Premieren

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»Ich war zu viel«
Olaf Johannessen ist in seiner Heimat Dänemark ein
vielfach ausgezeichneter Star. In Düsseldorf spielte er schon
Ibsens »Peer Gynt«, in Bochum jetzt Gerhart Hauptmann.
ANDREAS WILINK
Ins Freie hinaus: Olaf Johannessen als Peer Gynt. Foto: Sebastian Hoppe
In der Fernsehserie »Borgen« sehen wir, dass Dänemark ein sehr kleines Land ist. So klein, dass Regierung und Opposition, die Eliten und die Presse in ein
Einfamilienhaus passen würden. Auch Olaf Johannessen spielte in einer Folge mit. Offenbar ist auch das
heimatliche Schauspieler-Reservoir übersichtlich –
andererseits ist Johannessen zuhause ein willkommener Star, nicht erst, seit er in der populären Krimiserie
»Forbrydelsen« (»Kommissarin Lund«) den Ministerpräsidenten Kamper mit nicht zufälligen Ähnlichkeiten zu lebenden Politkern darstellte. Ebenso kennt
man ihn durch seine Bühnenrollen.
Dänemark und Theater, da liegt eine Verbindung
nahe: Hamlet. Den Prinzen hat Olaf Johannessen auch
schon gespielt, 1992. Ebenfalls die andere skandinavische Paraderolle: Norwegens Nationalcharakter Peer
Gynt. Den jedoch am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Man war zunächst überaus erstaunt, wie blendend
Johannessens Deutsch war, etwas weicher moduliert, vorsichtiger, überlegter vielleicht, aber dadurch
wie gedanklich durchgearbeitet. Johannessen als
Peer – schmal, blass, angeschärft, kalt glühend seine
Elementarteilchen sortierend und mit einer lachhaft
rammelnden Libido – entsprach in seiner »Gier im
Kopf« dem Michael Fassbender in Steve McQueens
»Shame«. Peer als Zuschauer seines Lebens und behaftet mit den Ich-Schwächen des modernen Menschen.
Ein Fremder von heute. Mit ihm hatte Staffan Holms
Inszenierung einen akuten Mittelpunkt. Ein imponierender Auftritt. Jemand, der auf angenehme Weise
kein Aufhebens von sich machte.
Das muss einmal anders gewesen sein. »Ich war ein
merkwürdiger Mensch. Ich war zu viel«, sagt er über
sein jüngeres Ich, als wir im Bochumer Schauspielhaus
beieinander sitzen, wo er Gerhart Hauptmanns Drama »Rose Bernd« probt. Die frühe Absonderlichkeit
führt er auf seine Herkunft zurück. Nicht darauf, dass
er aus einer Theaterfamilie stammt (Vater – Regisseur,
Mutter – Schauspielerin) und die Phasen von Abwehr und Identifikation mit dem Beruf durchmachte.
Sondern geografisch. »Mein Temperament stammt
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Die junge Stimme
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von den Faröer-Inseln«. Dort, zwischen Island und
Skandinaviens Küste (nicht zu verwechseln mit dem
schwedischen Farö, wo Ingmar Bergman einige Zeit
lebte), wurde er 1961 geboren. Die Inselgruppe mit
50.000 Einwohnern ist weitgehend autonom, mit eigener Sprache, eigenem Parlament, allem Drum und
Dran. Und einer »wilderen, offeneren, weniger reservierten« Art als die dänischen Brüder und Schwestern
gegenüber.
Also von wegen »freudlos und neutral«, wie es über
eine der Hauptfiguren in Michel Houellebecqs Roman
»Karte und Gebiet« heißt. In der Bühnenfassung von
Falk Richter hat Johannessen 2011 erstmals in Düsseldorf gespielt: die Kunstfigur »Houellebecq, den
Baudelaire des Supermarkts« mit Rotweinglas und
Parka als sympathische Selbstparodie in schön schlichter Virtuosität und süffig verschmitzter Spiellust.
Wo ist er also hin, der wilde junge Mann? Er habe sich
»von zu viel hin zu wenig« entwickelt und zu Zeiten in
Düsseldorf mit dem Kollegen und Freund Christoph
Luser »oft über das Nicht-Spielen und Nichts-Tun auf
der Bühne gesprochen, über das Echte und Lebendige« und wie es sich herstellt. Sich jedenfalls nicht ausstellt. »Vom Expressionismus zum Impressionismus«,
nennt Johannessen diese Bewegung. Beide Male geht
es um Ausdruck, nur unterschiedlich formuliert und
aufgetragen.
