Islam 1 - Bundesheer

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Kapitel 3
Historische Entwicklung des Islamismus
Sibylle Wentker
Einleitung
Alle gesellschaftlichen Phänomene haben historische Ursachen, so auch
der islamische Fundamentalismus bzw. der Islamismus. Auf Grund
unterschiedlicher
historischer
Entwicklungen
und
kultureller
Diversitäten einzelner muslimischer Länder kann nicht von einem
islamischen Fundamentalismus gesprochen werden. Aus Platzmangel
konzentriert sich dieser Beitrag auf den Nahen und Mittleren Osten und
kann auch nicht die Entwicklung des schiitischen Fundamentalismus
berücksichtigen.1 Gemeinsam ist den hier betrachteten Ländern die
Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus. Auf die sich
daraus ergebenden Gemeinsamkeiten soll in folgendem Beitrag das
Hauptaugenmerk gerichtet werden. 2
1
Zum schiitischen Fundamentalismus verweise ich auf den Artikel "Ein revolutionärer
Imam" von Walter POSCH in diesem Band.
2
Für einen schnellen Überblick über die ideologischen Wegbereiter des Islamismus
siehe: HEINE, Peter: Terror in Allahs Namen. Extremistische Kräfte im Islam.
(Freiburg, Basel 2001), pp. 63-116; PETERS, Rudolph: Erneuerungsbewegungen im
Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren
Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismus. In: ENDE, Werner, STEINBACH,
Udo: Der Islam in der Gegenwart. (München 1996), pp. 90-128. Einen guten Überblick
über die allgemeinen Grundzüge der neueren arabischen Geschichte liefert: PERTHES,
Volker: Geheime Gärten. Die neue arabische Welt. (Berlin 2002). Der Klassiker der
Literatur über das Gedankengut der islamischen wie auch nationalistischen Denker
stammt von HOURANI, Albert: Arabic Thought in the Liberal Age, 1789-1939.
(Cambridge, Oxford 1962, unverändert nachgedruckt 2003). Eine allgemeinere
Darstellung des Verhältnisses von Islam und Politik im Laufe der Geschichte stammt
von ESPOSITO, John L.: Islam and Politics. (New York 1994). Eine zusammenfassende,
fast essayistische Darstellung des Themas Islam und Politik bietet BROWN, L. Carl:
Religion and State. The Muslim Approach to Politics. (New York 2000), die allerdings
gewisse Vorkenntnisse voraussetzt, um mit Gewinn gelesen werden zu können. Eine
Sammlung von ins Englische übersetzten Texten moderner bzw. fundamentalistischer
45
Sibylle Wentker
Die wesentlichen Protagonisten der islamischen Moderne bzw. des
islamischen Fundamentalismus, auf deren Namen und Ideen immer
wieder Bezug genommen wird, werden in ihren historischen Kontext
gestellt. Zwei Dinge gilt es vorab zu bedenken:
• Die breite muslimische Bevölkerung hatte an diesen
intellektuellen Auseinandersetzungen nur sehr beschränkt Anteil.
Das hat sich heute wegen der stark verbesserten allgemeinen
Alphabetisierung der unteren Bevölkerungsschichten geändert.
Die Schriften der islamischen Fundamentalisten werden erst
heute in breiten Bevölkerungsschichten rezipiert.
• Bei der Entwicklung der islamistischen Gedanken und Ideen
handelt des sich um keinen linearen Vorgang. Ganz im Gegenteil
wird je nach Geisteshaltung auf andere Vorbilder und Vordenker
Bezug genommen.
Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus
Die Vergehen des Westens im Zuge des Kolonialismus an der
islamischen Welt sind nach wie vor ein wichtiges Thema in der
islamischen Auseinandersetzung mit dem Westen. Mag auch die
Konstruktion des Westens als alleinigem Verursacher aller Misere in den
eigenen Ländern argumentativ zu dürftig sein, so ist doch nicht zu
leugnen, daß die islamische Moderne sich unter anderem in den
Reibungen mit dem Westen entwickelt hat.3
Die Kolonialisierung der islamischen arabischen Welt fand in einem
Zeitraum von über hundert Jahren statt und ist militärisch durch drei
große Niederlagen gekennzeichnet.
•
•
1798: Napoleon besiegte in der sogenannten Pyramidenschlacht
die mamlukischen Heere.
1844: Französische Truppen siegten über marokkanische
Truppen und konnten sich auf Dauer in Marokko etablieren.
Denker bietet: MOADDEL, Mansoor, TALATTOF, Kamran (Hgg.): Modernist and
Fundamentalist Debates in Islam. A Reader . (New York 2002).
3
Ich folge hier in der Argumentation HEINE (2001), pp. 63-116.
46
Historische Entwicklung
•
1898: Die Engländer setzten sich gegen die Truppen des Mahdi
im Sudan durch und beendeten eine der letzten großen
antikolonialen Revolten.4
In diesen 100 Jahren etablierte sich der Westen in der arabischmuslimischen Welt. Widerstand gab es genug, meistens endete er in
einer militärischen Niederlage der Aufständischen und war lokal zu
begrenzt, um Anhänger in der muslimischen umma zu gewinnen. Der
Einfluß des Westens im 18. und 19. Jahrhundert ging laut L. Carl Brown
in folgenden Schritten vor sich:5
•
•
•
•
•
•
•
•
4
5
Militärische Niederlagen.
