theaterstandort hannover

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#01
#05TANZ
THEATER
THEATERSTANDORT HANNOVER
Hannover ist
Hannover
ist Kultur
Kultur
FIGURENTHEATER NEUMOND & THEATER FENSTERZURSTADT
„WO DIE WILDEN KERLE WOHNEN“
FOTO: KLAUS FLEIGE
INHALTSVERZEICHNIS
#05 / THEATER
WERKSTATTBERICHT
THEATERSTANDORT
HANNOVER
4
Vorwort und Ausblick
Theaterstandort Hannover
8
Ausbildung und Vermittlung –
Lernort Theater
30
Interview: „Ein Türöffner
für viele Bühnen“
38
Das Theater in der modernen
Stadtgesellschaft
70
Interview: Auf den
Punkt gebracht
76
Festivals: Die Stadt
als Bühne
88
Boulevard- und Privattheater:
Unterhaltung nach Maß
96
Adressen: Netzwerk Theater
in Hannover
2
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Impressum
VORWORT UND AUSBLICK
ZUM
THEATERSTANDORT
HANNOVER
#05 / THEATER
2002 wurde in Hannover erstmals eine Lange Nacht
der Theater veranstaltet – ein Format, das die
gesamte Theaterszene, große und kleine Bühnen,
Profis und Amateure, Experimentelles, Unterhaltendes und viele Spielarten dazwischen miteinander
verbindet zu einem großen Fest. Das Format haben
mittlerweile viele andere Städte übernommen – in
Hannover ist das Original noch immer lebendig und
entwickelt sich weiter. Ein wunderbares Beispiel
für Hannover als Theaterstadt.
Eben dieser vielfältigen Theaterlandschaft widmet
sich dieser weitere Band der Werkstattberichte.
Da geht es einerseits um ihre Traditionen und Wurzeln, um Geschichte und Würdigung des bedeutsamen
Staatstheaters, um den Dialog von Wissenschaft
und Kunst zu Leibniz' Zeiten und die Ursprünge des
Freien Theaters. Genauso geht es auch um Potentiale und Neuerungen in unserer Theaterstadt: Um
Ausbildungsstätten, wie die renommierte Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, das
Darstellende Spiel an der Leibniz Universität,
aber auch um aktuelle Entwicklungen innerhalb der
Theaterlandschaft.
Hannover hat eine breite, gut etablierte Freie
Theaterszene.
Ich
stelle
sie
mir
immer
wie-
der gern virtuell als Theaterhaus vor: 18 Freie
Theater
als
Produktionsteams,
20
Premieren
in
einem Jahr, dazu Gastspielreihen, Festivals und
Rahmenprogramm – ein bunter Strauß verschiedener
Stile und Stücke, Fragestellungen und Umsetzungsformen, an ungewöhnlichen oder etablierten Orten,
für diverse Zielgruppen.
Unter anderem hat dieses virtuelle Theaterhaus
im
/ 5
Repertoire, mehr als 30 Stücke haben die Figuren-
4
eine ganz starke Kindertheatersparte: Allein im
Kindertheaterhaus
stehen
aktuell
17
Stücke
theater am Figurentheaterhaus Theatrio gemeinsam
für den Spielplan zur Verfügung. Darüber hinaus
produzieren
etliche
weitere
(Projekt-)
Ensemb-
les gelegentlich oder regelmäßig für Kinder und
Jugendliche. Trotz zumeist intimer Aufführungssituationen von 30 bis 100 Plätzen werden so durch
die Vielzahl der Aufführungen übers Jahr etliche
tausend Kinder und Jugendliche erreicht.
Jenseits
des
Vorstellungsbetriebes
bietet
die-
ses virtuelle Theaterhaus auch eine Vielzahl von
theaterpädagogischen Projekten und Formaten an –
ein wichtiges Feld für die Freien Theater, ebenso
wie für das Staatstheater und auch die Stadtteilkulturarbeit. Theaterpädagogik ist die aktuelle
Boombranche des Theaterbetriebs. Das Bedürfnis,
sich dafür besser zu vernetzen, Kräfte zu bündeln
und Synergien zu nutzen, kristallisierte sich in
den Werkstattgesprächen heraus.
Ein Theaterpädagogisches Zentrum gibt es bereits,
hier ließe sich andocken. Das Potential ist vorhanden, nun gilt es – gemeinsam mit den Akteuren
des Zentrums, den Ausbildungsstätten, der Freien
Szene und dem Staatstheater – dieses zu nutzen
und weiterzuentwickeln zu einem Kompetenzzentrum
Theaterpädagogik.
Auch der Dialog zum Werkstattbericht Theater war –
wie schon bei den zuvor entstandenen Berichten –
ein konstruktiver, anregender Prozess. Ich möchte
mich an dieser Stelle noch einmal herzlich bei
allen Beteiligten bedanken und hoffe, dass die
Impulse der Werkstattgespräche konkrete Veränderungen bewirken werden und der belebte Dialog innerhalb der Szene fortgesetzt wird.
Unser Dank gilt an dieser Stelle auch all den
Partnerinnen und Förderern, die mit uns gemeinsam die Theaterlandschaft stützen und entwickeln,
fordern und fördern. Machen wir weiter gemeinsam
Theater, vielfältig und bunt!
Marlis Drevermann
6
/ 7
Kultur- und Schuldezernentin
AUSBILDUNG UND VERMITTLUNG
LERNORT
THEATER
#05 / THEATER
Im Studiengang Schauspiel an der Hochschule für
Musik, Theater und Medien, kann man lernen, wie man
auf der Bühne steht, am Niedersächsischen Staatstheater, was hinter den Kulissen zu
tun ist und von Theaterpädagogen,
„Die ganze Welt ist eine Bühne
wie man zuschauen und mitspielen
Und Männer, Frauen, alle sind
kann. Ein Blick auf die Zentren
treten wieder auf. Und spielen
eine Rolle nach der andern.“
– SHAKESSPEARE: „WIE ES EUCH
GEFÄLLT.“
/ 9
und Vermittlung.
8
und Schnittstellen von Ausbildung
bloß Spieler. Sie gehen ab und
DIE SPIELWÜTIGEN
Die Anspannung steigt. Das Ritual ist jedes Mal
neu und aufregend für die Kandidaten. Achthundert
bewerben sich, zehn pro Jahrgang schaffen es – sie
gehören zu den Auserwählten. Der Studiengang Schauspiel an der hannoverschen Hochschule für Musik,
Theater und Medien hat einen exzellenten Ruf. Bekannte Film- und Theaterschauspieler wie Matthias
Brandt, Ulrike Folkerts oder Katharina Schüttler
haben in Hannover studiert – um nur einige prominente Absolventen zu nennen. Andere gehören zu den
Gründern der Freien Szene, die sich in den 1970er
und 1980er Jahren in Hannover entwickelt hat und
bis heute die hiesige Theaterlandschaft in ihrer
Vielfalt prägt. Wieder andere sind am Schauspiel
Hannover engagiert, einer von ihnen ist Philippe
Goos, der dort seit 2007 in zahlreichen Rollen auf
den Bühnen steht.
Der Studiengang Schauspiel ist ein Aushängeschild
für die Stadt: Es gibt viele Querverbindungen zwischen
werden
Bühne,
Film
regelmäßig
und
Fernsehen.
Produktionen
der
Bei
Festivals
Studierenden
aus Hannover ausgezeichnet, viele angehende Schauspieler erhalten Stipendien, unter anderem von der
angesehenen Studienstiftung des deutschen Volkes,
nach ihrem Abschluss finden die meisten Absolventen
schnell ein Engagement, die Vermittlungsquote ist
hoch.
Kein Wunder, ihre Lehrer kommen aus der Praxis –
vom Theater, vom Film, vom Rundfunk. Das gehört zum
Erfolgsrezept: „Es ist beides, die Nähe zum Praxisbetrieb und das solide Handwerk. Wir vermitteln
das klassische Rüstzeug für alle theatralen Formen
und wir schaffen Freiräume, damit die Studierenden
selbständig Projekte entwickeln und früh eigene
Netzwerke knüpfen können“, betont Schauspielprofes-
STUDIENGANG SCHAUSPIEL, HMTMH
„DING DONG! THE WITCH IS DEAD“
FOTO: TOBIAS BRABANSKI
sor und Studiengangssprecher Titus Georgi. „Dafür
ist
Qualitätssicherung
eine
zentrale
Vorausset-
zung“. Der 45jährige gelernte Regisseur ist derzeit
auch der Vorsitzende der Ständigen Konferenz für
staatliche und städtische Schauspielausbildung im
tiker, knüpft Kontakte, setzt auf Impulse von außen
und strebt eine internationale Zusammenarbeit an.
Er hat viele Pläne, gern würde er das renommierte
10 / 11
deutschsprachigen Raum (SKS). Georgi ist ein Prak-
Theatertreffen deutschsprachiger Schauspielstudierender, das 1990 ins Leben gerufen wurde, im Jahr
2020 in Hannover ausrichten: Zum 75jährigen Bestehen des Studiengangs Schauspiel. Ein guter Anlass,
um Zukunftsvisionen und Traditionen zu verbinden.
Die Geschichte der Schauspielausbildung ist eng
mit dem Wiederaufbau der Stadt nach den verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verbunden.
Aufbruchsstimmung kam auf, auch kulturell waren
die Menschen offen für Neues. 1945 gründete der
Schauspieler und Theaterpädagoge Hans-Günther von
Klöden die „Hannoversche Schauspielschule“. Sie war
zunächst an die „Kammerspiele Hannover“ angeschlossen, 1950 wurde der Studiengang in die „Akademie
für Musik und Theater Hannover“ eingegliedert, die
wiederum wurde 1973 zur künstlerisch-wissenschaftlichen Hochschule erweitert, 2010 schließlich wurde
ihr Name ergänzt zur „Hochschule für Musik, Theater
und Medien Hannover (HMTMH).
Der Studiengang Schauspiel ist heute auf dem ehemaligen Expo-Gelände an der Expo-Plaza zu Hause –
auf
dem
neuen
Kultur-Campus
vor
den
Toren
der
Stadt. Eine „Rauszeit“ für die Kunst, hier draußen
herrscht konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Die einzelnen Elemente der Ausbildung werden eng vernetzt,
Körpersprache, Stimme, Szene, Spiel und Theorie zur
Entwicklung der schauspielerischen Persönlichkeit,
Rollenarbeit und Rollenidentifikation: Es geht um
die Entwicklung eigener ästhetischer Linien auf
einem möglichst breiten Fundament. Georgi spricht
von einem „Hochleistungstraining“, in vier Studienjahren werden die angehenden Schauspieler fit gemacht für unterschiedliche künstlerische Bereiche.
Im Zentrum aber steht das Spiel vor Publikum –
und das verlangt vor allem Bühnenerfahrung, wenn
möglich nicht im Schonraum der Hochschule, son-
dern unter den Bedingungen des regulären Theaterbetriebs. Deshalb arbeitet die HMTMH mit festen
Kooperationspartnern
im
Norden
zusammen:
Neben
dem Schauspiel Hannover gehören dazu das Deutsche
Theater Göttingen, das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, das Staatstheater Oldenburg und das Theater
Bremen, die Verantwortlichen denken über weitere
Vernetzungen nach. Auch in der Zusammenarbeit mit
den Theatern gab es einen Richtungswechsel. Wurden
früher ganze Schauspieljahrgänge in den laufenden
Theaterbetrieb eingebunden, sind es heute einzelne
Studierende, die sich im jeweiligen Ensemble behaupten müssen.
Das schult für die Arbeitswelt. Theaterschaffende
schließen sich zunehmend zu Künstler-Kollektiven
zusammen, vernetzen sich multimedial, trennen sich,
finden in neuen Konstellationen wieder zusammen.
In der Ausbildung wird daher auch die Trennlinie zwischen Bühne und Film längst nicht mehr so
scharf gezogen wie noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. Verändert hat sich auch das altgediente
Meister-Schüler-Verhältnis der frühen Jahre. Heute
geht es vor allem um Flexibilität – als Antwort
auf die Anforderungen an Künstler im digitalen
Zeitalter.
„Kreativ,
präzise,
voller
Energie“,
beschreibt
Titus Georgi die Studierenden. Sie stehen regelmäßig auf der Studiobühne an der Expo Plaza, jüngst
etwa mit der eigenen Theaterfassung von F. M.
Dostojewskis großem Roman „Verbrechen und Strafe“,
bekannt auch als „Schuld und Sühne“, ein verwegener Stoff mit extremen Charakteren. Ein Kraftakt
Während des Studiums müssen die angehenden Schauspieler fünf eigene Projekte erarbeiten. Es gibt
viele mutige, wilde, verrückte und intensive In-
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für alle Beteiligten.
szenierungen, viele Produktionen der Studierenden
finden beim Publikum großes Interesse. So gibt
es immer wieder Überlegungen, von der Expo Plaza
aus ein Schaufenster zur Stadt zu öffnen und die
Aufführungen auch andernorts zu zeigen. Die Freie
Szene signalisiert großes Interesse an einer Zusammenarbeit.
Bühnenerfahrung und Präsenz in der Stadt – darum
geht es auch im Studiengang „Darstellendes Spiel“
an der hannoverschen Leibniz-Universität. Diese
Ausbildung an der Schnittstelle zwischen Theorie
und Theater-Praxis ist relativ jung, sie wird innerhalb
eines
Hochschulverbundes
in
der
Region
Hannover, Braunschweig und Hildesheim angeboten.
Ein Pionierprojekt des Landes als Studiengang für
angehende Gymnasiallehrer, 1997 wurde das Schulfach
Darstellendes
Spiel
in
Niedersachsen
als
drittes künstlerisches Fach der gymnasialen Oberstufe eingeführt – neben Musik und Kunst.
In Hannover sind derzeit etwa 80 Studierende immatrikuliert. Sie kommen nicht nur als Lehrer zum
Einsatz, sondern auch als Kultur-, Theater- oder
Medienpädagogen.
Der
Studiengang
Darstellendes
Spiel beschränkt sich daher auch nicht auf Lehrveranstaltungen im Hörsaal, man kooperiert eng mit
den Schulen, mit den Theatern der Freien Szene und
anderen Kulturreinrichtungen der Stadt. Die Studierenden treten regelmäßig mit eigenen Projekten
öffentlich auf, etwa im Kulturzentrum Faust. „Der
Studiengang ist ein lebendiger Teil der städtischen
Theaterszene“,
betont
vom
Seminar
Deutschen
Fachleiter
der
Ole
Hruschka
Leibniz-Universität
Hannover. Kunst und Vermittlung bilden hier eine
Einheit. Seit vielen Jahren arbeitet der Studiengang Darstellendes Spiel intensiv mit dem Staatstheater Hannover zusammen, Künstler, Regisseure
und Theaterpädagogen nehmen regelmäßig Lehrauf-
TECHNIKER BEIM UMBAU,
SCHAUSPIELHAUS HANNOVER
träge an der Leibniz Universität wahr und prägen
so auch den neuen Studiengang erheblich.
HINTER DEN KULISSEN
Wie viel Zauber sich hinter den Kulissen verbirgt,
hat
der
französische
Regisseur
Philippe
Quesne
in Szene gesetzt. In seinem Stück „Pièce pour la
Technique du Schauspiel de Hanovre“ drehte er die
Situation einfach um: Nicht die Schauspieler standen im Mittelpunkt, sondern diejenigen, die im Hintergrund dafür sorgen, dass das Spiel reibungslos
über die Bühne geht – die Bühnentechniker. Ein
„Bühnentechnikwunderland“, jubelte die Kritik, als
das ungewöhnliche Spektakel 2011 in Kooperation mit
dem Festival Theaterformen aufgeführt wurde – als
Hommage an die Akteure, die sonst unsichtbar bleiben. Mit seinen rund 900 festen Mitarbeitern ist
das Niedersächsische Staatstheater Hannover mit den
Abteilungen Oper, Schauspiel, Ballett und Konzert
ein wichtiger Arbeitgeber und ein großer Ausbildende auf ihren Beruf vor. Das Spektrum reicht von
der Veranstaltungstechnik bis zur Maskenbildnerei,
vom Schneidern zur Raumausstattung, vom Orthopä-
14 / 15
dungsbetrieb, derzeit bereiten sich 28 Auszubil-
dieschuhmacher zur Elektronikerin, vom Hutmacher
zur Metallbauerei. Die Bühnenwerkstätten sind in
der Maschstraße hinter dem Aegidientorplatz untergebracht,
das
Besondere
daran:
Hier
greifen
Handwerk und Kunstverständnis auf besondere Weise
ineinander.
Zu den ältesten Berufen gehört der des Requisiteurs, er sorgt dafür, dass alles zur rechten Zeit
am rechten Ort auf der Bühne steht und räumt die
Requisiten nach der Vorstellung wieder zusammen.
Voraussetzung: eine abgeschlossene Ausbildung etwa
als Dekorateur oder auch Florist, der Rest ist
„learning
by
doing“,
in
den
Theaterwerkstätten
können sich die angehenden Requisiteure auf die
staatliche Prüfung vorbereiten. Als Ausbilder arbeitet das Niedersächsische Staatstheater mit der
Handwerkskammer zusammen – und mit der Deutschen
HINTERBÜHNE SCHAUSPIEL HANNOVER
Event-Akademie in Langenhagen.
