziehe ich selbstverständlich die mir vorliegenden Primärquellen heran, da nur diese einen authentischen Zugang zur Ideologie Khomeinis liefern. Das im Folgenden diskutierte Thema der Arbeit wird in drei Dimensionen entfaltet: Erstens in der historischen und ideologischen Dimension, zweitens in der verfassungsmäßigen- und drittens in der politischen und gesellschaftlichen Dimension. Meines Erachtens eignet sich die islamwissenschaftliche Perspektive mit ihrem breiten Themenspektrum mehr als andere wissenschaftliche Perspektiven – wie die der Geschichts-, der Politik-, der vergleichenden Religions-, der Rechtsund Sozialwissenschaften oder der Philosophie – um die Staatsideologie Khomeinis und deren Entfaltung in der Wirklichkeit auf ihre Tragfähigkeit hin zu untersuchen. Seit der islamischen Frühzeit ist die politische Philosophie im Vorderen Orient von religiösen und rechtlichen Aspekten geprägt. Der Prophet (arab. al-rasÚl) und Begründer des Islams, Mohammed, war während der medinischen Phase in den Prozess der Begründung des Staatswesens involviert.2 Er war also einerseits religiöses Oberhaupt und schlichtete – legitimiert durch seine Erfahrung der göttlichen Offenbarung, die im Koran (arab. qurÿÁn; pers. qorÿÁn) 1 2 Renger, Populärer Journalismus, S. 27 f. Die Auswanderung (arab. hiºra) des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina erfolgte im Jahr 622 christlicher Zeitrechnung (arab. sana masͽÍya). Die Auswanderung Mohammeds markiert den Beginn der medinischen Phase. Mit diesem Jahr beginnt die islamische Zeitrechnung (arab. sana hiºrÍya); im Folgenden mit A.H. (Anno Hiºra) bezeichnet. Arabische bzw. persische Begriffe werden im Folgenden mit den Abkürzungen „arab.” bzw. „pers.” versehen. 4 ihren Ausdruck findet – in rechtlichen Streitfragen, andererseits war er aber auch Staatsoberhaupt. Nach dem Tod Mohammeds stellte sich schließlich die Frage der politischen Nachfolgeregelung. Diese Angelegenheit wurde allerdings nicht nur politisch beantwortet und gedeutet, sondern stets auch religiös interpretiert. Bis zum Zeitpunkt der Ermordung des dritten Kalifen þUÝmÁn im Jahr 656 (35 A.H.) aufgrund von Auseinandersetzungen um seine Nachfolge war das politische Wesen in der islamischen Welt in Bezug auf die Akzeptanz seiner Führungsfiguren von einem allgemeinen Konsens getragen. Ausgelöst durch die unklaren Verhältnisse um die politische Nachfolgeregelung hingegen spaltete sich die islamische Urgemeinde nun in verschiedene Gruppen (arab. firaq, sing. firqa) – hauptsächlich in Sunniten und Schiiten –, was sich in den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten von Koran und Sunna (die in der ¼adÍÝ-Literatur kompilierte vorbildliche Handlungsweise des Propheten in allen Lebensbereichen) äußerte und bis in die Gegenwart hineinreicht. Dieser Bruch führt hin zu der Bedeutung beider Überlieferungsquellen als religiöses und rechtliches Erbe der Muslime. Beide Quellen stellen im Islam die Legitimationsbasis politischer Herrschaft dar. Wie bereits angedeutet, liegen die Wurzeln der Politisierung des Islam also bereits in dessen Frühzeit. Die Staatsinteressen wurden an islamischen Interessen ausgerichtet. Die Frage nach dem rechtmäßigen Herrscher als dem Stellvertreter Gottes auf Erden, ob Kalif (arab. ¿alÍfa) oder Imam (arab. imÁm), war in der Geschichte sowohl theologischer, als auch politischer Kernbestandteil des Islams. Während der Kalif jedoch von einem Gremium gewählt wurde, war die Nachfolgeregelung des Imams genealogischer Natur. Der Islam war und ist seit seiner Entstehung eine alle Lebensbereiche umfassende Religion, die von einem Pluralismus der Interpretationsmöglichkeiten seiner Überlieferungsquellen geprägt ist. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts entstand dadurch eine Vielzahl schriftlich festgehaltener Rechtswerke. Ausdruck dieses Pluralismus sind die sich herausbildenden Lehrmeinungen (arab. ÁrÁÿ; sing. raÿy) und die verschiedenen Wege und Methoden der sich entwickelnden Rechtsschulen (arab. maªÁhib; sing. maªhab), die keinen universalen Gültigkeitsanspruch erheben können, sondern vielmehr eine von vielen Facetten des islamischen, von Menschen kodifizierten Rechts darstellen. Die Tatsache, dass der Islam in Teilen der islamischen Welt auf die eigene Wahrnehmung und somit auf den alleinigen Gültigkeitsanspruch der eigenen Interpretation seiner Quellen reduziert und der gelebte Pluralismus somit bestritten wird, stellt bis in die Gegenwart das Hauptproblem des politischen Islam dar. Einer der bekanntesten Wortführer des politischen Islam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ¼a±rat ÀyatollÁh al-þUãmÁ RÚ½ollÁh al-Musavi al-¾omaynÍ, besser bekannt als 5 Ayatollah Khomeini (1902/1320 A.H.-1989/1410 A.H.). Er gab etwa 1300 Jahre nach der Spaltung der islamischen Gemeinschaft eine Antwort auf die zentrale Frage der Schiiten, wer den legitimen Anspruch erheben darf, während der Zeit der Verborgenheit (pers. ™eybat) des Zwölften Imams als dessen Stellvertreter aufzutreten. In seiner Staatsideologie wird politisches Denken in die Theologie inkorporiert. Khomeini ist zunächst Verfechter, später der geistige Führer einer revolutionären Re-Islamisierung, eines „Islamic Revival”. Mit der Gründung der Islamischen Republik Iran (pers. ¹omhÚrÍ-ye EslÁmÍ-ye ÌrÁn) ist es erstmals einem Fürsprecher des politischen Islam gelungen, seine Ideologie als offizielle Staatsideologie zu etablieren. Die Islamische Republik Iran (IRI) wurde bereits mehrfach als Gottesstaat bezeichnet.3 Khomeinis allumfassende religiöse, rechtliche, gesellschaftliche und schließlich politische Ideologie des islamischen Gottesstaates manifestierte sich unmittelbar nach der Islamischen Revolution4 durch dessen politische Einflussnahme in der Zeit der Moderne (arab. ½adÁÝa) – in der Realität der Islamischen Republik.5 Die IRI ist einer der derzeit 57 Mitgliedstaaten der Organization of Islamic Conference (OIC). Alle 57 Mitgliedstaaten der OIC können als souveräne, moderne islamische Staaten bezeichnet werden, die theoretisch durch ihr gemeinsames islamisches Erbe, eine gemeinsame Tradition und gegenseitige Solidarität miteinander verbunden sind. Die meisten dieser Staaten sind Republiken, während einige wenige Länder als Staaten und Königreiche bezeichnet werden. Zwei einzelne Staaten sind als Sultanat bzw. als Union deklariert.6 Die IRI wurde am 1. April 1979 durch ihr geistiges Oberhaupt und zugleich den offiziellen Führer der Islamischen Revolution, den Ayatollah Khomeini, ausgerufen. Seither ist die IRI eine von drei Islamischen Republiken.7 Khomeinis ideologischer Ansatz zur Schaffung der Rahmenbedingungen für das Zusammenleben in einer „wahren” und „gerechten” muslimischen Gesellschaft innerhalb eines ideali3 4 5 6 7 So etwa bei Steinbach, Die „Zweite Islamische Republik”. Der Gottesstaat auf dem Weg in die Normalität, Halm, Die Schia, S. 158-166 oder bei Nirumand, Iran-Report, Januar und Februar 2006. Auf