Gegenseitige Kenntnis und Wertschätzung fördern (NA 4) 50 Jahre Nostra aetate In: Dialog-DuSiach 101 (Oktober 2015) Nach der Schoa gingen entscheidende Impulse für die Begegnung zwischen Juden und Christen u.a. von dem jüdischen Historiker Jules Isaac1 aus, einem Mitbegründer der französischen christlich-jüdischen Dialoggruppe „Amitié Judéo Chrétienne“ (1948). In seinen bekannten Werken „Jésus et Israel“ (Paris, 1946)2 und „L’enseignement du mépris“ (Paris 1962) zeigt Jules Isaac die jüdischen Wurzeln des Christentums auf und fasst wesentliche Aspekte der antijüdischen Traditionen in den Kirchen als „Lehre der Verachtung“ zusammen. Jules Isaac hat 45 Briefe an Claire HuchetBishop3 geschrieben4. In Brief Nr. 39 fordert Isaac die Verurteilung der „Lehre von der Verachtung“, die dem jüdischen Volk durch die christliche Verkündigung zuteil wird. Diese Verurteilung muss von höchster Stelle aus geschehen (durch den Papst bzw. durch ein Konzil). - Die mit Selbstverständlichkeit Jahrhunderte lang tradierten antijüdischen Stereotypen in der christlichen Theologie, v. a. die Anklage des Gottesmordes, trugen zum Gefühl der Selbstgerechtigkeit der Christen und zu einer Haltung bei, die sich vor der notwendigen Solidarität mit den ausgegrenzten und nach und nach auch dem Tod preisgegebenen Opfern des nationalsozialistischen Regimes drückte. Statt der Jahrhunderte langen „Lehre der Verachtung“ hat eine christliche Theologie des Judentums in der Besinnung auf seinen jüdischen Ursprung in Jesus von Nazareth und den Verfassern der neutestamentlichen Schriften diese jüdischen Wurzeln bzw. diesen jüdischen Stamm (Röm 11,16-18) anzuerkennen, ohne die und ohne den es zum Austrocknen verurteilt wäre. 1 Jules Isaac, geboren am 18. 11. 1877 in Paris, starb am 6. 9. 1963 in Aix en Provence. Ein ausführlicher Lebenslauf von Jules Isaac ist nachzulesen in: FrRu (Freiburger Rundbrief. Zeitschrift für jüdischchristliche Begegnung) XXIX (1977) 91-94. Vgl. auch den Nachruf in: FrRu XV (1963/64) 80. 2 Dt. Jules Isaac, Jesus und Israel, Wien/Zürich 1968. 3 Claire Huchet-Bishop, 1898-1993, war Präsidentin von Amitié Judéo-Chrétienne de France (19751981) und Präsidentin des International Council for Christians and Jews (1974-1976). In diese Zeit fällt auch ihre Studie „How Catholics look at Jews. Inquiries into Italian, Spanish and French Teaching Materials“, New York 1974 (vgl. FrRu XXVI [1974] 25, Anm. 6). 4 Veröffentlicht in: Sens Heft Nr. 7/8 (2002); Alwin Renker, 45 Briefe von Jules Isaac an Claire HuchetBishop, in: FrRu X (2003) 31−35. 1 Eine internationale Konferenz der Christen und Juden (International Conference of Christians and Jews, auch Emergency Conference on Antisemitism) fand vom 30. Juli bis 5. August 1947 in der Gemeinde Seelisberg (Schweiz), statt. Ihr Zweck war die Untersuchung der Ursachen des christlichen Antisemitismus und führte zur Gründung des Internationalen Rats der Christen und Juden (ICCJ). In Seelisberg war Jules Isaac einer der bedeutenden jüdischen Gesprächspartner und trug entscheidend zur Entstehung der „Seelisberger Thesen“5 bei. In diesen Thesen wird unterstrichen, dass ein- und derselbe Gott durch das Alte und das Neue Testament zu uns allen spricht, dass Jesus von einer jüdischen Mutter aus dem Geschlechte Davids und dem Volke Israel geboren wurde, und dass seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfasst, dass die ersten Jünger, die Apostel und die ersten Märtyrer Juden waren, dass das höchste Gebot