BÜHNE SCHAUSPIELHAUS
FOTO: KATRIN RIBBE
Das Theater als Ausnahmebetrieb: Nicht alles, was
vor und hinter der Bühne zu tun ist, lässt sich
über klassische Ausbildungsberufe erlernen. Oft
führen Wege zum Ziel, die Seiten- oder Quereinsteigern offen stehen. Auch hier gilt die Zauberformel
„learning by doing“. In den unterschiedlichsten
Bereichen werden Praktikumsplätze und Hospitationen angeboten, auch über ein Freiwilliges Soziales
Jahr Kultur (FSJ Kultur) lässt sich „Theaterluft“
schnuppern.
Das
gilt
für
sämtliche
Einsatz-
bereiche, für Management und Verwaltung ebenso wie
für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit, für Jugendarbeit und Pädagogik. Neben den Staatstheatern
bieten einzelne Freie Theater Praktikanten und Hospitanten an, sich im Kulturbereich zu orientieren.
Mittlerweile
haben
sich
verschiedene
Netzwerke
gebildet: Schulen, Hochschulen und Universitäten,
und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim, arbeiten in diesem Bereich der Ausbildung
nachhaltig zusammen.
16 / 17
unter anderem der Studiengang Kulturwissenschaften
DIE BRÜCKENBAUER
Wie es euch gefällt: Sie lärmen, lachen, diskutieren
und bringen auf ihre Weise frischen Wind in die
„heiligen Hallen“ des Theaters. Junge Leute erobern
die Bühne, aber auch Senioren haben Spaß am Spiel.
Theaterarbeit mit sozialem Schwerpunkt und Theater als Kunstform gehen nicht mehr getrennte Wege,
das Verhältnis von Ästhetik und Pädagogik hat sich
verändert. Experten sprechen längst vom „Cultural
turn“.
Bertolt Brecht nennt es noch „Zuschaukunst“. Heute
ist ein zeitgemäßer Theaterbetrieb ohne Theaterpädagogen kaum noch vorstellbar: Das Berufsfeld der
professionellen Vermittler ist ebenso komplex wie
unscharf. Welche Rolle sollen sie spielen? Theaterpädagogen sind die neuen Grenzgänger zwischen
kultureller Bildung und Sozialarbeit, zwischen Kulturvermittlung und Kunstproduktion. Mit u.a. Einführungen, Matineen und speziellen Begleitprogrammen
wenden sie sich gemeinsam mit engagierten Dramaturgen dem Publikum zu. Dabei führen zwei Wege zu dem,
was Politiker gern programmatisch als „kulturelle
Teilhabe“ bezeichnen: Sehen lernen und mitmachen –
aus Sicht der Theaterpädagogen lässt sich beides
nicht voneinander trennen. Entsprechend breit ist
das theaterpädagogische Angebot, neben Kindergärten
und Schulen richtet es sich an die unterschiedlichsten Bildungseinrichtungen, Betriebe und Begegnungsstätten, Jugendzentren, Seniorenheime, Vereine und
Kirchengemeinden. Theaterpädagogen müssen mobil und
flexibel sein, sie gehören zu den Dienstleistern der
Wissensgesellschaft, und erweitern gleichzeitig mit
ihrer Arbeit das künstlerische Repertoire um neue
Spielarten der Kunst. Sie sind Brückenbauer.
Das theaterpädagogische Angebot entwickelt sich zu
einer Wachstumsbranche, von der auch die Theater
der Freien Szene profitieren. Einige professionelle
freie Gruppen haben sich mit diesem Bereich sogar
ein zweites Standbein geschaffen. Sie bieten Seminare,
Workshops, Kurse, Raumkonzepte in unterschiedlichen
Ausrichtungen an. Dabei setzen sie auf die Vernetzung vor Ort mit passgenauen Aktionen und Projekten.
Im Norden Hannovers, in Vahrenwald beispielsweise,
haben die Ensembles von Theatrio im Figurentheaterhaus am Großen Kolonnenweg generationsübergreifende
Projekte für Kinder und Senioren entwickelt – vom
Rollenspiel bis zum Bau von Figuren oder Handpuppen.
Das Programm ist bewusst breit gefächert. Theatrio
legt großen Wert auf den sozialen Aspekt: „Uns interessiert in der Theaterpädagogik wesentlich, was
zwischen den Menschen passiert“, betont der Figurentheatermacher und Musiker Achim Fuchs-Bortfeld.
Theater als Nachbarschaftshilfe: In der Region Hannover etwa initiieren das Theater fensterzurstadt
und die Kulturmanagerin Iyabo Kaczmarek gemeinsam
theaterpädagogische Aktionen auf dem Kulturgut Poggenhagen bei Neustadt. Dort veranstalten sie Lesungen, Werkstattberichte oder Schreibwerkstätten
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FREIE THEATERPRODUKTIONEN,
IYABO KACZMAREK
„ALS WENN WIR GEISTER WÄREN“
und beschäftigen sich mit Formen des biografischen
THEATERWERKSTATT HANNOVER
„DER TAG, AN DEM MEIN
BRUDER NICHT NACH HAUSE KAM“
Theaters. Die Theateranbieter arbeiten eng mit
örtlichen Vereinen und Gruppen zusammen – von der
Freiwilligen Feuerwehr bis zum Konfirmandenunterricht.
Einzelne
Theaterkollektive
sind
hier
besonders
aktiv. Die Agentur für Weltverbesserungspläne z.B.
bietet
theaterpädagogische
Rauminszenierungen
in Scheunen oder Fabrikhallen an, die Theatergruppe entwickelt unter anderem auch Projekte für
Migranten: Hier öffnen sich neue Begegnungsräume
innerhalb der Stadtgesellschaft, an denen sich
viele Theaterschaffende beteiligen. Einen ganzen
„Warenkorb“ an Angeboten, die sich jeweils an die
Bedürfnisse der Kunden anpassen lassen, hält die
Fräulein Wunder AG bereit, von der Vortragsgestaltung bis zur Organisation eines „Flashmops“,
von der Performance bis zur Walderkundung.
Im Rahmen der theaterpädagogischen Arbeit haben
sich vielfältige Kontakte ins Ausland entwickelt –
etwa über Städtepartnerschaften. An internationalen Projekten beispielsweise ist seit vielen
Jahren auch die Theaterwerkstatt Hannover beteiligt. Auf Heimspiele in der Nachbarschaft wiederum setzt Commedia Futura in der Südstadt. Hier
laden die Commedia Futuristen seit einigen Jahren
zu einem offenen Theaterkurs für spielbegeistere
Amateure jeden Alters ein. Die Gruppe unter professioneller Leitung nennt sich „Gören & Rabauken“
und präsentiert regelmäßig die Ergebnisse ihrer
Arbeiten in der Eisfabrik.
Zu einer zentralen Anlaufstelle für Theaterpädagogik in Hannover hat sich das Kindertheaterhaus
im Alten Magazin unter der Leitung von Harald
Schandry
Klecks
entwickelt.
Theaters
Der
spricht
Gründer
gern
von
und
Chef
einer
des
„Empa-
thiefabrik“: Wer lerne, sich in andere hineinzuversetzen, sei auch eher bereit, die Welt der anderen kennenzulernen, so das theaterpädagogische
Credo des Theatermachers.
Dabei
versteht
sich
das
Kindertheaterhaus
vor
allem als Anstifter: Als Berater und Bereitstel-
20 / 21
KLECKS-THEATER HANNOVER
„MONSTA!“
FOTO: MARK EICHENSEHER
ler für Kostüme und Requisiten, als Anleiter für
alle, die selbst spielen wollen – auch außerhalb des Schulunterrichts. Mit Nachmittagskursen
und verschiedenen Ferienaktionen, mit szenischen
Übungen, mit Arbeiten zu bestimmten Themen, mit
Projekte in den einzelnen Stadtteilzentren oder
verstärkt auch mit Angeboten für Migranten und
muslimische Jugendgruppen.
Eine Hochburg der Theaterpädagogik in Hannover
ist der Ballhof – der neue Jugend-Kultur-Treff in
Hannovers Altstadt. Im Ballhof Eins, im etwas
kleineren Ballhof Zwei und im Ballhof Café macht
das Niedersächsische Staatstheater junges Theater
für junge Leute – und mit ihnen.
2007 ging das Junge Scauspiel an den Start, wenig
später die Junge Oper. Mit Inszenierungen speziell
für junge Zuschauer und einem bunten theaterpädagogischen Angebot wird jugendliche Spielkultur in
all ihren Facetten gezeigt und praktiziert. Ein
Team aus festen und zahlreichen freien Mitarbei-
JUGENDTHEATERGRUPPE BALLHOF
FOTO: SCHAUSPIEL HANNOVER
tern am Theater und an der Oper „erfindet“ ständig
neue theaterpädagogische Formate und Aktionen, um
junge Zuschauer mit Theater zu infizieren.
Zuschaukunst. Erwachsene bilden eine eigene Zielgruppe für Theaterpädagogen: Nicht alle Inszenierungen erschließen sich sofort, neue Ästhetiken
sind oftmals auch herausfordernd, und auch hier
wollen die Vermittler mit unterschiedlichen Projekten erklären und Zusammenhänge aufzeigen. Das
Schauspiel Hannover etwa bietet inzwischen eine
Zuschauerakademie an. Zuschauer und Experten treffen sich, sie diskutieren über persönliche Theatererlebnisse wie über allgemeine Entwicklungen
von zeitgenössischer Bühnensprache, und dann wird
gemeinsam gekocht – Theater für alle und für alle
Sinne.
THEATER MACHT SCHULE
Theater – ein Ort des Möglichen. Begegnung, Staunen, Spiel und Ernst. Auszeit und Rollenwechsel.
Zum Kernbereich moderner Theaterpädagogik gehört
die Zusammenarbeit mit Schulen. Freie wie Staatstheater sind hier stark eingebunden. Die einzelnen
Theater bieten Vorstellungen für Schulklassen an,
dazu Programme zur Vor- und Nachbereitung mit den
Schülern.
Sie
kommen
mit
fertigen
„Klassenzim-
merstücken“ in den Unterricht, Theaterpädagogen
erarbeiten mit den Schülern im Klassenzimmer aber
auch Stücke zu unterschiedlichen Themen.
Und auch Lehrer können im Theater lernen. Regelmäßig
werden
spezielle
Lehrer-Vorstellungen
angeboten, Theaterpädagogen versorgen die Schulen
sonauftakt und Lehrersprechstunden, Workshops und
Fortbildungen. Das wachsende Angebot der Theater
22 / 23
mit Unterrichts-Material zu den aktuellen Inszenierungen, außerdem gibt es Lehrertreffen zum Sai-
ist aber auch einer anderen Entwicklung geschuldet. Nur noch wenige Lehrer können sich heute
eigenständig mit ihren Klassen auf einen Theateroder Opernbesuch vorbereiten. Hier unterstützen
die Kultureinrichtungen selbst, sie koordinieren
die Zusammenarbeit mit den Künstlern der großen
Häuser und halten Kontakt zu den Schulen.
Theaterpädagogen
bieten
spezielle
Einführungen
für Schulgruppen, Vor- und Nachgespräche, Probenbesuche, Künstlergespräche an. So genannte „Premierenklassen“
begleiten
eine
Inszenierung
von
ihrer Entstehung bis zur Premiere. Schulklassen
können ihre Theaterbesuche auch mit verschiedenen
Workshops kombinieren. In einem speziellen „Theaterlabor“ bereiten sich die Klassen im Theater
gemeinsam auf einen Vorstellungsbesuch vor. Dabei
lernen die Schüler, mit Texten und Spielformen zu
experimentieren.
Im Sommer 2013 wurde das Projekt „Partnerschule“
ins Leben gerufen, eine Kooperation des Niedersächsischen Staatstheater mit den weiterführenden
Schulen der Stadt: Während der gesamten Schulzeit
gehen die Schüler regelmäßig einmal pro Spielzeit
ins Theater oder in die Oper – zu Aufführungen, die
jeweils für ihr Alter geeignet sind; auch dies mit
vielen theaterpädagogischen Zusatzleistungen für
den Unterricht – ein Angebot, das auf Nachhaltigkeit setzt.
Ein weiterer Indikator für die Professionalisierung von Theater und Schule ist das traditionelle Schüler-Theaterfestival „Jugend spielt für
Jugend“. Seit Jahrzehnten wird in Hannover im
Sommer – zum Ende des Schuljahres – eine Art Theaterwettstreit unter den Theater-AGs der Schulen
ausgetragen. Das Konzept hat sich inzwischen verändert: Aus der Besten-Schau der Schüler entwi-
MITMACHTHEATER
FOTO: SCHAUSPIEL HANNOVER
ckelt sich Schritt für Schritt ein Theatertreffen,
das von Mitarbeitern des Staatstheaters professionell „gecoacht“ und begleitet wird. Daraus haben
sich auch internationale Verknüpfungen ergeben.
So sorgte im Sommer 2013 das Jugendtheaterprojekt
„fairCulture“ für intensive Begegnungen mit jungen
Theatermachern aus aller Welt. Bärbel Jogschies,
Chefin der Theaterpädagogik am Schauspiel Hannover,
freut sich über den eingeschlagenen Kurs: „Wir
machen aus der Leitungsschau ein Arbeitstreffen,
und – das ist der Paradigmenwechsel – verständigen uns mit den vielfältigen Mitteln der Kunst
über die Welt.“
Theater und Schule – das gehört zum Kernanliegen
des Klecks Theaters mit Sitz im Alten Magazin.
Harald Schandry und sein Team legen pro Jahr hunderte von Kilometern zurück, um vor Ort Theaterar-
schulen aktiv, inzwischen auch in berufsbildenden
Schulen und verstärkt in Inklusionsklassen. Das
24 / 25
beit zu leisten, auch mit flexiblen Formaten. Seit
Jahrzehnten ist das Klecks in Grund- und Haupt-
FENSTERZURSTADT
WWW.HANNOVER.DE
Foto: Klaus Fleige
„GRAUS UND GRIMM“
THEATER SYSTEMA
WWW.HANNOVER.DE
Foto: Lukas Papierak
„CAMERE TEATRALI“
bedeutet vor allem Basisarbeit und verlangt größte
Bodenhaftung. Die Rolle von „Hilfssozialarbeitern“
wollen die Kleck-Theatermacher jedoch nicht übernehmen. Ihr Kompass bleibt die Kunst: In einem Modellprojekt hat eine Berufsschulklasse in Hannover
ein eigenes Rap-Theaterstück zur Aufführung gebracht.
Der Schul-Unterricht im Fach „Darstellendes Spiel“
wiederum gestaltet sich an den Gymnasien immer noch
qualitativ sehr unterschiedlich und ist zu häufig
einem konventionellen Theaterbegriff verhaftet, beobachtet Holger Warnecke, Fachleiter für Darstellendes Spiel am Studienseminar I in Hannover, Theaterlehrer an der hannoverschen Goetheschule und
Dozent am Studiengang Darstellendes Spiel an der
Leibniz-Universität. Es gälte von dem traditionellen Schultheater weg zu einem modernen Theater an
der Schule zu kommen. An der Goetheschule sei bspw.
auch die spielpraktische Vermittlung postdramatischer Theaterformen von Bedeutung. Der Gymnasiallehrer ist zudem Mitglied des Theaterbeirats der
Stadt Hannover und intensiv in der Theaterszene vernetzt, aus seinen verschiedenen Funktionen heraus
kann er Theorie und Praxis der ästhetischen Bildung
besonders gut in seiner theaterpraktischen Arbeit
verbinden.
Die Inszenierungen, die er mit den Schülern der
Goetheschule in der Theater-AG auf die Bühne bringt,
werden immer wieder zu Jugendtheaterfestivals und
auch zu internationalen Gastspielen eingeladen. Mit
Blick auf die grundsätzliche Situation des Faches
Darstellendes Spiel an den Schulen sieht Warnecke
jedoch
Nachholbedarf:
Es
sei
dringend
notwendig,
Theater und moderne kulturelle Bildung noch fester
und mit ausreichend Stunden ausgestattet in den
Lehrplänen zu verankern, denn ohne fundierte ästhetische Bildung bleibe die persönliche Reifung jedes
Lernenden unvollständig.
EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT:
Kräfte bündeln, Synergieeffekte nutzen – das ist
eine
Herausforderung
und
zugleich
eine
Chance
für die Theaterstadt Hannover. Ein Kristallisationspunkt mit Bündelungspotential ist das Theaterpädagogische Zentrum (TPZ), das an der IGS
Mühlenberg verortet ist. Seit 1987 bietet das
TPZ schulische und außerschulische Projekte für
Kinder, Jugendliche und Erwachsene an. Theater
für alle und mit allen: Was zunächst als Modellversuch an den Start ging, wurde 1995 zur festen
Einrichtung der Stadt Hannover. Hier werden Interessierte beraten, Projekte unterstützt, Veranstaltungen organisiert. Das TPZ ist ein Bestandteil der kulturellen Kinder- und Jugendbildung
der Stadtteilkulturarbeit. Darüber hinaus ist es
Mitglied im Bundesverband Theaterpädagogik und in
Zusammenarbeit mit der Leibniz-Universität Hannover mit der Weiterbildung von Pädagogen und
Pädagoginnen befasst.
