Junge Muslime in Deutschland – Zur Frage von Religion und Integration Prof. Dr. Harry Harun Behr 1 Ein politisches Votum zu Religion und Integration Einen Monat nach den Anschlägen von New York, im Oktober des Jahres 2001, findet sich im Protokoll der Konferenz der Ministerpräsidenten in Berlin zu Schlüsselfragen der Integrationspolitik das Folgende: „Entsprechend dem Bildungsauftrag unserer Schulen sollen die jungen Muslime auf der Basis der Wertordnung des Grundgesetzes darin unterstützt werden, verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger unseres demokratischen Rechtsstaats zu sein […] Ein islamisches Unterrichtsangebot kann jungen Muslimen helfen, ihre eigene religiöse Identität in unserer Gesellschaft zu reflektieren und zu stärken.“ Aussagen wie diese belegen, dass man auf der politischen Ebene einem Bild von Gesellschaft begegnen kann, bei dem Religion eine durchaus tragende Rolle spielt. In diesem speziellen Fall wird eine bestimmte Vorstellung von Islam in dieses Bild integriert – eine Vorstellung, die sich aus einem Konglomerat von Erfahrungen und Erwartungen speist, die sich nur schwer elementarisieren lassen. Ergebnis dieses Prozesses ist erstaunlicherweise eine Zielvorstellung von Islam, die in folgenden funktionalen Zusammenhang gestellt wird: Der Islam wird als Schulfach in den Kanon von Unterrichtsfächern an der öffentlichen Schule integriert; zum Zielbereich dieses als „bildenden Unterricht“ zu verstehenden Angebots gehört die Erziehung heranwachsender Muslime zu verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern mit islamischer Identität; dabei setzt man offenbar auf einen veränderten Umgang mit der eigenen religiösen Tradition. Zusammengefasst beinhaltet das obige Zitat folgende unterschwellige Proposition: Der Islam bedeutet für die Integration nicht nur Risiko, sondern auch Chance, denn es gibt einen funktionalen, wenn nicht sogar einen kausalen Zusammenhang zwischen Religion und Integration. Dahinter führt die These Regie, dass Religionen in der Lage, wenn nicht gar die Voraussetzung dafür sind, der Gesellschaft ein Fundament an Werten zu geben, auf die sie einerseits angewiesen ist, die sie aber andererseits über ihr institutionelles Erscheinungsbild, den Staat also, selber nicht bewerkstelligen kann. Die Religion ist das Medium des sozialen Kapitals. Sie nützt 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr der Integration. So oft man dieser Vorstellung irgendwo zwischen wissenschaftlicher Expertise und Sonntagsrede auch begegnet, sie bleibt problematisch, denn für das was hier angenommen wird findet sich in dieser Globalität noch kein handfester wissenschaftlicher Nachweis. Es bleibt hier also vorerst bei der Programmatik. 2 Ein fachwissenschaftliches Votum zu Religion und Integration Derlei politische Bekenntnisse haben auch in den zugelassenen Lehrplänen für den Islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen ihren Niederschlag gefunden, so zum Beispiel im Fachprofil des Lehrplans für den Schulversuch Islamunterricht in Bayern. Man könnte hier die ministerielle Dienstanweisung an die wissenschaftlich und religiös plural zusammengesetzte und letztlich autonom agierende Lehrplankommission altgediente Fahrensleute vermuten. christlicher Überraschenderweise Theologie und Pädagogik nein: Wo schon die unbotmäßige Paternalisierung der Muslime durch den Staat witterten, waren es die Muslime selbst, die nicht nur kein Problem damit hatten, dass Grundgesetz und Bayerische Verfassung Gegenstand eines Grundschullehrplans für Religion wurden, sondern die von sich aus auf die Dringlichkeit dieser Thematiken verwiesen (vgl. dazu [KMS 2004], Themeneinheit 4.1.2). Ein erster Hinweis auf die anstehende Hyperassimilation, wie man sie aus weiten Kreisen des deutschen Judentums in der spätwilhelminischen Ära kannte? In den Lehrplänen zum Islamunterricht werden Positionen formuliert, die unter Musliminnen und Muslimen durchaus kontrovers diskutiert werden, zum Beispiel dass es im Islamischen Religionsunterricht nicht um die Erziehung, sondern um die Befähigung zum Glauben geht: „Der Islamische Religionsunterricht soll einen Zugang zum Islam ermöglichen, und zwar durch Information und durch das Erleben. Ziel ist die Befähigung, sich frei, aber in persönlicher Verantwortbarkeit zum Islam als Religion und Lebensweise zu positionieren“ (vgl. [KMS 2006], Seite 2, und Behr 2007). Auch mit Blick auf den Koran als die Zentralschrift muslimischer Identität, an die die Ministerpräsidenten auf ihrer Tagung vermutlich gar nicht gedacht hatten, geht es nicht um das den Muslimen so oft unterstellte litterale Schriftverständnis, sondern um den kritischen Umgang mit dem Text: „Als wesentliches hermeneutisches Seite 2 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr Leitprinzip gilt auch für den Islamunterricht, was für die islamische Theologie insgesamt gilt: Aussagen des Korans sollen zuerst in ihrem