für die Christenheit, die Liebe zu Gott und zum Nächsten, schon im Alten Testament verkündigt, von Jesus bestätigt, für beide, Christen und Juden, gleich bindend ist, und zwar in allen menschlichen Beziehungen und ohne jede Ausnahme. Hingegen ist zu vermeiden, dass das biblische und nachbiblische Judentum herabgesetzt wird, um dadurch das Christentum zu erhöhen; das Wort „Juden“ in der ausschließlichen Bedeutung „Feinde Jesu zu gebrauchen, oder auch die Worte „die Feinde Jesu“, um damit das ganze jüdische Volk zu bezeichnen; die Passionsgeschichte so darzustellen, als ob alle Juden oder die Juden allein mit dem Odium der Tötung Jesu belastet seien. Es ist allen christlichen Eltern und Lehrern die schwere Verantwortung vor Augen zu stellen, die sie übernehmen, wenn sie die Passionsgeschichte in einer oberflächlichen Art darstellen. Ferner ist zu vermeiden, dass die Verfluchung in der Heiligen Schrift oder das Geschrei einer rasenden Volksmenge: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ behandelt wird, ohne daran zu erinnern, dass dieser Schrei die Worte unseres Herrn nicht aufzuwiegen vermag: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, Worte, die unendlich mehr Gewicht haben. Es ist zu vermeiden, dass der gottlosen Meinung Vorschub geleistet wird, wonach das jüdische Volk verworfen, verflucht und für ein ständiges Leiden bestimmt sei. Schließlich ist zu vermeiden, die Tatsache unerwähnt zu lassen, dass die ersten Mitglieder der Kirche Juden waren. 5 FrRu II. Folge 1949/1950, Nr. 8/9, August 1950, 5–6. 2 Jules Isaac hatte eine Audienz bei Papst Pius XII. am 16. Oktober 1949 in Castel Gandolfo und im Juni 1960 bei Papst Johannes XXIII.6 Im Verlauf der Audienz übergab Jules Isaac Papst Johannes ein dreiteiliges Dossier: 1. Ein Programm zur Richtigstellung falscher, ja ungerechter Aussagen über Israel in der christlichen Unterweisung. 2. Das Beispiel einer theologischen Legende, dass nämlich die Zerstreuung Israels eine von Gott über Volk verhängte Strafe für die Kreuzigung Jesu sei. 3. Einen Auszug aus dem Trienter Katechismus, der bei seiner Behandlung der Passion die Schuld aller Sünder als die tiefste Ursache des Kreuzestodes Christi hervorhebt und daher beweist, dass die gegen die Juden erhobene Anschuldigung des Gottesmordes nicht zur heilen Tradition der Kirche gehört. Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „Nostra Aetate“7 Die am 28. Oktober 1965 verabschiedete Erklärung „Nostra aetate“ richtet sich, wie jeder Konzilstext, zuerst an die eigenen Kirchenmitglieder. Er spricht daher nicht direkt über andere Religionen und auch nicht über den interreligiösen Dialog, zu dem er ermutigen möchte, und auf den er die Kirche in Übereinstimmung mit der Kirchen- und Pastoralkonstitution verpflichtet. Aber wie das gesamte Konzil drückt auch dieser Text angesichts und mit dem Ohr der anderen zuerst die eigene Selbstbestimmung aus: Wer bin ich im Angesicht von …? Die wichtigsten Überzeugungen zum Verständnis des Textes seien kurz genannt: Die Kirche ist mit ihrer ganzen Lehrautorität der unerschütterlichen Überzeugung, dass der Heilswille Gottes alle Menschen umfängt, dass 6 Vgl. Johannes Österreicher, Kommentierende Einleitung zu: Erklärung über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra Aetate“, in: LThK (2) 13, 403-478, hier 406. 