Die ambitionierte Theater- (pädagogik-) Keimzelle
hat sich in eine Baustelle verwandelt. Derzeit
wird die IGS Mühlenberg saniert, doch neben baulichen Belangen stehen vor allem grundsätzliche
organisatorische Fragen an. Das TPZ ist im Vergleich
nur
mit
mit
anderen
geringen
TPZs
in
der
finanziellen
Bundesrepublik
und
personellen
Ressourcen ausgestattet. Organisiert werden hier
allerdings zwei zentrale theaterpädagogische Festivals: Das Festival für Schul-, Jugend- und Amateurtheatergruppen im Kindertheaterhaus und das
Klatschmohn-Festival, ein inklusives Theater-Projekt mit behinderten und nichtbehinderten Akteueine
und
breite
knüpfen
Teilhabe
damit
an
unterschiedlicher
die
offenen Kulturwerkstatt an.
Gründungsidee
Gruppen
dieser
26 / 27
ren und Akteurinnen. Beide Festivals ermöglichen
Ausblick: Inzwischen hat sich, maßgeblich durch
die Kooperation mit dem TPZ, eine Vielfalt an
theaterpädagogischen Angeboten in der Stadtteilkultur und in den Schulen entwickelt. Aus diesen
veränderten Bedingungen ergeben sich neue Herausforderungen und Aufgaben. Aus dem politisch bewegten Pionierprojekt der späten 1980er Jahre könnte
sich aber ein Modell für die Zukunft entwickeln:
Ein neu ausgerichtetes „Kompetenz Zentrum Theaterpädagogik Hannover“ als Ort der Vernetzung und
Beratung, als Fortbildungs- und Übungszentrum, als
Veranstalter und Lobbyist für gute und nachhaltige
TPZ FESTIVAL
„NACHTS IM BAUMARKT“
FOTO: JONAS GONELL
Theater(vermittlungs-)Arbeit.
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INTERVIEW
#05 / THEATER
„EIN TÜRÖFFNER
FÜR VIELE BÜHNEN“
Der Theatermacher und Arzt Tugsal Mogul, Absolvent
des Studiengangs Schauspiel an der Hochschule für
Musik, Theater und Medien in Hannover, im Gespräch
über seine Eindrücke von den Lehrjahren an der
Leine.
HERR MOGUL, PARALLEL ZU IHREM MEDIZINSTUDIUM HABEN
SIE VON 1993 BIS 1997 IN HANNOVER AUCH SCHAUSPIEL
STUDIERT. WIE HABEN SIE SICH AUF DIE AUFNAHMEPRÜFUNG FÜR DEN STUDIENGANG SCHAUSPIEL VORBEREITET?
Nach meinem Physikum in Lübeck habe ich noch zwei
Semester Medizin in Wien studiert. Dort war ich
regelmäßig im Theater, im Burgtheater und im Akademietheater, das war die große Zeit von Claus
Peymann
mit
ganz
vielen
tollen
Regisseuren
von
Peter Zadek bis George Tabori. Von Tabori habe ich
mir fast alle Stücke sogar mehrmals angeschaut,
und große Schauspieler wie Gert Voss oder Ignaz
Kirchner bewundert, das waren meine großen Idole.
Ich habe auch selbst viel Theater gespielt, in Lübeck
an der Uni und auch vorher schon in der Schule. Und
so hatte ich mir auch schon ein paar Rollen zurecht
gelegt, für den Fall, dass ich mich doch einmal an
einer Schauspielschule bewerben sollte.
Mit diesen Rollen habe ich mich dann in Hannover
vorgestellt, da war ich 23 Jahre alt. Für die Aufnahmeprüfung bin ich von Lübeck nach Hannover getrampt, dort waren rund 800 Bewerber am Start. Nach
der ersten Runde habe ich vor Freude erst einmal
eine Flasche Prosecco geköpft, vier Tage später
ging es in die 2. Runde, und nach der dritten Runde
kam die Zusage: Ich gehörte zu den 13 Kandidaten des
Studienjahres, die es geschafft hatten. Bei der Ausbeteiligt, das war ein kompliziertes Verfahren mit
einem Punktesystem, auch die Gruppe musste zusammen
passen.
30 / 31
wahl waren neben den Dozenten auch die Studierenden
Wie war denn Ihr Jahrgang zusammengesetzt? Erinnern
Sie sich noch an einige Kollegen?
Wir waren damals fast alle schon Anfang, Mitte
Zwanzig, also deutlich älter als andere Klassen zum
Studienbeginn, und wir waren in unserem Jahrgang
auch eine multikulturelle Truppe mit Migrationshintergrund aus Chile, aus Italien oder wie ich,
aus der Türkei, obwohl ich in Deutschland geboren
und groß geworden bin. Dazu kamen so kurz nach der
Wende auch noch die Kollegen aus Ostdeutschland.
Ich glaube, das war damals schon so eine Art Experiment. Ich erinnere mich beispielsweise noch genau
an Doreen Nixdorf, sie hat unter der Regie von
Andreas Kriegenburg am hannoverschen Staatsschauspiel die Margaret in „I Hired a Contract Killer“
nach dem Film von Aki Kaurismäki gespielt, mit Alexander Simon zusammen, das war für Doreen die Paraderolle. Ich war sogar mit beim Vorsprechen, weil
ich mit ihr eine Partnerszene erarbeitet hatte.
WIE SAH DER ARBEITSALLTAG FÜR ANGEHENDE SCHAUSPIELER AUS, WO LAGEN IHRE SCHWERPUNKTE?
Unsere Lehrer und Dozenten kamen meist aus der
1968-Bewegung.
Sie
haben
uns
viel
Freiraum
für
eigene Projekte gelassen, wir konnten auch selbst
Stücke auf die Beine stellen, und auch der Kontakt
zu Freien Szene wurde gepflegt, etwa zum Theater an
der Glocksee. Dort haben wir als angehende Schauspieler viele Stücke mit gestaltet, unter anderem „Die Macht der Liebe“ mit Szenen von Shakespeare, ich war der Orsino. Und im Klecks-Theater
bei Harald Schandry war ich mindestens 40 Mal der
Tiger in Janoschs Kinderstück „Oh, wie schön ist
Panama“. Andere Kollegen waren am Staatstheater,
damals unter Ulrich Khuon, der 1993 von Konstanz
nach Hannover kam. Wir hatten an der Hochschule
nicht mehr dieses enge Meister-Schüler-Verhältnis.
TUĞSAL MOĞUL IM KLECKS-THEATER
Eher brenzlig war es allerdings, wenn es um Drehtage
bei Film und Fernsehen ging. Damals wurde immer in
großer Runde besprochen, ob das im Einzelfall überhaupt erlaubt werden soll. Man befürchtete wohl,
dass sich die Studierenden dort zu sehr beeinflussen
lassen könnten – zu Lasten der künstlerischen Vielfalt und Qualität. Da hat sich inzwischen bestimmt
einiges geändert.
WAS HAT SIE UND IHRE ARBEIT IN DIESEN JAHREN KÜNSTLERISCH BESONDERS GEPRÄGT?
Natürlich hatte jeder Studierende seine Lieblingsdozenten, denen man vertraut und denen man sich
geöffnet hat. Mich hat mein Lehrer Walter D. Asmus
besonders geprägt. Er war sehr skeptisch und auch
sehr direkt und hat mich gefragt, warum ich, als
spielers überhaupt erlernen wollte, das war sehr
wichtig für mich. Er war eben ein toller Künstler
und ein guter Pädagoge und als Regieassistent von
32 / 33
angehender Arzt, diese brotlose Kunst des Schau-
Samuel Beckett kannte er dessen Arbeit aus erster
Hand, er sprach immer von „Sam“. Ja, an Walter D.
Asmus denke ich noch heute oft und gern.
WIE HABEN SIE ALS STUDENT DENN HANNOVER ALS THEATERSTADT WAHRGENOMMEN?
Für mich war die Theaterszene in Hannover unglaublich reich, es war die Eröffnung von neuen Möglichkeiten, nicht nur als Zuschauer, sondern weil
ich auch selbst aktiv daran teilnehmen konnte. Die
Schauspielschule war natürlich ein Türöffner für die
anderen Bühnen in der Stadt. Ich habe diese offene
Theaterlandschaft damals wirklich sehr genossen.
15 JAHRE NACH IHREM SCHAUSPIELDIPLOM SIND SIE ALS
ARZT UND THEATERMACHER MIT EINEM BESONDEREN PROJEKT
WIEDER NACH HANNOVER GEKOMMEN – INS THEATER AN DER
GLOCKSEE.
Ja, mit dem Stück „Lassen Sie mich durch, ich bin
Arzt“. Da geht es um Mediziner, allerdings um Hochstapler,
die
Jahre
lang
in
Kliniken
gearbeitet
haben. Es sind authentische Fälle, wir haben aus
diesem Stoff drei Figuren geformt und das Stück im
Mai 2012 in Hannover uraufgeführt. Der Kontakt war
über Helga Lauenstein entstanden. Sie gehört zu den
Absolventen des Studiengangs Schauspiel, die das
Theater an der Glocksee 1989 gegründet haben. Ich
habe mich sehr gefreut, dass ich mit meinem Projekt
wieder einmal zurück nach Hannover kommen konnte.
Und dem Theater an der Glocksee tat es auch gut,
weil es dort – nach dem Wechsel in der Leitung durch
den Rückzug von Claire Lütcke – zu einem Umbruch
gekommen war. Wir haben das Stück gemeinsam erarbeitet, als „work in progress“ im Team mit Helga
Lauenstein und den beiden jungen Schauspielern Lena
Kußmann und Jonas Vietzke. Es war also auch ein Neustart für das Leitungstrio. Der Erfolg war riesig
und natürlich für beide Seiten sehr schön. Wenn das
Stück auf dem Spielplan steht, sind alle Vorstellungen sofort ausverkauft. Wir haben das Projekt
mit medizinethischen Themen fortgesetzt, 2013 mit
der Uraufführung von „Die Ware Mensch“. Dabei stehen
Fragen nach dem Wert des menschlichen Körpers aus
unterschiedlichen Perspektiven im Mittelpunkt – aus
Sicht der Versicherungen, im Kontext der Reproduktions- und der Transplantationsmedizin. Für diese
Themen muss man brennen, mal schauen, vielleicht
kommen noch weitere Stücke dazu.
MEDIZIN UND THEATER – DAS IST JA EHER UNGEWÖHNLICH.
WANN HABEN SIE DIESE IDEE ENTWICKELT?
Das war ein weiter Weg. Ich habe lange danach gesucht, was ich eigentlich machen will. Nach dem
Schauspieldiplom
habe
ich
lange
Zeit
als
Arzt
gearbeitet und meinen Facharzt in Anästhesie und
Notfallmedizin gemacht. Und ich stand an vielen
Theatern auf der Bühne, in Oberhausen, in Bonn
oder in Hamburg an den Kammerspielen, dafür habe
ich dann Urlaub genommen. Da habe ich gemerkt,
dass ich gern beide Berufe verbinden würde. Der
Schlüsselmoment war 2008. Damals habe ich meine
Stelle als Arzt im Krankenhaus reduziert und in
Münster die freie Gruppe „Theater Operation“ mit
professionellen Schauspielern und Regisseuren gegründet, um Projekte mit medizinischen Themen auf
die Bühne zu bringen. In dieser Zeit entstand das
Stück „Halbstarke Halbgötter“, das in Münster im
Pumpenhaus uraufgeführt wurde.
SIE
ERARBEITEN
IHRE
STÜCKE
FÜR
DAS
OFF-THEA-
TER SELBST. WELCHE CHANCEN HABEN DIESE THEMEN IM
Nach meinen Erfahrungen gibt es bislang nur in
der Off-Szene überhaupt die Möglichkeit, etwa diese
34 / 35
THEATERBETRIEB?
medizinethischen Themen auf die Bühne zu bringen.
Dabei habe ich an verschiedene Türen geklopft. In
der Off-Szene hat man mir vertraut. Ich inszeniere
ja auch an Stadt- und Staatstheatern, aber da geht
es meist um meinen Migrationshintergrund und meine
Erfahrungen mit einem anderen Kulturhorizont, an
den großen Häusern ist es immer der gleiche Modus.
Aber ich möchte zeigen, dass ich auch andere Rollen
und Geschichten entwickeln kann. Die Stücke „Lassen
Sie mich durch, ich bin Arzt“ oder „Halbstarke
Halbgötter“ sind bundesweit mehr als 60 mal aufgeführt worden, meist auf Off-Bühnen und nur selten
als Gastspiel an großen Häusern. Insofern bieten
die Freien Theater nach wie vor die Chance, experimentelle Stoffe mit ungewöhnlich Perspektiven
auf die Bühne zu bringen, ja, auch wenn inzwischen
die Grenzen durchlässiger geworden sind und einige
Ensembles und Projekte, wie etwa Rimini Protokoll,
später auch an Staatstheatern Erfolge feiern: In
der Off-Szene kann man sich einfach viel mehr trauen.
TUĞSAL MOĞUL
TUĞSAL MOĞUL
Tuğsal Moğul wurde 1969 in Neubeckum geboren. Der
diplomierte Schauspieler und Anästhesist mit türkischen Wurzeln lebt in Münster. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit arbeitet er an verschiedenen Bühnen
als Autor und Regisseur. Er studierte Medizin an
den Universitäten Lübeck, Wien und Hannover sowie
parallel Schauspiel an der Hochschule für Musik,
Theater und Medien in Hannover. Sein Debütstück
„Halbstarke Halbgötter“ wurde 2011 zum Heidelberger
Stückemarkt eingeladen. 2014 bekam sein Stück „Die
Deutsche Ayşe“ den Publikumspreis und den Preis
der Jugendjury beim NRW-Theatertreffen in Dortmund.
Theater an
der Glocksee das Stück „Lassen Sie mich durch, ich
bin Arzt“, 2013 wurde dort unter seiner Regie das
Projekt „Die Ware Mensch“ uraufgeführt.
36 / 37
In Hannover erarbeitete Mogul 2012 am
STADTGESELLSCHAFT
#05 / THEATER
DAS THEATER
IN DER MODERNEN
STADTGESELLSCHAFT
Hannover liebt das Theater. Das Schauspiel und die
Staatsoper Hannover besitzen bundesweite Strahlkraft, die freie Theaterszene ist in ihrer Vielfalt
überregional herausragend: Rund 20 professionelle
Off-Theater präsentieren sich dem Publikum unter der
Dachmarke „Freies Theater HannoSemiprofessionelle
Bühnen,
Laienspielgruppen, kleine Bühnen,
Kleinkunst und Kabarett ergänzen
die bunte Palette der Darstellende
Künste.
„Die
Schaubühne
jede
andere
stalt
der
des
Staats
praktischen
Wegweiser
liche
ist
eine
ein
das
als
An-
Schule
Weisheit,
durch
Leben,
mehr
öffentliche
ein
bürger-
unfehlbarer
Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele.
–
FRIEDRICH
SCHILLER:
„DIE
SCHAUBÜHNE ALS MORALISCHE ANSTALT BETRACHTET.“
38 / 39
ver“.
„SCHAUT, DA SIND WIR!“
Da steht sie. Eine Kunstfigur, ganz Königin, machtbewusst, scheinbar unnahbar und doch eitel bis zur
Einfältigkeit. Beatrice Frey als Elisabeth von
England in Friedrich Schillers Königinnen-Drama
„Maria
Stuart“
Leicester
lässt
sich
umschmeicheln.
von
ihrem
Charmant
Liebhaber
umgarnt
der
machtgierige Intrigant diese alternde Frau in ihrem
zu kurzen Kleidchen mit dem gewaltigen Kragen, der
ihren faltigen Hals majestätisch stützt.
Vielleicht ahnt sie sogar, dass dieser Mann sie
nur benutzt. Er will sie zu einer Begegnung mit
ihrer schönen Widersacherin Maria von Schottland
überreden, um Maria vor dem Tod zu bewahren. In
diesem Augenblick scheint alles möglich zu sein.
Atemberaubend, wie es Beatrice Frey gelingt, alles
in Schwebe zu halten. Sie kokettiert, schaut, flüstert fast, setzt sprechende Pausen: Das Theater
lebt vom Zauber solcher Momente. In der Inszenierung von Dusan David Parizek am Schauspiel Hannover ist jüngst ein solches Theaterwunder geglückt.
Hannover
erlebt
Auch
immer
und
viele
noch
dieser
mit
Theaterwunder.
Friedrich
Schiller.
Kurz nachdem Schauspiel-Intendant Lars-Ole Walburg und sein Team 2009 an den Start gegangen
waren, sorgte
der
Stadtgesellschaft
große
für
Theaterdichter
einen
Aufreger.
in
der
Leiden-
schaftlich, maßlos und mit heißem Herzen wollten Walburg und sein Ensemble die Stadt erobern,
mit
dem
Projekt
„Republik
Freies
Wendland
–
reaktiviert“ verwandelten sie den Ballhof-Platz
in ein Anti-Atom-Dorf, auf einem verlassenen Kasernengelände
kalyptische
inszenierten
sie
Untergangsszenarien
ökologisch-apomit
dem
Lang-
zeit-Pflanzentheaterprojekt „Die Welt ohne uns“.
