N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) Norbert Christmann 1 Jörg Schäffer Faszination Unendlich Teil 1 Unendlich in der Mathematik (N. Christmann) „Mathematik ist die Wissenschaft, welche aufzeigt wie man mit endlichen Mitteln das Unendliche bewältigt.“ Wir wollen in diesem Teil anhand einiger Beispiele aufzeigen, wie Mathematiker mit dem Unendlichen umgehen und welche Probleme dabei entstehen. Im zweiten Teil wird dann Herr Schäffer zeigen, wie Musiker das Unendliche sehen und in Kunstwerke umsetzen. Dabei wird er insbesondere eine eigene Komposition zu diesem Themenkreis besprechen und zur Uraufführung bringen. 1 Zum Gebrauch von Unendlich in der Mathematik Beispiel 1 (Endliche Näherungen für „unendliche“ Objekte): a) Unendliche Dezimalbrüche werden ersetzt durch endliche (abbrechende) Brüche, die Mathematik liefert Aussagen, wie genau das Rechnen mit solchen Näherungswerten ist. b) Die Kreiszahl p ist eine komplizierte Zahl. Innerhalb der Mathematikgeschichte wurde gezeigt, dass sie als Dezimalbruch geschrieben unedlich viele Nachkommastellen hat und nicht periodisch ist. Aus einer weiteren Eigenschaft, ihrer Transzendenz, ergibt sich, dass man einen Kreis nicht durch eine Konstruktion mit Zirkel und Lineal als zulässigen Werkzeugen in ein flächengleiches Quadrat umwandeln kann. Die Mathematik macht aber nicht nur Aussagen über die Art dieser Zahl, sie liefert auch Methoden, wie man diese durch geeignete Algorithmen auf „viele“ Stellen bestimmen kann. Lassen wir uns etwa von DERIVE direkt einige Stellen ausdrucken. Die Kreiszahl Pi 3.141592653 NotationDigits := 100 (Einstellung auf 100 Stellen) 3.14159265359140397848254241421927966391989323482583519907484797746312134673 1960768731177020276065801 c) Manche mathematische Funktionen werden durch (teilweise komplizierte) Grenzprozesse gewonnen. Zur Berechnung ihrer Werte muss man Näherungsverfahren entwickeln, welche im Wesentlichen Grundrechenarten benutzen. Auch hier werden zusätzlich Kriterien für den Grad der Genauigkeit entwickelt. durch Grenzprozesse gewonnene Funktionen werden durch geeignete Näherungsverfahren auf die Durchführung endlich vieler Grundrechenoperationen zurückgeführt. Die Sinusfunktion wird in der Schule meist geometrisch eingeführt, es ist klar, dass man mit reinem Zeichnen ihre Werte nicht sehr genau bestimmen kann. Innerhalb der Mathematik gewinnt man sie mit Hilfe einer unendlichen Summe (Theorie), für das praktische Rechnen begnügt man sich mit endlich vielen dieser Summanden. N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) 2 Das nachfolgende Bild zeigt einige Näherungen der Sinusfunktion durch Polynomfunktionen (Taylorpolynome), die man erhält, wenn man immer mehr dieser Summanden berücksichtigt, angefangen von 2 bis 12 (Summanden 0 mitgerechnet), die Originalfunktion ist ebenfalls eingezeichnet, dabei steckt hinter der auch eine endliche Näherung, diese ist durch die Programmautoren so gewählt, dass im Rahmen der angestrebten Genauigkeit die werte mit denen der Originalfunktion übereinstimmen. Näherungsfunktionen (Taylorpolynome) für die Sinusfunktion Beispiel 2 (Mathematische Sätze als Sammlung unendlich vieler Sätze) N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) 3 Pythagoras (580 – 500 