Die Suche nach neuen Verbindungen mit immer höheren Übergangstemperaturen zwischen Normalleitung und Supraleitung steht im Mittelpunkt der Forschung zum Phänomen der Supraleitung. Ein Forschungsboom Ende der 80er Jahre führte zur Entdeckung supraleitender multinärer Oxocuprate. Diese zeigen die gegenwärtig höchsten Übergangstemperaturen, die deutlich über der Siedetemperatur von flüssigem Stickstoff liegen. Als Synonym für den widerstandslosen elektrischen Stromfluss weckt die Supraleitung Hoffnungen auf bedeutende Anwendungen, die gegenwärtig in Pilotprojekten erprobt werden. Eine neue Forschungswelle wurde infolge der Entdeckung der Supraleitfähigkeit von Magnesiumdiborid ausgelöst. Anziehende und abstoßende Wechselwirkung zwischen Supraleiter und Permanentmagneten (vgl. Abb. 8). Supraleitfähigkeit Strom eiskalt serviert F RANK S CHWAIGERER , B ERND S AILER , J OCHEN G LASER UND H.-J ÜRGEN M EYER Historie Im Jahre 1908 gelang es dem holländischen Wissenschaftler Heike Kamerlingh Onnes, Helium (Siedetemperatur 4,2 K) zu verflüssigen. Damit war ein Kühlmedium für den bis dahin unerreichten Temperaturbereich in der Nähe des absoluten Nullpunktes erschlossen. Messungen des elektrischen Widerstandes von Metallen unter Heliumkühlung erhärteten die Annahme, dass der elektrische Widerstand von Metallen durch Schwingungen der Atome hervorgerufen wird und somit bei niedrigen Temperaturen gegen null geht. Der supraleitende Zustand der Materie wurde 1911 von Onnes entdeckt. Er konnte zeigen, dass der elektrische Widerstand von Quecksilber unterhalb von 4,2 K einen unmessbar kleinen Wert annimmt [1] – tatsächlich verschwindet er vollständig. Deshalb gilt die Annahme, dass ein Suprastrom in einem supraleitenden Ring unendlich lange fließt, allerdings existieren die dafür erforderlichen fehlerfreien Materialien nicht. In den folgenden Jahrzehnten wurden supraleitende Eigenschaften bei zahlreichen Metallen, intermetallischen Verbindungen sowie bei verschiedensten Substanzgruppen, einschließlich Metalloxiden, gefunden (Tabelle 1). Erste Erkenntnisse über die Supraleitung ließen auf ein ausgesprochenes Tieftemperaturphänomen schließen, für das Bar108 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | deen, Cooper und Schrieffer im Rahmen ihrer BCS-Theorie im Jahre 1957 eine detaillierte physikalische Erklärung gaben [2]. Die bis 1986 bekannten Supraleiter zeigen niedrige Übergangstemperaturen. Bei der für Anwendungen in starken Magnetfeldern häufig verwendeten intermetallischen Verbindung Nb3Sn liegt sie bei Tc ≈ 18 K, für eine Legierung aus je ca. 50 Masseprozent Nb und Ti, die für Anwendungen in schwächeren Magnetfeldern häufig eingesetzt wird, bei Tc ≈ 9 K. Beide müssen mit flüssigem Helium gekühlt werden. Der praktischen Anwendung solcher supraleitfähigen Materialien sind daher enge wirtschaftliche Grenzen gesetzt, denn Helium ist sehr teuer. Hohe Übergangstemperaturen bei Oxocupraten Die Entwicklung der Hochtemperatursupraleiter (HTSL) wurde im Jahre 1986 durch die Entdeckung supraleitfähiger Oxocuprate im System La-Ba-Cu-O von Bednorz und Müller [3] eingeläutet. Untersuchungen an Jahn-Tellerverzerrten Metalloxiden zeigten, dass Oxocuprate im Vergleich zu den bisher bekannten Supraleitern deutlich höhere Übergangstemperaturen haben. Dieser Befund löste eine Forschungswelle aus, die mit der Entdeckung von YBa2Cu3O7-x (auch als 1 2 3 oder YBCO bezeichnet) einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. YBa2Cu3O7-x war