2004 beschloss Johannessen, frei zu arbeiten: »Skuespilleren, der blev sat fri« (der Schauspieler, der freigesetzt wurde), titelte ein Zeitungsartikel über ihn. Er
wollte nicht mehr Mitglied am Königlich Dänischen
Theater in Kopenhagen sein, wo es ihm zu »altmodisch und langweilig« wurde. Seither, neu motiviert
von »Lust und Neugierde«, hat er an die zehn Auszeichnungen erhalten, darunter eine Nominierung für
den deutschen Theaterpreis »Faust« und die dänischen
Film- und Theatertrophäen »Robert« und »Reumert«.
Prämiert u.a. für zwei Rollen, die sich wiederum mit
Deutschland verbinden: Hendrik Höfgen in Klaus
Manns »Mephisto« und den SS-Obersturmbannführer und Schreibtischtäter Adolf Eichmann.
Für den schillernden Karrieristen im Schatten der
braunen Macht habe er im Spiel weit ausgeholt,
ohne dabei zu brandauern, bei der »grauen Eminenz«
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wird gefördert vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des
Landes NRW und der Stadt Essen.
Tanzlandschaft Ruhr ist ein Projekt der
Kultur Ruhr GmbH und wird gefördert
vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW.
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Sie sind das Volk
oberflächlich das auch sein mag: Ihre Haltung ist die erträglichste
Form der Katharsis an diesem Abend.
Denn nach dem vielversprechenden Anfang schrumpft der sonst
oft so großartige Forced-Entertainment-Gründer Etchells in »In
Terms of Time« überraschend zum Pina-Epigonen, inszeniert so
manches Tanztheater-Mätzchen, charmant, aber ohne Biss. Zeitweilig ist der Boden mit durchsichtigen Plastikbechern zugemüllt,
die knisternd und krachend zerbersten – ironische Reminiszenz
an die wahnwitzigen Tanzböden in den Stücken von Pina Bausch.
Den langlebigen Party-Schrott müssen die Tänzer selbst mit Besen beseitigen. Kehraus im Tanztheater. Nur: Was kommt dann?
In dieser ersten Post-Pina-Schau nicht so viel. NIS
NOÉ SOULIER
ESZTER SALAMON
BEN J. RIEPE
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ben hat. Büchler beließ es jedoch nicht bei der Lupe,
sondern verwendete sie als Projektionsfläche für das
spiegelverkehrt lesbare Wort INVISIBLE. Das Unsichtbare, das Nicht-Darstellbare entzieht sich der
Anwesenheit. Folgt man Jean-Luc Nancy in seinen
Überlegungen zur »Dekonstruktion des Christentums« (2008), zeichnet sich der Glaube gerade durch
den Rückzug Gottes aus, da »das Universelle nicht
die Form einer Anwesenheit haben« kann.
»A Royal Night« – Ein Herz und eine
Krone
Ditta Miranda Jasjfi. Foto: Bo Lahola
UND URAUFFÜHRUNGEN VON
In den Schluchten
des Balkan
Ungleiche Schwestern:
Elizabeth und Margaret.
Foto: Concorde
Das 20. Jahrhundert wird endgültig erst dann zu Ende sein, wenn
es sie eines Tages nicht mehr gibt:
Queen Elizabeth II., keine Königin
der Herzen, aber eine des Gemüts
und des Gewissens. Auch sie war
einmal jung, und in Julian Jarrolds
Film ähnelt sie (Sarah Gadon) der
bezaubernden Audrey Hepburn
in William Wylers »Roman Holiday – Ein Herz und eine Krone«.
Nur britischer und ein bisschen
mehr like Emma Thompson. »A
Royal Night« bilanziert die ganz
besondere Nacht des 8. Mai 1945, als die Welt und
auch London den hart erstrittenen Sieg über HitlerDeutschland feiert. Auch die Königliche Familie in
Buckingham Palace, die wir schon aus »A King’s
Speech« in ihrer vorbildlichen Haltung kennen.
Während George VI. (Rupert Everett) und seine
Gattin (Emily Watson) die Ansprache proben, wollen die Prinzessinnen Lillibet und Margaret nicht
steif auf dem Balkon stehen und winken, sondern
unters Volk. Feiern, tanzen, flirten. Einen präparierten Ausflug ins Ritz mit zwei Anstands-Offizieren erlaubt die Etikette gerade noch. Aber es
kommt anders. Die Schwestern machen sich dünne.
Von »P 2« Margaret (Bel Powley) ist es nicht anders
zu erwarten, aufsässig, vergnügungssüchtig, wie sie
ist, vom Swing halb-toll und am Ende so betrunken, dass sie in der Schubkarre transportiert werden muss. Lillibet indes ist reif, verantwortungsvoll
und einverstanden mit ihrer Rolle (»Unser Leben
gehört uns nicht«), die sie jedoch einen Moment
lang in Frage stellt. Im Angesicht wogender Menschenmassen und durch den hilfsbereiten, störrischen, grundguten, von seinen Kriegserfahrungen
schlimm berührten Royal Air Force-Soldaten Jack
Hodges (Jack Reynor), der ihr durch die Nacht hilft.