v. Chr.) als Musiker Satz des Pythagoras: Im rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Kathetenquadrate gleich dem Hypotenusenquadrat: a2 + b2 = c2. Diese Aussage erfasst unendlich viele Fälle der Wahl von a und b, konkret überprüfen können wir immer nur endlich viele Fälle, selbst wenn wir den Zugmodus moderner Geometrieprogramme einsetzen. b c a Zum Satz des Pythagoras Dies waren einige Beispiele für den gewöhnlichen Umgang mit „Unendlich“ innerhalb der Mathematik. Allerdings muss man zugestehen, dass trotz großer Erfolge der Umgang mit dem Unendlichen den Mathematikern, insbesondere denen, die sich mit Grundlagenproblemen befassen, immer noch intensives Kopfzerbrechen bereitet, ja dass gerade hier in der sonst für N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) 4 Außenstehende so klar und eindeutig wirkenden Wissenschaften kontroverse Positionen zu finden sind. 2 Aktual und potentiell unendlich Schauen wir uns zunächst zwei Sätze an: Großmutter behauptet. Es gibt unendlich viele Mücken Die lebenserfahrene Frau liefert sogleich einen „schlagenden“ Beweis: Egal wie viele Mücken ich totgeschlage, es gibt immer noch weitere Mücken. Auf den ersten Blick fast gleichartig ist ein Satz, der mit EUKLID (um 300 v. Chr.) verbunden ist, dem Verfasser der ELEMENTE. Dieses ist wohl das am weitesten verbreitete Mathematikbuch. Primzahlsatz des EUKLID: Es gibt unendlich viele Primzahlen. Euklid (365– 300 v. Chr.) In Euklids Beweis findet man die Ideen der Großmutter wieder: Er nimmt an, erhabe eine endliche Menge von Primzahlen gefunden und zeigt dass es noch eine weitere gibt. Der Unterschied in der Argumentation besteht darin, dass bei den Primzahlen es nicht möglich ist, mit Hilfe einer chemischen Keule oder andern massiven Mitteln das Nachwachsen zu verhindern, es liegt eine zwingende gedankliche Konstruktion vor. Genauer sieht diese so aus: Durch den Beweis versteht man, dass Euklid seinen Satz vorsichtiger formulierte: Es gibt mehr Primzahlen als jede vorgelegte endliche Zahl. Worin besteht der Unterschied zu unserer ersten Formulierung des Primzahlsatzes? Hier wird nur behauptet, egal wie viele Primzahlen gefunden wurden, man findet immer noch eine weitere. Es wird ein Konstruktionsverfahren angegeben zur Gewinnung einer beliebig großen aber immer endlichen Anzahl von Primzahlen. Es wird nicht behauptet, dass man so die Menge aller Primzahlen gewinnen kann. N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) G. CANTOR (1845 – 1918) 5 L. KRONECKER (1823 –1891) Hier scheiden sich die Geister. Während G. CANTOR, der berühmte Gründer der Mengenlehre keine Bedenken hatte, die Primzahlen insgesamt zu einer Menge zusammen zu fassen und diese Menge als gegeben anzusehen, hatte sein ebenfalls berühmter Lehrer L. KRONECKER erhebliche Einwände. Er sah die Bedingung verletzt, dass man wirklich alle Primzahlen geeignet konstruieren kann. Er beschimpfte seinen Schüler als „Verderber der Jugend“ und wurde zu dessen erbittertem Gegener, verzögerte deshalb die Publikation einer wichtigen Arbeit Cantors. Wir haben es hier mit zwei grundsätzlich verschiedenen Positionen zu tun. Die Konstruktivisten wollen ihre Objekte durch endliche Prozesse konstruieren, sie können damit zwar auch jede beliebige endliche Anzahl