Das alles sorgte erst einmal für Irritationen.
SCHAUSPIELHAUS HANNOVER
„MARIA STUART“
FOTO: KARL-BERND KARWASZ
„Ja, man fängt an und sagt: Schaut, das sind wir!“
erinnert sich Chefdramaturgin Judith Gerstenberg.
Hannover rieb sich die Augen. Klimaschutzdebatten,
politische Diskurse, dazu die Auseinandersetzung
mit religiösen Themen etwa in dem dokumentarischen
Theaterstück „Mosche:DE“ als Beitrag zur Integrationsdebatte, die Inszenierung wurde 2010 mit dem
Kulturpreis der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers ausgezeichnet. Dennoch fühlten sich
viele Zuschauer belehrt. Ein Missverständnis, davon
war der neue Chef Lars-Ole Walburg überzeugt. Und
deshalb wollten der Intendant und sein Ensemble mit
diesem Missverständnis spielerisch umgehen – in der
Tradition des großen Dichters Friedrich Schiller.
Also griffen sie auf dessen berühmte Abhandlung über
„Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“
aus dem Jahr 1784 zurück – jenes glühende Plädoyer
für die Wirkmacht des Theaters wenige Jahre vor
„Bildung des Geistes, Bildung des Herzens, das,
finde ich, ist für das Theater eine ganz wichtige
Maxime“, kommentierte Walburg Schillers Manifest
40 / 41
Ausbruch der Französischen Revolution.
in einem Rundfunkinterview. Schließlich warb das
Schauspiel Hannover sogar mit dem Slogan „Das Theater – Deine moralische Anstalt“. Auch das nahmen
manche Hannoveraner zunächst ein wenig krumm. Dabei
betonte der Intendant: „Wir wollen niemanden belehren, aber wir wollen die Menschen anregen, über
verschiedene Dinge nachzudenken. Also dachten wir,
dann schreiben wir doch gleich drunter: Deine moralische Anstalt. Und das „Deine“ groß geschrieben,
ist eben schon das Augenzwinkern.“
Moral mit Augenzwinkern – das hannoversche Stadttheater-Publikum ist treu. „Es gibt hier fast eine
familiäre Stimmung“, freut sich Dramaturgin Judith
Gerstenberg. „Wir haben Themen gesucht, die uns
dieser Standort schenkt, die hier in Hannover einen
besonderen Resonanzboden finden“. Zum Amtsantritt
bescherten sie der Stadt einen überreichen Premierenreigen und setzten damit zugleich eine Art
künstlerisches Ausrufezeichen. Sie dachten dabei –
ganz
Stadt-Theater
–
auch
an
Gottfried
Wilhelm
Leibniz, den großen Universalgelehrten und frühen
Kunstvernetzer am Hof der Welfen und griffen seine
Idee von den „Wunderkammern“ auf, die Vision von
einer
Synthese
aus
Wissenschaft
und
Kunst.
Mit
einem Füllhorn an Stoffen und Projekten wollte die
neue Theatertruppe daran anknüpfen.
Bis heute begibt sich das Ensemble auf Spurensuche
in der Stadt und holt sich dafür immer wieder auch
Künstler und Inspirationen aus der Freien Szene ans
Haus. Stoffe mit regionalem Bezug stehen im Vordergrund, es geht um VW-Arbeiter aus Niedersachsen,
wie in Stefan Kaegis neuem dokumentarischen Stück
„Volksrepublik Volkswagen“: Kaegi ist einer der
Gründer des Künstlerkollektivs Rimini Protokoll,
das kürzlich auch „Remote Hannover“ und „Bodenprobe
Kasachstan“ am Schauspiel Hannover inszeniert hat.
Und wenn der Kabarettist Rainald Grebe hier sein
theatrales Langzeitprojekt zur digitalen Revolution ansiedelt, dann auch mit Blick auf den Messestandort Hannover, die Cebit und auf die Leibniz–
Universität. Schließlich arbeitete ihr berühmter
Namenspatron, der in Hannover begraben liegt, vor
mehr als 300 Jahren an der Darstellung von Zahlen
im Dualsystem, ohne zu ahnen, dass mit dem „binären Code“ das Fundament der digitalen Revolution
gelegt sein würde.
Doch die Staatstheatermacher wissen auch: Das bildungsbürgerliche Publikum interessiert sich traditionell für klassische Theater-Stoffe. Für Shakespeare und Schiller, für Romane, die für die
Bühne bearbeitet werden, wie Leo Tolstois „Anna
Karenina“ oder „Im Westen nichts Neues“ von Erich
Maria Remarque – mit überwältigenden Bildern aktuell in Szene gesetzt von Lars-Ole Walburg. Auf dem
Spielplan stehen Stücke zeitgenössischer Autoren
wie Nis Momme Stockmann, Katja Brunner oder Dirk
Laucke, Filmstoffe oder dokumentarische Produktionen. Für diese Formen des zeitgenössischen Theaters hat Walburg in den Räumen an der Prinzenstraße
einen neuen Spielort eingerichtet: Die Cumberlandsche Bühne.
„Theater sind Orte für Heterotopien, für Gegenentwürfe, wir schaffen Räume für andere Wirklichkeiten“, sagt Judith Gerstenberg. „Das verbindet uns
mit anderen Theatern der Stadt, aber auch mit Kirchen oder Museen. Es gibt keine Berührungsängste
und man bekommt schnell Kontakt zu anderen kulturellen Institutionen.“ Das Theater als Abbild
der Stadtgesellschaft des 21. Jahrhunderts: „Wir
wollen bei uns die ganze Bandbreite zeigen“, so
bewusst hohe Sprache des Theaters mit Goethe und
Schiller, man muss dem Publikum auch etwas zumuten
können. Aber wir nehmen auch die Alltagssprache
42 / 43
die Chefdramaturgin. „Das heißt, wir pflegen die
auf.“ Theater als Ort der Begegnung, Gemeinschaft
auf Zeit, als gemeinsamer Erfahrungsraum. Der hannoversche Soziologe Oskar Negt spricht vom „Rastplatz der Reflexion.“
DAS NEUE SCHAUSPIELHAUS
Mit der Eröffnung des Schauspielhauses in der Prinzenstraße begann in Hannover eine neue Ära: Endlich
hatte das Theater wieder ein eigenes Zuhause –
fast 50 Jahre nach der Zerstörung der alten Schauburg in der Hildesheimer Straße im Zweiten Weltkrieg. Das war ein langer und mühsamer Weg: Seit
Anfang der 1960er Jahre hatte Hannovers Stadtgesellschaft für ein modernes Stadt-Theater in
der City gekämpft. Der Slogan „Hannover braucht
ein Schauspielhaus“, mit dem die „Gesellschaft
der Freunde des hannoverschen Schauspielhauses“
unermüdlich für einen Neubau stritt, dürfte vielen
theaterbegeisterten Hannoveranern noch in Erinnerung sein.
Ein Neubau für die Lücke: Nach Plänen des Schweizer
Architekten Claude Paillard entstand Anfang der
1990er Jahre auf dem Gelände des Amerikahauses mit
der Cumberlandschen Galerie in der Prinzenstraße
das neue, mit weiß lackierten Aluminiumplatten
verkleidete Haus, das mit seinen gelben Schränken
im Parterre den burschikosen Charme einer „Badeanstalt“ nicht ablegen konnte – inzwischen ist
die kühle Außenhaut Markenzeichen des Hauses, das
innen, auf der Bühne, mit mutigen Inszenierungen
für überregionale Strahlkraft sorgt. Die Eröffnung
Ende November 1992 wurde mit drei großen Premieren
gefeiert: Ein junges Regieteam unter anderem mit
Klaus Emmerich, Matthias Fontheim und Matthias
Hartmann rüttelte die Theaterstadt Hannover mit
eigenwilligen Inszenierungen auf und lockte auch
AGENTUR FÜR WELTVERBESSERUNGSPLÄNE
„WILLKOMMEN IM PREKARIAT“
FOTO: ANDREAS HARTMANN
zunehmend jüngeres Publikum ins Schauspielhaus.
Intendant Eberhard Witt löste 1993 auf eigenen
Wunsch vorzeitig seinen Vertrag auf. Ihm folgte
mit
Ulrich
Khuon
ein
ausgewiesener
Liebhaber
zeitgenössischer Dramatik. „Wir wurden mit großer
Neugier und Sympathie empfangen“, erinnert sich
Khuon, heute Intendant am Deutschen Theater Berlin
an seinen Amtsantritt in Hannover. Khuon und seine
Mitstreiter
brachten
die
Theaterstadt
Hannover
weiter nach vorn, sie schufen neue Orte, gewannen
den Ballhof zurück, der zwischenzeitlich der Oper
als Probenbühne diente, und sorgten dafür, dass
das neue Schauspielhaus einen einladenden Hinterhof erhielt – heute ist der Hof zwischen Schauspielhaus, Künstlerhaus und der Cumberlandschen
Galerie mit ihrer kalkulierten Vergänglichkeitsästhetik ein wunderbarer Treffpunkt für Sommerund Theaterfeste.
schuf er mit seinem innovativen „Autorentheater“
eine Plattform für Gegenwartsdramatik, er band
viel beachtete Regisseure ans Haus, die mit spekta-
44 / 45
Ulrich Khuon hat in Hannover Spuren gelegt. Hier
kulären Inszenierungen für Aufsehen sorgte. Unter
Khuon arbeitete hier auch die Autorin Dea Loher,
eine der erfolgreichsten deutschen Dramatikerinnen. Ihre Stücke „Fremdes Haus“ und „Adam Geist“
wurden in Hannover uraufgeführt, Regie: Andreas
Kriegenburg, Khuon sprach von seinem „Dreamteam“.
Unter seiner Intendanz fand auch das ursprünglich
für Braunschweig konzipierte „Festival Theaterformen“ einen zweiten Spielort in Hannover.
Hannover 2000: Als Ulrich Khuon im Expo-Jahr an
das Hamburger Thalia Theater wechselte, waren in
der Leinestadt die Weichen für zeitgenössisches
Theater gestellt. Daran konnte Wilfried Schulz bei
seinem Amtsantritt anknüpfen. Im Landeanflug auf
die Landeshauptstadt legte er mit dem signalroten
„X“ als Logo einen Meilenstein. Beim Abflug 2009
nach Dresden hinterließ er eine satte Erfolgsbilanz. Hannover war endgültig im Gegenwartstheater
angekommen.
Schulz, ganz kluger Beweger und geschickter Manager des modernen Theaterbetriebs zu Beginn des
THEATER IM PAVILLON
„SHILPA – THE INDIAN SINGER APP“
FOTO: MIKE WILFING
neuen Jahrtausends, gelang das Kunststück, voll-
kommen unterschiedliche Erwartungen zu erfüllen:
Für das gediegene Stadttheaterpublikum spielte er
Klassiker, allerdings mit der Theaterästhetik der
Gegenwart, er führte das Publikum an unterschiedliche Projekte und dokumentarische Produktionen
heran, mit Rimini Protokoll holte er erstmals so
genannte „Experten des Alltags“ auf die Bühne.
Musiktheaterproduktionen von Rüdi Häußermann, intelligent gemachte Unterhaltung, dazu Familienstücke wie „Don Quixote“ oder „Tintenherz“, die zu
regelrechten „Blockbustern“ wurden.
„Die Aufgabe des Theaters in einer Stadt und einer
Gesellschaft besteht darin, auch ein Ort für das
Fremde und Andere, das Merkwürdige und Verdrängte,
das Sehnsüchtige und Nichtzugelassene zu sein, ein
Ort der Verschwendung von Gefühl und Gedanken,
Energie und Liebe, ein Ort des Unmaßes in dieser
so
ökonomisierten
Gesellschaft.
Jenseits
der
Sumpflandschaft der Krise, die auch durchschritten
wurde, hat Hannover, haben die Menschen in dieser
Stadt das zugelassen, akzeptiert, sogar gewollt
und gesucht“, schrieb Schulz „seinem“ Publikum zum
Abschied ins Stammbuch. „Theater ist eine Kunst
des Gebens und des Nehmens“. Es war eine Liebe auf
Gegenseitigkeit.
Deshalb
gelang
es
Intendant
Wilfried
Schulz
schließlich auch, 2007 das Junge Schauspiel am
Ballhof zu etablieren. „Wir sind stolz auf die
Gründung und die Wirkung, die es in der Stadt
hatte und hat. Es sollte nicht wieder verschwinden, wenn ich die Stadt verlasse“, betonte Schulz
rückblickend in einem großen Zeitungsinterview.
„Dass wir auf junges Publikum zugehen, ist selbstMit dem Jungen Schauspiel und der Jungen Oper ist
der Ballhof in der Altstadt heute ein Ort der
Jugend.
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verständlich.“ Die Staatsoper Hannover zog nach.
MUSENHOF HANNOVER
In
Hannovers
Altstadt
begegnen
sich
Tradition
und Aufbruch. Schließlich gehört der Ballhof mit
seiner wechselvollen Geschichte zu den historischen
Theaterorten der Stadt. Erbaut wurde er von Herzog
Georg Wilhelm Mitte des 17. Jahrhunderts – jedoch
zunächst als fürstliche Sporthalle für Ballspiele.
Der Herzog war aber auch ein ausgesprochener Opernfreund und setzte fort, was seine Vorgänger auf
den Weg gebracht hatten. Als Hannover zur Residenz
wurde, ließen die Welfen 1637 das ehemalige Minoritenkloster an der Leine zum Schloss umbauen,
wenige Jahre später wurde die Schlosskirche geweiht
und mitten im Dreißigjährigen Krieg auch eine Hofkapelle gegründet – ein frühes Fundament für die
Kulturstadt Hannover. Die Leitung der Musikerschar
übernahm Heinrich Schütz, einer der bedeutendsten
Musiker jener Zeit. Aus der fürstlichen Hofkapelle
entwickelte sich wenige Jahrzehnte später die Oper.
Kurfürst
Ernst
August
ließ
dann
ein
hölzernes
Opernhaus neben dem Schloss erbauen und startete
damit eine Kulturoffensive: Am 31. Januar 1689 wurde
mit der eigens für diesen Anlass von Agostino Steffani komponierten Oper „Enrico Leone“ („Heinrich
der
Löwe“)
Hannovers
erstes
Opernhaus
eröffnet,
schon damals ein repräsentativer Bau mit 1300 Plätzen, heute steht hier der Landtag, und ein Beweis
dafür, welch hohen Stellenwert die Kunst damals an
der Leine besaß. Die Eröffungspremiere wurde zum
Riesenerfolg. Zum 300. Bestehen der hannoverschen
Staatsoper 1989 wurde das Stück in der Inszenierung
von Herbert Wernicke wieder aufgeführt.
Die Kulturstadt Hannover blühte auf: Unter der ehrgeizigen Herrschaft von Ernst August und seiner
klugen Gattin Kurfürstin Sophie wurde auch die Som-
merresidenz Herrenhausen ausgebaut, die Anlage des
Großen Gartens mit dem Gartentheater ist bis heute
ein Glanzlicht der Barockzeit: Macht und Repräsentation – Herrenhausen wurde zum ersten deutschen
Musenhof.
Damals kamen auch erste Schauspieler in die Stadt.
Sie
ließen
sich
jedoch
nicht
in
Herrenhausen
nieder, sie traten im Schloss und in der herzoglichen Sporthalle am Ballhof auf. Seit dem ist der
Ballhof ein Ort des Schauspiels, zunächst für das
fahrende Völkchen der Schauspieler, später dann, im
Zuge der Aufklärung, als Hort der Bildung für das
bürgerliche Publikum im 18. und 19. Jahrhundert.
EIN HAUS FÜR DIE KÜNSTE
Als Ernst August von Cumberland den hannoverschen
Königsthron bestieg, erwies sich der neue Landesvater ebenfalls als Förderer der Künste. Zwischen
1845
und
1852
ließ
er
von
Oberhofbaurat
Georg
Ludwig Friedrich Laves in bester Innenstadtlage das
Opern- und Schauspielhaus errichten. Mit dem repräsentativen Bau im Herzen der Stadt begann zugleich
ein neues Kapitel in der hannoverschen Bühnengeschichte: Im Lavesbau spielte die Oper die Hauptrolle, das Theater rückte an den Rand. Als 1866 die
Preußen nach Hannover kamen, wurde die Leinestadt
zur Provinz – auch kulturell, man blickte nur noch
nach Berlin. Das Hoftheater war eher behäbig, die
Moderne fand, wenn überhaupt, andernorts in der
Stadt ihre Nischen. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollte dem Theater in Hannover wieder der
Denn
am
Hoftheater
hatte
man
den
Anfang
einer
neuen Bühnenästhetik verschlafen. Sozialkritische
Themen wie sie etwa der Naturalismus mit den Dramen
48 / 49
Anschluss an die Moderne gelingen.
von Gerhart Hauptmann aufbrachte, kamen in Hannover nicht vor. Der Literat und Dramaturg Johann
Frerking sprach bitter von „geistiger Bequemlichkeit“. Forderungen wurden laut, Oper und Schauspiel
räumlich voneinander zu trennen. Schauspielintendant Willy Grunwald (1921-1924) und sein streitbarer Dramaturg Frerking brachten neuen Schwung
in die Theaterstadt Hannover, der Spielplan wurde
entrümpelt und generalüberholt: Stücke von Henrik
Ibsen, Carl Sternheim oder Arthur Schnitzler kamen
ins Programm. Hoch im Kurs standen damals auch die
Dramen des Expressionismus – der neue Mensch in
der Moderne rückte in den Mittelpunkt, die Künste
und die Künstler rückten zusammen, Bühnenbildner
kooperierten
mit
Regisseuren
und
Akteuren.