historischen Bezug gesehen werden. Das wortwörtliche Schriftverständnis tritt in der heutigen Koranhermeneutik als theologischer Disziplin gegenüber dem Sinn erschließenden und dem an der Situation und dem Werteverständnis orientierten Schriftverständnis in den Hintergrund […]“ (vgl. [KMS 2006], Seite 3). Damit sind einige wichtige Indikatoren für Integration gegeben, denn Lehrpläne gelten als rechtlich bindende Vorschrift, Gesetzen ähnlich. In ihrer Gestalt als Textdokument stehen sie für in Schriftsprache geronnene Aushandlungsprozesse, denen als zentrale Agenda zu Grunde liegt, Vertrauen zwischen den Diskursteilnehmern aufzubauen und sich gegenseitig so in die Disziplin zu nehmen, dass die Zusammenarbeit möglichst gelingt. Ähnlich gilt das auch für Schulbücher, wenn sie das ministerielle Genehmigungsverfahren durchlaufen haben, damit sie als lehrmittelfreie Schulbücher zugelassen werden (z.B. [Saphir 2008]). 3 Integration – wer kann nicht mit wem? Wenn von Integration die Rede ist, wird oft nicht genügend zwischen Subjekten und Institutionen unterschieden; man könnte noch ergänzen: auch nicht zwischen Autonomie und Heteronomie. Zuerst geht es dabei um Menschen, die in unterschiedlicher sozial-funktionaler Gestalt entworfen werden – durch ihre Mitmenschen, durch die Medien oder durch Schemata, in denen Bildungseinrichtungen verhaftet sind (vgl. dazu Gomolla 2005): als Angehörige der Religion des Islams, als Männer einer als fremd empfundenen Kultur, als Frauen einer als fremd empfundenen Kultur, als Angehörige von Menschen mit wirklicher oder unterstellter Migrationsbiografie… Es gibt inzwischen kluge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich, nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie, mit diesen Fragen auseinandersetzen: Yasemin Karakaşoğlu-Aydin in Bremen, Havva Engin in Karlsruhe, Tarek Badawia in Mainz, und andere. Wenn andererseits von der Organisation gesprochen wird, dann gilt es zu unterscheiden zwischen informellen Netzwerken, rechtlich beschreibbaren Organisationsformen und ihrem jeweiligen Grad der Rückbindung an die Herkunftsländer (vgl. dazu Cappai 2005). Was das Segment religiöser Bildung und Erziehung von jungen Muslimen an der Seite 3 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr öffentlichen Schule angeht, stehen sich, beiderseits Muslime übrigens, Subjekte und Organisationen zunehmend argwöhnisch gegenüber. Inzwischen ist das oben erwähnte politische Votum in Form von Übergangsmodellen auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht oder anderen Formen umgesetzt worden, und zwar in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Diese Projekte werden getragen von engagierten Individuen vor Ort, Eltern und Lehrer in der Regel, die sich zu passenden Organisationsformen zusammengeschlossen haben – nicht zu verwechseln mit den Moscheen, welche die religiöse Erziehung von Muslimen immer noch als ihre ureigenste Domäne ansehen, vor allem wenn es sich um türkischstämmige Muslime handelt. Weit gehend alle Funktionäre der Moscheen und ihrer Trägervereine sind deshalb mit dem Islamunterricht nicht glücklich. Es werden Vorbehalte laut: Der Islamunterricht sei nicht islamisch genug, die muslimischen Lehrkräfte seien nicht muslimisch genug; der Staat bediene sich ungeeigneter und nicht legitimierter Kooperationspartner; ein zugelassenes Schulbuch sei zu liberal; die Deregulierung des Modells Islamunterricht auf Projekte vor Ort unterlaufe das Anliegen überregionaler Anerkennung. Die religiöse Bildung muslimischer Schülerinnen und Schüler ist gegenüber dem Machtpoker um die Deutungshoheit und den Besitzanspruch in Sachen Islam in Deutschland zweitrangig geworden. Offenbar wird hier Integration am sozialen und medialen Prestige gemessen. Türkisch dominierte Migrantenorganisationen mit religiöser Signatur sehen Religionsunterricht und die Ausbildung von Lehrkräften als „allein unsere Sache“ an. Sie ringen verbissen um den Status als Religionsgemeinschaft im Sinne dessen, was das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 7 anempfiehlt. Das gewinnt durchaus an Brisanz. Nicht wenige, dem Verfasser dieses Beitrags namentlich und persönlich bekannte Vertreter des organisierten Islams in Deutschland, folgen erkennbar der Doktrin, laufende Projekte zu beschädigen wenn sie sich nicht im eigenen Partikularinteresse entwickeln. Allerdings stehen die Antagonisten vor dem Problem, dass die laufenden Schulversuche zum Islamunterricht durch sehr gute Qualität überzeugen – was wiederum auch auf das bislang einzige zugelassene Schulbuch für die weiterführenden Schulen zutrifft. Wenn die Sachargumente ausgehen, dann hält man sich nötigenfalls an einzelnen Seite 4 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr Personen schadlos und versucht, sie an Hand vermeintlicher Frömmigkeitsstandards zu diskreditieren. Was man zu hören bekommt? Der eine Kollege sei den einen zu konservativ, den