übertrumpfen, aber nie alle unendlich vielen Objekte einer unendlichen Menge erreichen. Sie befürworten daher, dass Mengen zwar potentiell unendlich sein können in dem Sinne, dass man stets noch weitere Objekte konstruieren kann. Die Existenz unendlicher Mengen (aktual unendlich) wird dagegen von ihnen abgelehnt. Demgegenüber hantieren die meisten Mathematiker recht frei mit unendlichen Mengen, der berühmte HILBERT etwa forderte, dass man sich nicht mehr aus dem von Cantor geschaffenen Paradies verteiben lassen sollte. D. HILBERT (1862 – 1943) Ein netter Dialog gegen das aktual Unendliche findet sich bei Wittgenstein: N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) 6 „Ich habe etwas Unendliches gekauft und nach Hause geschafft.“ „Guter Gott, wie hast Du das tragen können?“ „Es war ein Lineal, ein Objekt mit unendlichem Krümmungskreis.“ 3 Antinomien Die Bedenken gegen unendliche Mengen wurden gestützt durch Antinomien (Widersprüche) in der Mengenlehre. Zu deren Erklärung müssen wir eine der Grundideen Cantors erläutern. Die Menge der natürlichen Zahlen kann man durch {1, 2, 3, ......} mit Hilfe der Pünktchen noch halbwegs beschreiben, für die positiven rationalen Zahlen benutzt man dagegen schon eher eine Beschreibung mit Hilfe einer Eigenschaft: ¤+ := {a/b½ a,b Î IN}. CANTOR hatte die Vorstellung, dass zu jeder Eigenschaft eine eindeutig bestimmte Menge existiert, welche genau diejenigen Ojekte entält, auf die diese Eigenschaft zutrifft. Dieser Ansatz der „naiven“ Mengenlehre führte zu berühmten Antinomien. Eine sehr bekannte geht auf B. RUSSELL zurück. Als Eigenschaft wählte er x Ï x. Nehmen wir an, es sei M die Menge derjenigen Objekte für welche diese Eigenschaft zutrifft. Wäre M ein Element dieser Menge, so würde es nach der definierenden Eigenschaft nicht zu M gehören. Wäre M kein Element dieser Menge, so müsste M ein Elemnt von M sein, in jedem Fall würde das Gegenteil der angenommenen Aussage aus dieser folgen, wir erhalten einen Widerspruch. MÎM Þ MÏM MÏM Þ MÎM Kurzfassung der Russellschen Antinomie Eine gern gegebene Einkleidung dieser Antinomie ist die folgende Definition des Barbiers: Ein Barbier ist ein Mensch, der alle Leute rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Wer rasiert den Barbier? Wenn er sich selbst rasiert, verstößt er gegen die Definition, rasiert er sich nicht selbst, so muss er sich gemäß Definition rasieren und damit erneut gegen die Definition verstoßen. Ersetzen wir die Definition durch Gesetz und droht man bei Verstoß gegen dieses die Todesstrafe an, so hat der Barbier keine Chance mit dem Leben davon zu kommen. Welche Schlüsse zog man aus diesen Antinomien. Eine Möglichkeit, die Mengenlehre wieder abzuschaffen, käme für die meisten Mathematiker einer Vertreibung aus dem Paradies gleich. Deshalb galt es, die Mengenlehre so zu reparieren, dass solche Widersprüche nicht mehr auftreten. Die wesentliche Grundidee besteht darin, die Mengenbildungsmöglichkeiten geeignet einzuschränken. Dies ist in axiomatischen Fassungen der Mengenlehre gelungen, die Fundamente der Mathematik sind demnach mindestens genau so sicher wie vor der Entdeckung der Mengenlehre. N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) 4 7 Zum Begriff unendlicher Mengen Die Akzeptanz der