DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT Abdoldjavad Falaturi Der Islam - Religion der raÎma, der Barmherzigkeit 1. Einleitung und Begründung Infolge der jahrhundertelangen Polemik gegen den Islam und der Auseinandersetzung mit ihm deklarierte man nicht selten den Islam als Religion der Härte und sogar der Rache. Dementsprechend wurde auch Gott im Islam, also der Gott der Muslime (Allāh), als ein von seiner Willkür geleiteter, richtender, strafender und rachsüchtiger Gott charakterisiert. Davon hat man - um dabei „konsequent" zu sein - nicht selten mit Genugtuung die Härte, Gnadenlosigkeit und Rachsüchtigkeit der Muslime abzuleiten versucht und sogar bestimmte politische und geschichtliche Erscheinungen (vor allem kriegerische Erscheinungen), ja sogar viele islamische Vorschriften (besonders das islamische Strafrecht) aus dieser Perspektive kommentiert. Der Vollständigkeit halber, und um diese Ansicht auch historischwissenschaftlich zu begründen und alle Zweifel daran 61 SPEKTRUM IRAN auszuschließen, haben die Verfechter dieser These nach Vorfahren dieses unliebsamen Phänomens gesucht und sie gefunden. Es sollten bereits die Juden gewesen sein, die die Geschichte der Religionen mit einer solchen Härte belastet haben, indem sie an einen so rachsüchtigen, ja gewalttätigen Gott geglaubt bzw. sich Gott in einer solchen Gestalt und in einem solchen Gewand vorgestellt haben. Eine Stufe höher wird der Islam (wie auch das Judentum) von denjenigen Vertretern dieser Interpretation eingestuft, denen der islamische Gott nicht mehr als ein sich willkürlich rächender Gott, sondern als ein gerechter Richter gilt, der alles genauestens mit der Waage der Gerechtigkeit abwiegt und die Sündigen und Abtrünnigen bestraft, jedoch ohne Liebe und ohne Gnade. Mit einer solchen These verfolgten ihre Urheber ein anderes Ziel: Damit sollte der Gegensatz zwischen dem Christentum und den beiden anderen semitischen Religionen hervorgehoben werden. Demnach bleibt das Christentum die einzige Religion der Liebe und der christliche Gott der einzige Gott der Liebe, frei von Rache, Härte, Strafe usw. Diese Tendenz findet in der dialektischen Theologie Karl Barths und seiner Gefolgsleute ihre theologische Prägung: Nach ihnen gilt der Islam als Musterbeispiel einer seelenlosen, mechanistischen Gesetzesund 1 Selbsterlösungsreligion. Umso erfreulicher ist es, feststellen zu können, dass man heute durch intensivere Beschäftigung mit dem Islam und aufgrund zunehmender Objektivität im interreligiösen Dialog bereit ist, bzw. Bereitschaft zeigt, die tendenziöse Polemik fallen zu lassen und auf die Muslime zu hören, wie diese selbst ihre Religion verstehen und empfinden. 1 U. Tworuschka, Analyse der evangelischen Religionsbücher zum Thema Islam, in: Studien zur internationalen Schulbuchforschung; Schriften des Georg-EckertInstituts, Bd. 47, Braunschweig 1986, S. 3. 62 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT Ein bedeutungsvolles Beispiel liefert das Zweite Vaticanum (19621965), das die Barmherzigkeit Gottes im Islam als ein entscheidendes gemeinsames Moment zwischen Christentum und Islam hervorhebt: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat." Um diese Barmherzigkeit Gottes geht es in diesem Beitrag. Es soll der Versuch unternommen werden, das Phänomen der raÎma, mit dem der Islam für die Muslime steht und fällt und welches ihr geistiges und praktisches Leben bestimmt, aber im christlichen Abendland bis heute noch verkannt geblieben ist, von verschiedenen Seiten zu beleuchten. 2. Philologische Erläuterungen Unter den verschiedenen Ausdrücken, die in der arabischen Sprache für das Erbarmen, für die Barmherzigkeit und in diesem Sinne für die Gnade und Güte Gottes gebräuchlich sind, hat der Wortstamm von raÎma die häufigste Anwendungsquote. Das gilt auch für den Koran und die Sunna, die auch das Wort ra'fa im Sinne von raÎma verwenden. Was heißt raÎma? Dem ursprünglichen Wortlaut nach bezeichnet raÎma ein riqqa, d.h. ein mit Sanftheit und Liebenswürdigkeit verbundenes Mitgefühl, das den Menschen zur Güte und zur Wohltat bewegt und auffordert. Auf Gott bezogen, kann aber raÎma nicht mehr die riqqa, also Sanftheit und Mitgefühl, beinhalten.2 Er ist über solche 2 Abu l-Qāsim al-Íussain ibn MuÎammad ar-Rağib IsfaÎānī: al-Mufradāt fī āarīb al-qur’ān, Ägypten, o. J., S. 191. 63 SPEKTRUM IRAN Art Gefühlswelt erhaben. Seine raÎma gilt nur als in´ām (Gabe) und als ifÃāl und iÎsān (Wohltat und Güte), ohne dass der Empfänger dies verdient oder einen Anspruch darauf hat. Aus der Fülle der von r-Î-m abgeleiteten Verbal- und Nominalformen haben zwei Nomina raÎmān und rahīm durch den Islam eine zentrale Bedeutung gewonnen. Ar-RaÎmān und arRahīm bilden zwei der wichtigsten Eigennamen Gottes in der Reihe seiner überlieferten „Schönsten Namen"3 (al-asmā` alÎusnā). Ar-RaÎmān, übersetzt mit „der Gnädige", „der Erbarmer" und „der Barmherzige", wird nur von Gott ausgesagt, während arRaÎīm, (übersetzt mit „der Barmherzige", „der Gnädige", „der sich Erbarmende"), auch von Menschen ausgesagt wird. Darüber, ob es einen inhaltlichen Unterschied zwischen den beiden gibt oder nicht, gehen die Meinungen auseinander. Von Bedeutung für uns mag folgende Inhaltsbestimmung sein: Ar-RaÎmān umfasst die gesamte Schöpfung - selbst die Menschen, die an ihn (Gott) nicht glauben - in seiner Güte und Gnade diesseits und jenseits. ArRahīm hingegen konzentriert sich hauptsächlich auf die Gläubigen im Hinblick auf die Gnade der Rechtleitung.4 3. Der Koran und das Phänomen raÎma Es gehört zur inhaltlichen Würdigung dieses Phänomens, festzustellen, welches Gewicht der Koran und die Sunna der raÎma beimessen. Eine Aussage darüber macht ihre Häufigkeitsquote im Koran: Mehr als 700mal kommen unterschiedliche Formen dieses Wortstammes im Koran vor. Alle Koransuren fangen mit dem Vers 3 Koran 7, 180. Abū ´abdu Allāh MuÎammad al-QurÔubī: al-Ğāmi´li aÎkām al-qur´ān, Bd. 1. Ägypten 1954, S. 106; Abū Ğa‘ far MuÎammad ibn