PRODUKTENTWICKLUNG Funktionsprinzip des intravesikalen Drug-Delivery-Systems CESP – Controlled Expansion of Saturated Polymers KEINE NEBENWIRKUNGEN MEHR WIRKSTOFFBELADENES IMPLANTAT GEGEN ÜBERAKTIVE BLASE Ziel des Forschungsprojekts „Entwicklung eines wirkstoffbeladenen, resorbierbaren Implantats für die intravesikale Therapie der überaktiven Harnblase“ war es, ein Implantat zu entwickeln, das mit Wirkstoff beladen ist und über die Harnröhre in die Harnblase appliziert wird, wo es für mehrere Wochen verbleibt. Mit dieser Behandlungsmethode soll die Therapie des Krankheitsbildes der so genannten überaktiven Harnblase deutlich verbessert werden. D ie überaktive Harnblase ist ein Krankheitsbild, das im Wesentlichen durch zwei Symptome gekennzeichnet ist. Diese sind der unangenehme Drang zu häufigem Wasserlassen, bei dem jedoch nur geringe Mengen ausgeschieden werden, und plötzlicher und schwer unterdrückbarer Harndrang. Häufig tritt auch eine Dranginkontinenz auf, worunter man Harndrang verbunden mit unfreiwilligem Harnverlust versteht. Auslöser für die überaktive Harnblase ist oftmals eine Hyperaktivität des Detrusormuskels, dessen Kontraktion zur Harnentleerung führt. Behandelt wird die Krankheit vor allem durch so genannte anticholinerge Medikamente. Anticholinergika wirken, indem sie bestimmte Rezeptoren im menschlichen Körper blockieren. Bei der Behandlung der überaktiven Harnblase soll mit diesen Wirkstoffen der Reiz des Autoren Prof. Dr. Dr. E.h. Walter Michaeli, Institutsleiter, und Ina Michaelis, wissenschaftliche Angestellte, IKV, Aachen, [email protected] Prof. Dr. Gerhard Jakse, Dr. med. Joachim Grosse, Dr. Matthias von Walter und Katrin Montzka, Klinik für Urologie, Uniklinik Aachen 68 MedPLAST · Mai 2009 Harndrangs unterdrückt werden. Im Allgemeinen werden die Medikamente oral verabreicht. Allerdings stellen dabei die Nebenwirkungen der Anticholinergika ein großes Problem dar. Durch die orale Verabreichung gelangen die anticholinergen Wirkstoffe über den Verdauungsapparat und den Blutkreislauf in den gesamten Organismus, sodass neben den Rezeptoren in der Harnblase auch andere Rezeptoren im Organismus blockiert werden. Dies wiederum führt zu unerwünschten Nebenwirkungen, wie zum NEUE TECHNOLOGIEN Harndrang im Griff Die orale Gabe von Medikamenten zur Behandlung der überaktiven Harnblase ist für den Patienten mit Nebenwirkungen verbunden. Indem der Wirkstoff über die Harnröhre direkt in die Harnblase verabreicht wird, können die Nebenwirkungen vermindert werden. Jetzt wurde ein neuartiges Drug-Delivery-System aus vollständig biodegradierbarem Kunststoff entwickelt, das intravesikal abgesetzt wird und in der Blase über einen definierten Zeitraum den Wirkstoff abgibt. Das Implantat besteht aus mehreren, flexibel miteinander verbundenen Implantatkörpern, deren Herstellung am IKV im so genannten CESP-Verfahren erfolgte. Beispiel Mundtrockenheit, Verdauungsund Sehstörungen, Depressionen und Schwindelgefühl. Viele Patienten brechen daher die Therapie ab und nehmen die unangenehmen Beschwerden der OAB (Overactice Bladder Syndrome) in Kauf. Indem der Wirkstoff nicht oral, sondern intravesikal – also über die Harnröhre direkt in die Harnblase – verabreicht wird, können die Nebenwirkungen vermindert werden. Bisher wird bei dieser Behandlungsmethode der Wirkstoff über einen Katheter in die Harnblase eingebracht. Dazu ist es notwendig, den Katheter täglich – eventuell sogar mehrmals täglich – zu legen, um so den in Kochsalzlösung gelösten Wirkstoff zu verabreichen. Hierin liegt auch der Grund, warum die meisten Patienten diese Therapieform trotz der geringeren Nebenwirkungen ablehnen. Die geringeren Nebenwirkungen ergeben sich dadurch, dass das Medikament direkt in die Blase eingebracht wird und lokal wirken kann. Formgebung bei niedrigenTemperaturen Im Zuge des Projekts wurde ein neuartiges Drug-Delivery-System aus vollständig biodegradierbarem Kunststoff entwickelt, das intravesikal abgesetzt wird und in der Blase über einen definierten Zeitraum den Wirkstoff abgibt, so dass das mehrmalige Einführen des Katheters Beispiel der Schaumstruktur der Implantatkörper (Temp. 45°C, Druck 50 bar, Zeit 30 min) vermieden werden kann. Für das intravesikale Implantat wurde das resorbierbare Material Resomer PEG Sample CR (Poly-D,L-lactid co-Glycolide-co-PEG) von Boehringer Ingelheim Pharma ausgewählt. Das Design des intravesikalen Implantats wurde am Institut für Kunststoffverarbeitung an der RWTH Aachen, IKV, entwickelt. Das Implantat besteht aus mehreren, flexibel miteinander verbundenen Implantatkörpern (Kugeln). Da es mit einem Expansionsmechanismus