7 Die folgenden Ausführungen verdanke ich Roman Siebenrock. Vgl. Roman Siebenrock, Das Schifflein Petri auf offener See ... Besinnung auf das Gewicht des Senfkorns des Konzils Nostra Aetate, in: Henrix, Hans Hermann (Hg.): Nostra Aetate. Ein zukunftsweisender Konzilstext. Die Haltung der Kirche zum Judentum 40 Jahre danach. Aachen 2006, 11 – 32; Roman Siebenrock, „... die Juden weder als von Gott verworfen noch als verflucht" darstellen (NA 4) - die Kirche vor den verletzten Menschenrechten religiös andersgläubiger Menschen, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils: Theologische Zusammenschau und Perspektiven. Freiburg i. Br. - Basel [u.a.] 2005 (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, 5), 415 – 423; Roman Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate, in: Hünermann, Peter; Hilberath, Bernd J., Orientalium Ecclesiarum - Unitatis Redintegratio Christus Dominus - Optatam Totius - Perfectae Caritatis - Gravissimum Educationis - Nostra Aetate Dei Verbum. Freiburg i. Br. - Basel [u.a.] 2005 ( Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, 3), 591 – 693; Roman Siebenrock, Roman, Das Senfkorn des Konzils. Vorläufige Überlegungen auf dem Weg zu einem erneuerten Verständnis der Konzilserklärung „Nostra Aetate“, in: Wassilowsky, Günther; Lehmann, Karl (Hrsg.): Zweites Vatikanum - Vergessene Anstöße, gegenwärtige Fortschreibungen. Freiburg i. Br. - Basel [u.a.] 2004: (Quaestiones disputatae 207), 154 - 184. 3 er allen nahe ist und daher alle Menschen guten Willens zum Heil gelangen können (SC 5; LG 16; AG 7). Vor allem aber bekennt die Kirche, dass Gott im Heiligen Geist allen Menschen die Möglichkeit gibt, mit dem Tod und der Auferstehung Christi verbunden zu sein, ja dass uns im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis jedes Menschen aufleuchtet (GS 22). Da die Kirche sich in der Sendung des armen, demütigen und gewaltfreien Jesus zu erneuern hat und weiß, dass wir alle in der Kirche in dieser Geschichte immer auch Sünder sind (LG 8), muss sie kritisch auf sich selbst und ihre Geschichte blicken. Daher bekennt sie sich uneingeschränkt zur Religionsfreiheit (Dignitatis Humanae) und weiß sich gesendet im Dialog für die Würde des Menschen, Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. So verwirklicht sich die Grundbestimmung der Kirche nach dem Konzil: Sie ist das universale Sakrament des Heils (LG 48), weil sie Gottes Werkzeug für die innigste Verbindung mit Gott und der Einheit aller Menschen ist. Daher dient der interreligiöse Dialog allen Menschen im Ringen um eine friedvollere und gerechtere Welt. Und alles was die Kirche in diesem und anderen Dokumenten sagt ist von der Überzeugung getragen, die ihre Sendung und die Anerkennung der Freiheit der anderen miteinander verbindet: „„und anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt“ (DiH 1). Was ist die „Haltung“ der Kirche zu den „nicht-christlichen Religionen“? Als „Haltung“ (lateinisch: „habitudo“) ist jene prägende Grundgestalt der Kirche zu verstehen, mit der sie, vorab zu allen Erfahrungen und auch angesichts misslicher und prekärer Situationen, in die Begegnung eintritt und sie zu bestehen versucht. In dieser Haltung, die zuerst den Alltag prägt, soll zuerst das Licht des Evangeliums für andere erkennbar werden. Artikel 2 drückt diese Haltung mit drei Bestimmungen aus: a) „Die Kirche verwirft nichts von dem, was in diesen Religionen wahr und heilig ist“ (NA 2). b) Sie muss aber immer Christus, der „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) ist, verkünden, weil sie bekennt, dass in ihm alle Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden. Deshalb ermahnt sie c) ihre Mitglieder mit Klugheit und Liebe mit allen Möglichkeiten des Dialogs „jene geistlichen und sittlichen Güter sowie jene soziokulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.