die Ereignisse und die Bedeutung der Islamischen Revolution wird im Rahmen der Arbeit lediglich eingegangen, insofern sie in Bezug zur Thematik der Arbeit stehen. Stellvertretend für die umfassende Literatur zur Islamischen Revolution in Iran seien an dieser Stelle folgende Autoren erwähnt: Cottam, The Iranian Revolution; Kamrava, Revolution in Iran; Milani, The Making of Iran’s Islamic Revolution; Naficy, Klerus, Basar und die iranische Revolution und Parsa, Social Origins of the Iranian Revolution. Gemäß Habermas sind die Herausforderungen der Moderne erstens die Tatsache des religiösen Pluralismus, zweitens der Aufstieg der modernen Wissenschaften und drittens die Durchsetzung von positivem Recht und profaner Gesellschaftsmoral. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, S. 143. Diese beiden Staaten sind das Sultanat Oman und die Union der Komoren. Bezüglich der Mitgliedstaaten der OIC siehe die offizielle Homepage der OIC: http://www.oic-oci.org/english/main/member-States.html. Mauretanien und Pakistan sind die beiden anderen Islamischen Republiken. Die Islamische Republik Mauretanien wurde bereits am 28.11.1958 als autonomer Staat innerhalb der Communaute Francaise proklamiert, d.h. die Kolonialmacht Frankreich hat auf diese Weise dem Druck innerer mauretanischer Kräfte nachgegeben. „[...] Am 2.11.1953 erklärte die „Verfassungsgebende Versammlung“ in Karachi (Pakistan) das Land zur „Islamischen Republik Pakistan“ und prägte so diesen Terminus.” Ebert, Staat, Verfassung und Islam, S. 118. 6 sierten islamischen Staates – in der wissenschaftlichen Literatur taucht der Begriff Khomeinismus auf, was bereits auf die Bedeutung seines ideologischen Erbes hinweist8 – entfaltete unmittelbar nach der Islamischen Revolution seine Wirkungen als in der Verfassung der IRI verankerte Staatsideologie erst- und einmalig in einem der Mitbegründerstaaten der OIC. Auch wenn die Mitgliedstaaten der OIC gewissermaßen eine ideelle Staatengemeinschaft darstellen, so zeichnete sich rasch ab, dass der angestrebte Revolutionsexport Khomeinis eine Illusion war. Angesichts des vorherrschenden Pluralismus der Meinungen bezüglich der Rolle des Islams in dieser Staatengemeinschaft und der Verschiedenheit von Schiiten und Sunniten war dieses Vorhaben Khomeinis zum Scheitern verurteilt und wird im Rahmen dieser Arbeit nicht diskutiert werden. Dennoch, die von Khomeini konzipierte und religiös sowie vernunftsmäßig legitimierte Herrschaft des Rechtsgelehrten (pers. velÁyat-e faqÍh) hat in der IRI auch 27 Jahre nach ihrer Gründung Bestand.9 In einer globalisierten und in allen Lebensbereichen der Modernisierung verpflichteten Welt erweisen sich die ideologischen Fundamente der IRI als weitestgehend stabil. In Anbetracht dieser Tatsache werden in der vorliegenden Magisterarbeit die folgenden Fragen gestellt und so weit wie möglich beantwortet werden: von welchen historischen Errungenschaften der Schia in Iran profitierte Khomeinis Staatsideologie? Welche Rolle spielen Dogmatismus, Überlieferung (arab. und pers. naql), Verstand (arab. und pers. þaql) und Mystik (pers. þerfÁn; arab. at-taÈawwuf) innerhalb seiner Denkweise? Worin liegen die grundlegenden Widersprüche und die theoretische Inkonsistenz der Staatsideologie Khomeinis, die Eingang in die Verfassung fand? Inwiefern konnte Khomeinis Staatsideologie, seine Vorstellungen von einem idealen islamischen Staat und einer „wahren” und „gerechten” islamischen Gesellschaft verwirklicht