Mengenlehre hat weitere Konsequenzen, die teilweise zu für Nichteingeweihte merkwürdigen Folgerungen führen. Kehren wir zu unserm Eingangsbeispiel zurück. Wir können die Primzahlen in aufsteigender Reihenfolge durchnummerieren und sehen damit, dass diese echte Teilmenge IP der natürlichen Zahlen genau so viele Elemente enthält wie die natürlichen Zahlen. Dieses Phänomen ist bei endlichen Mengen unbekannt, ja gerade ein Zeichen für die Unendlichkeit einer Menge: Eine Menge hat genau dann unendlich viele Elemente, wenn sie zu einer ihrer echten Teilmenge gleichmächtig ist. Dabei bedeutet gleichmächtig, dass man die Elemente der Mengen einander umkehrbar eindeutig zuordnen kann. Betrachten wir etwa die geraden natürlichen Zahlen und die natürlichen Zahlen. Dann wird durch die Zurodnungsvorschrift n a 2n eine umkerbar eindeutige Zurdnung zwischen beiden Mengen beschrieben (Verdoppeln, wenn man die n zugeordnete gerade Zahl haben will, Halbieren, wenn man die einer geraden Zahl zugeordnete natürliche Zahl finden will). 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 b b b b b b b b b b 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Eineindeutige Zuordnung der natürlichen und geraden Zahlen Die Primzahleigenschaft dünnt unsere natürlichen Zahlen einerseits gewaltig aus, andererseits bleibt immer noch eine „gleiche“ Anzahl von Objekten übrig. Wir können das Spiel noch etwas weiter treiben: Nach einem Satz von Dirichlet weiß man, dass es unter den Zahlen der Form 4n+1 und 4n+3 (also Zahlen mit Viererrest 1 und 3) auch schon unendlich viele Primzahlen gibt. Wenn man die Division mit Rest durch 42 betrachtet, so erhält man rund 10 disjunkte Teilemengen von IP, die alle unendlich sind. Wir können so verstehen, dass man in manchen Schulbüchern den Vermerk findet, dass „¥“ keine Zahl sei. Das Rechnen mit diesen unendlichen Anzahlen hat immerhin einige seltsame Eigenschaften: ¥+¥=¥ ¥ - ¥ kann alle Werte zwische 0 und ¥ annehmen. ¥ + ¥ + ........+ ¥ = ¥. Die letzte Bedingung lässt sich sogar auf unendliche viele Mengen ausdehnen. Betrachten wir dazu eine Nummerierung der positiven rationalen Zahlen ¤+. Das Verfahren geht auf Cantor zurück und wird als 1. (Cantorsches) Diagonalverfahren bezeichnet. Wir schreiben die Brüche mit nenner 1 in die erste Zeile, die mit Nenner 2 in die zweite Zeile, die mit Nenner 3 in die dritte Zeile usw. Wir durchlaufen die Zahlen dann nicht zeilenweise, sondern wie in dem N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) 8 durch das nachfolgenden Bildern angedeuteten Wechsel zwischen horizontalem, schrägem und vertikalen Durchlauf: ¯ ® [ ® [ Z [ Z [ Z ¯ Z [ Z [ Z [ Z [ Z [ Z [ Z [ Konkret in leicht modifizierter Form (nur senkrechte und waagrechte Wege bei der Abzählung) deutet das folgende Bild eine Abzählung der positiven rationalen Zahlen an. 1 2 ® 3 4 ¯ ­ ¯ ­ 1 2 3 4 ® 2 2 2 2 ¯ ­ 1 2 3 4 ¬ ¬ 3 3 3 3 ¯ ­ 1 2 3 4 ® ® ® 4 4 4 4 Bei den Abzählungen treten die Brüche sogar mehrfach auf (2 = 4/2 usw.), man verhindert dies durch Streichen bereits erfasster Zahlen. Die rationalen Zahlen werden so mit Rückennummern versehen, d.h. es gibt „genau so viele“ positive Bruchzahlen wie natürliche Zahlen. Auch hier gibt es eine bekannte Einkleidung, das sogenannte Hilbertsche Hotel: Auf