06_Schuetz_TheorieI_SoSe13 - Lehrstuhl Prof. Dr. Armin Nassehi

Werbung
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Vorlesung
Soziologische Theorie
SoSe 2013
Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax
03. Juni 2013
Alfred Schütz
Gesellschaft als Lebenswelt/
Soziologie als Phänomenologie und Anthropologie
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 1
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Armin Nassehi:
Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen
2. Aufl.
Wiesbaden: VS-Verlag 2011.
Hans Joas/Wolfgang Knöbl:
Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen
Aktualisierte Auflage
Frankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 2
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Das Kursbuch ist wieder da, hg. von Armin Nassehi
Vorzugsabo für Studierende:
Drei Ausgaben/Jahr € 48,- (statt € 60,-)
Zu beziehen über
www.kursbuch-online.de
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 3
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Programm
22.04.
Die Vorgeschichte: Rousseau, Hobbes, Hegel und Marx
Die Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Kritik
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Band 7, Frankfurt/M. 1970, §§ 182-188,
S. 339-346; Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1,
Berlin (DDR) 1969, S. 378-391.
29.04.
Emile Durkheim:
Gesellschaft als integrierte Einheit/Soziologie als Moralwissenschaft
Emile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 152-173 und 437-450. Emile Durkheim:
Regeln der soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 115-128.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 4
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
06.05.
Max Weber:
Soziologie ohne Gesellschaft
Max Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders.: Schriften 1894-1922, ausgew. v. Dirk Käsler,
Stuttgart 2002, S. 275-313.
13.05.
George Herbert Mead:
Gesellschaft als universe of discourse/Soziologie als Verhaltenswissenschaft
George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Hrsg. von Charles W. Morris. Frankfurt/M. 1992, S. 194-221 und
230-265.
20.05.
Pfingstmontag
27.05.
Talcott Parsons:
Gesellschaft als politische Einheit/Soziologie als Theorie sozialer Systeme
Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 12-42.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 5
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
03.06.
Alfred Schütz/Peter Berger/Thomas Luckmann:
Gesellschaft als Lebenswelt/Soziologie als Phänomenologie und Anthropologie
Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Die Lebenswelt des Alltags und die natürliche Einstellung, in: dies.: Strukturen der
Lebenswelt. Band 1, Frankfurt/M. 2003, S. 29-50.
10.06.
Gary S. Becker/James Coleman
Gesellschaft als Situation/Soziologie als Theorie rationaler Wahl
Gary S. Becker: The Economic Way of Looking at Life, Nobel Lecture, Oslo 1992.
17.06.
Jürgen Habermas:
Gesellschaft als System und Lebenswelt/Soziologie als Aufklärungsprojekt
Jürgen Habermas: Der normative Gehalt der Moderne, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf
Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 390-425.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 6
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
24.06.
Niklas Luhmann:
Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/Soziologie als Aufklärung
Niklas Luhmann: Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S.
11-49.
01.07.
Pierre Bourdieu:
Gesellschaft als Distinktionsraum/Soziologie als (Selbst-)Aufklärung
Pierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, in: ders.: Sozialer Raum und ‘Klassen’. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen,
Frankfurt/M. 1985, S. 49-81.
08.07.
Bruno Latour:
Gesellschaft posthumaner Kollektive/Soziologie als Theorie hybrider Akteure
Bruno Latour: Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers
der Wissenschaften, Berlin, S. 15-84.
15.07.
Klausur
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 7
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Weitere Informationen:
Die Texte werden in den Hauptfachtutorien bearbeitet und sollen von allen sonstigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern
der Vorlesung mitgelesen werden.
Die Anmeldeformalitäten für die Klausur bzw. für die Anmeldung zu den Theorie II-Veranstaltungen werden im Laufe der
Vorlesung erläutert.
Sonntags ab spätestens 23.00 Uhr (meist früher) lassen sich die Folien des darauf folgenden Montags von der Homepage
des Lehrstuhls herunterladen (www.nassehi.de).