Ğarīr aÔ-Óabarī: Ğāmi´albayān ´an ta`wīl`āyāt-i l-qurā`n. Hrsg.: M. M. Šakir, Kairo 1969, S. 128 f. 4 64 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT „Im Namen Allahs, des Erbarmers (ar-RaÎmān), des Barmherzigen (ar-RaÎīm)" an. Eine Ausnahme bildet nur die Sure 9. In der Sure 27 kommt dieser Vers zusätzlich zum Anfang auch in der Mitte, und zwar als ein Teilvers (Vers 30) vor, so dass er 114mal, soviel wie die Anzahl der Koransuren, wiederholt wird. Wie wichtig außerdem der Vers „Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen" für die Muslime in ihrem Alltag ist, ist aus der Sunna ersichtlich. Dort wird jedem Muslim mit Nachdruck empfohlen, ausnahmslos alle seine Handlungen damit zu beginnen, wie es der Koran zu Beginn jeder Sure tut: „Alles, was nicht im Namen Gottes beginnt, bleibt unvollständig" (gültig als allgemein anerkannter Íadī×). Dies hat auch in der Tat dahingewirkt, dass die Muslime schon von ihrer Kindheitserziehung her selbst die profansten Handlungen, wie Essen, Trinken, Autofahren, ein Haus betreten, aus dem Haus gehen, eine Rede halten usw., damit beginnen. Als Muslim hat man das Gefühl, eine gewisse Garantie der göttlichen Gnade, Güte und Barmherzigkeit bis zur Vollendung der Handlung an seiner Seite zu haben. Hier geht es um die Allgegenwart der göttlichen raÎma und deren existentieller Bedeutung für die Bestimmung des Mensch-Gott-Verhältnisses. Das ist der Fall, solange man sich auf den Wortstamm raÎma konzentriert. Quantitativ und qualitativ hat man mit einem viel größeren Spektrum der göttlichen Gnade, Güte und Barmherzigkeit zu tun, wenn man noch dazu (zu raÎma) die weiteren mehr als dreißig Namen unter den „Schönsten Namen" Gottes, die je den einen oder anderen Aspekt von ihr detailliert manifestieren, in Betracht zieht; Namen wie: al-´Afuww (der die Sünden Auslöschende); at-Tawwāb (der die Reue Annehmende); al-Āaffār und al-Āafūr (der stets großmütig Verzeihende); al-Wahhāb (der große Verleiher/Spender); ar-Razzāq (der stets Ernährende); al- 65 SPEKTRUM IRAN Karīm (der Gütige); al-Mun´im (der Gunst Verleihende); al-Barr (der Wohltätige); al-Wadūd (der Liebevollste); ar-Ra´ūf (der Erbarmungsvolle) usw. verdeutlichen dies. Alle diese Namen und auch Tätigkeitsinhalte, die sich auf Gott beziehen, wie faÃl, ğūd (Güte), iÎsān (Wohltat) werden oft im Koran, in der Sunna und in den Bittgebeten der Muslime allein oder als Wiederholung bzw. Unterstützung von raÎma erwähnt. Sie prägen ihrerseits den mit raÎma von Gott gemeinten Inhalt und öffnen eine breitere Basis des Verhältnisses der Menschen zu Gott. Eine besondere für die Beantwortung der Vorwürfe gegen den Islam wichtige spezifische Inhaltsbestimmung der raÎma liefern all diejenigen Phänomene, die wie 'afw und āufrān (Verzeihung, Vergebung) auch oft mit raÎma oder im Bezug auf raÎma allein verwendet werden, was speziell das Verhältnis Gottes zu dem Sündigen bestimmt. Das lässt sich auch dadurch demonstrieren und belegen, dass die Anzahl derjenigen göttlichen Namen, die infolge seiner Gerechtigkeit auf seinen Zorn und seine Strafe hindeuten, einen Bruchteil dessen ausmacht, was seine Barmherzigkeit betont. Selbst die Erwähnung seiner Gerechtigkeit (´fadl und qisÔ) steht in der Häufigkeit weit hinter dem zurück, was seine Gnade, Vergebung, Gütigkeit und Barmherzigkeit verkündet. 4. Der Wirkungsbereich der Barmherzigkeit (raÎma) Gottes Die eben angedeutete Relation zwischen der Barmherzigkeit Gottes und seiner aus Gerechtigkeit entstandenen Strafe schildert der Koran in kurzer und prägnanter Weise: „Gott sagte: Mit meiner Strafe treffe ich, wen ich will. Aber meine Barmherzigkeit kennt keine Grenze ..." (genauer: umfasst alle Dinge / wasi´at kulla šai`). (Koran 7,156). Dass seine Barmherzigkeit auch die zu Strafenden 66 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT umfasst, wird durch diese Gegenüberstellung besonders betont. Auch in Verbindung mit göttlichem Wissen von den Fehltaten der Menschen wird die Grenzenlosigkeit seiner raÎma betont: „Diejenigen, welche den Thron tragen, und die, welche ihn umgeben, lobpreisen ihren Herrn und glauben an ihn und erbitten Verzeihung für die Gläubigen: ,Unser Herr, du umfassest alle Dinge in Barmherzigkeit und Wissen; so vergib denen, die sich bekehren und deinen Pfad befolgen, und schütze sie vor der Strafe des Höllenpfuhls'" (Koran 40,7). Über die Fehltaten der Menschen hinaus werden hier sogar die Barmherzigkeit und das Wissen Gottes im Hinblick auf den Umfang gleichgesetzt; beide umfassen in gleicher Weise nicht nur die Menschen, sondern die gesamte Schöpfung, das gesamte Dasein, mit dem Unterschied, dass die Barmherzigkeit und nur diese noch eine Sonderstellung innerhalb aller anderen göttlichen Handlungen einnimmt, nämlich die, dass Gott sich zur Barmherzigkeit als einziger Handlung bzw. Handlungsweise verpflichtet: (Koran 6,12 und 6,54): „Er hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet. Er wird euch sicher zu dem Tag der Auferstehung versammeln, an dem kein Zweifel ist." „Heil sei über euch! Euer Herr hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet. Wenn einer von euch in Unwissenheit Böses tut und dann später umkehrt und sich bessert, so ist Gott barmherzig und bereit zu vergeben." Bezeichnend dabei ist, dass sich die sich selbst auferlegte Verpflichtung Gottes nur auf den Vollzug seiner raÎma bezieht. Zu keiner anderen Handlung hat sich Gott sonst verpflichtet. Diese Einmaligkeit der Verpflichtung zur raÎma, und zwar nicht nur der Sünde gegenüber, sondern ganz allgemein und dazu, dass raÎma „alle Dinge" umfasst und grenzenlos ist, hat die islamischen Theologen und Philosophen, Mystiker und sogar Rechtsgelehrte zu vielen Ansichten und Theorien innerhalb des jeweiligen Bereiches 67 SPEKTRUM IRAN veranlasst. Sie sehen in diesen Koranbelegen den eindeutigen Grund zur Überzeugung, dass die Barmherzigkeit und nur diese in einmaliger Weise das oberste göttliche Handlungsprinzip darstellt. Dafür sprechen auch Phänomene, die im Koran als raÎma schlechthin bezeichnet werden, welche ihrerseits den Inhalt von raÎma noch deutlicher veranschaulichen. Die weiteren Abschnitte haben sich damit zu beschäftigen. 