anderen zu progressiv; der andere Kollege traue sich mit dem Koran Sachen die ein Muslim nicht tut; wieder ein Kollege sei als Konvertit verdächtig und den einen zu religiös, den anderen zu säkular; einer habe ein getauftes Kind; einen anderen Kollegen nehme keiner wahr; ein weiterer Kollege habe den Islam verlassen; eine Kollegin sei eine Frau und Araberin – monieren die Türken; eine andere Kollegin sei eine Frau und Türkin – monieren die Araber… 5 Nur weiter so! Um das klar zu stellen: Hier wird nicht geklagt. Es geht vielmehr um die Skepsis gegenüber der These, der Islam stelle deshalb ein tragbares zivilgesellschaftliches Wertefundament bereit, weil er eine Religion sei. Was die gegenwärtigen Erfahrungen mit muslimischen Organisationen angeht, treibt den Verfasser gerade eher die Sorge um wie sich der Schaden begrenzen lässt den sie anrichten. Es ist auch nicht einfach mit der Integration – vielleicht ein bisschen so wie bei der Intelligenz: „Böse Zungen könnten sagen: eine beneidenswerte Situation: Sie wissen nicht was es ist, aber sie können es messen“ (Heller 1976, 6). Die Intelligenzforschung verlegte sich einst auf die Faktorisierung. Analog wäre es vielleicht sinnvoll, sich um ein Faktorenmodell der Integration zu bemühen, um sich einen Zugang zu dieser Materie freizuhauen und Begriffe zu bilden die für Dinge stehen, die begriffen wurden. Zum Beispiel ob es normal und vielleicht sogar für die Integration förderlich ist, dass ein Vertreter des türkischen Islams bei seinem Deutschlandbesuch ohne es eigentlich zu wollen türkischstämmige Eltern zum Boykott der laufenden Schulversuche aufgerufen hat, oder dass der Vertreter einer türkisch-muslimischen Organisation in Deutschland gegenüber der Vertreterin eines Bundeslandes droht, man würde die laufenden Schulversuche nur dulden unter der Voraussetzung, dass sie nicht ausgeweitet werden. Hier könnte der Einwand folgen: Was solche Organisationen vertreten sei nicht der Islam in Deutschland. Gut, aber wo soll der Begriff „Religion“ dann angesiedelt werden – näher an den Subjekten oder näher an den Organisationen? Das fachwissenschaftliche Votum steht natürlich näher am Menschen; muslimische Schülerinnen und Schüler sitzen nicht als Mitglieder sozialer Gruppen im Seite 5 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr Islamischen Religionsunterricht, sondern als gerade in religiösen Fragen autonome Subjekte. Auch das politische Votum schien eher auf das mündige Individuum hin formuliert worden zu sein als auf das Kollektiv von Migrantenorganisationen. Folgerichtig müsste auch für den Islam in Deutschland so unterschieden werden, wie das von religionswissenschaftlicher Seite vorgeschlagen wurde: in die Religion in der Dimension ihrer Sozialstruktur, und in die Religion in der Dimension der individuellen Situationsbestimmung (vgl. Nagel 2007). Bei ersterer geht es um religiöse Vereine und die Struktur und Funktion religiöser Gemeinden, bei letzterer um die Frage religiöser Identität des Einzelnen. Ausgespart bleibt wieder mal, aber das ist typisch für die Mehrzahl der religionswissenschaftlichen Zugänge, die Frage nach dem theologischen Gehalt des Islams, nach seiner Lehre, der selbst von Islamwissenschaftlicher Seite bereits gebührend in den Blick genommen wird, wenn Peter Heine schon vor zehn Jahren davor warnte, den Islam in Deutschland verkirchlichen zu wollen, oder wenn Angelika Neuwirth vom Corpus Coranicum anmahnt, man könne die Textart Koran nicht einfach losgelöst vom theologischen Selbstverständnis des Islams interpretieren. Autoren wie Nagel haben auch ein erstes einfaches religionssoziologisches Faktorenmodell zur Integration vorgelegt, das noch einmal andere Parameter zur Verfügung stellt als migrationssoziologische: die Unterscheidung von einerseits dem sichtbaren Verhalten und der Frage nach religiös begründeten Handlungsmotiven, andererseits der Gemeinschaft als sozialem System und der Frage nach der Akzeptanz von Institutionen. Anlass ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Integrationspotenzial von Religion und nach ihrem Beitrag als sozialmoralische Grundlage für das Funktionieren von Gesellschaft. Auch die frühere Fragestellung nach der Verhältnisbestimmung von öffentlicher und privater Religion sowie von Individuum und Institution rückt dadurch wieder in die Mitte. Die hat sich ja in letzter Zeit immer wieder stellvertretend an den Kopftuchdebatten festmachen lassen. Als vorläufiges Fazit kann festgehalten werden, dass auch die umgekehrte These diskussionswürdig bleibt, nämlich dass erst die funktionierende Gesellschaft die Grundlage für das sozialmoralische Gefüge von Religion bietet. Das gilt dann vermutlich auch für den Islam in Deutschland, wenn die bisherige Forschung nahelegt, dass ein globaler Zusammenhang zwischen Indikatoren für Religion und Integration noch nicht so ohne weiteres ermittelbar ist – ausgenommen vielleicht der Hang besagter muslimischer Organisationen, ohne Rücksicht auf Verluste Seite 6 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr machtvolle Kirche sein zu wollen. 