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 8
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Alfred Schütz (1899-1959)
Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen
Welt (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981)
S. 11f.: Hat es die Sozialwissenschaft mit dem Sein
des Menschen an sich oder nur mit seinen gesellschaftlichen Verhaltensweisen zu tun? Ist das gesellschaftliche
Ganze dem Sein des Einzelnen vorgegeben, so dass das Individuum
nur ist, weil es Teil einer Ganzheit ist, oder ist es umgekehrt das,
was wir das gesellschaftliche Ganze nennen und seine Teilorganisationen eine Synthesis von Funktionen der einzelnen menschlichen Individuen, deren Sein allein Realität zukommt? Ist das das
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 9
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
gesellschaftliche Sein des Menschen, was sein Bewusstsein, oder
umgekehrt sein Bewusstsein, das sein gesellschaftliches Sein bestimmt? Kann das historische Geschehen der Menschheits – und
Kulturentwicklung unter Gesetzen begriffen werden oder sind umgekehrt alle als “Gesetze“ ausgegebenen Deutungsversuche der
fortgeschrittensten Sozialwissenschaft, wie z.B. der Nationalökonomie, ihrerseits bloß historisch bedingte Abstraktionen? Es ist
begreiflich, dass derjenige, auf den Fragen von solcher Tragweite
einstürmen, der Versuchung unterliegt, ihre Lösung naiv vorauszusetzen und von seinem, durch Temperament, wertenden oder politischen Einstellungen oder bestenfalls metaphysischen Instinkt
diktierten Standpunkt aus an die einzelnen Tatsachen heranzutreten.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 10
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (J.C.B. Mohr, Tübingen 1972)
S.1: §1. Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf
und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. „Handeln“ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als
der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.
„Soziales“ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches
seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das
Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 11
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, a.a.O.
S.15f: Weber macht zwischen Handeln als Ablauf und vollzogener
Handlung, zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem Sinn des
Erzeugnisses, zwischen dem Sinn eigenen und fremden Handelns
bzw. eigener und fremder Erlebnisse, zwischen Selbstverstehen
und Fremdverstehen keinen Unterschied. Er fragt nicht nach der
besonderen Konstitutionsweise des Sinnes für den Handelnden,
nicht nach den Modifikationen, die dieser Sinn für den Partner in
der Sozialwelt oder für den außenstehenden Beobachter erfährt,
nicht nach dem eigenartigen Fundierungszusammenhang zwischen
Eigenpsychischem und Fremdpsychischem, dessen Aufklärung für
die präzise Erfassung des Phänomens „Fremdverstehen“ unerlässProf. Dr. Armin Nassehi
Seite 12
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
lich ist. Zwar stellt Weber dem subjektiv gemeinten Sinn eines
Handelns dessen objektiv erkennbaren Sinngehalt gegenüber. Aber
er differenziert nicht weiter und untersucht jene spezifischen Abwandlungen, die ein Sinnzusammenhang von der jeweiligen Position des Deutenden aus erfährt, ebenso wenig, wie die Auffassungsperspektiven, in denen dem in der Sozialwelt Lebenden seine
Mit- und Nebenmenschen überhaupt gegeben ist.
______________________________________________________
S. 16: Die soziale Welt ist eben keineswegs homogen, sondern
mannigfach gegliedert, und der „Andere“, der Partner, ist dem
sozial Handelnden und beide wieder dem Beobachter jeweils in
verschiedenen Graden der Anonymität, der Erlebnisnähe und
Inhaltsfülle gegeben. Der Einzelne zieht aber diese perspektivischen Verkürzungen, in denen ihm die Sozialwelt erscheint, bei
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 13
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
seinen Sinnsetzungs- und Sinndeutungsakten ins Kalkül, und deshalb sind auch sie Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung. Denn es handelt sich hier nicht um empirische Unterschiede des zufälligen Standpunktes des Einzelnen, sondern um Wesensunterschiede prinzipieller Natur – um den wesensmäßigen Unterschied insbesondere zwischen der Selbstinterpretation der Erlebnisse durch das eigene Ich und der Interpretation fremder Erlebnisse