5. Die Rechtleitung als höchstes Exempel von raÎma Die Frage nach dem konkreten Inhalt von raÎma (Barmherzigkeit) steht hier an. Wie in der christlichen Welt setzt man auch in der islamischen Welt die Barmherzigkeit Gottes als etwas Bekanntes, sogar Selbstverständliches voraus. Es wird weder nach dem genauen Inhalt noch nach einem konkreten Exemplar davon gefragt. Interessant ist deshalb der Umgang des Korans selbst mit diesem Begriff: Mehr als 110mal kommt raÎma in dieser substantivischen Form vor. Es besteht die Möglichkeit, durch eine genaue Analyse des jeweiligen Kontextes, in dem raÎma vorkommt, zu verschiedenen inhaltlichen Aspekten davon zu gelangen, um sich schließlich aus ihrer Summe eine genaue Vorstellung von deren Inhalt zu machen. Das würde aber den Rahmen unseres Vorhabens sprengen. Hier gilt es, nur diejenigen Stellen davon (raÎma im Koran) in Betracht zu ziehen, womit jeweils ein eindeutiger Sachverhalt gemeint ist. Ein konkretes Exempel der Barmherzigkeit stellen die Lebendigkeit und der ständige Wechsel in der Natur dar; eine Barmherzigkeit Gottes, die für alle, die an ihn glauben oder ihn leugnen, gilt: „Schau doch auf die Spuren der Barmherzigkeit Gottes! (Schau) wie er die Erde (wieder) belebt, nachdem sie 68 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT abgestorben war! Der kann (auch) die Toten (wieder) lebendig machen. Er hat zu allem die Macht" (Koran 30,50). In gleicher Weise gelten auch alle dazu notwendigen, die Lebendigkeit bewirkenden Naturerscheinungen als Barmherzigkeit Gottes, die ebenso alle Kreaturen betrifft: „Und er ist es, der die Winde schickt, dass sie frohe Botschaft von seiner Barmherzigkeit bringen. Wenn sie schließlich schweres Gewölk aufkommen lassen, treiben wir es einem ausgedorrten Land zu und lassen dadurch das Wasser (vom Himmel) herabkommen. Und wir bringen dadurch allerlei Früchte hervor. So bringen wir (dereinst bei der Auferstehung) die Toten (wieder aus der Erde) hervor. Vielleicht würdet ihr euch mahnen lassen" (Koran 7, 57). Ebenso: „Und er ist es, der, nachdem sie (schon) alle Hoffnung aufgegeben haben, reichlichen Regen (vom Himmel) herabkommen und (ihnen) seine Barmherzigkeit zukommen lässt. Er ist der (einzig wahre) Freund und des Lobes würdig" (Koran 42,28). Einen größeren Rahmen nehmen diejenigen Stellen ein, in denen die raÎma durch ihre enge Verbindung mit anderen Begriffen bestimmte Aspekte des Verhältnisses Gottes zum Menschen bestimmt. Betont wird das Vergebungsmoment (maāfira) in raÎma dort, wo es sich um die Begegnung mit Gott im Jenseits handelt: „Und wenn ihr um Gottes willen getötet werdet oder sterbet, so ist (jedenfalls) Vergebung und Barmherzigkeit von Gott (wie sie dereinst den Gläubigen gewährt wird) besser als (all) das, was man (im Diesseits an Geld und Gut) zusammenbringt" (Koran 3,157). In Kombination mit Liebe und Zuneigung (mawadda) zwischen Mann und Frau im Familienleben spielt das Herzlichkeitsmoment in raÎma eine vordergründige Rolle: „Und zu seinen Zeichen gehört es, dass er euch aus euch selber Gattinnen geschaffen hat, 69 SPEKTRUM IRAN damit ihr bei ihnen wohnet. Und er hat bewirkt, dass ihr (d. h. Mann und Frau) einander in Liebe und Erbarmen zugetan seid. Darin liegen Zeichen für Leute, die nachdenken" (Koran 30,21). Im gleichen Sinne, aber dann allgemein auf die zwischenmenschlichen Verhältnisse bezogen, heißt es im Zusammenhang mit Güte und Milde (ra'fa), und zwar auf die christliche Verhaltensweise bezogen: „Hierauf ließen wir hinter ihnen her unsere (weiteren) Gesandten folgen. Und wir ließen Jesus, den Sohn der Maria, folgen und gaben ihm das Evangelium, und wir ließen im Herzen derer, die sich ihm anschlössen, Milde Platz greifen, Barmherzigkeit und Mönchtum" (Koran 57,27). Das göttliche Wohlgefallen stellt einen anderen Aspekt aus der Barmherzigkeit Gottes dar: „Ihr Herr verkündet ihnen (aus dem Schatz seiner Gnade) (wörtl. von sich) Barmherzigkeit und Wohlgefallen, und (dass ihnen) Gärten (zuteil werden), in denen sie beständig Wonne empfinden" (Koran 9,21). Die häufige Verbindung der raÎma mit Güte und Huld (faÃl) im Koran und in der Sunna betont nicht nur das Huld-Moment an ihr, sondern hat die beiden im islamischen Sprachgebrauch in ein Begriffspaar verwandelt: „Sag: Über die Huld Gottes und über seine Barmherzigkeit, darüber sollen sie sich nun freuen. Das ist besser, als was sie (im Diesseits an Geld und Gut) zusammenbringen" (Koran 10,58). „(Aber) dann, nachdem dies geschehen war, wandtet ihr (das Volk Israel) euch ab. Und wenn nicht Gott seine Huld und Barmherzigkeit über euch hätte walten lassen, würdet ihr (schon längst) zu denen gehören, die den Schaden haben" (Koran 2,64). 70 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT Einen besonderen Sinngehalt und eine alle Religionen, vor allem die abrahamitischen Religionen, umfassende ökumenische Bedeutung weist Barmherzigkeit überall dort auf, wo sie als Begriffspaar mit Rechtleitung (hudā) verwendet wird: Auf den Koran und alle Offenbarungen davor bezugnehmend sagt der Koran: „Im Bericht über sie liegt fürwahr ein Grund zum Nachdenken für diejenigen, die Verstand haben. Und es ist keine Geschichte, die aus der Luft gegriffen wäre. (Es ist) vielmehr eine Bestätigung dessen, was (an Offenbarung) vor ihm (Koran) da war, und setzt alles (im einzelnen) auseinander - eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben" (Koran 12,111; vgl. auch 11,63). Auf den Inhalt der Schriften von Mose bezogen, heißt es dann: „Hierauf gaben wir dem Mose die Schrift, um (unsere Gnade) an dem zu vollenden, der (seine Sache) gut gemacht hatte, und um alles (im einzelnen) auseinanderzusetzen, und als Rechtleitung und Barmherzigkeit" (Koran 6,154). Oder: „Und als sich Moses Zorn gelegt hatte, nahm er die