6 Vom „Wir und die anderen“ zum „Ich und Du“ Frühere Entwürfe zum Islamischen Religionsunterricht versuchten noch, ein kollektives muslimisches „Wir“ in den Lehrplänen zu verankern, was sich allein schon aus Gründen des pädagogischen Ethos verbietet. Was sich an religionswissenschaftlicher und soziologischer Theorie- und Modellbildung zum Thema Religion, Integration, Migration und Islam bislang anbietet, ist unter anderem auch systemtheoretisch orientiert. Das gestattet es, Akteure in diesem Bereich als, wie Lehmann es formuliert, „Grenzgänger zwischen den Bezugssystemen“ (Lehmann 2008) zu verstehen, die mit ihren Handlungen sehr wohl in religiösen Motiven gründen können. Damit rückt das Individuum als Bewerkstelliger von Integration in den Mittelpunkt. Das ist mehr als nur der alte Trick, alles was sich wissenschaftlich nicht operationalisieren lässt auf die mikrosoziale Ebene herunterzubrechen. Kopf, Herz und Hand des Subjekts treten dabei nach vorne, seine organisatorischen Rückbindungen nach hinten. Es geht dann auf einmal um Integration als Leistung des Individuums, worauf Lehmann hingewiesen hat. Greifen wir noch einmal die zwei Befindlichkeiten auf, die theoretisch möglich sind: Einerseits die Skepsis gegenüber dem Paradigma von der sozialintegrativen Kraft religiöser Haltungen und Handlungen, andererseits das Vertrauen in das Paradigma. Beide müssen sich nicht unversöhnlich gegenüberstehen, denn: Hier handelt es sich nicht um die Tendenzen von Systemkonflikten, sondern um zwei notwendige Pole eines inneren Schauplatzes konkurrierender Kräfte, oder divergierender sozialer Rollen. Gemeint ist der „innere Kampfplatz“: „Je mannigfaltiger Gruppeninteressen sich in uns treffen und zum Austrag kommen, um so entscheidender wird das Ich sich seiner Einheit bewusst.“ (Simmel 1992). Das erinnert natürlich an Freud, der schon früh auf das identitätsstiftende Potenzial einer gelungenen Vermittlung und Aussöhnung (Mediation) innerer Repräsentanzen dessen hinwies, was dem Menschen als konkurrierende Loyalitäten entgegentritt. Übrigens, der Kulturphilosoph und Soziologe Simmel hätte zur heutigen Bankenkrise wiederholt, was er Ende des 19. Jahrhunderts schon mal dazu gesagt hat: „Das Problem ist: Das Geld wird zu Gott, indem es zu einem absoluten Mittel zu einem absoluten Zweck geworden ist. Die Banken sind inzwischen mächtiger und größer Seite 7 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr als die Kirchen.“ Als Gegenmittel schlug er damals vor, mehr von der Freiheit Gebrauch zu machen, in solidarischen Gemeinschaften mehr zu tun, das nicht des Geldes wegen, sondern der Kultur wegen getan wird. Wie ist die Sache mit dem „inneren Kampfplatz“ auf junge Muslime hier und heute zu beziehen, wie lässt sich das für das Fachprofil eines identitätsstiftenden Islamischen Religionsunterricht nutzbar machen? Der Bertelsmann Religionsmonitor, der erstmals das Kriterium der Zentralität von Religion in den Blick genommen hat, verweist für die Altersgruppe der zwischen 20 und 30jährigen mit 72 % auf eine besonders hoch ausgeprägte Bereitschaft, die eigenen religiösen Überzeugungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen (vgl. [Behr 2008 a]). Die muslimischen Schülerinnen und Schüler warten in dieser Frage mit einem hohen Maß an Neugier auf theologische Themen auf; sie suchen nach einer in der Religionslehre begründeten Basis für die Gestaltung des eigenen Lebens – auch in prekären Fragen – und entwickeln ein gesundes Misstrauen gegenüber den Verlockungen der individuellen Beliebigkeit. Als eine der vordringlichen Aufgaben des Islamischen Religionsunterrichts erweist sich – neben seinem emanzipatorischen und therapeutischen Ansatz – die sachgerechte und ideologiefreie Information über den Islam. Diese wird von Muslimen der öffentlichen Schule eher zugetraut als den Moscheen (vgl. [Behr 2008 b]) – ein Indiz für die Frage der Akzeptanz von Institutionen als Faktor von Integration. Ein Verweis auch auf das, was der Verfassungsrechtler Martin Heckel als das notwendige Aushandeln der Kompetenzen zwischen Eltern, Staat und Religionsgemeinschaft prognostizierte (– Heranwachsende Musliminnen und Muslime brauchen dazu Zeit. Der Islamunterricht kann schon mal der sanktionsfreie Diskursraum sein, brisante Themen aufzuwerfen, die man zu Hause oder in der Moschee lieber nicht zur Diskussion stellt. Hinzu kommen aber muss die Gelassenheit des sozialen Umfelds, es auch zuzulassen wenn sich die jungen Leute religiös ausprobieren. Der islamische Theologe und Religionswissenschaftler Bülent Şenay aus Bursa spricht hier von der Notwendigkeit des religiösen Identitätsmoratoriums. Unter den Bedingungen von Migration besteht für dieses Recht auf Unentschlossenheit eine noch größere Dringlichkeit. Aber ausgerechnet da sind