die er- SUPRALEITFÄHIGKEIT | F E S T K Ö R PE RC H E M I E ste Verbindung, für die eine atomigen, linearen B-C-B-Anionen zählen zu den gegenÜbergangstemperatur (Tc ≈ 90 K) wärtig untersuchten Systemen. oberhalb des Siedepunktes von Ein neuer Forschungsboom zeichnete sich durch die Entdeckung supraleitender Eigenschaften von MgB2 [8] im flüssigem Stickstoff nachgewiesen wurde. In den folgenden Januar 2001 durch die japanische Arbeitsgruppe um J. Jahren wurden zahlreiche weiAkimitsu ab. Die unerwartet hohe Übergangstemperatur tere Oxocuprate mit größerer von 39 K motivierte viele Forscher zu Untersuchungen in struktureller und chemischer verwandten Systemen. Komplexität entdeckt. Die über HTSL gewonnenen ErkenntnisDie Strukturen von supraleitfähigen se machen deutlich, dass die Verbindungen bisher benutzten Modelle zur Die bekannten supraleitfähigen Verbindungen weisen unBeschreibung des Phänomens terschiedlichste Strukturen auf. Das Auftreten von SupraSupraleitung unzureichend sind. leitung setzt demnach keine bestimmte Struktur voraus, So muss für eine neue suprahängt aber dennoch von der Art und der Anordnung der leitfähige Verbindung stets eine Atome ab, da ein Element in verschiedenen Modifikationen empirische Optimierung durchunterschiedliche Übergangstemperaturen zeigen kann und geführt werden, die neben der bestimmte Strukturen besonders häufig bei Supraleitern aufSynthese aus Vorläuferverbindungen (Pretreten. Für die chemische Betrachtung kann cursoren) auch die geeignete Reaktionsangenommen werden, dass die SupraleitAUS OXOCUPRATEN führung (Temperatur, Dauer, Atmosphäre) fähigkeit vom Zusammenspiel von Struktur, LASSEN SICH sowie die Zusammensetzung, (z. B. EinstelElektronenzahl und Bindungsverhältnissen SUPRALEITFÄHIGE lung des Sauerstoffgehalts) umfasst. Neben abhängt. DRÄHTE HERSTELLEN möglichst hohen Sprungtemperaturen werDie supraleitfähigen Metalle, intermeden für technische Anwendungen hohe kritallischen Verbindungen und Metalloxide tische Stromstärken bzw. kritische Magnetbilden überwiegend kubische Strukturen. feldstärken benötigt [4]. TiO und NbO (Tc ≈ 1 K) können als DeUrsprünglich nahm man an, dass diese als keramische fektvarianten vom NaCl-Typ beschrieben werden. Von den Materialien [5] klassifizierten Verbindungen nicht zur Herzahlreichen supraleitenden Elementen besitzt Niob (kubisch stellung supraleitfähiger Drähte geeignet wären. Die wirtinnenzentrierte Struktur) die höchste Sprungtemperatur (Tc schaftliche Bedeutung der Materialien hat ihrer technischen ≈ 9 K). NbN wird bei ca. 15 K supraleitend. ÜbergangEntwicklung jedoch Vorschub geleistet: Inzwischen werstemperaturen mit bis zu 23 K zeigen die technisch wichden supraleitfähige Drähte, die Bandleiter, als Verbundstoftigen Verbindungen Nb3Ge und Nb3Sn, die im kubischen fe aus einem supraleitfähigen Oxocupratkern, der von einem metallischen Mantel umhüllt ist, hergestellt. Andere supraleitfähige Verbindungen Zu den supraleitfähigen Materialien gehören neben Oxocupraten auch Oxobismutate, Fulleride, Carbide, Boride, Nitridoborate und Boridocarbide. Die höchsten gesicherten Übergangstemperaturen für Fulleride werden durch Rb3C60 und Cs2RbC60 markiert. Bei Carbiden und Carbidhalogeniden der Seltenerdmetalle ist Supraleitfähigkeit vermutlich an das Vorliegen von C2-Einheiten gekoppelt. Dabei wird der partiellen Besetzung von π*-Zuständen eine dominante Rolle bei der Bildung von Cooper-Paaren zugewiesen [6]. Eine charakteristische auf die C2-Einheit übertragene Valenzelektronenzahl scheint eine wichtige Rolle für die Supraleitung zu spielen, ähnlich wie die Valenzelektronenkonzentration nach der Regel von Matthias für intermetallische Phasen [7]. Aber auch Übergangsmetallcarbide wie Nb6C5, die in Defektvarianten des NaCl-Typs kristallisieren und isolierte C-Atome enthalten, zeigen Supraleitung. Seltenerdmetall-Nitridoborat-Nitride SE3Ni2(BN)2N1-x mit den zu C2 isoelektronischen BN-Anionen und Seltenerdmetall-Boridocarbide SENi2(B2C) mit drei- TA B . 