einer Insel seien alle Hotelzimmer belegt. Es kommen weitere Touristen an, die verzweifelt nach Unterkünften suchen, es ist immerhin Regen angesagt. Die Hotelleitung bittet – das Flugzeug brachte 200 neue Gäste – alle bereits anwesenden Gäste in das Zimmer mit der Nummer n+200 zu gehen, wenn n ihre bisherige Zimmernummer war. Weil unendlich viele Zimmer verfügbar sind, kommen alle neuen Gäste unter, obwohl das Hotel bereits vorher ausgebucht war. Das obige Diagonalverfahren lehrt sogar, dass wir noch vielmehr Touristen einfliegen könnten, ohne um deren Unterbringung fürchten zu müssen: Wenn unendlich viele Flugzeuge mit jeweils unendlich vielen Touristen einfliegen würden, müssten wir die Zimmerverteilung nur nach dem Diagonalverfahren vornehmen, und schon wären alle unter. 5 Abzählbar und überabzählbar Unendlich Ein Nichtmathematiker wird sich an dieser Stelle vielleicht wundern, dass wir überhaupt soviel Theater um dieses Unendlich machen, schließlich ist Unendlich doch eine Anzahl, bei der man sich nicht vorstellen kann, dass es noch mehr gibt. Die zuvor angegebenen Seltsamkeiten machen ihm die möglicherweise schon eigen anmutende Mathematik nur noch etwas fremder, aber schließlich bringen alle Hotelbauten der Welt nur endlich viele Zimmer zustande, schließlich haben wir in kaum einem Land der Welt eine die Barbiere mathematisch bedrohende Gesetzgebung. Aber in der Mathematik geht die Problematik des Unendlichen noch weiter. N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) 9 Dazu erinnern wir nochmals an den Altmeister Pythagoras und seine Schule. Ihre Weltharmonie wurde empfindlich gestört durch die Entdeckung, dass Diagonale d und Seite a eines Quadrates nicht maßverwandt sind, dass man also keine Längeneinheit e finden kann, so dass a und d natürliche Vielfache dieser Einheit sind. d a In heutiger Sprache der Schüler der 9. Klasse würden wir das so formulieren: Die Quadratwurzel aus 2 ist irrational (a = 1 gesetzt), also nicht durch einen abbrechenden oder periodischen Dezimalbruch darzustellen. Es gibt also außer den rationalen Zahlen noch irrationale Zahlen. Darstellen können wir alle Zahlen mit Hilfe der Dezimalbruchentwicklung. Mit seinem zweiten Diagonalverfahren zeigte G. Cantor, dass die durch die Hinzunahme der Irrationalzahlen entstehende Menge der reellen Zahlen nicht mehr nummerierbar ist, also eine größere Anzahl von Elementen hat als IN: Ein zweites Unendlich ist damit gefunden. Am einfachsten zeigt man dies für die Zahlen aus dem Intervall [0, 1], dem sogenannten Kontinuum. Man nimmt an, dass eine Nummerierung gefunden sei und begründet, dass damit nicht das gesamte Kontinuum erfasst werden kann. Nehmen wir an, es sei r(i) := 0, r(i,1) r(i,2) r(i,3)....... der i-te Dezimalbruch (i = 1, 2, 3, .......). Wir bilden einen neuen Dezimalbruch d = 0, d(1) d(2) d(3) ......... indem wir d(i) = 1 setzen, wenn r(i,1) ungleich 1 ist und 0 im Falle r(i,1) = 1. Entsprechend werden auch alle anderen Nachkommastellen von d bestimmt, dann ist d verschieden von allen r(i), unser Kontinuum konnte durch diese Abzählung nicht vollständig erfasst werden. Wir haben damit mindestens zwei unterschiedliche Unendlich, einmal Mengen mit abzählbar unendlich vielen Elementen, also solchen, die man durchnummerieren kann und mit IR eine Menge mit überabzählbar unendlich vielen Elementen. Die unendliche Mengen zählenden Anzahlen werden in der Mathematik auch als transfinite Kardinalzahlen bezeichnet. Zwei dieser Zahlen haben wir damit kennengelernt. 