werden? Welchen Nutzen zog die iranische Bevölkerung aus den umfassenden Wandlungsprozessen seit der Politisierung der Geistlichkeit und der ReIslamisierung von Staat und Gesellschaft? Bei der Beschäftigung mit diesen komplexen Fragen ist zu erwarten – so die Hauptthese der Arbeit –, dass zwangsläufig Diskrepanzen und Widersprüche zwischen ideologischem Anspruch und der Wirklichkeit in dem Gottesstaat entstehen mussten, da Khomeinis Weltanschauung teilweise zu einer vereinfachenden und polarisierenden Sichtweise neigt. Die Untersuchung eben solcher Antagonismen steht im Vordergrund dieser Arbeit und bildet ihren ge8 9 So bei Abrahamian, Khomeinism, Introduction, S. 1-12. Dem Begriff velÁyat-e faqÍh folgend, spreche ich von der Herrschaft des (ranghöchsten) Rechtsgelehrten. Die Singularität des Begriffs wurde von Khomeini nicht explizit erklärt. Ich gehe jedoch davon aus, dass Khomeini die Herrschaft des (ranghöchsten) Rechtsgelehrten als Stellvertreter des Verborgenen Imam als eine von nur einem Rechtsgelehrten stellvertretend übernommene Herrschaft deklariert, um dessen Charisma in seiner Funktion hervorzuheben. Vermutlich geschah dies in Anlehnung an die Tatsache, dass auch die rechtgeleiteten Imame das souveräne Herrschaftsrecht ausschließlich allein ausübten. 7 danklichen Rahmen. Schier unüberwindbare Widersprüche ergeben sich aber auch aus einem miteinander nahezu unvereinbaren Spektrum der vom geistlichen Establishment jeweils vertretenen Positionen innerhalb eines heterogenen politischen Machtgefüges im Gottesstaat bezüglich der staatlichen Machtbefugnisse, des Einflusses der Bevölkerung auf die politische Entwicklung in Form von Wahlen sowie der zu verfolgenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Das Verhältnis zwischen der Überlieferung von Koran und Sunna einerseits und den rationalen Erkenntnissen Khomeinis andererseits, mit denen dieser argumentiert, ist meines Erachtens von zentraler Bedeutung, um einen Zugang zu seinem religiösen, rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Anspruchsdenken zu finden. Eine Untersuchung dieses Zusammenhangs kann wesentlich zur Klärung der gestellten Fragen beitragen. 2. Historische und ideologische Dimension Um den Anspruch Khomeinis an den gegenwärtigen islamischen Staat, die Islamische Republik Iran (IRI), nachzuvollziehen und die Tradition, innerhalb derer er argumentiert zu verstehen, ist zunächst eine nähere Betrachtung der schiitischen Geschichte von besonderer Bedeutung. Wie zu zeigen sein wird, offenbaren die historischen Entwicklungen der Schia – von den Anfängen über die Æafaviden-Dynastie bis hin zur neueren Geschichte – und die Staatsideologie Khomeinis eine Vielzahl von Analogien. Mehr noch: die im Zusammenhang mit Khomeini häufig genannten Begriffe Re-Islamisierung oder Islamic Revival erhalten erst ihre volle Bedeutung durch ein gewisses historisches Verständnis der Schia. Es sei darauf hingewiesen, dass die Ausführungen in Kapitel 2.1. keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern vielmehr hilfreich sein sollen für das Verständnis des ideologischen Anspruchs Khomeinis. Ursprünge der gegenwärtigen „Re-Islamisierung” bzw. „Re-Politisierung” des schiitischen Islams können in den vergangenen Entwicklungsepochen der Schia ausgemacht werden: so betont Arjomand die politisch einflussreiche Rolle des Rechtsgelehrten NaÈÍr ad-DÍn aÔ-ÓÚsÍ (gest. 1274/672 A.H.) im Lager des mongolischen Herrschers Hülegü. Er und dessen Schüler þAllÁma