Tafeln. In ihrem Text ist Rechtleitung und Barmherzigkeit enthalten für diejenigen, die vor ihrem Herrn Angst haben" (Koran 7,154). Im gleichen Sinne wird die Funktion des Korans bewertet: „Und wir haben die Schrift auf dich hinabgesandt, um alles klarzulegen, und als Rechtleitung, Barmherzigkeit und Frohbotschaft für die, die sich (uns) ergeben haben" (Koran 16, 89). Und: „Dies sind die Verse der weisen Schrift - eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Frommen ..." (Koran 31,2-3). Die Rechtleitung weist sich somit nicht nur als ein wesentliches Moment der raÎma aus. Im Kontext der Rechtleitung werden sogar Gesandte und die an sie herabgesandten Offenbarungen mit raÎma identisch erklärt: Zur Thora als Vorbild für den Koran heißt es: 71 SPEKTRUM IRAN „Die Schrift Moses ist ihm (dem Koran) als Richtschnur und Barmherzigkeit vorausgegangen" (Koran 46,12). Oder: „Ist denn einer, dem ein klarer Beweis von Seiten seines Herrn vorliegt, während ein Zeuge von ihm ihn (d. h. den Koran) verliest und die Schrift Moses ihm als Richtschnur und Barmherzigkeit vorausgegangen ist ..." (Koran 11,17). Zum Koran speziell lautet es dann: „Dieser Koran berichtet den Kindern Israels das meiste von dem, worüber sie uneins sind. Er ist eine Rechtleitung und (ein Erweis unserer) Barmherzigkeit für die Gläubigen" (Koran 27,7677). Oder: „Wir senden im Koran (den Menschen) Offenbarungen hinunter, die für die Gläubigen ein Quell des Trostes und (ein Erweis unserer) Barmherzigkeit sind. Aber die Frevler haben dadurch nur noch mehr Schaden" (Koran 17,82). In diesem Sinne ist die Person Jesu eine Barmherzigkeit. „Er sagte: So (ist es, wie dir verkündet wurde). Dein Herr sagt: Es fällt mir leicht (dies zu bewerkstelligen). Und (wir schenken ihn dir) damit wir ihn zu einem Zeichen für die Menschen machen und weil wir (den Menschen) Barmherzigkeit erweisen wollen. Es ist eine beschlossene Sache" (Koran 19,21). Auch Muhammad selbst wird mit raḥma gleichgesetzt: „Und wir haben dich nur deshalb (mit der Offenbarung) gesandt, um den Menschen in aller Welt Barmherzigkeit zu erweisen" (Koran 21,107). Diese und ähnliche Belege im Koran und in der Sunna bestätigen jene Dokumente, die raÎma als „oberstes göttliches Handlungsprinzip" und als „göttliche Verpflichtung" gegenüber der Schöpfung, die ohne Einschränkung alles umfasst, erweisen. 72 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT 6. Philosophische Interpretation des Schöpfungsaktes im Lichte der Barmherzigkeit und Güte Gottes Islamische Philosophen, wie al-Farābī (gest. 950) und Avicenna (Ibn Sīnā, gest. 1037), die sich im Hinblick auf die Entstehung der Welt auf den Spuren der plotinischen Emanationslehre befinden, finden hierfür in raÎma, als im obersten göttlichen Handlungsprinzip, den Anschluss an die islamische Schöpfungsvorstellung. Nicht die raÎma selbst, sondern der in ihr tief verankerte Aspekt der Güte und Gabe Gottes (ğūd und faiÃ) ist es, der sich nach ihnen im koranischen Schöpfungsakt offenbart. Nicht zweckgebunden, sondern aus der „Überfülle" gehen, neuplatonisch gesehen, alle Dinge, das All, aus dem unveränderlichen, vollkommenen, göttlichen Einen hervor. Demgegenüber ist der göttliche Schöpfungsakt dem koranischen Wortlaut nach aus Gottes Willen heraus zu begreifen: „Er ist es, der (alles) erschafft, und der (über alles) Bescheid weiß. Bei ihm ist es so: Wenn er etwas will, sagt er dazu nur: sei!, dann ist es" (Koran 36,81-82). Das Bestreben der islamischen Philosophen geht einerseits dahin, daran festzuhalten, dass Gott nicht die Kreaturen um eines ihm Vorteil bringenden Zweckes willen, also nicht zweckgebunden, geschaffen hat: „Und ich habe die Dschinn und Menschen nur dazu geschaffen, dass sie mir dienen" (Koran 51,56). Ob man das Dienen als Erkennen oder als allgemeines Gottausgerichtetsein im Denken und Handeln versteht, spielt bei der Tatsache, dass dies die Vervollkommnung der Dienstleistenden bedeutet und nur ihm zugute kommt, keine Rolle. Andererseits wollen sie (die islamischen Philosophen) die koranische Besonderheit, nämlich den göttlichen Willen, kraft dessen das 73 SPEKTRUM IRAN Ganze geschaffen worden ist, aufrechterhalten. Alles dreht sich darum, die Nichtzweckgebundenheit des göttlichen Willens und zugleich den Erschaffungsakt aus ihm heraus zu erklären. Die Überzeugung, raÎma gleich oberstes göttliches Handlungsprinzip, bietet sich hier an. Der erschaffende Wille erklärt sich nach ihnen aus dieser Überzeugung. Ihrer Meinung ist dieser göttliche Wille nichts anderes als in raÎma verankerte Güte (ğūd). RaÎma kommt zwar nicht ausdrücklich in ihrer Erklärung vor. Die Güte Gottes, die aber hierbei die Hauptrolle spielt, ist, islamisch gesehen, ohne sie nicht vorstellbar. Als Ergebnis einer längeren Ausführung über Gott als Urheber des gesamten Daseins fasst Avicenna seinen Gedanken wie folgt zusammen: „Das Notwendigseiende (Gott) besitzt keinen Willen, der dem Wesen und dem Sinngehalt nach anders ist als sein Wissen. Wir haben nämlich erörtert, dass sein Wissen und sein Wille ein und dasselbe sind. Ebenso wurde erklärt, dass seine Macht mit dem Erfassen aller Dinge durch sein Wesen identisch ist; seine Macht ist Ursprung von allem und nicht das Ergebnis davon. Er ist der Urheber, ohne von der Existenz irgendeiner Sache abhängig zu sein. Dieser Wille in der Weise, wie wir ihn ergründet haben, ist im Hinblick auf die Gabe (das Hervorgehen) des Seins von ihm (faiÃ) an keinem āaraà (Ziel, Absicht, Zweck) gebunden. Er (der erschaffende göttliche Wille) ist nichts anderes, als die Gabe (al-faiÃ), und diese ist die Güte (al-ğūd)."5 Barmherzigkeit erweist sich somit nicht nur als oberstes göttliches Handlungsprinzip in Bezug auf die göttliche „Sendung" (auf das Noetische), sondern auch in Bezug auf die Erschaffung (auf das Ontologische). 5 Abū ´Alī Ibn Sīnā: aš-Šifā: al-Ilāhīyāt, Kairo 1960, S. 367. 