Versuche, sich westliche Militärtechnologie anzueignen.
Einladung an westliche Militärberater, die Ausbildung der
Truppen im Osmanischen Reich, in Iran und in Ägypten zu
übernehmen.
Dies bewirkte einen wachsenden Kontakt mit westlichen Ideen
und Institutionen, die zum Teil begeistert übernommen wurden,
jedoch nur auf der Ebene der herrschenden Elite.
Damit verbunden waren Anstrengungen, Methoden der
westlichen Industrie zu übernehmen, schon um das
Rüstungskonzept nach westlichem Muster betreiben zu können.
Dabei kam es gleichzeitig zur Vernachlässigung der eigenen
indigenen Wirtschaftsbetätigung.
Aufkommen von erheblichen Schulden und der Ausverkauf von
Wirtschaftskapital an die europäischen Mächte.
Aufgrund der wirtschaftlichen Zusammenbrüche militärische
Intervention durch Europa, das die finanzielle Kontrolle über die
Region gewann, vor allem im Osmanischen Reich, in Ägypten
und Tunesien.
Die finanzielle Krise in Tunesien, Ägypten und Marokko
erlaubte die Einsetzung direkter kolonialer Herrschaft. Das
Osmanische Reich und Iran entgingen diesem Trend noch.
BROWN (2000), p. XX.
BROWN (2000); p. 92.
47
Sibylle Wentker
Der Erste Weltkrieg stellte, nach Carl Brown, die große Zäsur in der
arabischen Welt an der Schwelle zur Moderne dar.6 Diese Zäsur bestand
in drei wesentlichen Punkten:
Das Osmanische Reich ging endgültig als letztes muslimisches Empire
unter und wurde teilweise unter den europäischen Mächten aufgeteilt.
Die koloniale Aufteilung der osmanischen Länder vollzog sich in
britischen Mandaten in Palästina (und Transjordanien) und Irak sowie
den französischen Mandaten in Syrien und im Libanon. Die Mandatszeit
dauerte unterschiedlich lang und war mit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges abgeschlossen. Die neuentstandenen Länder wurden mit
Einschränkungen in die Unabhängigkeit entlassen.
Die Mandate über die ehemaligen Provinzen des Osmanischen Reiches
bewirkten eine Nationenbildung innerhalb der neu geschaffenen
Grenzen. Nationen hatten bisher in der Geschichte des Osmanischen
Reiches keine Rolle gespielt. Die Nationenbildung wurde von den
Mandatsmächten nachdrücklich unterstützt.
Die Entwicklung der muslimischen Intelligenz
In der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus entwickelte sich das
muslimische intellektuelle Streben im späten 19. und frühen 20.
Jahrhundert in zwei Richtungen. Beide Gruppen versuchten eine
Rückbesinnung auf die ideelle Gesellschaft der frühislamischen Zeit und
nannten sich in Anlehnung an das arabische as-salaf as-sâlih (die
frommen Altvorderen) Salafisten.
Die Gruppe der Erneuerer oder Reformer
Diese Gruppe versuchte, die Prinzipien des Islam mit den
Anforderungen der Moderne zu verbinden. Sie waren der Auffassung,
daß der Islam in allen Lebensumständen lebbar sei und lediglich vom
Ballast vergangener Zeiten befreit werden müsse. In ihren Ideen fanden
sich hohe Übereinstimmungen mit der europäischen Aufklärung, die die
Intellektuellen zum Teil begeistert rezipiert hatten. Durch eine
Neuinterpretation der muslimischen Rechtsquellen sollten diese von den
Befrachtungen der Vergangenheit befreit werden, um ein Reformprojekt
6
BROWN (2000), p. 111f.
48
Historische Entwicklung
schaffen zu können, das den Standards wissenschaftlicher Rationalität
und der modernen Gesellschaft entsprechen würde. Als Vertreter dieser
Gruppe, die man als Erneuerer oder Reformer des Islam bezeichnen
kann, gehören Jamâl ad-Dîn al-Afghânî und Muhammad Abduh sowie
auch Rashîd Ridâ.
Jamâl ad-Dîn al-Afghânî (1838/39-1897)7
Al-Afghânî war islamischer Rechtsgelehrter, der sein Leben der
Aufgabe widmete, die islamische Welt, die er als eine pan-islamische
verstanden wissen wollte, von kolonialem Einfluß zu reinigen. AlAfghânî war der Meinung, daß sich die islamische Welt zu weit von den
Geboten Gottes entfernt hatte und deshalb schwach geworden und den
Einflüssen des Westens ausgeliefert war. Der technologische Fortschritt
des Westens sei nicht zu leugnen, der Islam könne sich aber durch das in
vielen Jahrhunderten selbst geschaffene Korsett der akademischen
Theologie gar nicht selbst befreien. Die Lösung, die al-Afghânî sah, war
die Rückkehr zum reinen Islam, zum Koran als primärer Rechtsquelle
und dem Entfernen sämtlicher volksreligiöser Inhalte, wie z.B.