Das
Schauspiel gewann an Format.
Hannover reagierte darauf: 1921 übernahm die Stadt
das
Opernhaus,
1923
pachtete
sie
die
1911
von
dem Architekten und Theatermann Franz Rolan erbaute Schauburg an der Hildesheimer Straße, ein
funktionsgerechtes Gebäude mit 800 Plätzen. Das war
ein entscheidender Schritt für Hannover als Theaterstadt: Endlich hatte das Schauspiel ein eigenes
Haus in guter Lage, hier stand auch der ehemalige
Goetheschüler Theo Lingen erstmals auf der Bühne.
Wenig später kaufte die Stadt den stattlichen Bau,
die Schauburg wurde in „Schauspielhaus“ umbenannt.
Wie die Oper im Lavesbau gehörte auch sie fortan zu
den „Städtischen Bühnen“. Beide Häuser fielen 1943
den Bomben zum Opfer.
DER BALLHOF-STIL
Der
künstlerische
Neuaufbruch
nach
dem
Zweiten
Weltkrieg zeigt, wie viel Kraft und Neugierde in
Hannover lebendig geblieben waren. Als die Stadt
noch in Schutt und Asche lag, wurde die Theater-
saison am 15. September 1945 im Galeriegebäude in
Herrenhausen mit Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“
eröffnet. Zwei Monate später war dann die erste
Nachkriegsaufführung im Ballhof zu sehen. Unter der
Generalintendanz von Kurt Ehrhardt wurden hier Werke
der Weltliteratur aufgeführt: Goethes „Urfaust“,
Lessings „Emilia Galotti“, aber auch zeitgenössische Dramatik aus Amerika, England und Frankreich,
Jean Anouilhs „Antigone“ oder Thornton Wilders „Wir
sind noch einmal davongekommen.“ Besonders beeindruckend: Wolfgangs Borcherts bittere Kriegsheimkehrertragödie „Draußen vor der Tür“.
Es waren wichtige Jahre für die Theaterstadt Hannover, denn unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde hier ein eigener Stil geprägt – der so
genannte „Ballhof-Stil“. Eine Art „magischer Realismus“, befand der Kritiker Gerd Schulte: „Er verbindet, bei entschiedener Abkehr vom Illusionstheater,
geistige Sachlichkeit mit strömender Phantasie. Die
Erhellung des Wortes wird mit der farbigen Vielfalt
des Szenischen durchtränkt. Dieser Stil ist nicht
modern, weil er etwa experimentierte, sondern weil
er aus einer echten Beziehung zu unserer geistigen
und realen Gegenwart erwächst.“
Franz Reichert als Nachfolger von Kurt Ehrhardt interessierte sich ebenfalls für zeitgemäßes Theater:
Stücke von Jean Paul Sartre, Martin Walser, Rolf
Hochhuth oder Peter Weiß standen auf dem Spielplan.
Man hatte den aus Wien stammenden Reichert mit
der Zusage nach Hannover geholt, ein neues Schauspielhaus am Weißekreuzplatz zu bauen. Daraus wurde
bekanntlich nichts. Nach mehreren Anläufen in den
1960er Jahren lag das Vorhaben fast drei Jahrzehnte
sprünglich ein Ort des Kinos, wieder aufgebaut,
damals das modernste Theater der Stadt. 1994 wurde
das Haus mit seinen rund 1100 Plätzen privatisiert.
50 / 51
lang auf Eis. 1953 wurde das Theater am Aegi, ur-
Von 1958 an blieb das Theater am Aegi 30 Jahre
lang auch die reguläre Spielstätte der Landesbühne
Hannover.
Unter
der
langjährigen
Intendanz
von
Reinhold Rüdiger war sie eine Institution – unter
seiner Leitung wuchs das Ensemble, spielte zunächst
im Gemeindehaus der Gartenkirche in der Dietrichstraße, danach im Haus der Jugend. In den 1950er
Jahren war die Landesbühne auch draußen im Gartentheater Herrenhausen zu Gast, von 1964 bis 1993
regelmäßig im Rahmen des Sommerfestivals „Musik und
Theater in Herrenhausen“. 1987 schließlich bezog
die Landesbühne Hannover ein eigenes Haus in der
Bultstraße. Doch die Theaterlandschaft in der Stadt
veränderte sich, unter der Leitung von Jörg Gade ist
die Landesbühne schrittweise im Theater für Niedersachsen (TfN) mit Sitz in Hildesheim aufgegangen,
gastiert aber regelmäßig in ihrer Heimatstadt.
THEATER IM MUSEUM
Figurinen, Bühnenbilder, Programmzettel, Plakate,
Fotografien von Künstlern. Momente der Erinnerung –
dabei ist Theater die Kunst des Augenblicks. Ein
Theatermuseum
einzurichten,
erscheint
geradezu
paradox. Das Theatermuseum Hannover löst diesen
Widerspruch auf und übernimmt die Rolle des „Vermittlers
zwischen
Vergangenheit
und
Gegenwart“.
Hausherr Carsten Niemann weist auf die Brückenfunktion des Museums hin, das im Schauspielhaus in
der Prinzenstraße untergebracht ist – eine bislang
wohl einmalige Nachbarschaft. Auf drei Etagen finden
sich
Erinnerungsstücke,
in
Sonderausstellungen
stehen einzelne Schauspieler oder Autoren im Zentrum, in der Schriftenreihe „prinzenstraße“ wird
die Entwicklung des Theaters dokumentiert, es gibt
Lesungen und Vorträge. Ein kultureller Knotenpunkt.
Gegründet wurde das Theatermuseum bereits 1928,
damals war es im Opernhaus untergebracht, doch die
Sammlung wurde im Krieg zerstört. Anfang der 1960er
Jahre baute der Bühnenbildner Kurt Söhnlein den
Bestand neu auf. 1984 zog das Museum ins ehemalige
Kröpcke-Center, bevor es 1992 in den Theaterneubau
in der Prinzenstraße integriert wurde. Im Untergeschoss auf der kleinen Bühne wird regelmäßig sonntags um 11 Theater für Kinder gezeigt – Figurentheater der Freien Szene finden im Theatermuseum einen
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FIGURENTHEATER DIE ROTEN FINGER
„RICARDO IN RIO“
FOTO: HILDEGARD WEGNER
verlässlichen Auftrittsort.
IM ZEICHEN DER UNGLEICHHEIT
Die hannoversche Theaterlandschaft besteht jedoch
nicht nur aus dem Schauspielhaus mit seinen unterschiedlichen Spielstätten. Im Nachklang der 1968
Jahre hat sich in Deutschland das Freie Theater
entwickelt und die Organisationsformen, Ensemblestrukturen und Produktionsweisen haben sich vervielfältigt. Junge Schauspieler und Theaterpraktiker
suchten oft auch an ungewöhnlichen Orten nach neuen
Wegen des Theaters, sie wollten Hemmschwellen niederreißen, flache Hierarchien einführen, politische
und kulturelle Teilhabe ermöglichen – Theater als
Lebensform, das hatte vor allem gesellschaftspolitische Dimensionen. Die Freie Szene der Stadt
Hannover gehörte zu den Pionieren dieser Bewegung.
1976 gründete Peter Henze mit einigen Mitstreitern
die Theaterwerkstatt Hannover und sorgte auch überregional für Aufmerksamkeit.
Diese Entwicklung hat die Theaterlandschaft nachhaltig verändert. Die Freie Szene hat damals die
Institutionen
wachgerüttelt
–
die
Staatstheater
haben die Herausforderung angenommen. Heute hat
sich auch die Freie Szene gewandelt, vernetzt, in
Teilen verjüngt. Das Angebot ist bunt und vielgestaltig. Hannovers Freie Theatermacher sprechen
heute gern von einer „Ladenzeile mit inhabergeführten Geschäften“: Kleine Theater mit unterschiedlichen Ansätzen und Konzepten, die sich gegenseitig
anregen und sich aneinander messen: Performance,
Dokumentartheater, Recherche, work in progress, in
manchen Vorstellungen ist auch das Publikum Teil
der Inszenierung – angeboten wird eine Vielfalt
an Formen und Formaten. Flexibilität, Spontanität,
Urbanität, die Verankerung in den einzelnen Stadtteilen – das gehört heute zum Markenkern der Freien
Szene, die für sich proklamiert, mit besonderen
Spielorten in verschiedenen Stadtteilen nah bei den
Menschen zu sein und oft unkomplizierter und intensiver auf brennende Themen reagieren zu können als
der „große Apparat Staatstheater“.
Und doch muss das Spielfeld immer wieder neu vermessen werden – Förderstrukturen werden überdacht,
korrigiert und teils neu erfunden. Einen richtungsweisenden Schritt unternahm die Stadt Hannover bereits Anfang der 1990er Jahre: Damals berief die
Stadt als eine der ersten im gesamten Bundesgebiet
einen Theaterbeirat – ein bemerkenswertes Förderkonzept und ein geschickter Schachzug. Die Pointe:
Nicht mehr die Politiker in den einzelnen Fraktionen sollten über die städtische Unterstützung der
einzelnen Theater und Projekte entscheiden, sondern
ein Beirat aus Fachleuten, dessen Mitglieder die
Theater selbst bestimmen.
Dieser passgenaue Theaterbeirat aus sechs Experten
berät den Kulturausschuss der Stadt bis heute bei
der Vergabe von Fördergeldern und nimmt auf diese
Weise entscheidenden Einfluss auf das künstlerische
Angebot innerhalb der Stadt. Die einzelnen kleinen Freien Theater mussten auf diese Weise erstmals zusammenrücken und so entwickelte sich die
„Interessenvertretung
Freies
Theater
Hannover“.
Doch der Wettbewerb verschärft sich – dabei geht es
um die Gunst des Publikums wie um die städtische
Förderung. Die Freien Theater müssen für einzelne
Projekte
zusätzliche Fördergelder einwerben, das
macht die Spielplangestaltung nicht leichter. Um
neben der herrschenden Konkurrenz auch die Gemeinsamkeiten zu stärken, überzeugte die Stadt Hannover
die Freien Theater zu gemeinsamer Marketingarbeit
Unter
der
Dachmarke
„Freies
Theater
Hannover“
(FTH) treten die Freien Bühnen gemeinsam in der
Stadtgesellschaft auf, sie geben einen gemeinsamen
54 / 55
und fördert diese auch.
LOGO FREIES THEATER HANNOVER
Spielplan heraus und betreiben einen gemeinsamen
Internet-Auftritt, zwei Sprecher vertreten die Kooperative in der Öffentlichkeit. 2013 wurde der gemeinsame Auftritt gründlich renoviert. Das FTH als
eine Art modernes Zunftzeichen: Derzeit unterstützt
die Stadt 18 Freie Theater. Die Zusammensetzung
kann sich verändern, sobald die Fördermittel der
Stadt neu verteilt werden – Zusammenhalt und Flexibilität im Zeichen der Vielfalt.
Schwerpunkte
setzen.
In
einem
weiteren
Schritt
wurde die Theaterlandschaft innerhalb der Freien
Szene jüngst neu strukturiert und der Etat entsprechend aufgestockt. Über das ganze Stadtgebiet
verteilt unterstützt die Stadt Hannover vier zentrale Spielstätten. Die dort ansässigen Ensembles
zeigen wie bisher ihre Eigenproduktionen, fungieren
aber auch als Gastgeber und stellen ihre Bühne anderen Freien Gruppen zur Verfügung. Eine Quadratur
des Kreises – doch mit dieser Neuordnung soll es
künftig gelingen, zwei Entwicklungen in Einklang
zu bringen: Die angestammten Freien Theater, die
sich in der Stadt ihren Platz und ihr Publikum er-
spielt haben, erhalten zuverlässige Unterstützung,
und neue, junge Kooperativen oder Künstlergruppen
ohne eigene Produktionsmittel finden eine Bühne für
ihre Aufführungen.
DIE FABELHAFTEN VIER
Theater hinter dem Bahnhof: Eigentlich sollte das
ehemalige Kaufhaus nach Abschluss des U-Bahnbaus
abgerissen werden, doch dann wurde der Raschplatzpavillon zur Heimat der Soziokultur. Jüngst hat die
Stadt den legendären Raschplatzpavillon generalsaniert. Nun gibt es vier verschieden große Säle, die
unabhängig voneinander bespielt werden können. Die
Verantwortlichen konnten so den Veranstaltungsort
auch als Theaterort „neu denken“ – als Zentrum
für Gastspiele der Freien Szene Hannovers und für
auswärtige Freie professionelle Gruppen, geplant
sind auch internationale Gastspielreihen, der Pavillon als eine Art Schaufenster und Impulsgeber.
Als wesentlicher Partner mit im Boot ist dafür die
ebenfalls im Pavillon beheimatete Theaterwerkstatt
Hannover.
Ursprünglich von Absolventen der Hochschule für
Musik und Theater Hannover gegründet, ist die Theaterwerkstatt Hannover das Freie Theater mit der
längsten Geschichte in der Stadt und gehört zu den
ältesten bundesweit. Seit der Gründung 1976 stehen
anspruchsvolle Inszenierungen für Kinder und Jugendliche gleichberechtigt neben Produktionen für
Erwachsene
im
Abendspielplan.
Stückvorlagen
und
theaterfremde Texte bilden die Grundlage dafür.
Zunehmend fließen die langjährigen Erfahrungen im
Publikum ein, in dem sich die Theaterwerkstatt hannover vermehrt mit gesellschaftspolitischen Themen
der modernen Gesellschaft beschäftigt.
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Ausland in die Produktionen für das hannoversche
THEATER IN DER EISFABRIK
FOTO: COMMEDIA FUTURA
Mit Gastspielen und Festivaleinladungen im In- und
Ausland ist die Theaterwerkstatt Hannover weit über
die Grenzen der Landeshauptstadt Hannover bekannt
und wurde national und international für ihre Produktionen mit Preisen ausgezeichnet. 2014 fuhr das
Ensemble im Auftrag der Niedersächsischen Staatskanzlei nach Israel / Palästina.
Ein
Lebenstraum
im
Hinterhof:
Die
ehemalige
Klareisfabrik im Hof der Seilerstraße ist heute ein
Kunst- und Kulturtreff mit mehreren Sälen, Ausstellungshallen, Studios und Ateliers – eine Künstlerkolonie, initiiert und geprägt von Commedia Futura.
1982 gründete der bildende Künstler und Performer
Wolfgang A. Piontek zusammen mit Michael Habelitz
das freie Theater Commedia Futura, 1987 zog das
Ensemble in die Eisfabrik, seit 1991 leiten Piontek
und sein Cousin, der Autor und Dramaturg Peter
Piontek, das Ensemble aus Schauspielern, Tänzern,
Film- und Video-Künstlern und Bühnenbildern. Ihr
Markenzeichen sind multimediale Projekte und Stückentwicklungen – mittlerweile sind dort mehr als
50 experimentelle Arbeiten entstanden, etwa „Lost
in Twin Peaks“ nach David Lynch oder „Lovers &
Killers. Tarantino Samples“ – postmodernes Körper-
theater auf den Spuren bekannter Filmregisseure,
ein Cross-Over der Künste und Stile. Seit 2006
arbeitet Commedia Futura dem erfolgreichen hannoverschen Tänzer und Choreografen Felix Landerer
zusammen. „Die Eisfabrik ist einer der attraktivsten Theaterorte in Niedersachsen“, schwärmte Peter
Piontek aus Anlass des 30. Geburtstags von Commedia
Futura im Frühjahr 2012. Wer eins der raumgreifenden Koproduktionsprojekte der letzten Jahre wie
„Himmel und Hölle“ gesehen hat, wo auf Bühnen, in
Kellergängen und Nebenräumen gespielt wird, wird
ihm Recht geben. Seit 2015 wird die Commedia Futura
nun als Betreiber der Spielstätte „Theater in der
Eisfabrik“ mit dem Schwerpunkt Tanz, Theater und
Performance gefördert. Eigene Stücke, internationale Gastspiele und Kooperationen richten sich an
diesem Profil aus.
Treffpunkt für Kinder: Seit November 2011 hat Hannover ein Kindertheaterhaus – mit Sitz im Alten
Magazin. Der schmucke Backsteinbau wurde vor mehr
als 100 Jahren als Kulissendepot des königlichen
Hoftheaters errichtet, Ende der 1980er Jahre nutzte
dann das Staatstheater kurzfristig die imposanten
Räume mit den zehn Meter hohen Innensäulen für experimentelle Aufführungen. 1994 zog hier der Schauspieler und Regisseur Harald Schandry mit seinem
Klecks Theater ein: Das 1987 gegründete freie Theater mit seinem breiten Repertoire an Kinder- und
Jugendstücken, darunter viele preisgekrönte Inszenierungen, gehört mit rund 25.000 Zuschauern pro
Jahr zu den besucherstärksten Freien Bühnen Niedersachsens. Das Klecks bietet auch jungen Autoren
regelmäßig eine Plattform, großen Erfolg hat das
Ensemble mit seiner Theater-Arbeit für Kinder und
Klecks-Chef Harald Schandry ist mittlerweile Generalintendant im neu gegründeten Kindertheaterhaus.