Die melancholische Komödie der Irrungen hat kein
Happy End. Oder doch? Die Queen kann erst durch
dieses Erlebnis die sein, die sie wurde. Man zehrt
ein Leben lang von solchen Begegnungen und solchen Nächten.
»A Perfect Day«
von Fernando Léon de Aranoa
KINOSAISON
Sie haben oder nehmen sich ein robustes
Mandat, die Mitarbeiter der Organisation Aid
Across Borders. Tatsächlich stehen sie damit
zwischen den Grenzen, zwischen UNO-Truppen, Bürokratie, Serben und Bosniern – 1995
irgendwo im Balkan, wo der verhandelte Frieden mehr als labil ist. Der Südamerikaner
Mambrú (Benicio del Toro) und der US-Amerikaner B (Tim Robbins) sind Männer, wie es
früher die Trapper bei Karl May waren, der
ja auch im Land der Skipetaren und in den
Schluchten des Balkan unterwegs war. Männer: eigenbrötlerisch, beherzt, unsentimental,
manchmal zynisch, ehrliche Häute, sture Knochen, raue Schale usw. Ein Brunnen wurde
vergiftet (mit einer Leiche), Minen blockieren
Straßen, Kinder fuchteln mit Revolvern, Seile
werden zum Aufknüpfen unschuldiger Menschen missbraucht, Häuser und ganze Ortschaften sind niedergebrannt und zerbombt.
Auf Gräbern stehen frische Blumen – das ist
das Lebendigste. Dennoch kommt in Fernando
Léon de Aranoas Balkan-Blues mit KusturicaFeeling der Humor nicht zu kurz, der offenbar
– wie der Joghurt – zum Grundnahrungsmittel dieser Gegend gehört. Dass aber unbedingt
eine Liebesgeschichte eingebaut werden und
neben der kess-kumpelhaften Blonden eine
brünett-coole Schönheit namens Katya (Olga
Kurylenko) für kratzbürstige Situationen sorgen musste, stört erheblich.
THE ROYAL BALLET
VISCERA/
AFTERNOON
OF A FAUN/
TCHAIKOVSKY
PAS DE DEUX/
CARMEN
LIAM SCARLETT/JEROME
ROBBINS/GEORGE
BALANCHINE/CARLOS
ACOSTA
12. NOVEMBER 2015
THE ROYAL BALLET
RHAPSODY/
THE
TWO PIGEONS
FREDERICK ASHTON
26. JANUAR 2016
THE ROYAL OPERA
LA TRAVIATA
GIUSEPPE VERDI
4. FEBRUAR 2016
THE ROYAL OPERA
BORIS
GODUNOV
THE ROYAL OPERA
CAVALLERIA
RUSTICANA/
PAGLIACCI
MODEST MUSSORGSKY
21. MÄRZ 2016
THE ROYAL BALLET
PIETRO MASCAGNI/
RUGGERO LEONCAVALLO
10. DEZEMBER 2015
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6. APRIL 2016
THE ROYAL BALLET
DER
NUSSKNACKER
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LEV IVANOV
16. DEZEMBER 2015
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Tief ist der Brunnen des Balkans. Foto: X Verleih
BühnE
dem monochromen Grund im
schneidenden Licht, vertieft in
Gedanken und gehüllt in weiße,
schwarze, braune Kutten, die sich
in wunderbaren Falten um den
Körper legen. Leicht oder schwer,
grob oder geschmeidig – fast
meint man beim Betrachten die
taktile Beschaffenheit spüren zu
können.
Daneben stehen biblische Historien, die sich allerdings jeder Dramatik enthalten. Wenn Zurabarán
etwa das Abendmahl in Emmaus
auf die Leinwand bringt, zeigt
er keine Zweifler, keine Überraschung, keine heftigen Emotionen. Seine 1639 gemalte Version,
die auch nach Düsseldorf kam,
lässt drei Männer sehen, die ganz
bei sich sind, still und ergriffen.
Völlig anders Caravaggio, der bald
40 Jahre zuvor dieselbe Szene mit
wilden Gesten und erstaunten
Gesichtern inszeniert hatte. Der
Italiener setzte alles daran, die Fassungslosigkeit der Jünger nachzuempfinden, just in dem Moment, da sie den Auferstandenen
erkennen. Bei Zurbarán dagegen:
Gelassenheit, unerschütterlicher
Glaube und tiefe Beseeltheit. Bloß
keine Aufregung.
Angesichts der Andacht und Askese mag man zunächst etwas überrascht vor einer Gruppe opulent
kostümierter junger Damen stehen.