Heiligengräberverehrung. Al-Afghânî verbrachte viele Jahre in Ägypten,
aber auch in Persien und Europa, von wo aus er immer versuchte, panislamische Außenpolitik zu betreiben. Die letzten Jahre seines Lebens
verbrachte al-Afghânî auf "Einladung" des Sultans in Istanbul. Dort
lebte er in Wahrheit aber als Gefangener, denn der Sultan ließ ihn nicht
mehr ausreisen. Peters bezeichnet al-Afghânî mehr als politischen
Aktivisten als als systematischen Denker, weil er seine Argumente
weniger in schriftlicher Form in Vorträgen verbreitete.
Muhammad Abduh (1849 - 1905)8
Abduh war ein Schüler und enger Mitarbeiter al-Afghânîs. Geboren in
eine mittelständische Bauernfamilie in Ägypten, bewirkte seine eigene
schlechte Ausbildung an der Moscheeschule von Tanta, daß er sich der
Verbesserung von Erziehung zuwendete. In seiner Jugend war er durch
das Beispiel eines Onkels in eine mystische Bruderschaft integriert, auch
wenn er später die sûfî-Praktiken als dem Islam schädlich betrachten
7
Vgl. zu ihm HEINE (2001), pp. 88-93; PETERS (1996), pp. 114-119.
Vgl. zu ihm HEINE (2001), pp. 93-96; PETERS (1996), pp. 120ff; BROWN (2000), pp.
95-98.
8
49
Sibylle Wentker
würde. Abduh lehrte an der al-Azhar Universität und am
Lehrerausbildungsinstitut Dâr al-'Ulûm in Kairo, als er mit al-Afghânî
zusammentraf, der ihn und sein Denken stark beeinflußte. Die
Zusammenarbeit mit al-Afghânî brachte ihm das Exil in Paris ein, von
wo aus er eine reiche publizistische Tätigkeit entfaltete. Als er
schließlich nach Ägypten zurückkehrte, schloß er seinen Frieden mit der
britischen Besatzung, die er zuvor heftig kritisiert hatte. 1899 erlangte er
das höchste religiöse Amt im Land, das des muftî. Als solcher blieb er
der al-Azhar-Universität stark verbunden, obwohl er nicht lehren durfte.
Zwei Komponenten sind es, die in den Gedanken von Abduh bedeutsam
sind: Einerseits war er bestrebt, zum reinen Islam zurückzukehren und
ihn von den Überfrachtungen der Tradition, aber auch von
"übertriebenen" Glaubenspraktiken wie der Mystik zu reinigen.
Andererseits – und da unterscheidet er sich von dem nachgenannten
Rashîd Ridâ – sah er den Einfluß der westlichen Zivilisation nicht
unbedingt als schädlich an. Abduh sah vor allem die große Kluft
zwischen der europäisierten Elite und der breiten Bevölkerung, die fest
in ihren Traditionen verhaftet war. Die Überwindung dieser Kluft war
Abduhs vornehmlichstes Ziel.
Rashîd Ridâ (1865 - 1935)9
Rashîd Ridâ war Schüler Abduhs und Herausgeber der einflußreichen
Zeitschrift al-Manâr (Der Leuchtturm), in der er auch selber viel schrieb.
Sein Augenmerk konzentrierte sich eher auf die reine Rückbesinnung
auf den Islam, ohne sich der Komponente des Vernunftdenkens zu
verschreiben, wie es Abduh getan hatte. Damit neigt Ridâ eher schon
den Fundamentalisten zu. Seine Zuneigung zum konservativen
wahhâbitischen Staat in Saudi-Arabien zeigt dies. Ridâ betonte viel
stärker als Abduh den politischen Islam. Im politischen Islam sei die
Wiedererrichtung des Kalifats von großer Bedeutung. Der neu gewählte
Kalif sollte die Geschicke der Muslime lenken und darin von einem
Beratungsgremium erfahrener Männer unterstützt werden.
Peter Heine unterstreicht in seinem Buch die Bedeutung dieser Männer
in ihrer Auseinandersetzung mit dem Westen. Er schreibt:
9
Vgl. v.a. PETERS (1996), pp. 125ff.