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Familien mit Migrationshintergrund.
Denn mit der Generalsanierung des Alten Magazins
wurde auch das Konzept umgekrempelt: Das Kindertheaterhaus beherbergt nicht mehr allein das Klecks.
Als Spielstätte öffnet sich das Kindertheaterhaus
anderen
Freien
Gruppen
und
ergänzt
seinen
FIGURENTHEATER DIE FÜCHSE
„ARTHUR UND DER FUCHS“
FOTO: DIE FÜCHSE
auch
Spielplan um ausgewählte Gastspiele und Kooperationen. Gespielt wird für Kinder zwischen drei und
zwölf Jahren, eine Ausweitung in den Jugendtheaterbereich ist angedacht. Angeschlossen sind entsprechende theaterpädagogische Angebote.
Ein Stadtteil wird bunter: Das liebevoll eingerichtete
blauen
sonnengelbe
Fensterrahmen
Figurentheaterhaus
am
Großen
mit
den
Kolonnenweg
ist
Sitz, Spielstätte und Treffpunkt der hannoverschen
Figurentheater Marmelock, Neumond, Die Füchse und
dem hannoverschen Puppenspieler Gerhard Seiler, die
FIGURENTHEATER MARMELOCK
„HAYDN GEISTREICH“
FOTO: MÜLLER-WOLFRAM
vier Gründungsmitglieder haben sich unter dem Namen
Theatrio zusammengeschlossen. Das Haus dient als
Fundus, Werkstatt für Workshops, Gastspielort und
zentrale Anlaufstelle für Figurentheater aus dem
In- und Ausland. Ein Treffpunkt für Kinder, Eltern,
Großeltern und Wahlverwandte. Die Akteure haben unterschiedliche Spielformen im Repertoire, Märchen,
Mitsing-Stücke und Puppentheater für Erwachsene.
Hier wurde auch der kleine Opernvampir Heini geboren, eine Kooperation mit der Staatsoper Hannover.
HEIMSPIEL ODER HERBERGSSUCHE
Als sicherer „Geheimtipp“ gilt das Theater an der
Glocksee an der neuen Ihme-Promenade. Hinter den
bunten Graffitiwänden trifft sich ein Publikum, das
auch im Stadttheater gesehen wird. Denn auf dem
abgelegenen Gelände eines ehemaligen Straßenbahnbetriebshofs
in
Nachbarschaft
zum
Jugendzentrum
Glocksee gelingen immer wieder Theaterwunder. Das
kleine Theater wurde 1989 von Schauspiel-AbsolTheater gegründet. Viele Jahre sorgte Regisseurin
Claire Lütcke, die mit der Schauspielerin Helga
Lauenstein zu den Gründungsmitgliedern gehört, für
60 / 61
venten der hannoverschen Hochschule für Musik und
ebenso eigenwillige wie hochkarätige Inszenierungen
literarischer Vorlagen und zeitgenössischer Theatertexte. Handwerk und Mut – das ist ein Markenzeichen des Freien Theaters, das mit Inszenierungen
wie „Mutter Courage“ oder „Babettes Fest“ viele
Preise gewann und bei den Zuschauern nachhaltig
großes Interesse findet.
Nach dem Rückzug von Frontfrau Claire Lütcke gab
es einen Neustart an der Ihme. Heute leiten die
jungen Theatermacher Lena Kußmann und Jonas Vietzke gemeinsam mit Helga Lauenstein das Theater
an der Glocksee. Zeitgenössische Dramatik, eigene
Projekte, aber auch Experimente wie 2014 die Produktion „#Neuland. Ein digitales Lebensgefühl“ bestimmen den Spielplan. Mit der Erfolgsproduktion
„Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt“ von Tugsal
Mogul gelang dem neuen Team der Durchbruch, mit
der Theaterfassung von Janne Tellers existentialistischem Jugendroman „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ oder dem Gedankenexperiment „Krieg. Stell
dir vor, er wäre hier“ greift das Ensemble auch
THEATERERLEBNIS
„VERMUMMTE“
FOTO: SERKAN LACIN
komplexe, oft sperrige Stoffe auf. Intelligentes,
THEATER TRIEBWERK
„JO IM ROTEN KLEID“
FOTO: THEATER TRIEBWERK
zeitgemäßes Theater, das nah am Publikum ist. Es
gibt neuerdings auch Angebote, schon während der
Proben mit den Theatermachern ins Gespräch zukommen. Ein guter Weg, inzwischen mischen sich auch
viele junge Besucher unter die bürgerlichen Gäste.
Unterwegs und daheim: Ihren Durchbruch verdanken
sie ihren theatralen Stadterkundungen, doch Erfolge
feiern sie auch mit ihren Inszenierungen in der Alten
Tankstelle in der Nordstadt. Dort hat sich das Theater fensterzurstadt 2007 eine Art „Basisstation“
eingerichtet, ein Kleinod der hiesigen Szene. Unter
der Leitung von Ruth Rutkowski und Carsten Hentrich
wurde das Theater fensterzurstadt gleich nach der
Gründung 2000 zum „Shooting Star“ der Szene. Das
Freie Ensemble spielt in leer stehenden Läden, im
oft sehr poetischen Inszenierungen begeben sich
die Theatermacher in Grenzbereiche zwischen Schauspiel und Performance, als Material verwenden sie
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Bus oder im Amtsgericht. Mit ihren phantasievollen,
literarische Vorlagen, eigene Recherchen und Notizen. Staunen und schauen: Derzeit beschäftigt sich
das Team in unterschiedlichen Varianten mit Märchen
und Mythen, die Akteure nähern sich der Epoche
der Romantik mit ihrem Wunderpotential. Theater
fensterzurstadt kooperiert auch mit anderen Freien
Ensembles. Besonders erfolgreich ist die Zusammenarbeit mit der Theaterwerkstatt Hannover und dem
Theater Triebwerk, in dieser Konstellation haben
die Theatermacher bereits mehrere Preise gewonnen.
Mobiles Theater für alle Sinne – Sprache, Musik
Licht und Farbe – verspricht das Theater Erlebnis, das der Schauspieler und Regisseur Tim von
Kietzell und seine Kollegen 1998 gegründet haben.
2013 gab es einen Relaunch. Kietzell und sein Team
haben nun eine feste Spielstätte in einem ehemaligen Weinladen in der Kornstraße, zuvor gab es eine
kurze Zusammenarbeit mit dem Theater in der List
im ehemaligen Aldi-Markt. Das Theater Erlebnis ist
vor allem im soziokulturellen Bereich aktiv, seine
Inszenierungen siedelt es gern auch andernorts an –
in Schlachthöfen oder im Parkhaus.
THEATERGRUPPEN OHNE EIGENE SPIELSTÄTTE
Längst gibt es in Hannover viele Freie Theatermacher ohne festen Ort. Zu den Pionieren dieser
Spielart
gehört
die
ausgebildete
Tänzerin
und
Theaterproduzentin Iyabo Kaczmarek mit ihrem Label
Freie Theaterproduktionen. Sie versammelt für ihre
Projekte Schauspieler, Tänzer, Experten und Laien,
sie spielen dann „mitten im Leben“ – in Wohnungen,
auf Dachböden oder in Seniorenheimen. Die Kulturvernetzerin engagiert sich seit gut einem Jahrzehnt
für eine urbane Stadtkultur, an der möglichst viele
Menschen teilhaben können, die sonst nicht den Weg
ins Theater finden. Für das Projekt im Bahnhof „Han-
nover Central Station“ wurden Iyabo Kaczmarek 2013
mit dem Pro Visio Preis der Kulturregion Hannover
ausgezeichnet: Projekttheater auf Zeit – und zum
Mitmachen.
Seit 2004 experimentiert auch die Frl. Wunder AG
mit ästhetischen Formaten von theatraler Performance bis hin zu Aktionen im öffentlichen Raum.
Das
siebenköpfige
Gemeinschafts-
Team
und
spricht
von
Erfahrungsräumen“
„theatralen
und
bietet
verschiedene Formen der Begegnung an. Im Zentrum
steht
dabei
die
Auseinandersetzung
mit
gesell-
schaftspolitischen Themen als ästhetische Erfahrung, die sich mal mit aktuellen Utopie-Entwürfen auseinandersetzt, mal ein Dinner-Theater als
Reflexionsraum
unseres
Verhältnisses
zu
Tieren
konzipiert oder zum Theaterabend als partizipatives multikulturelles Familienfest einlädt. Das
experimentierfreudige
Künstlerkollektiv
wurde
bereits zwei Mal von der Stiftung Niedersachsen
zum Best-OFF-Festival der Freien Szene eingeladen.
Die Arbeiten der Frl. Wunder AG stehen für ein
„Universum aus Hoch- und Popkultur“, bei dem die
Performer die Grenzen zwischen Kunst, Sozialstudie
und Kulturvermittlung außer Kraft setzen.
Ebenfalls ohne festen Spielort, oft jenseits etablierter Theaterräume und ausschließlich projektorientiert arbeitet die Agentur für Weltverbesserungspläne
unter
der
Leitung
von
Regisseurin
Ulrike Willberg. Die Produktionsgemeinschaft fand
in
Braunschweig
zusammen
und
arbeitet
jetzt
in
Hannover. Deren Augenmerk liegt ebenfalls „in der
Inszenierung von Alltagsräumen“. Ein Künstler-Team
aus unterschiedlichen Bereichen nähert sich aktuelden Leiharbeitern und Scheinselbständigen, die von
ihrer Arbeit nicht leben können. Die Theaterperformance „Willkommen im Prekariat“ setzt sich aus
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len Problemen, derzeit den so genannten Jobhoppern,
unterschiedlichen Elementen zusammen, dazu gehören
Körperarbeit, Komik und Musik.
Auch
das
Theater
innerhalb
der
sýstema,
Freien
die
Szene
jüngste
Gründung
Hannover,
ist
ein
Theater ohne Ort. Die künstlerische Leitung hat die
„Unverändert geblieben aber ist
der Zauber der Bühne. Sie vermag,
den Menschen einen kritischen
Spiegel
vorzuhalten,
sie
mit-
leiden und mitlachen zu lassen,
ihnen
in
ihren
Zweifeln
und
Ängsten beizustehen und, vielleicht,
Hoffnung
zu
schenken.“
Tänzerin,
lerin
und
SchauspieRegisseurin
Laetitia Mazzotti, sie
steht
auch
regelmäßig
im Klecks Theater auf
der
Bühne
und
wirkt
darüber hinaus in zahlreichen Freien Produk-
– RUDOLF LANGE (1914-2007), BE-
tionen
KENNENDER
gehören der Schauspie-
THEATERLIEBHABER,
SCHRIFTSTELLER UND LANGJÄHRIGER
FEUILLETONCHEF
DER
HANNOVER-
SCHEN ALLGEMEINEN ZEITUNG.
von
ler
mit.
Zum
Theater
Kern
sýstema
Christoph
Linder,
Innenarchitekt
Frank
Olle und die Ausstatterin und Kostümbildnerin
Dorothea Hoffmann. Theater sýstema hat ein klares
Profil: Im Mittelpunkt stehen ein frischer Zugriff
auf zeitgenössische Literatur und die Lust am Experimentieren und Spielen.
Auf welche Weise das gelingen kann, zeigt das kleine
Theater aktuell mit dem Stück „Jeanne – Träume von
einem wirklichen oder eingebildeten Leben“. In der
Titelrolle: Laetitia Mazzotti. In Anlehnung an Jean
Anouilhs Burleske „Jeanne oder Die Lerche“ holt sie
die 600 Jahre alte Geschichte der Jeanne d`Arc in
die Gegenwart und bringt die Mission des katholischen Bauernmädchens aus der Perspektive einer modernen Frau des 21. Jahrhunderts neu und mit großer
Spielfreude auf die Bühne, ein kluger und zugleich
unterhaltsamer Zugriff. Schwierigkeiten bereitet es
den Freien Gruppen ohne feste Spielstätten jedoch
häufig, verlässliche Spielorte in Hannovers Thea-
terlandschaft zu finden. Jüngst wurde ein zentraler
Probenraum in der ehemaligen Bibliothek im Freizeitheim Linden eingerichtet.
GEMEINSAM IN DER STADT
Es gibt unterschiedliche Erwartungen an Theater,
doch viele Kulturbegeisterte in der Stadt haben
gern alle Bühnen im Blick: So traten Ende der 1990er
Jahre die Freien Theater erstmals gemeinsam mit
dem Niedersächsischen Staatstheater in der hannoverschen Stadtöffentlichkeit ins Rampenlicht. Hendrik Brandt, heute Chefredakteur der „Hannoverschen
Allgemeinen Zeitung“, übernahm damals die Leitung
der Kulturredaktion. In dieser Funktion gab er den
Impuls für die Neuausrichtung der Theaterbeilage
„Spielzeit“, die bislang nur von den Staatstheatern
„bespielt“ wurde. Unter redaktioneller Begleitung
entwickelte sich das Projekt zu einem zentralen
Theatermagazin, in dem sämtliche Bühnen der Stadt
ihren Auftritt haben.
Eine Begegnung auf Augenhöhe: Egal ob im Staatstheater oder auf einer kleinen Stadtteilbühne – in
der „Spielzeit“ werden alle Aktivitäten gebündelt.
Während der Theatersaison liegt das Magazin regelmäßig einmal monatlich der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ bei, die einzelnen Theater halten
zusätzliche Exemplare für ihre Besucher bereit,
mittlerweile lässt sich die „Spielzeit“ auch online
abrufen. Ein breit gefächertes Angebot, das auch
von
Gelegenheitstheaterbesuchern
gern
angenommen
wird – und zugleich ein Zeichen dafür, wie stark
die Theaterszene in die Stadtgesellschaft hinein-
Kultur bleibt in Bewegung. Man ist sich näher gekommen, inzwischen gibt es zahlreiche Schnittstellen
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gewachsen ist.
und weit weniger Berührungsängste als noch in den
Gründerjahren der Freien Theater. Zu den Meilensteinen gehört die „Lange Nacht der Theater“. Seit
2002 präsentieren sich die großen Bühnen, die Freien
professionellen Theater und andere Freie Bühnen der
Stadt einmal im Jahr gemeinsam mit Ausschnitten aus
ihren Programmen. Hannover gehört zu den Erfindern
dieses „Theater-Events“ – für die Beteiligten ist
es jedes Mal organisatorischer wie logistischer
Kraftakt. Und ein Erfolgsmodell. Das Publikum war
von Anfang an begeistert, regelmäßig kommen Gäste
von außerhalb zur „Langen Nacht der Theater“ nach
Hannover. Mittlerweile haben viele andere Städte
dieses Modell für sich entdeckt – unter anderem die
Bundeshauptstadt Berlin. Hannover setzt Impulse.
Eine Win-win-Situation: Freie Theatermacher sprechen
gern
von
„Imagetransfer“.
Dennoch
gibt
es
beim Freien Theater Hannover Überlegungen, zusätzlich zur „Langen Nacht der Theater“ ein eigenes
Format anzubieten: Eine Art Boulevardbummel durch
die Stadtviertel der Freien Szene, möglicherweise
unter bestimmten Themen. Städtisches Lebensgefühl
im 21. Jahrhundert. „Unsere Geschichten finden wir
in der Nachbarschaft“, betont Theatermacher Carsten
Hentrich von Theater fensterzurstadt. „Die Träume
sitzen in den Wänden.“
Ungewöhnliche, vielleicht auch vergessene Ecken und
Winkel entdecken, spielen, erobern oder wieder zu
verlassen – auch das gehört zum Theaterschauplatz
Hannover. Wo überall derzeit etwas geschieht, lässt
sich an den neuen weißen Bannern mit dem schwarzen
Schriftzug „Freies Theater Hannover“ ablesen, die
in den einzelnen Stadtquartieren hängen. Wegmarken
einer zeitgemäßen urbanen Stadttheaterkultur – eine
vitale Stadt wie Hannover leistet sich diese Vielfalt. Darauf kann sie stolz sein.
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INTERVIEW
AUF DEN PUNKT
GEBRACHT
#05 / THEATER
Neue
Formen,
neue
Wege.
Auf
dem
Fundament
von
Friedrich Schillers Theaterbegriff der aufgeklärten
bürgerlichen Gesellschaft hat sich das Theater des
21. Jahrhunderts neu verortet. Vor welchen Herausforderungen steht die freie Szene heute und wo
das Festival Theaterformen, das 2015 sein 25jähriges Jubiläum feiert? Anne Bonfert (AB) und Harald
Schandry (HS), die beiden Sprecher des Freien Theaters Hannover (FTH), sowie Martine Dennewald (MD),
die neue Leiterin des Festivals Theaterformen, beziehen Position – zu fünf Aspekten jeweils in einem
Satz. Eine Punktlandung.
BEI SCHILLER IST DIE REDE VOM THEATER ALS ORT DER
ÄSTHETISCHEN UND MORALISCHEN BILDUNG. IN WIE WEIT
TRIFFT DIESE IDEE HEUTE NOCH ZU?