74 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT 7. RaÎma als Ansatz zu einer anthropologischen Schöpfungstheologie, nach der das Mütterliche und nicht das Väterliche das Verhältnis Gottes zu den Menschen bestimmt Die Überzeugung, dass das Gottausgerichtetsein (Islam) nicht nur den Inhalt aller von Gott gesandten Botschaften ausmacht (Islam als Urreligion), sondern noch dazu die ursprüngliche Haltung der von Gott geschaffenen Natur des Menschen (dīn al-fiÔra: „Richte nun dein Antlitz auf die [einzig wahre] Religion als Íanīf! [Das ist] die natürliche Art, in der Gott die Menschen erschaffen hat" [Koran 30,30]), findet auch im Phänomen raÎma ihre Bestätigung. Das lässt sich über etymologische Überlegungen, die auf die frühislamische Zeit zurückgehen, und sich durch die Sunna des Propheten belegen lassen, erläutern: Von der gleichen Wurzel r-Îm, von der raÎma abgeleitet wird, ist raÎim, d.h. der Mutterleib, abgeleitet. Aus der Tatsache, dass er die einzige Entstehungsstätte des Individuums und der Gemeinschaft bildet, bedeutet dieses Wort (raÎim) auch Verwandtschaft. Der Plural von raÎim ist arÎām. Im Koran kommt für die beiden Bedeutungen stets nur diese Pluralform für einen singulären Sachverhalt vor: „Er ist es, der euch im Mutterleib (al-arÎim) gestaltet, wie er will" (Koran 3,6). „Fürchtet Gott, in dessen Namen ihr einander zu bitten pflegt, und wahret die Verwandtschaft (al-arÎām)" (Koran 4,1).6 Der bekannte und als Koranexeget bis heute anerkannte islamische Gelehrte arRāāib al-IsfaÎānī (gest. 1100) beruft sich hierbei, zur Erläuterung dieses Zusammenhanges zwischen raÎim und raÎma (Mutterleib und Barmherzigkeit) und somit zur weiteren Inhaltsbestimmung des Wortes raÎma, auf eine Aussage des Propheten, die lautet: „Als Gott raÎim, den Mutterleib, (als Urquelle der Verwandtschaft des 6 Al-arÎām wird hier auch mit „Blutsverwandschaft“ oder „Verwandschaftsbande“ übersetzt. 75 SPEKTRUM IRAN Menschengeschlechtes) schuf, sagte er zu ihm : ,Ich bin ar-RaÎmān (der Barmherzige), und du bist raÎim. Ich habe deinen Namen von meinem Namen abgeleitet, wer sich um dich kümmert, um den werde auch ich mich kümmern, und wer dich vernachlässigt, wird von mir vernachlässigt." Davon leitet ar-Rāğib die Tatsache ab, dass Gott dem Menschen von seiner Erschaffung, von seiner Geburt an raÎma, d.h. umsorgendes Mitgefühl, mit auf den Weg gegeben hat, was um so mehr eine ständige ununterbrochene raÎma von Gott selbst erwarten lässt, mit dem Unterschied, dass raÎma von Gott, im Gegensatz zu der des Menschen, über den Mutterleib mitgegeben ist und die angeborene raÎma kein Mitgefühl und kein Mitleid (riqqa) beinhaltet, sondern ein reiner „Güteakt" (iÎsān) ist. Demnach gewinnt der Begriff raÎma auf Menschen bezogen eine existentielle Bedeutung und auf Gott bezogen die Bedeutung einer ununterbrochenen Aktion, die die Gott-Mensch-Beziehung bestimmt. Das Gott-Mensch-Verhältnis bekommt somit im Islam mütterliche, also weibliche Züge und nicht wie im Christentum väterliche, also männliche Züge. Sein Verhältnis zu den Menschen ist somit nicht in seiner Allmacht, also seiner Stärke begründet, sondern mehr von der raÎma (Barmherzigkeit) bestimmt, die als oberstes Handlungsprinzip sogar dieser, seiner Allmacht eine bestimmte Richtung weist. Es ist gerade diese Barmherzigkeit, die von der Schöpfung her auf der Ebene des menschlichen Daseins von der Mutter und nur von ihr repräsentiert und jedem Kind mitgegeben wird. Dennoch bedeutet dies nicht, dass man im Islam dazu neigt, das christliche Vater-Sohn(Kind)-Verhältnis zu ersetzen. Nach islamischer Überzeugung schließt das Gott-Mensch-Verhältnis ganz konsequent solche Vergleiche, seien sie auch symbolisch gemeint, aus. Sie sieht darin eine Herabstufung des von einer 76 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT grenzenlosen Barmherzigkeit bestimmten Verhältnisses Gottes zu den Menschen. Eins ist dennoch gewiss: Die dem Menschen über den Mutterleib mitgegebene Barmherzigkeit räumt der Frau eine Sonderstellung als Mutter ein. Von daher ist es verständlich, wenn sich die Verfechter der islamischen Rechte der Frauen bzw. die Verteidiger der Frauenrechte den Männern gegenüber, auf diesen sprachlichen Zusammenhang zwischen den Namen Gottes, RaÎmān und RaÎīm, und der raÎim als Bezeichnung des Mutterleibes, als Urstätte des menschlichen Lebens, beziehen. Sie sehen darin eine gewisse existentielle Vorrangigkeit der Frauen gegenüber den Männern, wie auch deren stärkere Verbundenheit mit einer der wichtigsten Eigenschaften Gottes, nämlich Güte, Barmherzigkeit und Wohltätigkeit. Die Vertreter dieser These haben zwar nicht, auch ansatzmäßig nicht, daran gedacht, daraus eine Art Schöpfungstheologie zu entwickeln. Man hätte aber wohl gut daran getan, zusätzlich die weiteren parallelen theologischen Erscheinungen im Islam in Betracht zu ziehen: Wie das Phänomen Islam hat auch das Phänomen raÎma zwei Ebenen, die von ein und derselben Quelle herrühren und miteinander korrespondieren: Es geht zum einen um die Barmherzigkeit / raÎma, die von Geburt an dem Menschen als eine von Gott her bestimmte Anlage mitgegeben ist, die dann von dem Individuum entweder weiterhin gepflegt, ausgebaut und in der Gemeinschaft weiterentwickelt oder völlig vernachlässigt und ins Gegenteil verkehrt wird. Zum anderen geht es um die Barmherzigkeit / raÎma, die als Rechtleitung, als göttliche Sendung den Menschen mitgeteilt wird. Jene mitgegebene Anlage bereitet den Menschen darauf vor, diese von Gott gesandte zu empfangen. Diese hilft wiederum jener, sich zu entfalten. Die beiden Ebenen, 77 SPEKTRUM IRAN die Phänomene Barmherzigkeit und Islam, bilden - sofern sich der Mensch daran hält - eine Einheit: ein von der Barmherzigkeit herrührendes Gottausgerichtetsein, das das Verhältnis Gottes zu den Menschen und das Verhalten der Menschen zu Gott als ein unzertrennbares Bündnis bestimmt. 