Bis klar wird, dass auch diesmal
Heilige gemeint sind. Katherina,
Lucia, Marina, Casilda … – lauter schöne, stolze, junge Frauen,
die Zurbarán zum Anlass nahm
für seine Schwelgereien im Textilen. Die eine wurde für ihren
Glauben enthauptet, eine andere gerädert, die dritte
mit heißem Öl übergossen und von einem Schwert
durchbohrt. Doch die blutigen Legenden interessieren den Maler wenig, umso mehr die kostbaren Stoffe
und ihr wogendes Spiel. Seide und Brokat in Hülle
und Fülle: faltig, zerknittert, gebauscht, verschlungen
und besetzt mit Bordüren und Applikationen. Wobei
Zurbarán die von der Kirche aufgestellten Regeln der
Schicklichkeit und des Anstands bei der Darstellung
von Heiligen stets im Blick behielt.
Er gehorchte und eckte nicht an beim Klerus. Als
Maler des militanten Katholizismus illustrierte
Zurbarán auf eigene überzeugende Art die zeitgenössischen Bibelauslegungen. Die Wunder der Schöpfung – unscheinbare wie überwältigende – erfasste er
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mige Statur und dicke Muskelbeine zeichnen ihn eher
als derben Bauern denn als Heroen aus.
Die Heiligen liegen ihm einfach mehr – auch die
sparsam bekleideten. Ein junger Johannes, der mit
Pfeilen gespickte Sebastian. Und Christus – an der
Geißelsäule, mit einem weißen Tuch um die Lenden.
Oder am Kreuz – die Ausstellung überrascht mit einer
sehr eigentümlichen, wenn nicht einmaligen Sicht auf
Golgatha. Da stehen nicht Maria und Johannes zu Füßen des toten Heilands, sondern ein betagter Maler.
Die Rechte hat er ans Herz gelegt, mit der Linken hält
er Pinsel und Palette. Wer könnte das sein? Dazu gibt
es unterschiedliche Hypothesen. Eine recht naheliegende erkennt Zurbarán in dem älteren Herrn.
Wenn das stimmt, spricht daraus nicht nur Zurbaráns
gesundes Selbstbewusstsein. Sondern auch allerhand
Hintersinn, den man dem frommen Maler vielleicht
nicht zugetraut hätte. Denn es sieht danach aus, als
hätte der Künstler im Bild den Heiland eben gerade
selbst dorthin gemalt und als stünde er nun andächtig
vor dem eigenen Werk – ergriffen vom Schicksal Jesu?
Oder doch mehr von der eigenen Kunst?
Vielleicht hatte Salvador Dalí Recht mit seinem Ausruf: »Achtung! Zurbarán wird uns jeden Tag ein wenig
moderner vorkommen.«
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Film
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Fragt man die Leiterin der Folkwang-Bibliothek Viola Springer nach ihrem
Lieblingsplatz im Gebäude, führt sie
einen ins Souterrain, wo die Taschenpartituren aufbewahrt werden. In dem
schlichten schmalen Raum tritt die Architektur in den Hintergrund. »Ich mag
diese Reihen der gelben Bändchen in
den schwarzen Systemregalen einfach
sehr«, gesteht Springer. Hier unten genießt sie die Anwesenheit des puren
Buches, was nicht bedeutet, dass sie
Max Dudlers Architektur der Bibliothek nicht schätzen würde.
Im Gegenteil, so betont sie immer wieder: Es sei ein großes Glück, mit einem
Architekten gearbeitet zu haben, der bereits Erfahrung mit dieser Bauaufgabe
in Berlin und Münster gesammelt hatte.
»Ich musste gar nicht viel zur Funktionalität erklären.« Nur das Raumprogramm
wurde auf ihren Hinweis geändert, als
sie 2006 in die bereits begonnenen Planungen einstieg: Die gedachten Büros
für die Musikwissenschaft mussten weichen, da sonst nicht genug Platz für die
Bücher gewesen wäre. Insgesamt 190.000
Medien beherbergt die Bibliothek. Mehrere Einzelbestände aus dem Ruhrgebiet
wurden zusammengeführt, so dass sich
nun eine der größten musikwissenschaftlichen Sammlungen Deutschlands
in Essen findet.
Der Schweizer Max Dudler, der Büros
in Berlin, Frankfurt und Zürich unterhält, ist ein Meister der Rasterfassade. In seinen gelungenen Entwürfen
wird die klassizistische Strenge durch
perfekte Proportion und den detailverliebten Einsatz hochwertiger Materialien lebendig. Die Fassade der
Folkwang-Bibliothek ist da beinahe
verspielt. Zwar folgt die Vollverglasung
ebenfalls einem durchgehenden Raster,
das jedoch durch Fotografien aus einem
Steinbruch bei Regensburg von Stefan
Müller belebt wird. In einem speziellen Verfahren wurden die zwölf Motive – dem Emaille ähnlich – direkt aufs
Glas aufgedruckt, so dass sie beidseitig
ihre Brillanz entfalten und dennoch luzide bleiben. Das Bauvolumen gliedert
sich in die symmetrische Anlage der
Folkwang-Hochschule ein und ersetzt
den 1969 abgerissenen Lazarett-Trakt
aus dem 19. Jahrhundert.
viola springer im strengen Raster des lesesaals der Bibliothek.