ausgestattet ist, kann es nach der Einführung über die Harnröhre und Platzierung in der Harnblase seine Größe verändern und so sein Verbleiben in der Harnblase gewährleisten. Der Grundkörper des Implantats kann dabei aus mehreren Schichten bestehen, die je nach Bedarf mit Wirkstoff beladen oder frei von Wirkstoff sind. Die Herstellung der Implantatgrundkörper erfolgte am IKV im so genannten CESP-Verfahren (Controlled Expansion of Saturated Polymers). Dieses Verfahren eignet sich aufgrund der niedrigen Verarbeitungstemperaturen – zum Beispiel 40 °C – ideal zur Herstellung wirkstofftragender, resorbierbarer Implantate mit einer Schaumstruktur. Das Verfahren zeichnet sich dadurch aus, dass das zu einem Pulver aufbereitete, resorbierbare Polymer in einem Autoklaven einer Kohlendioxidatmosphäre unter hohem Druck ausgesetzt wird. Durch die Absorption von Kohlendioxid in das Polymer werden die zwischen den Molekülketten wirkenden Nebenvalenzkräfte reduziert, so dass eine Formgebung bei niedrigen Temperaturen ermöglicht wird. Sobald die Sättigung des Polymers mit Kohlendioxid eintritt, wird der Druck im Autoklaven kontrolliert abgebaut. Die daraus resultierende Übersättigung des Polymers mit Kohlendioxid führt zu einem Aufschäumen und ermöglicht auf diese Weise eine Formgebung unter reproduzierbaren Bedingungen. Schema des Modells der ganzen isolierten Harnblase Wirkung über mehrere Wochen zum Ziel Auf der Jahrestagung des Forum Urodynamicum im März 2008 wurden die Forschungspartner von der Klinik für Urologie des Universitätsklinikums Aachen sowie vom IKV für ein Teilprojekt innerhalb des Forschungsvorhabens mit dem Eugen-Rehfisch-Preis ausgezeichnet. Dieses Teilprojekt wurde federführend von der Klinik für Urologie betreut. Dazu wurde die Harnblase des Schweins als Ex-vivo-Modell eingesetzt, um den dämpfenden Effekt des intravesikal verabreichten Wirkstoffs sowie des Drug-Delivery-Systems auf die Kontraktilität des Blasenmuskels zu testen. Dieses Modell der isolierten ganzen Schweineblase ermöglicht es, die direkte lokale Wirkung des intravesikal eingesetzten Wirkstoffs am denervierten – das heißt, die Nerven des Organs wurden entfernt – und nicht-perfundierten, also nicht durchströmten Organ zu untersuchen. Es verhilft weiterhin dazu, vor späteren In-vivo-Untersuchungen geeignete intravesikale Drug-Delivery-Systeme zu entwickeln und auszuwählen. Der Umfang von Tierversuchen kann dadurch erheblich reduziert werden. Schließlich trägt dieses Modell auch zu einem besseren Verständnis der intrinsischen Kontrolle des Detrusormuskels, unter anderem über urotheliale M-Rezeptoren, bei. Als Weiterentwicklung der bisherigen Arbeiten sind Wirkstoffträger angedacht, die ihre Wirkung über einen Zeitraum von mehreren Wochen entfalten und die mit der herkömmlichen Therapie verbundenen Unannehmlichkeiten für den Patienten weiter verringern. Der grundsätzliche Nachweis der Wirksamkeit der wirkstoffbeladenen, vollständig abbaubaren Kunststoffkörper wurde mithilfe des ausgezeichneten Testverfahrens an der isolierten ganzen Schweineblase erbracht. AUSZEICHNUNG Beste wissenschaftliche Arbeit Auf der Jahrestagung des Forum Urodynamicum im März 2009 in Kassel wurden die Forschungspartner Dr. Joachim Grosse, Dr. Matthias von Walter, Prof. Gerhard Jakse und Katrin Montzka vom Universitätsklinikum Aachen sowie Ina Michaelis vom Institut für Kunststoffverarbeitung an der RWTH Aachen mit dem Eugen-RehfischPreis für die beste wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Grundlagenforschung geehrt. Die Auszeichnung gilt ihrem Beitrag zum Thema „Die isolierte ganze Schweineblase – ein Modell zur Untersuchung des dämpfenden Effekts intravesikal eingesetzter Formulierungen von Anticholinergika auf die cholinerg induzierte Detrusorkontraktion“. Der jährlich in zwei Kategorien vergebene Preis wird von Pfizer, New York, gestiftet und ist mit 3 000 Euro dotiert. FACHTAGUNG Hersteller und Mediziner im Dialog „Kunststoffe in der Medizintechnik – Hersteller und Mediziner im Dialog“ – so der Titel einer Fachtagung am 16. und 17. September 2009 in Aachen. Zu den Zielgruppen gehören Forschung und Wissenschaft, F&E-Abteilungen, Rohstoffhersteller, Verarbeiter, Hersteller von medizintechnischen Produkten, Mediziner aus Praxis, Klinik und Forschung. www.ikv-aachen.de Das Forschungsvorhaben 226 ZN der Forschungsvereinigung Kunststoffverarbeitung wurde im Programm zur Förderung der „Industriellen Gemeinschaftsforschung“ (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie über die AiF finanziert. Beiden Institutionen gilt der Dank der Autoren. MedPLAST · Mai 2009 69