8. Die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes aufzugeben gilt als eine große Sünde Das Gott-Mensch-Bündnis, das göttlicherseits von Barmherzigkeit und menschlicherseits von Gottausgerichtetsein bestimmt ist, gilt als heilig und unantastbar. Alles, was dieses Bündnis verletzt und dagegen verstößt, zählt folgerichtig als Sünde. Als ein großer Verstoß gilt es, an der Barmherzigkeit Gottes zu zweifeln. Das ist identisch mit dem Zweifel daran, ob Gott seine sich auferlegte Verpflichtung zur raÎma (s.o.) erfüllen würde: also ein Zweifel an Gott. Der Koran und die Sunna warnen eindringlich den Menschen, ja den sündigen Menschen, davor, die Hoffnung auf seine Barmherzigkeit aufzugeben. „Wer würde die Hoffnung auf die Barmherzigkeit seines Herrn aufgeben! (Das tun) nur diejenigen, die irregehen" (Koran 15,56). Das sind nur diejenigen, die sich nicht auf dem Wege des Islam, des Gottausgerichtetseins, befinden. Noch deutlicher: „Sag: Ihr meine Diener, die ihr gegen euch selber nicht maßgehalten habt! Gebt nicht die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes auf! Gott vergibt (euch) alle (eure) Schuld. Er ist es, der barmherzig ist und bereit zu vergeben" (Koran 39,53). Das Gott-Mensch-Bündnis wird somit um ein wesentliches Moment - Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes - bereichert. Der Anteil des Menschen an diesem Bündnis, d.h. sein Gottausgerichtetsein, sein Islam, vervollständigt sich durch seine 78 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT ständige Hoffnung auf das Erbarmen Gottes. Er hat diesen Weg im vollen Vertrauen auf Gott und im Gefühl der Geborgenheit in seiner Barmherzigkeit zu gehen. Die oben von der Sunna ausgesprochene Empfehlung an den Menschen, alle seine Handlungen mit „Bism-i Allāh-i r-RaÎmān-i r-RaÎīm" (d.h.: Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen) zu beginnen, findet damit ihre Begründung. Der Mensch und seine Handlungen sind von der Barmherzigkeit Gottes umgeben. Er soll daher seinerseits alle seine Handlungen auf Gott ausgerichtet und in Geborgenheit in dessen Barmherzigkeit beginnen und vollenden. Das bestimmt seine Haltung innerhalb seines Bündnisses mit Gott. Aber auch seine Haltung gegenüber der Gemeinschaft soll im Zeichen der Barmherzigkeit mit allen oben genannten Aspekten (Liebe, Vergebung, Güte, Milde, Huld) geregelt sein. Diese gebotene Grundhaltung wurde bereits durch die Erschaffung des Menschen über den Mutterleib (raÎim) mitgegeben und - durch das gleiche Phänomen raÎim, aber im Sinne der Verwandtschaft weiter unterstützt - auf die gesamte menschliche Gemeinschaft ausgebreitet und als ihr Fundament erfasst. Die mitgegebene, angeborene raÎma - ergänzt durch die göttliche Rechtleitung (Offenbarung als raÎma) - soll die Basis der islamischen Gemeinschaft und sogar die Grundlage jeder zwischenmenschlichen Beziehung bilden. Daraus ergibt sich das Gott-Mensch-GemeinschaftBündnis. 79 SPEKTRUM IRAN 9. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der göttlichen Sphäre und in der Gemeinschaft Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass man, bei der Gegenüberstellung von Islam und Christentum, dem Islam bestenfalls zugute gehalten hat, dass er das Prinzip Gerechtigkeit zugrunde legt, wodurch es dann zur unrichtigen Charakterisierung des Islam als „Gesetzesreligion" im Gegensatz zur „Gnadenreligion" kommen konnte: Demzufolge kann der Islam im günstigsten Fall, so wurde behauptet, nur eine Religion der Gerechtigkeit, aber keinesfalls eine Religion der Liebe sein. Vor dem gleichen Hintergrund konstruiert man auch die islamische Gemeinschaft, die unter harten rechtlichen Bestimmungen, ohne Liebe, zu leiden habe. Im Rahmen der islamischen Überzeugung, die die Barmherzigkeit als das höchste göttliche und auch menschliche Handlungsprinzip sieht, steht der Gerechtigkeit die Barmherzigkeit gegenüber und nicht Liebe, die nach dem Koran vor dem Hintergrund der raḥma eine tiefe Neigung dem Menschen gegenüber zum Ausdruck bringt; darüber noch im nächsten Abschnitt. Ein quantitativer Vergleich im Hinblick auf die Anwendung beider Begriffskomplexe im Koran (vgl. Abschnitt 2) zeigte, dass die Barmherzigkeit und die damit sinnverwandten und zusammenhängenden Phänomene ein viel größeres Anwendungsspektrum haben als die Gerechtigkeit und die damit verbundenen Phänomene wie Strafe, Zorn, Höllenqual usw. Diese machten zahlenmäßig einen Bruchteil von jenen aus. Das Quantitative sagt etwas Qualitatives aus: Die Grundeinstellung des Islam basiert auf dem obersten Handlungsprinzip raÎma und nicht auf Gerechtigkeit. 80 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT Das bedeutet aber nicht, dass das Gerechtigkeitsprinzip etwas Vermeidbares ist. Im Grunde verstehen sich Gerechtigkeit (´adl, qisÔ) und Barmherzigkeit (raÎma) nicht als Gegensatz: Gerechtigkeit ist vielmehr als Ausdruck einer kosmologischen und gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen; eine Ordnung, die per se keine Zerstörung zulässt. Auf die menschliche Gemeinschaft bezogen, bedeuten die als Sünde bezeichneten Handlungen jene, die zur Zerstörung führen. Bei der Herstellung eines Ausgleiches kommt primär das Prinzip der Bewahrung der Ordnung (´adl /Gerechtigkeit) in Betracht, und zwar als ein Prinzip, das, auf die Notwendigkeit der gesamten kosmischen und weltlichen Ordnung hin gesehen, von raÎma, also von der Güte Gottes, seiner gesamten Schöpfung gegenüber und nicht nur gegenüber einem einzelnen, abhängt. Dennoch besteht, auf den Willen und die Barmherzigkeit Gottes bezogen, die Möglichkeit, die durch widerspenstige Handlungen entstandenen Zerstörungen kraft seiner Güte auszugleichen. Das macht den Sinn der Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Güte in einem Bittgebet aus: „Unser Herr! Behandele uns aufgrund deiner Güte (faÃl)und nicht aufgrund deiner Gerechtigkeit (´adl)". Das entspricht wiederum einem ÍadīÔ al-Qudsī, der in der Sprache Gottes heißt: „Meine Barmherzigkeit (raÎmatī) geht meinem Zorn voraus."7 Die Barmherzigkeit (raÎma) und Gerechtigkeit (´adl, qisÔ) sollen ihrem Sinn und ihrer Funktion nach sowie in der gleichen Relation auch dem Gemeinwesen eine berechenbare Struktur geben. Auf die Rechtsprechung bezogen, soll der folgende Abschnitt ein konkretes Beispiel dafür geben: „Neben der Gerechtigkeit gehört die Barmherzigkeit bzw. die Gnade (raÎma /faÃl) zu den obersten Maximen des islamischen Rechts. Auf Gott bezogen sind beide 7 FaÌr ad-Dīn aÔ-ÓirīÎī: Mağma´ al-BaÎrain, Teheran 1983, Bd. 2, S. 133. 