“ Christusbekenntnis und Hochachtung, ja die Förderung der Werte der anderen, schließen sich 4 daher nicht aus, sondern bedingen einander. Dialog ist daher, das lehrt uns die Erfahrung seither, nur in einer Identität möglich, die Wurzel und Offenheit zu verbinden weiß. Was sagt das Konzil zu den anderen Religionen? Angestoßen wird der Text durch die Gegenwartsituation („nostra aetate“: in unserem Zeitalter), in der die Menschen durch technische und wirtschaftliche Bande, aber auch durch höchste Gefährdungen und größte Hoffnungen enger miteinander verbunden werden. Angesichts dieser Globalisierung fragt die Kirche nach einer tieferen Einheit aller Menschen. Und sie findet diese Einheit aus der Überzeugung, dass Gott Ursprung und Ziel aller Menschen ist, und daher die Menschen tatsächlich Geschwister sind. Aus diesem Grund dürfen die Menschen auch von den Religionen Antworten auf die Fragen erwarten, die die „conditio humana“ uns stellt. Aus diesem Grunde ist die religiöse Dimension, auch wenn das Konzil hier nicht sagt, ob die religiöse Antwort gelingt oder nicht, aus der Sinnsuche des Menschen auch heute nicht zu eliminieren. Religiosität im weitesten Sinne ist anthropologisch unauslöschlich. Die Mitte des Textes ist aus seiner Genese zu erschließen. Johannes XXIII. wünschte sich nach einem Gespräch mit Jules Isaac eine Erklärung zum Judentum. Angesichts der Katastrophe der Schoa haben sich alle christlichen Kirchen in Europa einem tiefen Umkehr- und Erneuerungsprozess unterworfen und die eigene antijüdische Geschichte als ein nicht unwesentlicher Faktor des säkularen Antisemitismus und Rassenwahns erkannt. Zu erinnern ist vor allem an das Schuldbekenntnis der evangelischen Kirche in der Stuttgarter Erklärung von 1945: „... aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“8 Die Konzilsväter des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965) sahen sich konfrontiert mit „knapp zwei Jahrtausenden des Misstrauens, der Beschuldigungen sowie des offenen Hasses und der Diffamierungen sowohl in theologischer als auch in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht“9, in denen das jüdische Volk seiner theologischen und vielfach auch seiner realen Existenzberechtigung beraubt 8 Rolf Rendtdorff / Hans Hermann Henrix, Die Kirchen und das Judentum: Bd. 1 Dokumente von 1945 – 1985, Paderborn-München 1988, 528. 9 Andreas Vonach, Kirche und Synagoge: Rückbesinnung und neue Annäherungsimpulse seit dem Zweiten Vatikanum, in: Willibald Sandler/Andreas Vonach (Hg.): Kirche: Zeichen des Heils - Stein des Anstoßes. Bern u.a. 2004, 31-59, hier 31. 5 wurde. Der entscheidende Schritt der Konzilserklärung „Nostra aetate“ besteht darin, dass die Kirche in ihrer Herkunft und damit in ihrer Identität unabweisbar an das Volk Israel verwiesen und das aktuelle Judentum als konstitutiver Gesprächspartner einbezogen wird. Das gemeinsame Band mit dem Judentum und die Absage an jeden Antijudaismus Die Mitte des Textes bilden die Aussagen zum Judentum, das in einem geistlichen Band mit der Kirche verbunden ist. Die Kirche verdankt sich nicht nur historisch der Verheißung Gottes an Israel (Artikel 4). In der Verheißung an Abraham, dem Vater im Glauben, liegt auch der Anfang der Kirche. Dieser Anfang