FOlkWAnG BiBliOThEk, klEmEnsBORn 39, 45239 EssEn
WWW.FOlkWAnG-Uni.DE/BiBliOThEk
nach Maßgabe der großen mystischen Schriftsteller
Spaniens, die empfahlen »Gott in allen Dingen zu finden« und diese Dinge realistisch und greifbar darzustellen. Das Lammfell ebenso wie den perlenbesetzten Rocksaum der Heiligen Casilda.
Während Zurbarán bei den kirchlichen Auftraggebern glänzend ankam, tat er sich am Hofe eher
schwer. Philipp IV. zog die Eleganz eines Velázquez
vor. Warum hatte Zurbarán das Nachsehen? Als
mögliche Antwort zeigt die Schau Beispiele aus der
Werkgruppe zu den »Heldentaten des Herkules«, die
Zurbarán 1634 für den kunstinnigen König schuf.
Ohne Spur von idealem Ebenmaß. Der heidnische
Halbgott erscheint als gewöhnlicher Mann aus Fleisch
und Blut. Schnurrbart, gesunde Sonnenbräune, stämk.WEsT 10/ 15
mUsik
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Lesen erhellt
Francisco de Zurbarán:
Fray Pedro de Oña, um 1630. Colección Municipal. Ayuntamiento de Sevilla.
© Colección Municipal, Ayuntamiento de Sevilla.
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Film
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ARchiTEkTUR
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Über dem Lesesaal im Innern der Bibliothek erstreckt sich ein Luftraum
über die gesamte Höhe des Gebäudes, der eine natürliche Belichtung
erlaubt. Manche Besucher, erzählt
Springer, fühlten sich schon an die Bibliothek in Cambridge erinnert. Das
auch hier dominierende rechtwinklige
Raster und die Farbe des Holzes der
kanadischen Schwarzkirsche mögen
solche Assoziationen verantworten.
Viel wichtiger ist aber, dass sich die
konzentrierte Formensprache auch
auf die Studierenden überträgt, denen das Lernen in dieser Atmosphäre
wohl bekommt. Bei Dunkelheit leuchtet das »Schmuckkästchen«, wie Max
Dudler den Bau nannte, von innen
heraus. Das gefällt allerdings nicht
jedem. Viola Springer: »Es gab schon
Beschwerden von den unmittelbaren
Anwohnern, wir seien zu hell.«
Alan Sonfist während der Aktion Autobiography (Dialog mit Tieren)
im Aachener Tierpark 1977, Foto: Wolfgang Becker
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Raketenmänner
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Uraufführung // Regie Peter Carp // Premiere 25. September 2015
Taxigeschichten Amir Reza Koohestani
Uraufführung // Regie Amir Reza Koohestani // Premiere 30. Oktober 2015
Pinocchio
Carlo Collodi
TIP 6+ // Regie Martin Kindervater // Premiere 22. November 2015
Lulu. Eine Mörderballade The Tiger Lillies nach Frank Wedekind
Stadtgeschichten
Düsseldorfer Schauspielhaus:
»Königsallee« & »Mephisto«
Er ist nicht schmeichelhaft für Düsseldorf, dieser
Blick auf die Stadt und ihre Repräsentanten, die das
Wirtschaftswunder bequem gemacht hat. Hans Pleschinskis Roman »Königsallee« (seit 29. 8.) ist als
Zeitporträt ein wenig so klischeehaft wie die Straße,
von dem es handelt; das Raffinement besteht vielmehr in der literarisierend-psychologischen Sicht
auf die Figuren dieser Thomas-Mann-Fantasie und
die ironisch-pikante, nachsichtige Ausformung der
Charaktere und Gefühlshaushalte. Der ins Exil vertriebene Nobelpreisträger kommt 1954 in Begleitung
von Frau Katia, Tochter Erika und Sohn Golo in
den Breidenbacher Hof. Parallel logiert Klaus Heuser, der als Kaufmann in den dreißiger Jahren nach
Shanghai und Hongkong auswanderte, mit seinem
Lebensgefährten Anwar Quartier im Hotel an der
Kö: der »Herzensschatz«, den TM 1927 auf Sylt kennengelernt hatte. Der Dichter des »Tod in Venedig«
fand Gefallen an dem Sohn von Mira und Werner
Heuser, dem Düsseldorfer Akademie-Präsidenten.