81 SPEKTRUM IRAN Maximen anzutreffen; sie bestimmen korrelativ das allgemeine Gerichtsverfahren und die Rechtsfindung im Einzelfall. Die Haltung des zur konkreten Rechtsprechung Berufenen, ob Gott, Prophet, Kalif oder Richter, muss gegenüber dem Betroffenen, der ebenfalls ein Glied der islamischen Gemeinschaft ist und bleibt, von diesen beiden Maximen geleitet werden, um in der besonderen Position der Doppelstellvertreterschaft auch eine möglichst unangreifbare Objektivität für die Lage des potentiellen Täters (Sünders) zu gewährleisten. Die Handlungsgerechtigkeit soll die absolute Gesetzmäßigkeit aufrechterhalten. Als gemeinschaftsdienliche Gerechtigkeit im Sinne der Beseitigung der Ungerechtigkeit (raf´u Û-Ûulm) wird sie mit der exakten kosmischen Gesetzmäßigkeit in Verbindung gebracht.8 Die Barmherzigkeit aber soll demgegenüber die menschliche Konstitution berücksichtigen und eingedenk der Schwäche der Menschen die Art und Höhe der Strafe nach Möglichkeit niedrig halten, mitunter sogar den Verzicht darauf bewirken können, ohne damit die vorgegebene göttliche Ordnung zu gefährden. Barmherzigkeit (raÎma) zeigt sich als die oberste Maxime des göttlichen Handelns und ordnet die Beziehung Gottes zu den Menschen. Sie ist die einzige Verpflichtung, die Gott den Menschen gegenüber auf sich nimmt. „Euer Herr hat sich zur Barmherzigkeit (raÎma) verpflichtet" (Koran 6,54). Alles weitere göttliche Wirken ist als Konsequenz zu betrachten. Die praktische Korrelation zwischen raÎma und ´adl bestimmt Wesen und Praxis der islamischen Rechtsfindung. Das weltliche Gerichtsurteil soll Beispiel für göttliches Wirken sein, indem es prinzipiell die Härte der Gerechtigkeit mit der Milde der Barmherzigkeit (Gnade und 8 Šamsaddīn as-SaraÎsī: Kitāb al-MabsūÔ, Kairo 1324/1906, Bd. 15, S. 60. 82 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT Vergebung) verbindet."9 Das gleiche gilt für eine berechenbare, aber humane, liebevolle islamische Gemeinschaft schlechthin. 10. Barmherzigkeit und Liebe Von der islamischen Theologie, Philosophie oder gar Mystik her gesehen, gibt es keinen Grund dazu, nach der Relation von Barmherzigkeit und Liebe zu fragen. Auch der Koran und die Sunna geben keinen Anlass dazu. Diese Frage hat ihre Berechtigung einzig und allein aus der Gegenüberstellung von Christentum und Islam und dies auch im Hinblick auf das Prinzip, welches jeweils als oberstes Handlungsprinzip gilt. Zum Auftakt der Diskussion gehen wir hier von einer Stelle des Matthäus-Evangeliums (5. Kap., Vers 43.-45) aus, das auch sonst für den Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen von Bedeutung ist: „Ihr habe gehört, es ward gesagt: ,Du sollst deinen Nächsten lieben' (vgl. Luk. 19, Vers 18); doch hassen magst du deinen Feind. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde [tut Gutes denen, die euch hassen] und betet für die, die euch verfolgen [und verleumden], auf dass ihr Kinder eures Vaters werdet, der in den Himmeln ist. Er lässt ja seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." Der letzte Satz, der die Liebe Gottes selbst zu den Bösen und Ungerechten demonstrieren soll - dadurch, dass er auch für diese die Sonne scheinen und Regen herabkommen lässt -, deckt sich ganz und gar mit den oben zitierten Koranversen, welche an Hand von Naturerscheinungen (Regen, Wind, Lebendigkeit der Natur usw.) zeigen wollen, dass die Barmherzigkeit Gottes auch die 9 A. Falaturi/ R. May, Gerichtsverfahren und Richter im traditionellen islamischen Recht, in: A. Falaturi u. a., Beiträge zu islamischem Rechtsdenken, Wiesbaden 1986, S. 51 f. 83 SPEKTRUM IRAN Abtrünnigen umfasst. Die diesbezügliche Gemeinsamkeit ist so stark, dass man sogar aus Koran und Sunna, islamischer Mystik, Ethik und selbst islamischer Theologie Belege für die Aufrechterhaltung von „Liebet eure Feinde" im Sinne „Tut Gutes denen, die euch hassen" bringen kann. Wenn sich aber der Islam mit dem, was in diesem Zusammenhang verkündet wird, nicht einverstanden erklärt, nämlich mit Vers 39: „Ich aber sage euch: Leistet dem Bösen keinen Widerstand; vielmehr schlägt dich einer auf deine rechte Wange, so halte ihm auch die andere hin", so hat dies mit der Praktizierung der Liebe oder Barmherzigkeit nichts zu tun. Das liegt vielmehr darin begründet, dass der Muslim in dieser Aufforderung eine Beihilfe zu einer bösen Tat sieht, die ihm untersagt ist. Dennoch darf man nicht voreilig daraus folgern, dass es sich im Grunde um ein und denselben Sachverhalt, nur mit zwei verschiedenen Ausdrücken hier Barmherzigkeit, dort Liebe - handelt. Das lässt sich durch die Untersuchung des Phänomens Liebe in der islamischen Geisteswelt, dem Inhalt und der Funktion nach, und seiner Relation zur Barmherzigkeit erläutern. Für das Phänomen Liebe gibt es in der arabischen Sprache mehrere Bezeichnungen, von denen Îubb /maÎabba (Liebe, Zuneigung), wudd /mawadda (Liebe, Freundschaft) und ´išq (Liebe, Liebesglut) die bekanntesten und geläufigsten sind. Im religiösen Rahmen kommt ´išq fast nur in der Mystik, aber nicht im Koran und kaum in der Sunna vor. Darin finden hingegen die Wortstämme Îubb und wudd mehrere Male Anwendung, wobei Îubb viel häufiger gebraucht wird. Zu bemerken ist, dass es nur von wudd das Eigenschaftswort wadūd als einen der „Schönsten Namen" Gottes, und zwar für die 84 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT Bezeichnung seiner stets bestehenden Liebe der vor dem Hintergrund seiner raÎma: „Bittet euren Herrn um Vergebung, und wendet euch hierauf wieder ihm zu! Mein Herr ist barmherzig (RaÎim) und liebreich (Wadūd)“ (Koran 11,90). Von dem Wortstamm Îubb, dem im Rahmen der christlichislamischen Diskussion über das Thema „Liebe" eine entscheidende Bedeutung beizumessen ist, lassen der Koran und die Sunna keinen Schönen Namen, z. B. Îabīb oder muÎibb (der „Liebende“ für Gott), zu. Für uns ist der Begriff Îubb /maÎabba deshalb von besonderer Bedeutung, weil bei der arabischen Übersetzung der Bibel (das betrifft auch die eben behandelten Bibelstellen) Liebe grundsätzlich mit dem Wortstamm Îubb wiedergegeben wird. Das bedeutet, dass es in der arabischchristlichen Lehre das Phänomen Îubb ist, das die zentrale Rolle spielt. Welche Rolle es in der islamischen Lehre spielt und in welcher Relation es sich zu raÎma befindet, kann hier nur kurz umrissen werden: „Sag: Wenn ihr Gott liebt (tuÎibbūna), dann folgt mir, damit (auch) Gott euch liebt (yuÎbibkumu Allāh) und euch eure Schuld vergibt! Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben" (Koran 3,31). „Ihr Gläubigen! Wenn sich jemand von euch von seiner Religion abbringen lässt, Gott wird Leute bringen, die er liebt (yuÎibbuhum) und die ihn lieben (yuÎibbūnahu) ..." Hier und an ähnlichen Stellen im Koran und in der Sunna ist von der Liebe des Menschen zu Gott und umgekehrt von der Liebe Gottes zu den Menschen die Rede. Im arabischen Sprachgebrauch fasst man Îubb /maÎabba (Liebe, Zuneigung) als einen psychischen Vorgang auf, bei dem der Liebende irgendeinen Vorteil erwartet. 85 SPEKTRUM IRAN Gott ist aber darüber und über jede Ähnlichkeit mit den Menschen erhaben. Deshalb versteht man unter der Liebe Gottes zu den Menschen: „dem Menschen Gnade und Güte gewähren (in´ām)“ und unter der Liebe des Menschen zu Gott: “dessen Nähe suchen“. Ein unvergleichbares Übergewicht bekommt in der islamischen Theologie, unterstützt durch die Sunna, die Liebe des Menschen zu Gott; eine Liebe, die ihn auf dem Wege zu seinem Geliebten, zu seinem Gott, begleitet und die sich in seiner Handlung und Haltung Gott gegenüber verifiziert. Dabei spricht man auch, und sogar mit Nachdruck, von der Liebe Gottes zu diesem Gott liebenden Menschen. Diese Liebe (Îubb) aber interpretiert man dahin, dass Gott dem ihn suchenden Menschen Gnade erweist und ihm dabei hilft, sein Ziel, d.h. die Nähe seines geliebten Gottes, zu erreichen. Daraus ergibt sich die Relation des Phänomens Liebe zu dem der Barmherzigkeit. Die Liebe (Îubb) göttlicherseits ist eine besondere Ausstrahlung seiner allumfassenden Barmherzigkeit mit der höchsten Funktion, mit der höchsten Gabe, nämlich dem suchenden Menschen die Nähe Gottes zu gewähren. Eine andere Gewichtung bekommt Liebe (maÎabba) in der Lehre von Ibn Taimīya (gest. 1254), der sonst zur konservativen hanbalitischen Schule zählt. Nach ihm ist dem Menschen maÎabba Allāh (Liebe zu Gott) von der Schöpfung her mitgegeben worden: „Gott hat die Natur des Menschen auf die Gottausgerichtetheit, d.h. auf die Lehre Abrahams (Îanīf) geprägt, deren Fundament die Liebe zu Gott ist."10 „Es kann daher kein Anbeten geben außer aus der Liebe zu dem Angebeteten." „Wenn seine Diener ihn aus der Liebe zu ihm anbeten und hochpreisen, so ist er selbst mehr berechtigt, sich selbst zu lieben ... All diejenigen, die er liebt: die 10 Taqī ad-Dīn AÎmad Ibn Taimīya: Minhāğ as-sunna an-nabawīya, Bulāq 1322/1904, Bd. 3, S. 101. 86 DER ISLAM - RELIGION DER RAHMA, DER BARMHERZIGKEIT Gerechten, Gütigen, Standhaften, Gläubigen, Reumütigen ... liebt er, weil er sich selbst liebt."11 „Liebe als Eigenschaft gehört zu der Vollkommenheit Gottes. Sie bildet den Kern und die Wurzel des Willens ... Daher ist die Erschaffung seiner Kreaturen aus einer von ihm gewollten geliebten Weisheit (Veranlassung) gewesen."12 Demnach gebe es keine Schöpfung ohne „Liebe". Liebe bildet den Ansatz einer anderen islamischen Schöpfungstheologie. In dieser Richtung, allerdings aus einer ganz anderen Perspektive, ist nach den islamischen Mystikern das Entstehen und Bestehen der Dinge aus dem Prinzip „Liebe" (maÎabba), ja sogar aus „Liebesglut" (´išq) zu begreifen. Trotz der Überbetonung der „Liebe" greifen selbst die Mystiker auf die raÎma zurück, wenn es z. B. um die Frage der Bestrafung der Sündigen geht. Es ist schwierig, Höllenqual (´aÆāb) mit der verheißenen, uneingeschränkten Barmherzigkeit Gottes in Einklang zu bringen. An raÎma festhaltend deuten sie die Hölle und alles, was damit zusammenhängt, um. Ibn ´Arabī (gest. 1240), eine der größten Gestalten der islamischen Mystik, und seine Interpreten deuten z. B. ´aÆāb wie folgt um: ´AÆāb kommt von ´aÆb. ´AÆb bedeutet „angenehm“. Die Barmherzigkeit Gottes macht den Bewohnern der Hölle ihr Verbleiben dort angenehm.13 Diese Interpretation wird von sonstigen islamischen Gelehrten nicht geteilt. Das Bemühen, der Barmherzigkeit einen neuen Inhalt zu geben, behält dennoch seinen Wert und verdient die gebührende 11 Ebd., S. 102. Ebd., S. 100. 13 MuÎyi ad-Dīn MuÎammad: al-FutūÎāt al-Makīya. Nach Ñadr ad-Dīn MuÎammad aš-Šīrāzī: al-Asfār al-arba´a, Teheran 1282/1856, S. 916-920. 12 87 SPEKTRUM IRAN Anerkennung. Unberührt davon bleibt, dass Îubb von Gott im Koran und in der Sunna stets auf einen Wert gerichtet ist: Daher kann Îubb auch negiert werden. Gegenüber den oben genannten Beispielen „Gott liebt (yuÎibbu) die Frommen. Gerechten" usw. gibt es auch „Gott liebt nicht (lā yuÎibbu) die Ungläubigen, Ungerechten" usw. Die Barmherzigkeit Gottes (raÎma) hingegen bleibt in ihrer Absolutheit bestehen. Sie kommt nicht in einer negativen Form vor. Es gibt im Koran keine Aussage „lā yarÎamu Allāh", d. h. die Aussage: „Gott übt mit dem und dem keine Barmherzigkeit". Seine Barmherzigkeit kennt doch keine Grenzen. ___________ Editorische Notiz: Dieser Aufsatz wurde zuletzt in „Der Islam im Dialog – Aufsätze von Professor Abdoldjavad Falaturi“ von der Islamischen Wissenschaftlichen Akademie, Köln 1992, Seite 98-120 veröffentlicht. Einige Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. Für die Genehmigung zum Wiederabdruck in unserer Zeitschrift danken wir dem Islamischen Zentrum Hamburg. 88