hat bleibende Bedeutung, wie das Konzil mit Paulus (Röm 9–11) lehrt: Die Wurzel trägt Dich! Israel bleibt das Volk der Verheißung, mit dem die (Heiden)Christen, so die eschatologisch noch ausstehende Hoffnung, einmal das eine Volk Gottes bilden werden. Deshalb muss die Kirche die traditionellen Vorstellungen, die nicht nur den christlichen Antisemitismus nährten und sich im 20. Jahrhundert in der säkularen Ideologie des Rassenwahns in der Judenverfolgung des Nationalsozialismus auswirkte, revidieren. Also: Die Juden sind keine Gottesmörder und nicht kollektiv schuldig am Tod Jesu. Der Bund mit Israel ist nicht aufgelöst, weil die Treue Gottes bleibt. In der kirchlichen Praxis, im Religionsunterricht, in der Predigt, in der Bibelarbeit, wurde das Judentum als gesetzlich, unvollkommen, gewalttätig, engstirnig, erneuerungsbedürftig dargestellt. Deshalb gilt es Sprache und Herzen zu reinigen, damit sie dem Geist Christi und dem Evangelium gemäßer werden. Zur Wertschätzung des Judentums gehört unbedingt auch die Dankbarkeit für den Glauben und die Glaubenstreue der Jüdinnen und Juden, wie es Papst Franziskus in einem Brief an Scalfari, den Chefredakteur von La Republica, am 11.9.2013 ausgedrückt hat10. Heute bekennt die Kirche dankbar, dass es nicht möglich ist, Christ zu sein, ohne die jüdischen Wurzeln des Glaubens hochzuschätzen. „Dabei durften wir - beschämt und beschenkt zugleich - das jüdische Volk als das Volk des ersten, nie gekündigten Bundes Gottes mit den Menschen wiederentdecken.“ Anknüpfend an die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils sagte Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in der 10 de.radiovaticana.va/articolo.asp?c=727501. 6 Synagoge von Rom am 13. April 1986: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ‚Äußerliches’, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Inneren’ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen, wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“ Diesem Prozess der Reinigung, der Wertschätzung und der Dankbarkeit gegenüber dem Judentum hat sich, mit allem Auf und Ab, die Kirche seitdem gestellt. Das Konzil zu den Religionen, insbesondere den Hinduismus und Buddhismus? Aus der Verheißung an Abraham (Gen 12, 1-3) öffnet sich der Blick auf die ganze Menschheit, die von den Heilsratschlüssen Gottes begleitet wird (NA 2). Überall sind daher eine Wahrnehmung und eine Anerkennung des letzten Geheimnisses unserer Wirklichkeit zu entdecken. Ausdrücklich spricht das Konzil vom Hinduismus, seiner poetischen Kraft und seiner tiefen Philosophie in der Suche nach diesem Mysterium. Der Buddhismus wird in seiner Sensibilität für das Leiden am Ungenügen der Welt, seiner Suche nach Erlösung durch Allsympathie und seine aszetischen Bemühungen beispielhaft vor Augen gestellt. Solche exemplarische Nennungen sollen die Glaubenden ermutigen, in der Begegnung mit Menschen anderen Glaubens jenes „Wahre und Heilige“ zu entdecken und anzuerkennen, das der freigiebige Gott als Reichtümer unter alle Menschen verteilt hat (AG 11). Was sagt das Konzil zu den Muslimen? Eine besondere Bedeutung hat in den letzten Jahrzehnten durch politische Entwicklungen und wirtschaftliche Verflechtungen sicherlich das Verhältnis zum Islam gewonnen. Der damit verbundene Konflikt hat auch die Erklärung „Nostra aetate“ und die Entwicklung des Textes tief erschüttert. Angesichts des „Nahost-Konflikts“ ist „Nostra aetate“ wohl der politischste Text des Konzils, gerade weil