MD: Das Theater als Vermittler eines vorab definierten Wertekanons interessiert mich nicht, als Ort
der Befragung unserer selbst und unserer Lebensformen ist es immer hochaktuell.
AB: Ich verstehe Theater als Ort des Spiels, der
einen Reflexionsraum öffnet, weil alles zur Diskussion und damit auch zur Disposition gestellt werden
kann – denn so ist Theater für mich interessant,
wenn es etwas mit mir zu tun hat, mich bewegt und
mich einlädt, mich einzulassen.
HS: Das Theater ist längst nur noch ein Debattenort
unter vielen: es muss sich in seiner Daseinsfrage
gut auf seine wirklichen Kräfte, das allmächtige
So-tun-als-ob und das heilige Jetzt, besinnen.
IN WELCHER FORM ZEIGT SICH DAS IN AKTUELLEN PRODUK-
AB: Teilen der Freien Szene wird zugesprochen ein
gesellschaftlicher
Seismograph
zu
sein
und
die
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TIONEN DER FREIEN SZENE?
FESTIVALZENTRUM THEATERFORMEN
FOTO: ANDREAS ETTER
akuten Themen einer Gesellschaft mit experimentellen und diskursiven Ansätze schnell aufgreifen zu
können.
HS: In der durchaus mit der Situation der staatlich
finanzierten Theatern vergleichbaren stets neuen
Formatsuche: neue Orte, neue Formen der Zuschauerpartizipation, Crossover-Formate zwischen Tanz,
Performance, Sprechtheater etc.
MD: Es zeigt sich in der Dekonstruktion von tradierten Geschichten und Begrifflichkeiten (wie in
Marja Christians und Isabel Schwenks Genderschleuder auf Grundlage von Hebbels „Judith“), in der
akribischen Recherche globaler Zusammenhänge (wie
in „Situation Rooms“ von Rimini Protokoll), in dem
Platz, der dem Publikum innerhalb der Aufführung
eingeräumt wird (wie in „low pieces“ von Xavier
Le Roy).
IN
DER
URBANEN
GESELLSCHAFT
DES
21.
JAHRHUN-
DERTS GEHT ES AUCH UM TEILHABE. KÖNNEN DIE FREIEN
THEATER DARAUF ANDERS REAGIEREN ALS DIE STADT- UND
STAATSTHEATER?
MD: Die Stadt- und Staatstheater können, wenn sie
möchten, darauf genauso schnell und publikumsnah
reagieren wie die freie Szene; die freie Szene
kann, wenn sie möchte, darauf genauso verbindlich und zuverlässig reagieren wie die Stadt- und
Staatstheater.
HS: Genauso gut oder schlecht. Die Staatstheater
und die Freien Theater unterscheiden sich immer
weniger in ihrer Inhaltlichkeit als vielmehr in
ihren Produktionsbedingungen.
AB: Die Stadt- und Staatstheater bleiben durch
die große Institution in der Regel als Theater
gerahmt. Freie Gruppen können sich hier flexibler
an andere Institutionen oder Akteure angliedern.
Auch haben sie vielleicht einen weniger großen
Druck dem bürgerlichen Kunstbegriff zu entsprechen.
WELCHE ROLLE SPIELT DIE PUBLIKUMSBETEILIGUNG BEI
DEN INSZENIERUNGEN, ENTWICKELT SICH HIER EINE NEUE
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KINDERTHEATERHAUS
IM ALTEN MAGAZIN
THEATERÄSTHETIK?
FRÄULEIN WUNDER AG
FOTO: MARKUS GUSTAV BRINKMANN
HS: Sowohl in der Freien Szene als auch im Staatstheaterbetrieb beobachte ich Experimente mit der
Ästhetik von Workshop-Situationen, oder einer munteren Unterrichtsstunde in einem Volkshochschulkurs: die Schmierseifenebene zum bloßen Infotainment ist dann nur noch einen Schritt entfernt.
AB: Eine neue Ästhetik sehe ich hier nicht, eher
ein neues Bewusstsein für die Funktion der Zuschauenden einer Aufführung.
MD: Es handelt sich eher um eine Einbindung des
Publikums in die Ästhetik, egal welcher Art: Ein
Teil des Werks wird an die Zuschauer delegiert, und
die Zuschauer werden als Teil des Werkes sichtbar.
BRAUCHEN WIR EINE NEUE QUALITÄTSDEBATTE?
AB: Mich interessiert darüber nach zu denken, was
das besondere an Theater ist, was es abhebt von anderen Künsten und welche Aspekte in diesem Bereich
noch zu erforschen sind.
MD: Wir brauchen eine Debatte, die unterschiedliche Qualitätsbegriffe formulieren und diskutieren
kann, die sich immer wieder neu am künstlerischen
Schaffen ausrichtet.
HS: Wir brauchen eine Struktur- und Finanzdebatte,
denn Theater ist in seinem innersten Wesen immer
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idealerweise der Umbruch.
FIGURENTHEATER SEILER
WWW.HANNOVER.DE
Foto: Figurentheater Seiler
„SHAKESPEARE IN EILE“
THEATER AN DER GLOCKSEE
WWW.HANNOVER.DE
Foto: Jonas Woempner
„BEN X“
FESTIVALS
DIE STADT
ALS BÜHNE
#05 / THEATER
KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN,
NEED COMPANY
FOTO: HELGE KRÜCKEBERG
Mit den „Kunstfestspielen Herrenhausen“, den internationalen „Theaterformen“ und „Best Off“, der
Leistungsschau der Freien Szene Niedersachsens,
ist die Landeshauptstadt Hannover ein lebendiger
Festivalort von überregionaler Bedeutung.
Maßgeschneidert für Hannover: Musiktheater, Filmkonzerte, Performances, Objektkunst, Klanginstallationen und wissenschaftliche Diskurse – das ist
der Markenkern des Festivals in den Herrenhäuser
Gärten und in dieser Form bundesweit einmalig: In
der ehemaligen Sommerresidenz der Welfen trifft
Barock auf Avantgarde. Die „Kunstfestspiele Herrenhausen“ ergeben ein Gesamtkunstwerk aus ungewöhnlichen Formaten, von denen viele gewachsen
und einige auch gescheitert sind – ein interdisziplinäres Experimentierfeld und zugleich ein
Prestigeprojekt
der
Landeshauptstadt,
über
das
zu verkopft, zu wenig „populär“? 2010 gingen die
Kunstfestspiele Herrenhausen unter der Intendanz
von Elisabeth Schweeger an den Start, nun scheidet
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heftig und kontrovers diskutiert wird. Zu elitär,
sie aus dem Amt aus. Schweegers Nachfolge tritt
der international renommierte Dirigent Ingo Metzmacher an. Der gebürtige Hannoveraner übernimmt
die künstlerische Leitung der 7. Kunstfestspiele
Herrenhausen 2016. Denn dann soll nachjustiert
werden: Herrenhausen reloaded – für das hannoversche Publikum und für Touristen aus aller Welt.
Schließlich
sind
die
„Kunstfestspiele
Herren-
hausen“ am engsten mit der Geschichte Hannovers
und
dem
Aufführungsort,
dem
Barockensemble
der
Herrenhäuser Gärten verknüpft, das Festival hat
zudem gleich mehrere Vorläufer: 1953 bereits gab
es die Festwochen „Musik in Herrenhausen“, von
KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN,
AKADENIE DER SPIELE
FOTO: HELGE KRÜCKEBERG
1956 bis 1986 die Reihe „Musik und Theater in
Herrenhausen“, seit 1956 wurde auch unter freiem
Himmel im Gartentheater gespielt, seit 1985 hat
sich das „Kleine Fest“ etabliert und zum Publikumsmagneten entwickelt, 1987 wurde das Format
„Festwochen Herrenhausen“ eingeführt und fast ein
Vierteljahrhundert später von den „Kunstfestspie-
len Herrenhausen“ als Wechselspiel der Künste abgelöst.
Dieses eigens für Herrenhausen entwickelte Profil
nimmt die mehr als 300jährige Geschichte des Großen
Gartens von Hannover auf, der zu den bedeutendsten
barocken Gartenensembles in Europa gehört, und
steht zugleich für neue künstlerische Formen. Tradition und Aufbruch: beides lässt sich an diesem
historischen Ort aus der Zeit um 1700 festmachen.
Ein
repräsentatives
Architektur-
und
Gartenen-
semble, erbaut von Welfenherzog Ernst August und
Kurfürstin Sophie als Zeichen politischen Machtbewusstseins. Ihr Sohn Georg Ludwig bestieg als
Georg I. den englischen Thron und begründete die
123jährige
Personalunion
zwischen
Hannover
und
Großbritannien.
Zwischen 1676 und 1716 wirkte auch der bedeutende
Universalgelehrte
Gottfried
Wilhelm
Leibniz
in
der Stadt. Herrenhausen wurde zum Begegnungsort
der Künste, Komponisten wie Georg Friedrich Händel
und Agostino Steffani setzten mit ihren Barockopern
neue Maßstäbe, Karneval und Feuerwerk gehörten
ebenfalls zum Repertoire höfischer Vergnügungen.
Leibniz
als
Berater
der
Herrschenden
förderte
diesen Dialog, der bedeutende Philosoph, Mathematiker und Diplomat erfand auch die „Akademie
der Spiele“ – als Ergänzung zur „Akademie der
Wissenschaft“, allerdings konnte er die Idee eines
gesellschaftswissenschaftlichen
„Labors“
nicht
umsetzen, offenbar war er damals seiner Zeit weit
voraus.
Der Garten als Ort der Künste, des philosophischen
Feste und der „spielerischen Aneignung von Welt“ –
auf diesem reichen kulturellen Erbe also basiert
das Konzept der „Kunstfestspiele Herrenhausen“.
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Gesprächs, des wissenschaftlichen Diskurses, der
FESTIVAL THEATERFORMEN,
RIMINI PROTOKOLL,
„REMOTE HANNOVER“
FOTO: ANDREAS ETTER
Internationale und regionale Künstler, alte und
neue Musik, Chöre, ungewohnte Musiktheaterformen
in den historischen Gebäuden und im Dialog mit der
Gartenarchitektur sollen verstärkt überregionale
Strahlkraft entwickeln.
Das anspruchsvolle Format musste sich zunächst
jedoch in der Landeshauptstadt fester verankern.
In Verbindung mit hannoverschen Institutionen und
Partnern gelingt es Schritt für Schritt, die Besucher an innovative Kunstangebote heranzuführen.
Die „Akademie der Spiele“, die von internationalen Künstlern in Zusammenarbeit mit hannoverschen
Schulen gestaltet wird, findet bereits großen Anklang und öffnet das Festival für ein breiteres und
auch jüngeres Publikum.
Die Welt zu Gast in der Landeshauptstadt: Vor allem
jüngeres, urbanes Publikum, auch mit Migrationshintergrund, zieht das „Festival Theaterformen“
an, das haben aktuelle Publikumsumfragen ergeben.
Geschäftsführerin
Lavinia
Francke
spricht
auch
von unterschiedlichen „communities“ in der modernen Stadtgesellschaft, die sich zu den oft auch
fremdsprachigen Produktionen zusammenfinden. Diese
Öffnung ist zugleich Auftrag und Profil der „Theaterformen“, denn das Festival spricht heute bewusst ein breites Publikum jenseits des klassisch
bildungsbürgerlichen Milieus an. Es ist Treffunkt
und Plattform für innovative Performances, für
Diskurse und Konzerte. Die neue Leiterin Martine
Dennewald möchte das Festival 2015 in Hannover
noch weiter in die Stadtgesellschaft hinein öffnen –
teils mit Mitwirkenden aus der Region Hannover,
die selbst auf der Bühne stehen werden.
Das „Festival Theaterformen“ hat sich seit seiner
Gründung 1990 in Braunschweig immer wieder neu erfunden. Seit Mitte der 1990er Jahre ist abwechselnd
in Braunschweig und Hannover zu Gast – jeweils
unter dem Dach der Staatstheater in beiden Städten,
jedoch mit deutlich anderen Schwerpunkten als noch
in den Gründerjahren. Es ist bunter und vielgestaltiger geworden, auf der Suche nach „posthumanen
Dramaturgien“ und nach Partnerschaften mit anderen
Ländern wie beispielsweise 2013 in Hannover mit
der „Kinshasa Connection“. Gespielt wird längst
auch außerhalb der Bühnen, in der City, im Museum,
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DIE KÜNSTLERISCHE LEITERIN
MARTINE DENNEWALD SCHNEIDET DIE
THEATERFORMEN-TORTE ANLÄSSLICH
DES 25. GEBURTSTAGES DES
FESTIVALS AN.
FOTO: ANDREAS ETTER
im Kino, Rahmenprogramme ergänzen das jeweilige
Theaterangebot.
Viele
Projekte
werden
speziell
von den „Theaterformen“ in Auftrag gegeben oder
als Koproduktionen vor Ort realisiert.
Ein deutlicher Kurswechsel – denn das ehrgeizige
Vorhaben
zum
Ausklang
des
20.
Jahrhunderts
in
Braunschweig startete zunächst mit einer anderen
Zielsetzung: Es ging darum, große Namen und international bedeutende Regisseure nach Niedersachsen
zu holen. Unter anderem aus Mitteln der Zonenrandförderung
und
mit
Stiftungsgeldern
brachte
Initiator Bernd Kaufmann, damals Generaldirektor
der Stiftung Niedersachen, das Vorhaben „Theaterformen“ in Braunschweig und Wolfenbüttel, den
Wirkungsstätten Gotthold Ephraim Lessings, voran.
Die ersten „Theaterformen“ 1990 waren dem zeitgenössischen Regietheater und der Auseinandersetzung
mit Shakespeare gewidmet: Man lud Regiegrößen wie
Peter Brook, Peter Stein oder George Tabori ein,
die Messlatte konnte kaum höher liegen. Als sich
FESTIVAL BEST OFF
DISKUSSIONSRUNDE
FOTO: SONJA OCH
1995 am Braunschweiger Staatstheater ein schwerer
Bühnenunfall ereignete, mussten Ausweichquartiere
gefunden werden. Und so kam die Landeshauptstadt
Hannover ins Spiel: Zwei Teile von Tomacz Pandurs
Trilogie der „Göttlichen Komödie“ wurden in die
sogenannte U-Boot-Halle der Hanomag an der Göttinger Straße ausgelagert. Seit 1998 werden die
Theaterformen regelmäßig in beiden Städten – in
Braunschweig und Hannover – veranstaltet.
Im Expo-Jahr 2000, zur Internationalen Weltausstellung, kamen die „Theaterformen“ nach Hannover.
Zu den künstlerischen Höhepunkten gehörten Shakespeares „Hamlet“ in der Regie von Peter Zadek mit
Angela Winkler in der Titelrolle und Genets „Die
Zofen“, in Szene gesetzt und gespielt von Ignaz
Kircher und Gert Voss.
Theater verändert sich, längst gibt es Schnittstellen zur Bildenden Kunst und zum Film. Die damals
frisch gegründete Formation Rimini Protokoll, die
mit „Experten des Alltags“ arbeitet und sie auf
die Bühne holt, ist seit 2002 immer wieder beim
Festival dabei: in der Landeshauptstadt zunächst
mit „Sonde Hannover“, zehn Jahre später in Braunschweig mit dem Stück „100 Prozent Braunschweig“.
In Braunschweig, am Geburtsort, wurde auch das
20jährige Bestehen des internationalen Festivals
„Theaterformen“ gefeiert. Im Jahresrhythmus wird
es in beiden Städten speziell für das Publikum vor
Ort fortgesetzt. Das 25 jährige Jubiläum des Festivals wurde im Juli 2015 in Hannover ausgerichtet –
und zog rund 10.000 Besucher an.
Ein
Schaufenster
der
Freien
Szene:
Hannovers
der Freien Theater Niedersachsens und gleichzeitig
ein
vernetzungsorientiertes
Arbeitstreffen,
wird seit 2011 von der Stiftung Niedersachsen aus-
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jüngstes Festival „Best Off“, die Leistungsschau
gerichtet – ein landesweites Theatertreffen, das
im Zweijahresrhythmus zentral in der Landeshauptstadt veranstaltet wird. „Hier ist Exzellenz vorhanden“, betonte Generalsekretär Joachim Werren,
als das Festival am Ballhof an den Start ging, als
Heimspiel für regionale Gruppen und Theaterkollektive.
Das Festival blickt dabei auf eine lange, sich
ständig
weiterentwickelnde
Geschichte
mit
zwei
Wurzeln zurück: zum einen das 1996 von Martina van
Boxen
(Theaterwerkstatt
Hannover)
und
Cornelia
Bothe (Pavillon) konzipierte Festival der professionellen Freien Theater Niedersachsens, mit
dem Titel „arena“. Zum anderen der Förderpreis
„Frühlingserwachen“
für
die
ausgelobt
vom
ver.
niedersächsische
Die
Theaterbeirat
Freien
der
Theater,
Stadt
Hanno-
Lottostiftung
nahm
sich 1999 des Festivals an, erhöhte das Preisgeld und verlieh ihn prominent und niedersachsenweit
zunächst
in
den
Räumen
des
Pavillon
und der Theaterwerkstatt Hannover und schließlich – jetzt als Festival der Lottostiftung –
an verschiedenen Orten Niedersachsens.