die Alten so verlustängstlich, dass es zur Zerreißprobe kommen kann – und schließlich dazu, dass aus dem „inneren Kampfplatz“ der Jungen ihre „innere Walstatt wird“: Sie erkranken an der Religion und fallen ab. Dass religiös motivierte Migrantenorganisationen sich hier anschicken, auch noch die Seite 8 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr tribalistische Rekonstruktion des Islams als Religion zu verstärken, trägt zu den Unglücken sozialer Desintegration bei. Ein Schüler, der den Islamischen Religionsunterricht in der 10. Klasse einer Realschule besucht, warf gleich zu Beginn des Schuljahres eine Frage auf, die stellvertretend für einen ganzen Symptomkomplex steht: „Ich bin Muslim, und ich möchte unbedingt in den Islamischen Religionsunterricht. Aber ich möchte Chemiker werden. Wenn ich mich irgendwo bewerbe und im Zeugnis steht irgendetwas was mich mit „Islam“ in Verbindung bringt, kann ich den Job vergessen, gerade als Chemiker. Können wir das Fach nicht anders nennen?“ Was für ein Indikator ist denn das? Einer für die gelungene Integration eines jungen Mannes der die Spielregeln internalisiert hat? Oder der für die Bedeutung von Bildung für das zukünftige Maß an Lebensqualität? Hinsichtlich der Bildungsaspiration von Muslimen weist der Bertelsmann Religionsmonitor aus, dass insbesondere einige subjektive Zuschreibungen positiver emotionaler Aufladung in ihrer Dimension des religiösen Erlebens (Geborgenheit, Dankbarkeit, Kraft, Liebe, Hoffnung…; zwischen 56 % und 78 % „oft“ und „sehr oft“ genannt) wichtig für die Art von religiösem Selbstbild zu sein scheinen, das bildungswirksam sein kann, zum Beispiel was die Unwägbarkeitstoleranz angeht: Ich halte durch, auch wenn ich noch nicht genau weiß ob es sich lohnt. 7 Ein religionspädagogisches Faktorenmodell des Islams Oben kam zur Sprache, dass die von der islamischen Theologie aus gesehene bezugswissenschaftliche Theoriebildung nicht in der Lage ist, die Aussagen der Religionslehre für die wissenschaftliche Forschungsmethodik zu operationalisieren. Was interessiert denn die Religionswissenschaftler, die Soziologen, die Psychologen und anderen, was der Koran über Gott, den Menschen und die Welt mitteilt? Die Frage, wie sich einer Gott vorstellt, ist aus islamischer Sicht für die Belange von Integration entscheidend, und dafür wie sich einer als Muslim selbst wahrnimmt, sowie in einem weiteren Schritt seine Mitmenschen. Der Koran spielt auf dieses Segment religiöser Identität an und spricht von „Kennzeichen“. Der in 2:138 dafür verwendete Begriff ةغبص/sibgha/ wird auch übersetzt mit „Prägung“ im Sinne einer „Färbung“ oder „Gerbung“ – oder auch „Id ) /tasāwin/). Das Wort bezeichnet im christlichen Kontext auch den Akt des Seite 9 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr „Eintauchens“ als „Taufe“, und das nicht von ungefähr: In der größeren Textpassage 2:124-148 geht es um den koranischen Abraham. Der wird insbesondere um die bezeugte Zugehörigkeit zu Judentum oder Christentum als Alternative zur bezeugten Zugehörigkeit zum Islam herum entwickelt. Um welche Art von kennzeichnender Prägung es beim Islam geht, soll unten kurz in Form von fünf fundamentalen Prinzipien dargestellt werden, die zwar in gewisser Weise an die bekannten „Fünf Säulen des Islams“ erinnern, sich aber doch bewusst davon absetzen, denn: Der Koran betont die Dimension des Nicht-Sichtbaren (vgl. Sure 36 Vers 12), er stellt sie gleichsam dem Sichtbaren, dem Vollzug des Rituellen und Kultischen voran. Das ist insofern wichtig als muslimischen Jugendlichen heute der Islam als eine Art System dargeboten wird, bei dem es darauf ankomme was man zu tun und zu unterlassen habe. Maßgeblich für die religiöse Identität ist dann die Richtigkeit des Vollzugs und dadurch die Zugehörigkeit zu den Muslimen als Clan. „Ein Muslim isst kein Schwein, macht nicht mit Mädchen herum und ist seinen Eltern gehorsam.“, gab ein Hauptschüler zur Antwort, als er gebeten wurde zu umschreiben was einen Muslim ausmache. Daraus resultiert ein Angstmotiv: Ist was ich tue richtig? Gehöre ich noch dazu? Dabei müssten die religiösen Motive der Selbstevaluierung aus Sicht des Islams anders lauten: Ist, was ich tue, gut? Bin ich der, der ich sein will oder gebe ich vor jemand zu sein, der ich nicht bin? Das empirisch belegbare Angstmotiv gestattet noch einmal, in aller Deutlichkeit Zweifel an der integrativen Kraft des Islams in Deutschland anzumelden, so lange nicht geklärt ist von welchem Segment hier die Rede ist: So wie er in den Moscheen vertreten wird? So wie sich Muslime sehen? So wie er in den Medien gespiegelt wird? So wie er im häuslichen Kontext praktiziert wird? So wie sich das deutsche Politiker vorstellen? So wie er im Unterricht oder im Seminar gelehrt wird? So wie ein Udo Ulfkotte sich ihn zurechtlegt? Für den befragten muslimischen Hauptschüler ist, wie übrigens auch für seine gleichaltrigen muslimischen Freundinnen