er sich auf die religiöse Frage konzentriert. So wurde „Nostra aetate“ erst möglich, als die Erklärung zum Judentum auf den Islam und schließlich auf alle Religionen erweitert wurde. Und man sollte heute nicht vergessen, dass es in den arabischen Ländern Proteste bis zum Mord an Christen gegeben hat, nachdem bekannt wurde, dass die Kirche ihre antijüdische Haltung definitiv ändern wird. 7 Dennoch hielt das Konzil auch an seiner Haltung zu den Muslimen fest. Aber: das Konzil spricht nicht vom Islam, weil die Bischöfe vor allem aus den arabischen Ländern, diese Kennzeichnung als Anerkennung eines politisch-sozialen Systems angesehen hätte, das sie als prekär empfinden. Im berühmten Artikel 3 kündet sich mit dem Wörtchen „cum aestimatione“ („mit Wertschätzung“) auch eine Zäsur in der theologischen Wertung der muslimischen Tradition an, weil er die Muslime nennt, die anbeten und in ihrem Leben sich bemühen, auch den geheimen Ratschlüssen Gottes sich zu unterwerfen. Auch wird ihre Verehrung und Anerkennung Jesu und Mariens hervorgehoben. Dass der Koran und der Prophet nicht genannt werden, zeigt, dass wir erst auf dem Weg zu einer gemeinsamen Sprache sind. Das Konzil spricht auch von Differenzen, die das Bekenntnis zu Jesus Christus als wahrem Mensch und Gott betreffen. Ausdrücklich wird die Konfliktgeschichte angesprochen, auch wenn ein bloßes „Vergessen“ sich als zu schwach erwies. Dies hat die Kirche danach wiederum zu einer tiefgehenden Gewissenserforschung veranlasst. Dass es dem Konzil nicht um eine Ökumene der Religionen gegen die säkulare Welt oder gar die Atheisten ging, zeigt die Aufforderung, sich gemeinsam für Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Frieden und Freiheit für alle Menschen einzusetzen. Dieses Ziel eines jeglichen Dialogs wird im letzten Artikel programmatisch verdichtet (Na 5). Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, die Verkündigung des Kreuzes Christi als Liebe und Heil für alle, sowie die sakramentale Identität der Kirche fordern ein eindeutiges Engagement. Deshalb wird jeder Form von Rassenhass und Verfolgung der Menschen der Boden entzogen: Die Einheit der Menschheitsfamilie als Kinder Gottes fordert einen entsprechenden Umgang untereinander ein. Ein Blick auf die Entwicklung Wir können dankbar heute erkennen, dass „Nostra aetate“ vielfältige Früchte gebracht hat. Wir dürfen aber auch nicht überspielen, dass wir auch immer wieder in „Aporien“ geraten sind. Denn nicht nur in der Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum, das immer eine besondere Bedeutung für die christlichen Kirchen haben wird, auch im Blick auf andere Religionen hat sich die Kirche auf die Frage eingelassen: Was bedeutet das Bekenntnis zu Jesus Christus, als dem einen Mittler, angesichts Menschen anderen Glaubens, die uns mit ihrem Leben und ihren Werten tief berühren, ja beschämen und so höchsten Respekt einflößen? Diese Frage wird deshalb uns auf lange Zeit 8 beschäftigen, weil wir auch hier wie fast überall auf der Welt in multireligiösen Gesellschaften leben. Heute wohnen wir in einem Welthochhaus, in dem alle mit allen Nachbarn geworden sind. Der anhaltende Flüchtlingsstrom dieser Tage erinnert uns ebenso nachdrücklich daran, wie der weltweite Kampf gegen den Terrorismus oder die Kriege und Konflikte. In vielen Fragen ist eine weltweite Suche nach Gemeinsamkeiten und nach einer segensreichen Sprache für die bleibenden Differenzen festzustellen. Der interreligiöse Dialog zielt