Im
Jahr
2016
kehrt
das
Festival,
das
in
der
Theaterlandschaft innovative Impulse setzen soll,
an seinen Ursprungsort, den Pavillon zurück. Mit
der neuen Festivalkonzeption hat die Stiftung Niedersachsen zugleich ein neues Fördersystem für
die Freie Theaterszene entwickelt: Wer teilnehmen darf, ist schon Sieger. Bewerben können sich
sämtliche Freien professionellen Theater im Land
mit aktuellen Stücken für Kinder, Jugendliche und
Erwachsene, ausgewählt werden sechs Produktionen.
Es geht um Qualität, Vielfalt, um relevante Themen
und künstlerisches Niveau, die Nominierung ist
aufwendig und arbeitsintensiv. Eine Jury mit Ex-
perten aus Niedersachsen schaut sich sämtliche
eingereichte Inszenierungen vor Ort an. Die gekürten Theatergruppen erhalten jeweils ein Preisgeld
von 10.000 Euro und die Möglichkeit, sich während
des Festivals einem breiten Publikum in der Landeshauptstadt vorzustellen, zudem wird von einer
Festivaljury aus Intendanten auswärtiger Spielstätten ein zusätzliches Preisgeld von 5.000 Euro
für besondere Leistungen verliehen. In Kooperation
mit der Gastspielreihe „Spielplatz Niedersachen“
bekommen die Ensembles die Möglichkeit, die nominierten Inszenierungen aus dem Bereich Kinder- und
Jugendtheater auch andernorts zu präsentieren. Das
Festival „Best Off“ soll zugleich eine Startrampe für
Gastspiele der freien Szene Niedersachsens sein –
als Kulturbotschafter auch jenseits der Landesgrenzen.
Von zentraler Bedeutung ist das Rahmenprogramm
des Festivals mit Vorträgen, Künstlergesprächen
und
Debatten
zu
theaterrelevanten
Fragen,
das
Festival wird auf diese Weise zugleich Treffpunkt
und Austausch – mit Binnenwirkung für die Theaterschaffenden und im Gespräch mit dem Publikum.
Kooperationspartner sind der Landesverband Freier
Theater und der Studiengang Darstellendes Spiel.
Zum Auftakt des Festivals 2011 hatten sich 62
Gruppen
beworben,
zu
den
Siegern
gehörten
das
hannoversche Theater fensterzurstadt mit der Bühnenversion „Die Nacht, die Lichter“ nach dem Erzählband von Clemens Meyer und die Fräulein Wunder
AG mit ihrem Projekt zur europäischen Migrationsgeschichte „Auf den Spuren von...“, die in dieser
Ausgabe von „Best Off“ zusätzlich mit dem Festival-
Die Fräulein Wunder AG gehörte auch beim zweiten
„Best-Off“ im Oktober 2013 zu den sechs gekürten
84 / 85
preis ausgezeichnet wurde.
Teilnehmern aus 69 Bewerbern, ausgezeichnet wurde
das inzwischen in Hannover ansässige Ensemble mit
Wurzeln in Hildesheim für die kritische Auseinandersetzung mit modernen Ernährungsformen in der
Dinnertheater-Produktion „Ein Bankett für Tiere“.
Das Festival war mit rund 1.300 Besuchern zu 90%
ausgelastet.
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FESTIVAL BEST OFF, FRÄULEIN WUNDER AG
„EIN BANKETT FÜR TIERE“
FOTO: SONJA OCH
#05 / THEATER
BOULEVARD- UND PRIVATTHEATER
UNTERHALTUNG
NACH MASS
Das Theaterprofil der Stadt prägen auch Boulevardund Privatbühnen wie das Neue Theater an der Georgstraße oder das Theater in der List in einem
ehemaligen Discounter. Am Lindener Berge spielt seit
1970 das Mittwoch-Theater. Ein Boulevardbummel von
der City zu den Quartieren.
Das wäre doch gelacht – eine theaterbegeisterte
Halbmillionenstadt wie Hannover ohne ein verlässliches Angebot an gut gemachter Unterhaltung. Eine
feste Adresse ist das Neue Theater in der Georgstraße, das älteste Privattheater der Stadt liegt an
der elegantesten Flaniermeile. Das Boulevardtheater
wurde 1962 von dem leidenschaftlichen Theatermacher
James von Berlepsch gegründet, zunächst als „Kleines Theater“ in der Mehlstraße, daraus wurde 1964
das Neue Theater in der Georgstraße – eine intime
City-Bühne mit 152 Plätzen und einer kleinen Bar.
Auf dem Spielplan steht modernes Unterhaltungstheater mit populären Titeln wie „Ladies Night“, „Suche
impotenten Mann fürs Leben“ oder „Keinohrhasen“.
Aber auch Klassiker des Boulevards wie die rund
100 Jahre alte Komödie „Der Mustergatte“ von Avery
Hopwood, aufgefrischt von Regisseur Jan Bodinus und
dem künstlerischen Leiter des Hauses, Florian Battermann, finden wieder großes Interesse. Nichts Verkopftes, sondern Theater nach Feierabend, das einfach nur Spaß machen soll. Doch gerade darin liegt
die Schwierigkeit – es muss gelingen, mit den übrigen
Angeboten einer überbordenden Unterhaltungsindustrie zu konkurrieren. Gemeinsam mit Geschäftsführer
Christopher von Berlepsch, dem Sohn des 2008 verstorbenen Theatergründers James von Berlepsch, hat
es Battermann geschafft, Hannovers traditionsreiches
Rund 41 000 Besucher sahen sich in der Spielzeit
2013 / 2014 die 336 Vorstellungen an. Das grenzt schon
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Boulevardtheater wieder flott zu machen.
THEATER IN DER LIST
an ein „kleines Wunder“, denn es war dort eine Zeit
lang sehr still geworden. Die Besucher blieben weg,
und die Kassen des Privattheaters blieben leer,
die Auslastung war auf rund 30 Prozent gesunken.
Hausherr James von Berlepsch, der als Regisseur und
Darsteller aktiv war – und für viele unvergessen
auf seiner Bühne als Professor Traugott Nägler in
Curt Goetz´ Komödie „Das Haus in Montevideo“ –
konnte am Ende seiner Dienstzeit nicht mehr an die
Erfolge der früheren Jahre anknüpfen. Er hinterließ
ein schweres Erbe. Doch das neue Führungsduo nahm
die Herausforderung an.
Boulevard ist und bleibt Schauspielertheater. In
diesem Sinn steuert der vielseitige Theaterunternehmer Florian Battermann nicht nur den künstlerischen Kurs des Neuen Theaters, im Sommer 2013
übernahm er auch die Konzertdirektion Hannover und
etablierte im Theater am Aegi zugleich eine neue
Marke: „Die Komödie im Theater am Aegi“. Unterhaltung pur – dieses Konzept scheint auch hier zu greifen. Die Zahl der Abonnenten blieb stabil, schon in
der ersten Spielzeit konnte der Einzelkartenverkauf
für die Vorstellungen im Theater am Aegi mehr als
verdoppelt werden, bilanziert Battermann zufrieden.
Mit vier ausverkauften Vorstellungen beispielsweise
war die Komödie „Urlaub mit Papa“ 2014 das erfolgreichste Stück der Startsaison. Inzwischen hofft der
Geschäftsmann auf eine „schwarze Null“.
Denn für den rührigen Theatermanager, Autor und
Regisseur, Jahrgang 1971, zählt allein der Publikumsgeschmack: „Diesen Auftrag nehme ich gern an“,
betont der Mann der Komödie, der als Jugendlicher
viele Abende im Theater am Aegi verbrachte und regelrechte
Heimatgefühle
Gastspielhaus
entwickelt
für
hat.
Hannovers
Mit
zentrales
seinem
Unter-
haltungsunternehmen ist der gebürtige Hannoveraner
dort auch der größte „Untermieter“. Das Theater im
Aegi wurde 1994 privatisiert und bietet mit seinen
1200 Plätzen ein buntes Programm aus allen Bereichen der Bühnenkunst.
Auch
in
den
einzelnen
Stadtteilen
präsentieren
90 / 91
KOMÖDIE IM THEATER AM AEGI
kleine private Bühnen Unterhaltungstheater, manch-
mal
an
ungewöhnlichen
Orten,
aber
stets
maßge-
schneidert für ihr Publikum aus der Nachbarschaft.
So ging 2008 das Theater in der List in einer ehemaligen Aldi-Filiale in der Spichernstraße an den
Start, seit 2013 als gemeinnütziger Verein unter
der künstlerischen Leitung von Willi Schlüter. Der
Theatermacher, Jahrgang 1949, studierte Schauspiel
in Hannover und gehörte in den 1970er Jahren zur
NEUES THEATER
Gründergeneration der Freien Szene, zunächst an
der Theaterwerkstatt Hannover, 1985 gründete er
das Junge Theater Hannover und leitete es bis zu
dessen Schließung 1998, der Schauspieler ist auch
auf Bühnen zwischen Hamburg und Basel zu Gast und
gelegentlich in Film- und Fernsehrollen zu sehen.
Im kleinen Theater in der List werden rund 150 Vorstellungen pro Jahr für Erwachsene, für Kinder und
Jugendliche gespielt – das Repertoire reicht vom
Weihnachtsmärchen
zur
zeitgenössischen
Dramatik.
Das Team um Willi Schlüter besteht aus zehn bis
zwölf professionellen Künstlern und Schauspielern,
auch Sibylle Brunner, die viele Jahre am Schauspiel
Hannover engagiert war, steht hier regelmäßig auf
der Bühne. Mit einigen seiner Stücke ist das Theater in der List niedersachsenweit unterwegs.
In
der
Südstadt,
im
Hinterhof
der
Hildesheimer
Straße, hebt sich seit 2006 regelmäßig der Vorhang
in der kleinen Hinterbühne. In einer ehemaligen
Leuchtreklamewerkstatt hat das „Hausensemble“ Theater Flunderboll eine Bühne mit rund 80 Plätzen
eingerichtet. Aus der Amateurtheatergruppe, die
sich
1987
im
Gemeindesaal
der
Athanasiuskirche
angesiedelt hatte, entwickelte sich ein verlässliches Stadtteil-Veranstalter-Team. Inzwischen ist
die Hinterbühne ein beliebter Treffpunkt für Gastspiele unterschiedlicher künstlerischer Färbung –
auf dem Spielplan stehen rund 90 professionelle
wie semiprofessionelle Veranstaltungen pro Saison.
„Vorhang auf“ heißt es auch Am Lindener Berge.
Kenner wissen es längst: In den Räumen über dem
Jazz-Club wird seit mehr als vier Jahrzehnten regelmäßig Theater gespielt – Schiller, Kafka, Yasmina Reza oder auch eigene Bühnenbearbeitungen.
Das
Mittwoch-Theater
wurde
1970
gegründet,
hat
rund 30 Mitglieder und bringt pro Jahr zwei bis
drei Produktionen heraus, die Vorstellungen sind
meist ausverkauft.
„Wir haben uns eine erfolgreiche Nische erarbeitet,
die uns den künstlerischen Freiraum für Experimente
und neue Wege ermöglicht“, sagt Oliver Gruenke. Er
Amateurtheaters der Stadt, wobei die Mitglieder
gern auf einen gewissen Anteil an Professionalität verweisen. Nach wie vor gehören zahlreiche
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gehört seit vielen Jahren zum Team des ältesten
Deutschlehrer und Lehrer im Fach „Darstellendes
Spiel“ zum Ensemble, regelmäßig werden Seminare
mit professionellen Trainern veranstaltet, viele
Amateure haben mittlerweile eine langjährige Bühnenerfahrung, andere wechseln in den Profibereich
und arbeiten heute im Theater oder beim Film.
„Professionalität – woran macht man das fest?“,
fragt Gruenke, im Brotberuf Bankangestellter. Er
spricht von einer „Hybrid-Position“ zwischen Profiund Laientheater und erinnert an den hannoverschen
Kunstkritiker
Ludwig
Zerull.
Der
ausgewiesene
Kenner der Szene soll das Mittwoch-Theater einst
als „professionellstes Amateurtheater des Landes“
bezeichnet haben. An den Schnittstellen entwickeln
sich häufig semiprofessionelle Netzwerke.
Vor allem Amateurtheater sorgen in den Stadtquartieren
für
ein
Kulturprogramm.
des
so
genanntes
Jürgen
niedrigschwelliges
Baumgarten,
Amateurtheaterverbands
Vorsitzender
Niedersachsen
e. V.,
registriert eine „breite Teilhabe“ und wachsendes
Publikumsinteresse.
Amateurensembles
verdienen
kein Geld mit ihren Aufführungen, sie spielen in
ihrer Freizeit. Das Spektrum reicht vom Kinderüber das Studenten- oder Seniorentheater bis zum
nachbarschaftlichen Freiluft-Spektakel. Allein in
Hannover gibt es weit mehr als 30 Laientheater,
mit ihren Vorstellungen erreichen sie etwa 30.000
Zuschauer
jährlich
–
ein
beachtlicher
Anteil,
dabei sind längst nicht alle Hobby-Ensembles und
deren Besucher registriert.
Kultur
für
alle?
Die
„vielfältige
Amateurthe-
aterlandschaft ist ein wesentlicher Bestandteil
der Breitenkultur“, so das Fazit der Studie „Amateurtheater in Niedersachen“, die die Universität
Hildesheim 2014 herausgegeben hat. Die Lebendigkeit und Kreativitat einer Szene zeigt sich nicht
MITTWOCH.THEATER
FOTO: STEFFI SEECK
nur in der Vielfalt ihrer Themen und ästhetischen
Zugänge, sondern auch in der Bandbreite ihrer Or-
94 / 95
ganisationsformen und Zugangsmöglichkeiten.
ADRESSEN
#05 / THEATER
NETZWERK THEATER
IN HANNOVER
FREIES THEATER HANNOVER
[email protected]
www.freies-theater-hannover.de
COMMEDIA FUTURA | THEATER IN DER EISFABRIK
[email protected]
www.commedia-futura.de
FIGURENTHEATERHAUS THEATRIO
[email protected]
www.figurentheaterhaus.de
FIGURENTHEATER MARMELOCK
[email protected]
www.marmelock.de
FIGURENTHEATER DIE FÜCHSE
[email protected]
www.fuchstheater.de
FIGURENTHEATER NEUMOND
www.figurentheater-neumond.de
[email protected]
FIGURENTHEATER SEILER
www.figurentheater-seiler.de
[email protected]
KLECKS-THEATER | KINDERTHEATERHAUS HANNOVER
[email protected]
www.kindertheaterhaus-hannover.de
THEATER IM PAVILLON
[email protected]
AWP - AGENTUR FÜR WELTVERBESSERUNGSPLÄNE
[email protected]
www.ulrikewillberg.de
96 / 97
www.pavillon-hannover.de
FIGURENTHEATER DIE ROTEN FINGER
www.die-roten-finger.de
[email protected]
FRÄULEIN WUNDER AG
[email protected]
www.fraeuleinwunderag.net
FREIE THEATERPRODUKTIONEN | IYABO KACZMAREK
[email protected]
www.freie-theaterproduktionen.de
THEATER AN DER GLOCKSEE
[email protected]
www.theater-an-der-glocksee.de
THEATERERLEBNIS
[email protected]
www.theater-erlebnis.de
THEATER FENSTERZURSTADT
[email protected]
www.fensterzurstadt.de
THEATER SÝSTEMA
[email protected]
www.theater-systema.de
THEATER TRIEBWERK
[email protected]
www.theater-triebwerk.de
THEATERWERKSTATT HANNOVER
[email protected]
www.theaterwerkstatt-hannover.de
HOCHSCHULE FÜR MUSIK,
THEATER UND MEDIEN HANNOVER
[email protected]
www.hmtm-hannover.de
LEIBNITZ UNIVERSITÄT HANNOVER |
DARSTELLENDES SPIEL
[email protected]
www.darstellendesspiel.uni-hannover.de
NIEDERSÄCHSISCHE STAATSTHEATER GMBH
Tel: 0511-999900
www.staatstheater-hannover.de
THEATERPÄDAGOGISCHES ZENTRUM
[email protected]
www.tpz-hannover.de
THEATERBEIRAT DER LANDESHAUPTSTADT HANNOVER
Kontakt über Kulturbüro
[email protected]
FESTIVAL THEATERFORMEN
Niedersächsische Staatstheater GmbH
Ballhofplatz 5
30159 Hannover
FESTIVAL BEST OFF
Stiftung Niedersächsen, Künstlerhaus
Sophienstraße 2
30159 Hannover
KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN
Herrenhäuser Gärten
Herrenhäuser Straße 4
98 / 99
30419 Hannover
HERAUSGEBERIN:
Landeshauptstadt Hannover
Kultur- und Schuldezernat
Trammplatz 2
30159 Hannover
KONTAKT:
Landeshauptstadt Hannover
Kulturbüro
Friedrichswall 15
30159 Hannover
Tel. 0511 / 1684 4163
IMPRESSUM
[email protected]
V.I.S.D.P:
Marlis Drevermann
REDAKTION UND TEXTE:
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Hannover im Juli 2015
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