und Freunde, Allah ein eifersüchtiger alter böser türkischsprachiger Mann, der dich schon wegen Kleinigkeiten verdammt, noch bevor du die Gelegenheit hast dich zu den wirklich großen Sünden hochzuarbeiten. – Muhammad hingegen ist als eine Art „Muhammad Christ Superstar“ folkloristisch überhöht: Er ist der Big Chief des Clans, zu dem man sich zugehörig fühlt. Das erklärt, warum satirische Verzerrungen Muhammads die Wogen so hoch schlagen lassen. – Dieser Schüler unterliegt einer religiösen Fehlkonstruktion. Seine Seite 10 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr Beziehung zu sich selbst ist gestört, es mangelt ihm an geistiger Leitung und Erfahrung. Seine Beziehung zu seinen Mitmenschen ist gestört, weil sein Einfühlungsvermögen unterentwickelt ist. Seine Beziehung zu Gott ist gestört, weil er religiöses Erleben nicht kennt. Ihm wird der Islam als ein kryptisches System dargeboten, das einer eigenen Struktur und Funktion folgt – in einem kulturräumlich verengten Kontext und ohne sinnhaften Bezug zu seinem sonstigen Leben. Er beginnt, sich in mindestens zwei parallelen Welten zu bewegen, und er beginnt am Islam zu erkranken, wenn es ihm nicht rechtzeitig gelingt, sich von ihm loszusagen. Er sitzt in der Falle. Die Ursache dafür liegt unter anderem in schweren Versäumnissen der religiösen Erstsozialisation: Wir Muslime, namentlich Türken oder andere, hier drinnen, und die Ungläubigen, namentlich Deutschen, da draußen. Diese Verzerrung der Religion ist schlimmer als jede Muhammadkarikatur. Sie trägt das Signum des diabolos, der die Dinge besonders dann durcheinander wirft, wenn er mit im Habit der Religion auftritt. Der Koran entwirft ein anderes Bild. Deshalb nun zu den angekündigten fünf Prinzipien, von denen das letzte noch einmal um drei Gedanken ergänzt wird. Welche Zielangaben müssen einem Islamischen Religionsunterricht vorangehen, wenn er über das „Kennzeichnende“ informieren und einen Beitrag zur Integration leisten will, so wie das die Voten eingangs dieses Beitrags formulieren? Die muslimischen Schülerinnen und Schüler sollen… 7.1 …eine Vorstellung gewinnen vom Islam als der eigenen Lebensweise: Die /silm/ im Sinne von „Friede“) und folgt nicht der Spur des Satans. Der ist für euch ein klar erkennbarer Gegner.“ Die in Rede stehende Vokabel beschreibt hier den Islam in seiner nicht sichtbaren Dimension, beispielsweise als Haltung, als Überzeugung oder als Handlungsmotiv. Ergänzt wird das in Versen wie 3:19 um die Dimension des Erkennbaren, des Bezeugten und Sichtbaren im Sinne einer religiösen Lebensweise ( نيد/dīn/) oder auch eines Wegs, den man geht ( ةلم/milla/ vgl. im Koran 6:161). Muslim zu sein bedeutet also, dem Handeln eine Kultur des guten religiösen Motivs zugrunde zu legen. Das hat im Umkehrschluss erzieherischen Wert mit Blick auf die Bereitschaft Jugendlicher, ihr Seite 11 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr gelegentlich disziplinloses Verhalten zu korrigieren, indem sie sich vor die Frage gestellt sehen: Was sagt das, was ich tue, eigentlich über mich selbst, über meine Person aus? 7.2 …eine Vorstellung gewinnen von der Zeit nach dem Tod: Dass die Menschen schlafen und indem sie sterben erwachen, ist ein tradierter Spruch, der in dieser Form wohl auf Ali bin Abi Talib zurückgeht. Dahinter stecken nicht selten jene altarabischen Weisheiten, die sich gelegentlich im kanonisierten Prophetenwort, dem so genannten Hadith wiederfinden. Nicht wenige davon entstammen übrigens alten religiösen Kontexten, und ihrer hat sich Muhammad dankenswerterweise auch bedient. Kaum ein Lehrsatz des Islams bringt in dieser Kürze auf den Punkt, worum es bei der Religion, so wie der Islam Religion versteht, eigentlich geht: Alles was den Islam ausmacht ist instrumenteller Natur, hat dienenden Charakter. Der Koran hat keinen Selbstzweck, sondern er ist für etwas da. Das mag dem widerstreben, der für die Sphäre des Religiösen lieber auf die Begründung von Sinn und Zweck verzichtet, besonders wenn es um die Ästhetik geht – die Ästhetik der Schönheit des Glaubens, des guten Tuns und der offenbaren Wahrheit. Der Verfasser dieses Beitrags neigt dieser Sichtweise zu und schreibt hier ein wenig gegen seine eigene Überzeugung. Aber das soll seine persönliche Vorliebe bleiben. Nicht unterschlagen darf er, dass der Koran den Aspekt des „Nutzens“ von Religion ( ةعفنم/manfaca/ vgl. im Koran 80:4) deutlich herauszeichnet, besonders wenn es um die Frage von Diesseits und Jenseits geht. Eine klare Sprache spricht hier zum Beispiel die gesamte Sure 64. Muslim zu sein bedeutet also, den Schaden und Nutzen einer Sache nicht nach einseitigen Maßstäben zu bewerten: Für den maßvollen Umgang mit den Ressourcen der Natur, um ein Beispiel zu nennen, gelten nicht nur die utilitaristischen Argumente, sondern auch die Fürsorge für die nachrückenden Generationen und die Sorge vor der Anfrage Gottes am Tage des Begegnung. 