50
Historische Entwicklung
"In ihren Vorstellungen finden sich weiterführende grundsätzliche
Fragestellungen und Haltungen, aber auch die folgenden
Fehleinschätzungen und gedankliche Verkürzungen, die in der Folge
viele muslimische Denker beschäftigt haben: Rückbesinnung auf den
Koran und das Weltbild des Propheten in Verbindung mit einer
zumindest teilweisen Ablehnung der geschichtlich gewachsenen
Tradition; Ablehnung von volksreligiösen Praktiken mit mystischem
Hintergrund und die mit dieser Einschätzung verbundene Missachtung
von emotionalen Bedürfnissen der Gläubigen, die durch die Religion
befriedigt werden können; aber auch das Interesse an
naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen
und
technischen
Errungenschaften, ohne dass die daraus resultierenden Entwicklungen
bzw. Veränderungen im ethischen oder sozialen Bereich in Betracht
gezogen worden wären. Die Rückbesinnung auf die Zeit des frühen
Islam öffnete aber auch das Tor zu einer Gedankenwelt, die sich in einer
"rückwärts gewandten Utopie" verfing. Das Leben des Propheten und
der frühen islamischen Gemeinde wurde verherrlicht und zum absoluten
Ideal des islamischen Staates erhoben. Jede Abweichung von diesem
Ideal war Frevel und führte in ein modernes Heidentum. Der
Radikalismus im Islam tat mit diesen "Reformern" erste Schritte."10
Die Gruppe der Fundamentalisten oder Islamisten
Die Intention dieser Gruppe war es nicht, den Islam auf die
gegenwärtigen Umstände hin anzupassen, wie es die Reformer wollten,
sondern alle Institutionen zu islamisieren, wobei als Vorbild der idealen
islamischen Gesellschaft die umma des Propheten und seiner
unmittelbaren Nachfolger gelten konnte. Das Denken dieser Richtung
des Islam ist mit den Namen Hasan al-Bannâ’, al-Mawdûdî und später
mit dem Namen Sayyid Qutb verbunden. Allen aus dieser Gruppierung
ist gemeinsam, daß sie als Quelle zur Rechtsfindung lediglich den Koran
und einige Kommentare aus der Frühzeit des Islam zuließen. Zusätzlich
zu Koran und Sunna folgte man der Interpretation und der Meinung
einiger mittelalterlicher Imame, deren Rechtsgutachten, mehr oder
10
HEINE (2001), p. 97-98.
51
Sibylle Wentker
weniger aus ihrem historischen Kontext gerissen, als Autoritäten für
gegenwärtige Rechtsprobleme anerkannt wurden. Zu diesen Imamen
gehören Ibn Hanbal (m. 855) und Ibn Taymîya (m. 1328). Ibn Hanbal,
nach dem die kleinste und strengste der vier sunnitischen Rechtsschulen
benannt ist, ist einer der bedeutsamsten Wegbereiter des gegenwärtigen
sunnitischen Fundamentalismus. Wegen der Rigidität seiner juristischen
Interpretationen und seiner Bereitschaft, sich persönlicher Verfolgung
auszusetzen gilt er auch heute noch als Identifikationsfigur.11 Nach Ibn
Hanbal gilt Ibn Taymîya als der zweitwichtigste Vorreiter islamistischer
Ideologie. Er akzeptierte außer dem Koran, der Sunna und
frühislamischer Praxis keinerlei Autorität. Bei Verstößen gegen diese
Grundsätze griff er zu drastischen Mitteln. So predigte er den jihâd
gegen die (immerhin muslimischen) Mongolen und die schiitischen
Ismâ'îliten und befürwortete Restriktionen gegen Nicht-Muslime. Seine
Ansichten über den jihâd und über die freie Rechtsausübung (ijtihâd)
haben bei den späteren Fundamentalisten tiefe Spuren hinterlassen. Ibn
Taymîya ist aber auch ein Beispiel für die selektive Rezeption und
Interpretation durch fundamentalistische Denker. Zu manchen Fragen
nahm Ibn Taymîya einen weit moderateren Standpunkt ein als die
heutigen Islamisten. Als ein Beispiel mag die Praxis des takfîr dienen.
Dieses Prinzip, das jedem Muslim theoretisch ermöglicht, einen anderen
für ungläubig zu erklären, wollte Ibn Taymîya nur äußerst zögerlich
angewandt wissen. Es gibt jedoch fundamentalistische Gruppen, die
dieses Prinzip unter Berufung auf Ibn Taymîya großflächig auf alle
Gegner übertragen. Die "liberaleren" Denker des Islam wurden nicht
rezipiert.
Als Vertreter dieser Gruppe seien hier Hasan al-Bannâ', Al-Mawdûdî
und Sayyid Qutb vorgestellt, die nach wie vor einen großen Einfluß in
der islamistischen Propaganda darstellen.
11
DEKMEIJAN, R. Hrair: Islam in Revolution. Fundamentalism in the Arab World.
(Syracuse 2. Aufl. 1985), p. 36ff.
52
Historische Entwicklung
Hasan al-Bannâ’ (1906 - 1949)12
Stark vom Widerstand gegen die Kolonialmacht England geprägt,
betrachtete Hasan al-Bannâ' die Schaffung einer islamischen Gemeinde
nach prophetischem Vorbild als Alternative zur sich verwestlichenden
Gesellschaft. Diese ideale Gemeinschaft versuchte er in Form der
Muslimbrüder zu verwirklichen, die er 1928 gründete.
Abû al-A'lâ al-Mawdûdî (1906 - 1978)13
Al-Mawdûdî gilt als einer der wichtigsten Denker des islamischen
Fundamentalismus, weniger des originellen Inhalts seiner Schriften
wegen als vielmehr wegen derer enormen Verbreitung. Zum Teil
verfaßte er seine Schriften in Englisch, was zu einer weiteren
Verbreitung beitrug. Al-Mawdûdî wurde in Pakistan geboren und erhielt
durch Tutoren eine klassisch-islamische Ausbildung. Seine Politisierung
war zum einen an der Auseinandersetzung mit den kolonialen
Engländern orientiert und zum anderen an dem Konflikt zwischen
Hindus und Muslimen. Obwohl al-Mawdûdî die Idee eines
Nationalstaats für die Muslime - Pakistan - für widersinnig hielt, zog er
nach der Teilung Indiens in den neugeschaffenen Staat Pakistan. Er
gründete in dort die enorm erfolgreiche Bewegung jamâ'at-i islâmî
(islamische Vereinigung). Seine Gedanken lassen sich in aller Kürze auf
einige Hauptgedanken zusammenfassen:14
a. Die Souveränität Gottes (ar. hâkimîya) steht über allen
Dingen.