durch das deutende alter ego. Dem handelnden Ich und dem deutenden Beobachter präsentiert sich nicht nur die einzelne sinnhafte
Handlung und ihr Sinnzusammenhang, sondern auch das Ganze der
Sozialwelt in völlig verschiedener Perspektive.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 14
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
S. 28f: Nur wenn angenommen wird, dass auch der Andere mit seinem Verhalten einen Sinn verbinde und diesen Sinn so in den Blick
bringen könne, wie ich auf den Sinn meines Handelns hinzusehen
vermag, kann überhaupt mit Fug nach dem fremden gemeinten
Sinn gefragt werden. Dass aber dieser gemeinte Sinn einer fremden
Handlung oder eines fremden Verhaltens nicht mit demjenigen
Sinn zusammenfallen muss, welchen der wahrgenommene, von mir
als fremdes Handeln oder fremdes Verhalten interpretierte Vorgang
für mich, den Beobachtenden, hat, ist die zweite Voraussetzung,
welche in diesem Postulat enthalten ist.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 15
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
S. 20f: Schon eine oberflächliche Analyse zeigt nämlich, dass das
Sinnproblem ein Zeitproblem ist, allerdings nicht ein solches der
physikalischen Raumzeit, die teilbar und messbar ist, oder der historischen Zeit, die immer eine von äußeren Begebenheiten erfüllbarer Ablauf bleibt, wohl aber ein solches des „inneren Zeitbewusstseins“, des Bewusstseins der je eigenen Dauer, in dem sich
für den Erlebenden der Sinn seiner Erlebnisse konstituiert. Erst in
dieser tiefsten, der Reflexion zugänglichen Erlebnisschicht, die nur
in streng philosophischer Selbstbestimmung schlossen werden
kann, ist der letzte Ursprung der Phänomene „Sinn“ und „Verstehen“ aufweisbar. Der mühevolle Weg in diese Tiefenschichten
kann aber demjenigen, der sich über die Grundbegriffe der Sozialwissenschaften Rechenschaft geben will, nicht erspart bleiben. Er
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 16
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
wird vielmehr die im hochkomplexen Sinngefüge der Sozialwelt
sichtbar werdenden Phänomene nur dann deutlich erfassen können,
wenn er sie auf ursprünglichen und allgemeinen Wesensgesetzen
des Bewusstseinslebens abzuleiten vermag. Erst die großen philosophischen Entdeckungen Bergsons und vor allem Husserls haben
den Zugang zu diesen Tiefenschichten philosophischer Reflexion
erschlossen. Nur mit Hilfe einer allgemeinen Theorie des Bewusstseins, wie Bergsons Philosophie der Dauer oder Husserls transzendentaler Phänomenologie, kann die Lösung der Rätsel gefunden
werden, mit denen die Problematik der Sinnsetzungs- und Sinndeutungsphänomene umlagert ist.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 17
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917), Husserliana, Band X, Den Haag 1966.
S. 23: Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir hören die Melodie, d.h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen.
Indessen, der erste Ton erklingt, dann kommt der zweite, dann der
dritte usw. Müssen wir nicht sagen: wenn der zweite Ton erklingt,
so höre ich ihn, aber ich höre den ersten nicht mehr usw.? Ich höre
also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton. Daß das abgelaufene Stück der Melodie für mich
gegenständlich ist, ver-danke ich - so wird man geneigt sein zu sagen - der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton angekommen, nicht voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vorProf. Dr. Armin Nassehi
Seite 18
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
blickenden Erwartung. Bei dieser Erklärung können wir uns aber
nicht beruhigen, denn alles Besagte überträgt sich auch auf den einzelnen Ton. Jeder Ton hat selbst eine zeitliche Extension, beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein immer neues Jetzt, und das jeweilig vorausgehende wandelt sich in
ein Vergangen. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des
Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones konstituiert sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil Erinnerung, zu
einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem
weiteren Teil Erwartung ist.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 19
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, a.a.O.