7.3 …eine Vorstellung gewinnen vom Leben in muslimischer Gemeinschaft: Im Koran wird das mit Blick auf die so genannte Umma im Sinne sichtbarer religiöser Vergemeinschaftung in verschiedenen Aspekten konkretisiert. Von denen sind zwei Seite 12 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr entscheidend: Erstens die bereits erwähnte Abgrenzung von Judentum und Christentum in der Textstelle 2:124-148, also relativ, und zweitens als das ohne jeden Vergleichsmaßstab Beste, also absolut. Be /ummatun wasatun/) bezeichnet. In Versen wie 3:110 hingegen wird benannt, was das kritisch geneigte Ohr als gewissen Exklusivismus vernimmt. Es wird hier vom Koran zwar als Indikativ, das heißt beschreibend angelegt ( متنك/kuntum/), tritt aber in seiner imperativen Semantik ( نكت/takun/) klar zu Tage: „Ihr seid das Beste an Gemeinschaft, das unter den Menschen entstanden ist. Ihr gebietet, was geboten ist, und verwerft, was verworfen ist, und ihr glaubt an Gott ( هللا/allāh/). Würden die Leute des Buches daran glauben, es wäre besser für sie. Unter ihnen gibt es die, die Glauben haben, aber viele von ihnen weichen ab.“ Muslim zu sein bedeutet also, nicht nur Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen, sondern sich in sie einzubringen. 7.4 …eine Vorstellung gewinnen vom Leben in mitmenschlicher Solidargemeinschaft: Damit wird der Horizont in einer Weise erweitert, die sich erfahrungsgemäß als eine der schwierigeren methodischen und didaktischen Herausforderungen im Diskurs mit muslimischen Jugendlichen erweist: „Was gehen uns denn die Anderen, die Ungläubigen an?“, wollen sie wissen. Deine Mitmenschen sind deine Geschwister, lautet das Zeugnis des Religionspädagogen. Wenn sich dann das Protestgeheul im Klassenzimmer gelegt hat, kann man auf Koranverse wie 4:1 blicken – frei übertragen und gegen den Strich gelesen: „Alle Menschen sind Nachkommen vieler Frauen und Männer, diese hat Gott von zwei partnerschaftlichen Wesen (جوز /saudsch /min-nafsin wāhidatin/) hervorgebracht.“ Das hat nicht nur eine kosmologische, sondern auch eine sozialethische Dimension, denn in einem Vers wie 66:6 geht es nicht um Fragen der Religionszugehörigkeit, sondern um Fragen der Mitmenschlichkeit: „Wenn ihr glaubt, dann hütet euch selbst und die, für die ihr verantwortlich seid (oder: „mit denen ihr zusammen seid“; مكيلها/ahlīkum/) vor dem Feuer…“ – dies nicht so sehr wegen der Option der jenseitigen Hölle. Das wäre die weit verbreitete, letztlich aber patriarchalistische Lesart, nach welcher der muslimische Ehemann und Vater auf die Religionsausübung seiner Seite 13 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr Familienmitglieder zu achten habe. Nein, es geht hier um mehr: Muslim zu sein bedeutet, nicht zuzusehen wie sich die Menschen schon auf Erden gegenseitig die Hölle bereiten, sondern mit der Einstellung, dem Wort und der Hand das Bessere zu geben – und damit im sozialen Nahbereich zu beginnen. Das ist Integration nach Maßgabe des Korans, der in Aussicht stellt, dass dadurch „aus dem, mit dem dich heute Feindschaft verbindet, morgen ein guter Freund wird“ (Koran 41:34). 7.5 …eine Vorstellung gewinnen von Gott: Warum kommt nun an letzter Stelle, was in den klassischen „fünf Säulen“ des Islams als das so genannte Glaubenszeugnis, die „Schahāda“, an erster Stelle steht? Weil hier – ganz entgegen tradierter Lehrmeinungen – der Spielraum für individuelle Ausgestaltungen, für Pluralisierungen am größten ist. Muslime deuten zwar gerne darauf, dass mit dem koranischen Lehrsatz von der unteilbaren Einzigkeit des einen Gottes, die Er ja schließlich selbst bezeugt ( ديحوت/ tauhīd/ vgl. 3:18), alles Abweichende für nichtig erklärt wird. Aber allein schon die Vielfalt der auf Gott bezogenen Aussagen im Koran macht deutlich, welche Fülle an Vorstellungen von Gott zu Lebzeiten Muhammads vorhanden waren, und welchen Entwicklungen das Gottesbild unterworfen war. Muslim zu sein, bedeutet also ein gesundes Misstrauen gegenüber eigenen wie vermittelten Gottesbildern zu pflegen. Denn: Nicht alles, was in den Köpfen und Herzen der Menschen an Vorstellung von Gott existiert, ist gut. Das gilt auch für heranwachsende Musliminnen und Muslime, die öfter davon berichten wie es aussieht wenn ihnen „Allah“ als väterliche Fratze in der häuslichen Erziehung entgegentritt. Ein anderer Dämon dieser Art ist der so benannte „Schaitān“, der überall dort lauert wo vermeintlich „Unerhörtes“ (türk. günah) geschieht. Besonders solche kulturell durchgegerbten Gottesbilder gestatten die Anfragen an die therapeutischen Motive des Islamischen Religionsunterrichts, vor allem wenn religiöse Identität vereinseitigt wird auf die Aspekte genannter Stereotype wie die Konformität von Handlungen und der Konsens des Clans. Die Frage nach Gott muss also um die folgenden drei zentralen Aspekte ergänzt werden: 7.5.a Gott ist der, der vergeben will: Seite 14 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr Die Schuldkomplexe