b. Stellvertreter Gottes auf Erden sind alle gläubigen
Muslime.
c. Diese gläubigen Muslime versuchen anhand von Koran
und Sunna den Plan Gottes zu erfüllen.
d. Die Herrschenden müssen sich beraten lassen (ar. shûrâ)
und sollen nicht allein entscheiden. Das bedeutet aber
nicht die Notwendigkeit von politischen Parteien, diese
sind überflüssig. In einem richtigen islamischen Staat
12
Für Details zu Hasan al-Bannâ' verweise ich auf den Beitrag zu den ägyptischen
Muslimbrüdern von Benjamin DÖRFLER in diesem Band.
13
Zu ihm siehe: HEINE (2001), pp. 110-112; REISSNER, Johannes: Die militantislamischen Gruppen. In: ENDE, Werner, STEINBACH, Udo: Der Islam in der
Gegenwart. (München 1996), pp. 630-645; BROWN (2000), pp. 143-160.
14
Die Zusammenfassung folgt BROWN (2000), p. 152f.
53
Sibylle Wentker
werden sich alle Meinungsverschiedenheiten von allein
auflösen, da der göttliche Plan endlich gelebt werden
kann.
e. Es ergibt sich als zwingend notwendig, daß alle
politischen Funktionäre nicht nur kompetent, sondern
auch fromm sein müssen.
f. Der Islam ist ein System, das das gesamte private wie
auch öffentliche Leben umfaßt. Eine religiös neutrale
Gesellschaft kann es nicht geben.
g. Eine Regierung oder Gesellschaft, die diese Prinzipien
nicht erfüllt, bewegt sich in Richtung jâhilîya, arabisch
für "Zeit der Unwissenheit". Dieser Begriff meint nicht wie sonst so verstanden - lediglich die historische Epoche
vor dem Auftreten des Propheten. Der Zustand der
jâhilîya kann jederzeit wieder eintreten, wenn sich die
Gesellschaft vom Islam entfernt. Der westliche Einfluß ist
hier vor allem als Schuldiger zu benennen, wenn es um
das Abdriften in die jâhilîya geht.
Sayyid Qutb (1906 - 1966)
Der Name Sayyid Qutb steht für eine radikale Weiterentwicklung der
Gedanken al-Mawdûdîs. Sayyid Qutb kam relativ spät zu den
Muslimbrüdern in Ägypten. Dort entwickelte er seine radikalen
Gedanken, die er in vielen Briefen und Sendschreiben aus dem
Gefängnis unter die Leute brachte. Qutb wurde 1966 von der
ägyptischen Regierung wegen Aufrührertums hingerichtet.15
Obwohl beide Gruppen - die Reformer und die Islamisten - von gleichen
Grundannahmen ausgingen, entwickelten sie sich in völlig verschiedene
Richtungen, wie die Zusammenfassung von Moaddel und Talattof zeigt:
"Generally the Islamic modernists: accepted an evolutionary view of
history with the West being at the pinnacle of the world civilization;
praised the Western model; in various degrees subscribed to the
Newtonian conception of the universe; reformulated Islamic
methodology on a manner congruent with the standards of nineteenth
15
Vergleiche zu Sayyid Qutb den Artikel von Benjamin DÖRFLER in diesem Band.
54
Historische Entwicklung
century social theory; and affirmed the validity of the scientific
knowledge, even though it was not based on Islam; favored democracy
and constitutionalism; and the de facto separation of religion from
politics; and formulated a modern discourse on women by rejecting
polygamy and male domination. The Islamic fundamentalism, in
contrast, rejected the notion of social evolution and portrayed the West
as having an aggressive political system, exploitative and materialistic
economic institutions, and decadent culture. Rather than attempting to
reform and modernize Islam, they aimed at Islamizing virtually all social
institutions. They rejected the separation of religion from politics,
defended Islamic political hierarchy in society, and male domination
and polygamy in the family."16
Der Erfolg des muslimischen Fundamentalismus
Daß die Gedanken der muslimischen Fundamentalisten vom Anfang des
20. Jahrhunderts in weiterer Folge lebendig blieben, ist eine Auswirkung
diverser Krisen, die die Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten
durchlebte. Hrair Dekmeijan hat in seiner glänzenden Studie über den
islamischen Fundamentalismus sechs Krisenmilieus beschrieben, die
eine fundamentalistische Reaktion ermöglichen:17
1) Identitätskrise
Die Bevölkerung rutschte bereits im Abwehrkampf gegen die westlichen
Eindringlinge in eine Identitätskrise. Der Untergang des Osmanischen
Reiches und die Ausbildung eigener Nationalismen wie das Türkische,
das Iranische und das Arabische taten ihr weiteres. Die Zersplitterung
der islamischen umma war die Folge. Die herrschenden Eliten
arrangierten sich rasch mit den neuen Herrschern aus dem Westen, die
einfache Bevölkerung, von jeglichem Entscheidungsprozeß sowieso
ausgenommen, reagierte mit starkem inneren Widerstand. Die etablierte
religiöse Gelehrtenschaft, die ulamâ', die an den wesentlichen religiösen
Zentren wie der al-Azhar-Universität in Kairo saß und lehrte, trug nichts
zur Linderung der Krise der Bevölkerung bei, weil sie inzwischen zu
träge geworden war, sich mit den Kolonialmächten, mit denen sie sich in
einer Art Nichtangriffspakt befand, zu überwerfen. Die Bevölkerung war
16
17
MOADDEL/TALATTOF (2002), p. 3.