nicht auf eine „Welteinheitsreligion“, sondern auf eine Kultur mit Differenzen und harten Gegensätzen segensreich umgehen zu lernen. Hier hat die Erfahrung gezeigt, dass der theologische und spirituelle Dialog auf dem Dialog des Alltags einer guten Nachbarschaft und auf dem Dialog der sozialen und politischen Verantwortung in unserem jeweiligen Lebensraum aufbaut. Diese Entwicklung ist keineswegs auf die Katholische Kirche beschränkt, sondern (wie auch schon während des Konzils) wird von fast allen christlichen Traditionen auf ihre Weise mitgetragen. Nach dem Konzil hat vor allem der Heilige Johannes Paul II. at mit höchstem persönlichen Einsatz den Weg des Konzils in das bleibende Gedächtnis der Kirche eingeschrieben. Seine „ersten Besuche“ in Synagogen und Moscheen, seine epochale Initiative zum Friedensgebet in Assisi (1986, 2002), das besonders von den kirchlichen Bewegungen wie Sant‘ Egidio und Fokolare aufgenommen und vertieft worden ist, sind zum Vorbild geworden. Vor allem das Schuldbekenntnis (2000) gab dieser Umkehr und Selbstbesinnung einen bleibenden Ausdruck. Ihm vor allem wird es einmal zu verdanken sein, dass der Kampf gegen Antijudaismus und jeglicher Rassendiskriminierung immer wie selbstverständlich im Handeln der Kirche verankert sein wird. Papst Benedikt XVI. hat 2011 verdeutlicht, dass dieser interreligiöse Dialog keine Abschottung gegen die Nicht-glaubenden sein kann, sondern zum Segen für alle Menschen werden soll: Wir alle sind Pilgerinnen der Wahrheit und des Friedens und benötigen uns wechselseitig, um der Pathologie des Religiösen wie der Pathologie der Vernunft und des Säkularen nicht zum Opfer zu fallen. Wir dürfen dankbar erfahren, dass diese Haltung der Kirche andere bewogen hat, diese Umkehr anzuerkennen und einen aufrichtigen Dialog zu führen. Es sei wenigstens an zwei Dokumente erinnert. Von fast allen jüdischen Gruppen wurde als Antwort auf „Nostra aetate“ das Dokument „Dabru emet“ („Sagt wahr“: 11.9.2000) veröffentlicht. Nach dem Attentat von 9/11 in New York haben muslimische Gelehrte aus allen 9 Traditionen den Text veröffentlicht „Ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch“ (2007), der bei uns von den Medien kaum wirklich zu Gehör gebracht worden ist. Wo stehen wir? Was kommt auf uns zu? In dieser Sendung, deren Grundhaltung „Nostra aetate“ auslegt, findet sich eine Kirche inmitten einer konfliktreichen Weltgesellschaft immer wieder in „Aporien“. Oft wissen wir nicht, wie wir diesem vielfältigen und vielschichtigen Dialog gerecht werden sollten. Gerade in diesen Zeiten gibt es keine Alternativen zu den Grundoptionen des Konzils. Das Zweite Vatikanische Konzil zeichnet uns die Vision einer geschwisterlichen Menschheitsfamilie, die in der Not solidarisch und im Streben nach Frieden und Gerechtigkeit, und in der Anerkennung der Würde aller Menschen auch darauf hofft, dass Gewalt und Krieg einmal überwunden sein könnten. Die Kirche weiß sich aus der Mitte des Evangeliums und der Verheißung an Abraham gerufen, zum Segen für alle zu werden, und zwar durch ihren konkreten Einsatz für die Würde des Menschen, Frieden und Gerechtigkeit. In diesem Jahr 2015 hat Papst Franziskus in einem offenen Dialog alle Menschen eingeladen, diese Selbstverpflichtungen um den Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung zu ergänzen. Dass wir dies als eine Kirche zu tun haben, die auch in sich selbst immer auch ein erschreckendes Maß an Sündhaftigkeit und Unvermögen aufweist, darf