al-¼illÍ (gest. 1326/726 A.H.) leisteten einen erheblichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Prinzipienlehre der islamischen Rechtswissenschaft (arab. uÈÚl al-fiqh). þAllÁma al¼illÍ etablierte die geistige Anstrengung (pers. eºtehÁd; arab. iºtihÁd) des Verstands (arab. und pers. þaql) als Prinzip der sich erneuernden Rechtsfindung des Rechtsgelehrten und Theologen (arab. und pers. faqÍh; plur. pers. foqahÁÿ) und ebnete somit bereits im 14. Jahrhundert 8 den Weg für die spätere politische Rolle der Rechtsgelehrten.10 Die rationale Beweisführung Khomeinis für die legitime politische Herrschaft des Rechtsgelehrten (pers. velÁyat-e faqÍh) ist aus der historischen Perspektive eine Weiterentwicklung der Kompetenzen der Rechtsgelehrten. Während die þulamÁÿ (arab. sing. þÁlim), die schiitischen Gelehrten der vergangenen Epochen, lediglich mit religiöser und rechtlicher Autorität ausgestattet waren, befürwortete Khomeini nunmehr auch die Institutionalisierung der politischen Autorität der ranghöchsten Rechtsgelehrten und meinte damit in erster Linie seine eigene Person. Der charismatische Sayyid Mu½ammad NÚrba¿š (gest. 1463/867 A.H.) und Schah IsmÁþÍl I., der Begründer der Æafaviden-Dynastie, verkörperten mit ihrem populistischen Messianismus die schiitischextremistische Variante einer universalen chiliastischen Eschatologie und stellten in diesem Zusammenhang die Behauptung auf, sie seien der erwartete MahdÍ.11 In eine solche Art des religiösen Extremismus ist Khomeini nicht verfallen. Er beschränkt die allumfassende Autorität der Rechtsgelehrten – und somit zunächst seine eigene Autorität – „lediglich” auf die Funktionen als Stellvertreter des Verborgenen Imam al-MahdÍ. Khomeinis Ideologie rechtfertigt durch eine vergangenheitsbezogene Argumentation die Notwendigkeit der Autoritätserweiterung der ranghöchsten schiitischen Religions- und Rechtsgelehrten Irans – die in der wissenschaftlichen Literatur auch als „bevollmächtigte maßgebliche Instanz” (pers. marºaþ-e taqlÍd; plur. marÁºaþ-e taqlÍd) bezeichnet werden – auf den Bereich der politischen Herrschaft. Dabei profitiert er von der innerhalb der Schia bereits etablierten religiösen und rechtlichen Autorität der marÁºaþ-e taqlÍd innerhalb der schiitischen Glaubensgemeinschaft in Iran. Die von Khomeini erlangte politische Autorität ist aus historischer Perspektive meiner Auffassung nach ein letzter Schritt hin zu einer allumfassenden Autorität der marÁºaþ-e taqlÍd, die den vorläufigen Höhepunkt der Einflussnahme des schiitischen Klerus markiert. Die daraus resultierende Frage, inwiefern Khomeini ca. 1300 Jahre nach der islamischen Frühzeit zur Modernisierung des Islam beitrug, oder aber die Moderne (arab. ½adÁÝa) zu islamisieren versuchte, kann erst nach einer Erläuterung bestimmter historischer Entwicklungen und Errungenschaften der Schia beantwortet werden. Tatsächlich verwirklichte Khomeini mit der Gründung der IRI ein islamisches Gegenkonzept zur vom Schah verkörperten säkularwestlichen Moderne. Das religiöse Establishment in der IRI liefert gegenwärtig den beständigen Beweis für seine Fähigkeit, die eigene, schiitische Identität in einer modernen, globalisierten Welt zu behaupten: „Die Welt wird immer moderner, aber sie wird davon nicht west- 10 Das arab. Verbalnomen faqÍh wird aus dem Verb faqiha/faqÁha (verstehen, begreifen/Rechtskenntnis besitzen) abgeleitet. 11 Auf die Begriffe Eschatologie und Chiliasmus wird in Kapitel 2.1. näher eingegangen. 9