DEKMEIJAN (1985), pp. 23-30.
55
Sibylle Wentker
offener gegenüber mystischen Bruderschaften, die mehr Begeisterung
weckten als die akademische Orthodoxie. Die Elite des Landes war den
Verheißungen westlicher Modernität und westlichen Fortschritts erlegen.
In dem Bemühen, westliche Modernisierung herbeizuführen, begann
man die Einrichtungen des Westens zu kopieren. Opernhäuser und
Theater sollten die Modernität der Länder untermalen. Sie stießen in der
breiten Bevölkerung jedoch auf blankes Unverständnis, wenn nicht
sogar auf Abscheu, sah man doch die allgemeinen Sitten der Menschen
in den Theatern und Restaurants verfallen. Es entstand der Gedanke der
Vergiftung durch den Westen, die "Westoxication", wie sie noch der
persische Schriftsteller Jalal Al-i Ahmad nennt.
Wie tief die Verachtung gegenüber dem Westen ist, zeigt die
Bezeichnung des westlichen Einflusses als Krankheit, der Westitis: "If I
speak of being afflicted with "Westitis" the way I speak of being afflicted
with cholera. If that is not palatable let us say it is akin to being stricken
by heat or by cold. But it is that not either. It is something more on the
order of being attacked by tongue worm. Have you ever seen how wheat
rots? From within. The husk remains whole, but it is only an empty shell
like the discardes chrysalis of a butterfly hanging from a tree. In any
case we are dealing with a sickness, a disease imported from abroad,
and developed in an environment receptive to it."18 Die breite
Bevölkerung war vielfach durch Äußerlichkeiten abgestoßen, unter
anderem durch Bekleidungsvorschriften. So wurden Turbane und der
Fez verboten, aber auch das Ablegen der Kaftane und das Anziehen von
langen Hosen verordnet. Die Menschen, denen dieser Aufzug
unangenehm und peinlich war, konnten von den Segnungen des Westens
nicht überzeugt werden.
Gleichzeitig mit den Modernisierungsbestrebungen erfolgte ein Import
von europäischen Ideologien, die von der säkularisierten oder
christlichen Bevölkerung aufgenommen wurden. So gelangten
Sozialismus, Kommunismus und Nationalismus in die islamische Welt
und wurden dort entweder in säkularer Form beibehalten oder
zusammen mit islamischen Werten zu neuen ideologischen Gebilden
geformt. In der Folge kam es auch zu Sonderformen wie den
18
AL-I AHMAD, Jalal, Plagued by the West (Gharbzadegi). (New York 1982), zit. nach
MOADDEL/TALATTOF, p. 343.
56
Historische Entwicklung
Volksmudschahedin, die versuchten, islamistische mit kommunistischen
Idealen zu verbinden.
Die Ideen des Nationalismus waren tatsächlich etwas Neues in der
islamischen Welt. Der Islam kennt keine Nation, Völker haben im Islam
keine Bedeutung, der Islam kennt lediglich eine Gemeinschaft der
Gläubigen. Die Entwicklung von Nationalismen erfolgte durch
säkularisierte Muslime bzw. durch Christen und Juden. Auch diese
Ideologie löste bei der einfachen muslimischen Bevölkerung
Unverständnis aus und Zweifel an der Gottgefälligkeit solcher
Gedanken.
Der arabisch-israelische Konflikt von 1947-48 führte zu einem neuen
Nationalismus, der sich gegen den gemeinsamen Feind Israel richtete. Er
wurde bereits 1967 durch die Niederlage gegen Israel im Sechs Tage
Krieg bitter enttäuscht und hinterließ den nachhaltigen Gedanken in der
Bevölkerung, daß gar nichts in der arabischen Geschichte der Neueren
Zeit funktioniert hatte, und machte sie empfänglich für die Botschaften
anderer Ideologien.
2) Die Legitimationskrise
Laut Dekmeijan ist die Legitimitätskrise eine direkte Folge der
Identitätskrise. Arabische Eliten hatten diese bereits vor der
traumatisierenden Katastrophe von 1967. Sie wurde verstärkt durch das
Versagen der herrschenden Eliten in politischen, ökonomischen und
sozialen Belangen.