6 Kontinuumshypothese. Ausblick Selbst Nichtmathematiker werden an dieser Stelle vermuten, dass das noch nicht alles gewesen sein kann. Wir können sie be(un)ruhigen, es geht tatsächlich noch weiter. Die erste Frage. Gibt es außer dem Abzählbarunendlich und dem durch IR repräsentierten Unendlich noch ein Unendlich, das zwischen diesen beiden Werten liegt? Lange Zeit glaubte N. Christmann: Unendlich in der Mathematik (Tag der Mathematik 2002) 10 man in der Mathematik an die Kontinuumshypothese, dass diese Frage zu verneinen sei. Inzwischen wurde durch P. J. COHEN 1963 gezeigt, dass man solche Zwischenwerte annehmen oder ablehnen kann, für den Aufbau der Mathematik sind beide Annahmen gleichermaßen gefährlich oder ungefährlich: Wenn der Aufbau mit der Kontinuumshypothese widerspruchsfrei ist (also keine Antinomien auftreten), so gilt dies auch für den Aufbau bei Verneinung der Kontinuumshypothese (Annahme der Existenz von Zwischenwerten). Durch K. GÖDEL wurde bereits 1938 gezeigt, dass diese Hypothese sich mengentheoretisch nicht widerlegen lässt. Die zweite Frage: Gibt es Mengen, deren Anzahl echt oberhalb der durch IR repräsentierten Anzahl liegt? Die Antwort ist „ja“, ein Verfahren zur Konstruktion größerer Mengen liefert der Übergang zur Potenzmenge, der Menge aller Teilmengen. Zum Beweis dieser Aussage modifiziert man das 2. Cantorsche Diagonalverfahren geeignet. Es sei M eine nichtleere Menge und f: M ® Pot(M) eine Abbildung von M in die Potenzmenge. Wir zeigen, dass eine solche Abbildung nie die gesamte Potenzmenge erfassen kann, indem wir eine Teilmenge konstruieren, die durch f nicht erreicht wird. Es sei S:= {mÎM ½ m Ï f(m)}. Ist mÎf(m), so ist mÏS und somit S ¹ f(m). Ist mÏf(m), so ist mÎS, daher ebenfalls S¹f(m). Die Menge S gehört also nicht zu den Bildern von S. Diese Aussage gilt auch für die leere Menge, deren Potenzmenge enthält immerhin die leere Menge als Element, also ein Element mehr. Fazit: Es gibt unendlich viele Unendlich, repräsentiert durch die transfiniten Kardinalzahlen. Für Kardinalzahlen benutzt man häufig den hebräischen Buchstaben À („aleph“), und zwar bei Annahme der Gültigkeit der Kontinuumshypothese À0 für die Mächtigkeit abzählbarer Mengen À1 für die Mächtigkeit von IR À2 für die Mächtigkeit der Potenzmenge von IR usw. Dann gelten z.B. folgende Rechenregeln: Àk + Às = Àk wenn k ³ s Àk + Àk = Àk Àk2 = Àk+1. Wir sehen, im Bereich des Unendlichen gibt es durchaus spannende Probleme, bei denen die sonst so gewohnte Sicherheit mathematischer Ergebnisse durchaus ins Wanken geraten kann, bei denen man sogar über die Gültigkeit von Aussagen unterschiedliche Annahmen machen kann. Wir konnten hier nur ein kleines Fenster zu diesem spannenden Bereich mathematischer Grundlagenprobleme öffnen. Zumindest auf zwei weitere Themenkreise sollte in diesem Zusammenhang verwiesen werden: Transfinite Ordinalzahlen, unendlich kleine (infinitesimale) Zahlen. Vielleicht konnten wir ein wenig neugierig machen auf die weitere Beschäftigung mit diesem Temenkreis.