So trat der Jüngling ins Werk: verwandelt in den
biblischen Götter-Liebling Joseph und anteilig in den
Rheinländer Felix Krull. Die Episode wird TM im
Tagebuch resümieren: »Es war da, auch ich hatte es,
ich werde es mir sagen können, wenn ich sterbe.« So
viel Wahrheit. So viel Dichtung. Pleschinski reichert
historisch Verbürgtes und Recherchiertes um eigene Zutaten an, überführt Wirklichkeit ins Poetische
sowie umgekehrt. Ein Stück deutscher Kultur- und
Mentalitätsgeschichte. Der von Leistungs-Ethos und
Leidens-Pathos durchdrungene TM pariert den Angriff der Triebkräfte und transformiert sie. Der Roman kann so nur in Düsseldorf auf die Bühne kommen, die Olaf Altmann gestaltet. Wolfgang Engel,
der schon sichere Hand bei Thomas Manns »Joseph«
bewies, inszeniert »Königsallee« im Großen Haus.
Moi
non plus Albert Ostermaier
Uraufführung // Regie Peter Carp // Premiere 04. September 2015
Deutschsprachige Erstaufführung // TIP 16+ // Regie Stef Lernous // Premiere 15. Januar 2016
Hedda
Gabler Henrik Ibsen
TIP 16+ // Regie Lena Kitsopoulou // Premiere 19. Februar 2016
Oostende Thomas Hürlimann
Uraufführung // Regie Peter Carp // Premiere 08. April 2016
Imitation
of Life kornél mundruczó / Proton Theater
Uraufführung // Regie Kornél Mundruczó // Premiere 03. Juni 2016
––
Vom Vater zum Sohn – Politik und Erotik, die Synthese von Moral und Ästhetik bleiben Koordinaten.
Ein Künstlerroman auch dies, aber als satirische Abrechnung mit einem Phänotyp: dem Mitläufer und
Opportunisten. So sieht Klaus Mann seinen einst beneideten, begehrten und verachteten Schwager Gustaf
Gründgens. In seinem von Skandal umwitterten, 1936
im Amsterdamer Exilverlag Querido erschienenen, in
der Bundesrepublik bis 1981 verbotenen »Mephisto –
Roman einer Karriere« (ab 5.9.) nennt er ihn Hendrik Höfgen und verfolgt dessen Weg als Schauspieler
zum Staatstheaterintendanten im braunen Berlin und
Günstling des Reichsmarschalls. Klaus Mann zeigt
Höfgen als sadomasochistisch veranlagten Tänzer auf
dem Vulkan, schillernd, aasig, neurotisch, erfolgsverwöhnt, begabt, gefährdet, von Minderwertigkeitsgefühl und Hybris bestimmt. Als Film von Istvan Szábo
mit Brandauer und als Bühnenbearbeitung von Ariane Mnouchkine Welterfolge, nun ein neuer Angang.
Der lokale Bezug ist wiederum gegeben: Der gebürtige Düsseldorfer GG war Herr über das Schauspielhaus
von 1947 bis 1955. A W I
The Hilariously, Hysterically, Horribly Funny
Demons of Fleet Street
Uraufführung // Ruhrtriennale / Unter Welten // Regie Johannes Ender // 12. und 13. September 2015
Alice juliane kann nach Lewis carroll
TIP 12+ // Uraufführung // Regie Juliane Kann // Premiere 02. Oktober 2015
Überwintern
lars norén
Deutschsprachige Erstaufführung // Regie Bastian Kabuth // Premiere 13. November 2015
Nichts. Was im Leben wichtig ist Janne Teller
TIP 14+ // Bürgerbühne // Regie/Leitung Michaela Kuczinna // Premiere 11. März 2016
Smoke josep maria miró i coromina
Deutschsprachige Erstaufführung // Regie Bram Jansen // Premiere 22. April 2016
Actopolis
– Die Kunst zu handeln
Konzept Angelika Fitz // Ein Projekt zur Zukunft der Stadtgesellschaft
Ein bericht für eine akademie Franz Kafka
TIP 15+ // Regie Tim Lucas // Premiere 02. Juli 2015 im Deutschen Pavillon der Expo 2015 in Mailand
Lone
Twin
Stadtprojekt // Premiere im Mai / Juni 2016 in Oberhausen
Heute Abend Zirkus des Jahrhunderts – mit Bär! Linard Bardill
TIP 4+ // Uraufführung // Mobile Produktion
bilder deiner großen liebe wolfgang herrndorf
TIP 14+ // Mobile Produktion
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BÜHNE
Premieren
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»Neue Stücke 2015«
vom Tanztheater Wuppertal
(ENTSTANDEN IM JUNI 2015)
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Spätestens in Stück drei, vom Performance-Künstles Tim Etchells,
weiß auch der letzte Zuschauer, welcher Art von Event er beiwohnt: einer Geistervertreibung. Etchells beginnt mit einem
wunderbaren Einfall: Ein Tänzer kommt mit einem blauen Müllbeutel, schwenkt ihn wie eine Friedensfahne, verschließt den prall
mit Luft gefüllten Abfallentsorgungsartikel. Was hat er da wohl
eingefangen? Das zu interpretieren, bleibt natürlich jedem selbst
überlassen, aber vermutlich denken viele das Gleiche: Pinas Geist
spukt halt noch hartnäckig durchs Wuppertaler Opernhaus. So
hat wohl alle Choreografen, die diesen Neustart leisten, die nämliche Frage beschäftigt: Wie den Geist loswerden für die kleine
Weile einer neuen Aufführung?