S.104: Wir können nun den Gesamtzusammenhang der Erfahrung
auch definieren als den Inbegriff aller durch das Ich als freies Wesen in einem gegebenen Zeitpunkt seiner Dauer vollziehbaren reflexiven Zuwendung (einschließlich aller attentionalen Modifikationen dieser Zuwendungen) auf seine abgelaufenen in phasenweisen Aufbau konstituierten Erlebnisse. Der spezifische Sinn eines
Erlebnisses, also das besondere Wie der Zuwendung zu ihm, besteht dann in der Einordnung dieses Erlebnisses in den vorgegebenen Gesamtzusammenhang der Erfahrung. Wir können diesen Satz
auch in folgender Form ausdrücken, die zugleich eine präzise Definition des Begriffes „gemeinter Sinn“ abgibt: Gemeinter Sinn eines
Erlebnisses ist nichts anderes als eine Selbstauslegung des Erlebnisses von einem neuen Erleben her.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 20
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
S.112: Wir können den Prozess der Einordnung eines Erlebnisses
unter die Schemata der Erfahrung durch synthetische Rekognition
auch als Deutung dieses Erlebnisses bezeichnen, wenn wir dieses
Wort in einem erweiterten Sinn gelten lassen, der auch die in der
allgemein üblichen Redeweise damit gemeinte Zuordnung eines
Zeichens zu dem, was es bezeichnet, umschließt. Deutung ist dann
nichts anderes als Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes,
von in Zuwendungen Erfasstem auf Schemata der Erfahrung. Diesen kommt also beim Prozess des Deutens der eigenen Erlebnisse
eine besondere Funktion zu. Sie sind die fertigen in der Weise des
Wissens (Vorwissens) jeweils vorrätigen Sinnzusammenhänge zwischen kategorial vorgeformten Material, auf welches das zu deutende Erlebnis in einem neuen synthetischen Akt rückgeführt wird. Insoferne sind die Schemata der Erfahrung Deutungsschemata und
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 21
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
als solche wollen wir sie im folgenden bezeichnen. Die Zuordnung
eines Zeichens zu einem Zeichensystem, für welche der Terminus
„Deutungsschema“ vorzugsweise verwendet wird, ist nur ein Spezialfall des soeben gekennzeichneten Vorgangs der Selbstauslegung überhaupt.
______________________________________________________
S.139: Das Postulat der „Erfassung des fremden gemeinten Sinnes“
besagt nämlich, dass die Erlebnisse des alter ego durch ein ego in
der nämlichen Weisen auszulegen seien, wie das alter ego die
Selbstauslegung seiner Erlebnisse vollzieht.
Ein solches „Wissen“ könnte aber nur in einem eigenen Erleben
und in einer Serie reflexiver Blickwendungen auf dieses eigene Erleben bestehen. Hierbei müsste der Beobachter die einzelnen Erlebnisse, und zwar die Urimpressionen, die reflexiven Akte, die aktiProf. Dr. Armin Nassehi
Seite 22
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
ven Spontaneitäten, die Phantasieerlebnisse usw. in der gleichen
Reihenfolge und mit den gleichen Höfen von Protentionen und Retentionen in seinem (des Beobachters) Bewusstsein vorfinden.
Mehr noch: der Beobachter müsste dazu fähig sein, auch alle vorvergangenen Erlebnisse des Beobachteten in freier Reproduktion
zu durchlaufen, er müsste also dieselben Erlebnisses in ihrer Totalität, und zwar in ihrer gleichen Abfolge erlebt und in gleicher
Weise Zuwendungen zu ihnen vollzogen haben, wie der Beobachtete selbst. Das heißt aber nichts anderes, als dass der Bewusstseinsstrom der durée des Beobachters der nämliche sein müsste,
wie der des Beobachteten, oder mit anderen Worten, dass Beobachter und Beobachteter ein und dieselbe Person sein müssten.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 23
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
S.156: Die vorgenommene Analyse zeigt aber in voller Deutlichkeit, dass eben diese letzten Fragen erst gestellt werden können,
sobald das Ich das vernommene Wort (als von einem alter ego
kundgegeben) in Selbstauslegung erfasst hat, dass also alles echte
Fremdverstehen auf Akten der Selbstauslegung des Verstehenden
fundiert ist.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 24
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze III. Studien zur phänomenologischen Philosophie, Den Haag 1971
S. 116f: Es kann aber mit Bestimmtheit gesagt werden, dass nur eine solche Ontologie der Lebenswelt, nicht aber eine transzendentale Konstitutionsanalyse jenen Wesensbezug der Intersubjektivität
aufzuklären vermögen wird, der die Grundlage sämtlicher Sozialwissenschaften bildet, obschon er von diesen meistens nur als
schlichte Gegebenheit ungeprüft, d.h. als „selbstverständlich“
angesetzt wird.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 25
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze I. Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971.