uns nicht von diesem Auftrag Abstand nehmen lassen. Gerade in der Kritik an der Realität der Kirche zeigt sich heute die Hoffnung und die Erwartung, die viele Menschen noch an sie haben. Es ist notwendig, den glaubenden Menschen der unterschiedlichsten Traditionen ihren Platz in allen Gesellschaften einzuräumen, um die Vision einer erneuerten Menschheit als Inspiration nicht zu verlieren. In gleichem Maße wie die religiös verursachte Gewalt kritisiert wird, ist den religiösen Friedensund Solidaritätsinitiativen Öffentlichkeit zu wünschen. Der interreligiöse Dialog ist ein polyloger Lernprozess im Geist, den die Kirche erst begonnen hat. Judentum und Kirche Wer Jesus kennen will, muss das Volk kennen, in das er gehört, seine Geschichte, seine Überlieferung, seine großen Gestalten, sein Leben, seine Seele und sein Schicksal bis heute. Jesus ist für Christen nicht ohne sein Judentum zu haben. Wenn Kirchen 10 das Judentum suchen, kann dies nicht allein eine historisch hypothetisch Rekonstruktion zurzeit Jesu sein und auch nicht allein theoretisch aus vielen literarischen Quellen. Der Kontakt zu den konkreten jüdischen Gemeinden in unserem Land ist ein wichtiges Kriterium dafür. Sie repräsentieren das lebendige Judentum um uns. Es geht um kein archaisches Zurück zu den Wurzeln, zur angeblichen Ursprünglichkeit, eine Kopie der Anfänge ist nicht möglich, aber ein Fortschreiten in inspirierter und inspirierender Weggemeinschaft mit dem Judentum. Und es gilt zu lernen, die Wahrnehmung und Erklärung des christlichen Glaubens heute aus jüdischen Quellen in Geschichte und Gegenwart zu schöpfen bzw. neu zu formulieren. Die Kirche bleibt eine „Kirche aus den Völkern“, aber in einer Haltung der Dankbarkeit gegenüber Israel für das Geschenk der Offenbarung Gottes, für Jesus und die Gabe der Tora. Keine Religion ist ein Eiland „Unser Zeitalter bedeutet das Ende der Selbstzufriedenheit, das Ende des Ausweichens, das Ende der Selbstsicherheit. Gefahren und Ängste sind Juden und Christen gemeinsam. … wir stehen zusammen am Rande des Abgrunds. Die Interdependenz der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der ganzen Welt ist eine grundlegende Tatsache unserer Situation. … Beschränkung auf die eigene Gemeinschaft ist unhaltbar geworden. … Die Religionen der Welt sind sowenig selbständig, unabhängig oder isoliert wie Einzelmenschen oder Nationen. Kräfte, Erfahrungen und Ideen, die außerhalb des Bereichs einer bestimmten Religion oder aller Religionen entstehen, betreffen jede Religion und stellen sie fortgesetzt in Frage. … Keine Religion ist ein Eiland. Wir alle sind miteinander verbunden. Verrat am Geist auf Seiten eines von uns berührt den Glauben aller. Ansichten einer Gemeinde haben Folgen für andere Gemeinden. Religiöser Isolationismus ist heute eine Illusion. Trotz aller tiefen Unterschiede in Standpunkt und Wesen wird das Judentum früher oder später von den intellektuellen, moralischen und spirituellen Ereignissen innerhalb der christlichen Gesellschaft betroffen — das gleiche gilt umgekehrt.“11 So Abraham Joschua Heschel, jüdischer Rabbiner und Religionsphilosoph (1907 - 1973), auch ein „Konzilsvater“ der Erklärung „Nostra Aetate“. 11 Abraham Joshua Heschel, Keine Religion ist ein Eiland (1965), in: Fritz A. Rothschild (Hg.), Christentum aus jüdischer Sicht. Fünf jüdische Denker des 20. Jahrhunderts über das Christentum und sein Verhältnis zum Judentum, Berlin/Düsseldorf 1998, 324-341, hier 326f. 11 Manfred Scheuer 12