Versuch eins: Theo Clinkard aus Großbritannien probiert es pädagogisch. Zwei Bühnenarbeiter pusten mit einer Nebelmaschine ein Wölkchen gen Himmel – ein watteweißes »Pina-Bausch«?
Während das Schäfchen aus Äther sich langsam verzieht, legen
sich neun Tänzer sanft die Hände auf die Brust oder reihen sich
zur Kuschel-Schlange. Heilsam wie ein tanztherapeutischer Trauma-Kurs. Aber hat sich für das kollektive Trauern das Ensemble
nicht ohnehin den Luxus eines sechsjährigen Sabbaticals gegeben?
Etwas besser, Versuch zwei, nach der ästhetischen Kollisions-Methode. Das aus Frankreich kommende Duo Cecilia Bengolea &
François Chaignaud schickt in »The Lighters Dancehall Polyphonie« elf Tänzer in Outfits wie für eine Queer-Parade auf den
Dancefloor. Dort präsentieren sie ebenso lyrisches Ballett wie
den totgetanzten Sexappeal von Pop-Choreografien, singen dazu
schön-traurige Madrigale von John Wilbye und verzwirbeln alles
Unmögliche – das funzt. Vor allem die Neuzugänge der Kompanie dürfen sich austoben im Halloween gegen den Totenkult. Wie
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Eichmann, dem Organisator des Judenmords, der
auf der Wannseekonferenz beschlossen wurde, verbot sich derlei prunkende Gebärde. Zu Eichmanns
banalem Wesen gehört, nicht viel herzumachen.
Johannessen musste das Phänomen des Peniblen
und Alltäglichen ausforschen und ausformen.
Autor des Eichmann-Stücks »Gespräch vor dem Tod«,
für das Johannessen 2014 zum Schauspieler des Jahres
gekürt wurde, ist Adam Price, der auch der Drehbuchautor von »Borgen« ist. Dänemark, das kleine Land!
Was auch etwas bedeutet für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. »In Dänemark und seiner
Gesellschaft der flachen Hierarchien duzen sich alle,
bis auf die Königin, zu der wird Sie gesagt«. Am Theater sagt man sowieso Du. In Bochum habe er sich mit
Intendant Anselm Weber darüber unterhalten, dass
es einen Unterschied macht, ob jemand Du oder Sie
sagt, weil sich Person und Funktion, je nachdem, dann
nicht mehr klar trennen ließen.
Was unterscheidet die Strukturen am Theater in beiden Ländern? Die in Deutschland sei »streng«, die
in Dänemark »locker«, sagt Johannessen. Er nimmt
deutsche Schauspieler als »fleißiger«, besser vorbereitet und sehr zuverlässig wahr. »Ich finde, man muss
mit etwas zur Arbeit kommen.« Olaf Johannessen arbeitet erstmals als Gast am Bochumer Schauspielhaus.
Die Kontaktstelle war Regisseur Roger Vontobel, bei
dem er kürzlich in Kopenhagen den John Proctor in
Arthur Millers »Hexenjagd« gespielt hat. Nun ist er
Vontobels Christoph Flimm in Hauptmanns »Rose
Bernd« – neben Jana Schulz in der Titelrolle.
Nimmt man die erwähnten Rollen – Höfgen, Eichmann, Proctor und Flamm, den unglücklich verheirateten Dorfschulzen, der sich in die junge Rose verliebt und nicht verhindert, dass sie in ihrer stummen
Hilflosigkeit zur Totmacherin wird –, so eint sie ein
Begriff: Verantwortung. Verleugnete, verratene, getragene und fahrlässig vernachlässigte Verantwortung.
Wenn Johannessen Flamms Charakter beschreibt,
sagt er Sätze wie: »Alles muss ein großes Fest sein.
Flamm will raus, ins Freie, voller Sehnsucht nach Liebe und nach der Natur.«
Spürt man da nicht wieder das Ungebärdige der
Faröer-Inseln!