3) Mißherrschaft der Eliten
Die herrschenden Eliten machten vor allem der breiten Bevölkerung
kein befriedigendes Angebot. So konnten sie mit dem starken
Bevölkerungszuwachs und der zunehmenden Abwanderung der
Landbevölkerung in die Städte nicht umgehen und auch nicht mit der
damit direkt verbundenen hohen Arbeitslosigkeit. Hinzu kam die
Unfähigkeit
der Regierungen,
das
vom
Staat
gegebene
Bildungsversprechen einzulösen. Nachdem der Staat nicht mehr alle
Universitätsabsolventen in den Beamtenapparat aufnehmen konnte,
stand eine hochspezialisierte Gruppe beschäftigungslos da. Diese
Arbeitslosigkeit hatte andere Belastungen zur Folge, da die Möglichkeit
zu heiraten und Familie zu gründen an eine solide Beschäftigung
57
Sibylle Wentker
geknüpft war. Mit Zunahme dieses Problems stieg die Islamisierung der
akademischen Schichten und in weiterer Folge deren Radikalisierung.
4) Soziales Gefälle
Das soziale Gefälle ist in den muslimischen Ländern sehr hoch.
Dekmeijan führt als ein Beispiel an,19 daß Mitte der 70er Jahre 5 % der
Haushalte Ägyptens, Marokkos und des Sudan 20 % des Einkommens
innerhalb der Staaten bezogen, während den sozial schwächsten 20 %
lediglich 5 % des Einkommens zur Verfügung standen.
5) Militärisches Versagen
Das Gefühl, militärisch zu versagen, ist stark mit der Identitätskrise
verbunden. Es bezieht sich auf den Kampf gegen die Kolonialisten und
gipfelt in der Niederlage gegen Israel von 1967. Die Stationierung
amerikanischer Truppen nach dem ersten amerikanischen Golfkrieg auf
saudiarabischem Boden hat das angeschlagene militärische
Selbstwertgefühl in der Region weiter geschädigt.
6) Modernitätskrise
Hiermit ist weniger das Einbeziehen moderner Technik in das Leben
gemeint, sondern die Modernisierung der Gesellschaft an sich. Eine
diesbezügliche Modernisierung wurde immer nur insoweit angestrebt,
um mit dem Westen in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht
gleichziehen zu können. Nachdem nie wirklich intendiert war, die
gesamte Bevölkerung an diesem Modernisierungsprozeß teilhaben zu
lassen, mißlang die Modernisierung auch in ihren partiellen Absichten.
Modernisiert wurden lediglich kleinste Eliteschichten. Lediglich die
Nasseristen und die Ideologie der Ba'th-Partei unternahmen den
Versuch, eine Synthese zu schaffen, die von der Bevölkerung
angenommen werden konnte.
19
DEKMEIJAN (1985), p. 28.
58
Historische Entwicklung
Niedergang?
Die islamische Revolution im Iran rückte einerseits den politischen
Islam in das Bewußtsein der internationalen Gemeinschaft und stärkte
andererseits islamistischen Bewegungen den Rücken. Gleichwohl
übernahmen islamistische Regierungen lediglich in Afghanistan nach
dem Debakel des sowjetischen Afghanistan-Krieges die Macht und im
Sudan. Algerien wurde in den 90er Jahren von einer beispiellosen
Terrorwelle islamistischer Eiferer heimgesucht, die 100.000e Menschen
das Leben kostete. Gleichzeitig brachen auch für muslimische
Regierungen unsichere Zeiten an. Selbst das islamische Regime von
Saudi-Arabien konnte sich in den 90er Jahren nicht mehr so sicher
fühlen. Durch die Ereignisse des ersten Golfkrieges der Amerikaner
gegen den Irak gerieten sie in islamistischen Kreisen in den Geruch, sich
als Handlanger der verabscheuten Amerikaner herzugeben. Der Anblick
amerikanischer Soldaten und Soldatinnen in Saudi-Arabien hat bei
Muslimen große Empörung hervorgerufen. Wohin diese Empörung
führen konnte, zeigt sich bei Personen wie Usama Bin Laden. Bin Laden
hatte Saudi-Arabien versprochen, es im Kampf gegen einen womöglich
feindlich auftretenden Saddam Hussein zu unterstützen, um zu
vermeiden, daß Amerikaner den heiligen Boden der arabischen
Halbinsel beträten. Daß das Königshaus dieses Angebot ausschlug, hat
zur Radikalität Usama Bin Ladens beigetragen.
Olivier Roy argumentiert in seinem Buch "The Failure of Political
Islam", daß der politische Islam aufgrund seiner politisches Mißerfolge
im Abstieg begriffen sei. Er begründet das damit, daß das theoretische
islamistische Modell seit den theoretischen Schriften von Hasan alBannâ', al-Mawdûdî, Sayyid Qutb und anderen (alle vor 1978) nicht
mehr weitergedacht worden sei. Es gebe keine theoretischen Nachfolger
und eigenständigen Denker mehr. Alles, was erscheine, sei Aufguß alter
Konzepte. Ein weiteres Argument für den Niedergang des politischen
Islam ist für Roy, daß auch die theoretischen Denker des Islamismus
keine wirksamen Konzepte für das Funktionieren eines Staatsgebildes
entwickelt hätten. Als einzige Ausnahme muß der Iran gelten, der es
geschafft habe, eine funktionierende Staatsverfassung zuwege zu
59
Sibylle Wentker
bringen.20 Roy führt weiter aus, daß es ab den 80er Jahren eine
Entwicklung hin zum Neo-Fundamentalismus gegeben habe, der sich
eher der Gesellschaft als dem Staat verpflichtet fühle und eine konkrete
Machtergreifung gar nicht mehr vordringlich verfolge.21
Bedeutet aber das Nichtanstreben politischer Macht tatsächlich einen
Niedergang des politischen Islam oder des Islamismus? Für jemanden,
für den praktisch alle Regierungsformen im Grunde gottlos sind, kann
die Ergreifung der Regierungsmacht nicht das vordergründige Ziel sein.