S. 286: Wir können jetzt einige Merkmale der Epoché der wissenschaftlichen Einstellung zusammenfassen. In dieser Epoché werden „eingeklammert“: (1) die Subjektivität des Denkers als Mensch
unter Mitmenschen einschließlich seiner körperlichen Existenz als
psycho-physisches menschliches Wesen in der Welt; (2) das Orientierungssystem, durch das die Alltagswelt nach der tatsächlichen,
der wiederherstellbaren, der erreichbaren Reichweite usw. gegliedert ist; (3) die grundlegende Sorge und das in ihr gründende System pragmatischer Relevanzen.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 26
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
S.262: Ich weiß, dass ich sterben werde und fürchte mich davor.
Diese fundamentale Erfahrung wollen wir die grundlegende Sorge
nennen. Dies ist die ursprünglichste Erwartung, der alle anderen
entstammen, - die vielen untereinander verflochtenen Systeme von
Hoffnungen und Befürchtungen, von Wünschen und Erfüllungen,
von Chancen und Wagnissen – die den Menschen in der natürlichen Einstellung dazu anspornen, die Meisterung der Welt anzustreben, Hindernisse zu überwinden, Pläne zu entwerfen und sie zu
verwirklichen.
Doch die grundlegende Sorge selbst ist lediglich ein Korrelat unserer Existenz als menschliches Wesen innerhalb der ausgezeichneten
Wirklichkeit des alltäglichen Lebens. Daher sind unsere Hoffnungen und Befürchtungen und die mit ihnen verbundenen Erfüllungen
und Enttäuschungen allein in der Wirkwelt verankert und nur in ihr
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 27
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
möglich. Sie sind wesentliche Bestandteile der Realität dieser Welt
des Wirkens, beziehen sich aber nicht auf unseren Glauben an sie.
Im Gegenteil, es ist bezeichnend für die natürliche Einstellung, dass
sie die Welt und ihre Gegenstände – so lange sie nicht in Frage gestellt werden – als selbstverständlich gegeben hinnimmt. So lange
das einmal festzulegende Bezugsschema, nämlich das System unserer eigenen und der fremden verbürgten Erfahrungen nicht fehlschlägt, so lange das Handeln und Tun unter der Anleitung dieses
Schemas den gewünschten Erfolg hat – so lange vertrauen wir diesen Erfahrungen. Wir sind gar nicht daran interessiert, herauszufinden, ob diese Welt wirklich existiert oder ob sie nur ein wohlgefügtes System zusammenhängender Erscheinung ist. Wir haben keinen
Grund, unsere verbürgten Erfahrungen irgendwie zu bezweifeln, von
denen wir annehmen, dass sie uns die Dinge so darbieten wie sie
wirklich sind.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 28
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
S. 263: Die Phänomenologie hat den Begriff der Epoché eingeführt.
Sie versteht darunter ein Verfahren, das unseren Glauben an die
Wirklichkeit der Welt ausklammert, um so die natürliche Einstellung durch eine radikale Weiterentwicklung der Cartesianischen
Methode des philosophischen Zweifels zu überwinden. Man kann
andererseits vielleicht sagen, dass der Mensch in der natürlichen
Einstellung auch eine bestimmte Epoché verwendet, die allerdings
von der des Phänomenologen ganz verschieden ist. Jener klammert
nicht etwa seinen Glauben an die Außenwelt und ihren Gegenständen aus, sondern, im Gegenteil, seine Zweifel an der Existenz dieser
Welt. Was er „in Klammern setzt,“ ist sein Zweifel daran, dass die
Welt und ihre Gegenstände anders sein könnten, als sie ihm erscheinen. Wir wollen diese Epoché die Epoché der natürlichen Einstellung nennen.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 29
Armin Nassehi
Institut für Soziologie
S.363: Durch wechselseitiges Verstehen und Einverständnis wird
somit eine gemeinsame kommunikative Umwelt geschaffen,
innerhalb der die Subjekte sich gegenseitig in ihren
Bewusstseinsaktivitäten motivieren.
Prof. Dr. Armin Nassehi
Seite 30
Herunterladen