RUBRIK
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Recht bekannt sind die Heiligenfiguren von Katharina Fritsch. Mit Abgüssen christlicher Motive und
Figuren wie »Selbstklebendes Kreuz«, »Engel« und
»Madonna«, denen sie eine monochrome, grelle
Farbigkeit gibt und die sie an ungewöhnlichen Orten aufstellt, erinnert die Düsseldorferin daran, dass
selbst eine Madonnenfigur reproduzierbar ist und
trotz ihrer vertrauten Formgebung fremd sein kann.
Nachdem Fritsch während der Skulptur Projekte
Münster 1987 mit ihrer überlebensgroßen, neonfarbigen Maria für Provokation sorgte, machte sie
später die Nippesfigur des »Heiligen Michael« (2008)
zum farbigen Kunstobjekt aus Polyester. So führt sie
einen Dialog zwischen Vertrautheit und Fremdheit,
Realität und Transzendenz.
Humorvollen Umgang mit Religion offenbart die
zum Titel der Ausstellung gewordene Arbeit »The
Problem of God« (2007) von Pavel Büchler. Sein
Werk besteht aus einem gefundenen Buch, zwischen
dessen Seiten er ein altes Vergrößerungsglas gescho-
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einandersetzen. Sakrale Kunst im herkömmlichen
Sinn wird dabei zur Randerscheinung. Der Blick
richtet sich vielmehr auf Arbeiten, die zwar christliche Symbole und Religiöses aufgreifen, sie jedoch
kritisch reflektieren und in neue Zusammenhänge
überführen.
Die vielleicht eindrucksvollsten Arbeiten stammen
von der Belgierin Berlinde de Bruyckere. Geprägt
durch die mediale Bilderflut vom Leid der Menschen
durch Krieg, Folter und Verfolgung, schafft sie lebensgroße wächserne Körper voller Verletzungen und
Trauer. Nicht nur Nachrichtenbilder haben sie inspiriert. Antike Mythologie und eben die christliche Ikonografie dienen als visuelle Motivquellen. Insbesondere in der Passion und deren Verbildlichung durch
Maler wie Matthias Grünewald, Mantegna, Jusepe de
Ribera und Caravaggio findet sie Stoff, um diesen zu
humanisieren. In der Serie der »Schmerzensmänner«
von 2006 (ausgestellt sind die Fassungen IV und V) ist
der Bezug zum Leiden Christi schon im Titel angelegt.
Die Figuren sind auf meterhohe Eisenpfeiler montiert
und assoziieren die Kreuzigung. Durch das Weglassen
der Querstreben und das Fehlen der Köpfe und Arme
sieht de Bruyckere ihre Figuren im Hier und Jetzt: als
bewegende Metaphern menschlichen Leids.
Weitere Werke der Leidens-Erfahrung stammen von
Francis Bacon, Hermann Nitsch und Paloma Varga
Weisz. Auch Bill Viola gehört dazu mit seiner eindrucksvollen Videoprojektion »The Quintet of the
Astonished« aus einem umfangreichen Projekt zur
Passion. Angeregt durch den Getty-Workshop »The
Representation of the Passion« befasste sich Viola
mit Hieronymus Boschs Tafelbild der »Dornenkrönung Christi«, aus dessen Komposition er ein fünfzehnminütiges Video entwickelte. In halbfigürlicher
Anordnung sind fünf Personen in zeitgenössischer
Kleidung zu sehen, die sich langsam bewegen und
auf unterschiedliche Weise trauern. Violas Inszenierung traditioneller Pathosgesten schließt sich an die
Vorstellung Leon Battista Albertis an, nach der sich
die innere Bewegung einer Figur durch deren äußere
Bewegung ausdrückt.
Bei Michaël Borremans geht es um christliche Rituale und deren Bedeutung. In dem Film »The Bread«
(2012) führt eine junge Frau ein Stück Brot zum
Mund. Durch ihre stille Handlung und Konzentration
kann dies mit der Eucharistie in Verbindung gebracht
werden. Es wäre jedoch keine Arbeit von Borremans,
wäre die Deutung nicht vielfach gebrochen: So scheint
der Oberkörper auf der Tischplatte zu schweben, und
die Frau erweckt den Eindruck einer Schaufensterpuppe – an die Stelle von Eucharistie und Glauben
treten Künstlichkeit und Effekt.
Extras
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VERLAG SBEILAG E
BühnE
Boris Mikhailov: Case History – Requiem, 1997/98.
Courtesy the artist und Galerie Barbara Weiss, Berlin.
© Boris Mikhailov.
Photo ›IN ACT AND THOUGHT‹: © Sylvio Dittrich
TEXT
K.WEST 09/ 15
www.theater-oberhausen.de
und 0208/8578-184
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