muslimischer Jugendlicher, die meinen sich einer Unbotmäßigkeit schuldig gemacht zu haben, sind erschreckend. Man möchte ihnen in einem ersten, unkontrollierten Impuls zurufen, die Sache mit der Religion am besten zu vergessen. Aber das verbieten der Anstand und die eigene Ehrfurcht vor Gott, und es würde zu schmerzhaften Kollisionen mit der, wenn auch naiven, so doch erkennbar aufrichtigen Frömmigkeit der Betroffenen führen – darin sind viele junge Muslime anders als ihre nicht-muslimischen Gleichaltrigen. Zumal der Islam hier den einzig probaten, weil Heilung in Aussicht stellenden Zugang öffnet; bei einer pauschalen Absage an die Religion würden die Schuldkomplexe vermutlich nicht bewältigt, sondern sedimentiert und zementiert. Welcher Zugang? Gott hat sich selbst nichts vorgeschrieben, mit Ausnahme der Barmherzigkeit ( ةمحر/rahma/ vgl. im Koran 6:12 und 6:54). Mit dieser Vokabel ist die fürsorgende Zuwendung gemeint – und zwar denen gegenüber, die im Koran als von Gott erschaffen gelten. Also allem und allen gegenüber. Das ist die Art von Liebe, die geschenkt wird und die nicht auf Gegenliebe angewiesen ist. Das Wort ist im Arabischen femininen Geschlechts. Abdoldjavad Falaturi hat in einigen Aufsätzen vor inzwischen fast zwanzig Jahren mit Hinweis auf weitere Belegstellen im Koran festgestellt, dass der dort entworfene Gott eigentlich mehr mütterliche als väterliche Züge trägt. Dafür lassen sich im Übrigen schon in den altarabischen Gottes- und Göttinnenvorstellungen vielfache Hinweise finden. 7.5.b Gott ist der, der es nicht schwer machen will: Der Koran sieht den Menschen als ein Wesen mit erheblichen Mängeln (vgl. 20:115 oder 4:28), zu denen weniger seine biologische Unfertigkeit gehört als vielmehr ein charakterliches Manko, nämlich sich selbst (und anderen) aufzubürden, was er nicht tragen kann (2:286). Deshalb bekommt er, in dem was ihn trifft, meist nur zu „schmecken was er mit seinen eigenen Händen vorausschickt“ (7:56, 10:14, 30:4142, 65:8-9). Er soll also gefälligst „hinsehen, was er für morgen vorausschickt“ (59:18). Die Sache mit der Vorausschau und dem Abwägen der Folgen des eigenen Tuns ist aber bekanntermaßen für Jugendliche besonders schwer. Das rechte Maß zu finden – auch in religiösen Dingen – ist einer der anspruchsvolleren Lernschritte im Leben des Menschen, dem der Koran hier zuruft: „Gott will für Euch doch das Leichte und nicht das Schwere!“ (2:185; vgl. auch Sure 94). Seite 15 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr 7.5.c Gott ist der, der nah sein will: „Ich bin nahe, wenn du mich rufst.“ Das ist die Essenz aus Koranstellen wie 2:186, in denen sich die koranische Redefigur als der „ansprechende“ Gott in der 1. Person Singular mitteilt. Das wird als Ansprache Gottes an den Menschen gelesen, der seinerseits die Möglichkeit hat Gott anzusprechen. Hier liegt der Drehpunkt dessen, was im Islam als Kultur des Betens bezeichnet werden müsste: dem Zwiegespräch geht die Ansprache voran, dem Gebet die Anbetung. Dann ist Gott einer, bei dem du dich aussprechen kannst. Das setzt Zutrauen voraus. Der arabische Begriff لكوت /tauakkul/ steht für das Zutrauen des Menschen in sich selbst, zu dieser Ansprache fähig zu sein, und das Zutrauen in den Angesprochenen, dass er da ist und dass sich das Ganze nicht als Illusion herausstellt. „Wer garantiert mir denn dass es Gott wirklich gibt und dass Muhammad kein Spinner war und dass der Koran echt ist?“, wollte eine Schülerin wissen. Sie hat auf ihre eigene, gewohnt temperamentvolle Art die Gottesfrage gestellt, und die Suche nach der Antwort beginnt nicht oben im Himmel oder drüben in einem anderen Land oder morgen in einer anderen Zukunft, sondern hier und jetzt „vor der eigenen Nase“ (50:15-17). 8 Als Fazit… sei formuliert: Religion und Integration stehen, was den Islam und die Muslime in Deutschland angeht, nicht objektivierbar in einem Zusammenhang. Aber hinsichtlich der politischen Zielsetzungen, die mit der Einführung von Islamischem Religionsunterricht verbunden sind, scheint es sinnvoll zu sein, sie in einen solchen Zusammenhang zu stellen, denn: Ob der Islam als Religion junge Musliminnen und Muslime bei Prozessen unterstützen kann, die sie und andere als im positiven Sinne gelungene Integration bezeichnen wollen, hängt von handlungsleitenden Prinzipien ab, die theologisch begründet und die unter pädagogischer Anleitung eingeübt werden müssen. Eine wissenschaftliche Bearbeitung dieser Prozesse ohne Inblicknahme des Gehalts des Islams als Religionslehre greift zu kurz. Das liegt daran dass derartige handlungsleitende Prinzipien vor allem auf Entscheidungen beruhen, für die sich Muslime in die Verantwortung nehmen lassen wollen. Seite 16 von 18 1. Bayreuther Zukunftsforum 17./18. Oktober 2008 – Prof. Dr. Harry Harun Behr 9 Literatur Behr, Harry H.: Curriculum Islamunterricht. Bayreuth 2005. Seiten 167-170. 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