Viele Islamisten hängen der Utopie der Reinigung der Gesellschaft von
unten an. Ist die Gesellschaft in einem großen Anteil islamisiert, kann
sich die Regierung nur zum Guten entwickeln. Daher ist die
Islamisierung auf "Graswurzelniveau" zu einer attraktiveren Aufgabe
geworden als der gewaltsame Putsch.
Im Anschluß an die Überlegungen von Olivier Roy spricht auch Gilles
Kepel von einem Niedergang islamistischer Bewegungen. Er
argumentiert, daß manche islamistischen Bewegungen die Staatsmacht
errungen haben, andere aber nicht. Dieser Umstand zeige das
Zuendegehen eines historischen Zyklus. Islamistische Bewegungen
seien in eine Phase des Niedergangs eingetreten, die sich seit der Mitte
der 90er Jahre beschleunige.22 So schreibt er: "Heute, zu Beginn des 21.
Jahrhunderts, ebnet die Erschöpfung der islamistischen Ideologie und
ihrer Mobilisierungskraft den Weg zu einem dritten Moment: der
'Aufhebung'. In dieser nun beginnenden Phase wird die islamische Welt
zweifellos geradewegs in die Moderne eintreten und dabei mit einer
unerhörten Wucht mit der westlichen Welt verschmelzen."23 Kepel hat
sein Buch vor 2001 geschrieben, das muß man unbedingt beachten, und
konnte die rasanten Entwicklungen nach dem 11. September 2001 weder
voraussehen noch berücksichtigen. Trotzdem zeigt diese Analyse Kepels
zwei Irrtümer. Zum einen ist der ungebrochene Erfolg des Islamismus
im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß die Menschen sich bereits
in der Moderne befinden, in der sie sich nicht wohlfühlen, also von
20
ROY, Olivier: The Failure of Political Islam. (5. Auflage, Cambridge 2001), p. 60.
ROY, (2001), p. 75ff.
22
KEPEL, Gilles: Das Schwarzbuch des Dschihad. (München 2002), p. 27.
23
ebd.
21
60
Historische Entwicklung
einem noch zu erfolgenden Eintritt in die Moderne keine Rede sein
kann.
Zum anderen argumentiert Gudrun Krämer richtig, daß Islamisten in
allen Ländern sich als einzige wirkliche Alternative zum bestehenden
System präsentieren. Die hohe Moral der Islamisten wird immer der
Unmoral der Regierenden gegenüber gestellt. Das macht auch den
Islamismus nicht zu einem Phänomen der zu kurz gekommenen
Schichten, sondern zu einem Bestandteil aller Schichten.24
Politischer Islam heute
Nazih Ayubi fragt in seinem Buch: "Warum politischer Islam?"25 Seine
Antwort darauf soll hier stellvertretend das Kapitel über die historische
Entwicklung des Islamismus beenden. Er schreibt, daß die
Modernisierung der islamischen Welt wirtschaftlich ins Stottern geraten
ist. Der Islam bietet sich als identitätsstiftendes Denk-System einer
benachteiligten oder nie am Staatswesen aktiv beteiligten Klasse an.
Natürlich
sind
nicht
alleine
sozio-ökonomische
Faktoren
ausschlaggebend, warum sich Menschen einer Religion (wieder)
zuwenden. Die Hingabe an Gott geschieht jedoch neben den spirituellen
Aspekten auch aus Enttäuschung und Abwendung von Staats- und
Gesellschaftsstrukturen, deren Vorteile man nicht genießt.
Fundamentalisten ist gemeinsam, daß sie keine Autoritäten mehr
akzeptieren, weil sie sich von nahezu allen bereits hintergangen fühlen.
Islamisten etwa nehmen in ihrer selektiven Rechtsdeutung keine
Rücksicht mehr auf die etablierte konservative Rechtsmeinung, wie die
der al-Azhar. Die Gründe für das Auf- bzw. Weiterleben des politischen
Islam faßt Ayubi folgendermaßen zusammen: "Vor allem ist das
allgemeine Wiederaufleben des Islam eine Reaktion auf Entfremdung
und Ausdruck eines Strebens nach Authentizität."26
24
KRÄMER, Gudrun: Aus Erfahrung lernen? in: SIX, Clemens (et al.): Religiöser
Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung. (Querschnitte, 16) (Wien
2005), p. 185-200.
25
AYUBI, Nazih: Politischer Islam. Religion und Politik in der arabischen Welt.
(Freiburg 2002), 300ff.
26
AYUBI (2002), p. 304.
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Sibylle Wentker
Nimmt man diesen Satz ernst, so wird klar, daß der islamische
Fundamentalismus keineswegs am Ende seiner Entwicklung
angekommen ist und er auch nicht allein auf die islamische Welt
beschränkt ist.
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