1 | Ü B E RG A N G S T E M PE R AT U R E N * E I N I G E R S U PR A L E I T F Ä H I G E R M AT E R I A L I E N Supraleiter Tc in K TiO Hg Nb La3Ni2(BN)2N1-x NbN LuNi2(B2C) Nb3Ge Ba0,6K0,4BiO3 Cs2RbC60 MgB2 YBa2Cu3O7-x Bi2Sr2Ca2Cu3O10+δ Tl2Ba2Ca2Cu3O10+δ HgBa2Ca2Cu3O8+δ 1 4 9 13 15 17 23 30 33 39 93 110 125 133, 160 (unter Druck) *Die angegebenen Übergangstemperaturen hängen z. T. stark von der Reinheit, Kristallgröße und vom Gefüge des Materials ab. Nr. 2 36. Jahrgang 2002 | | Chemie in unserer Zeit | 109 ABB. 1 | N b 3S n ABB. 3 A15-Typ kristallisieren. Die Struktur von Nb3Sn ist durch lineare Anordnungen von Niobatomen längs der Achsenrichtungen der Elementarzelle gekennzeichnet (Abbildung 1). Bei Temperaturerniedrigung wird die Äquivalenz der drei Stränge aufgehoben. In der tetragonalen Tieftemperaturform resultieren drei unabhängige lineare Anordnungen mit paarweise aufeinander zu gerückten Niobatomen. Für Legierungen und Übergangsmetalle gibt die Matthias-Regel [7] über die mittlere Valenzelektronenzahl die höchste erreichbare Übergangstemperatur an. Diese sollte für LegieElementarzelle der kubischen Struktur rungen bei etwa 4,7 oder 6,5 Valenzvon Nb3Sn. Niobatome (braun) mit Nbelektronen (VE) pro Atom liegen. Für Nb-Abständen von 264 pm sind zu lineaNb3Sn beträgt die Valenzelektronenren Strängen verbunden. Die kürzesten Nb-Nb-Abstände in Niobmetall betragen konzentration (3 x 5 VE von Nb + 4 VE 286 pm. von Sn)/4 = 4,75. MgB2 kristallisiert wie die meisten Boride der Zusammensetzung MB2 im AlB2-Typ (Abbildung 2). Darin bilden die Boratome hexagonale Netze, die topologisch denen von Graphit entsprechen. Die Struktur kann als vollständig intercalierte primitive Graphitstruktur angesehen werden, in der alle hexagonal-prismatischen Hohlräume mit Metallatomen besetzt sind. Im Unterschied zu den kubischen ABB. 2 MgB2 Strukturen, für die die BCS-Theorie gilt, bilden Oxocuprate Strukturen mit schichtartigem Aufbau. Ihr gemeinsames Merkmal sind die zweidimensionalen CuO2-Leitungsschichten. Als Vorläufer der Oxocuprate können Strukturen vom Perowskit-Typ angesehen werden, mit dem das supraleitfähige Oxobismutat Ba0,6K0,4BiO3 eng verwandt ist. Das wohl am genauesten charakterisierte und intensivsten untersuchte Oxocuprat ist Y1Ba2Cu3O7-x, das vielfach als 1 2 3-Oxid bezeichnet wird. Die Struktur von YBa2Cu3O7 kann als eine Defektvariante vom PeAusschnitt aus der Struktur von MgB2. Mg-Atome sind rot gezeichnet, B-Atome rowskit-Typ (AMO3) aufgefasst wergrün. den, in der 2/9 der Sauerstoffpositionen unbesetzt bleiben (). Aus einer verdreifachten Elementarzelle vom Perowskit-Typ (Abbildung 3) kann die Struktur von YBa2Cu3O7 (Abbildung 4) abgeleitet werden: | 3 AMO3 ≡ (A3)(M3)(O9) ≈ (YBa2)(Cu3)(O72) In der (nicht supraleitfähigen) tetragonalen Hochtemperaturform von YBa2Cu3O7-x mit x > 0,5 sind die Sauerstofflagen in den quadratischen a-b-Basisflächen der Ele110 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | | PE ROWS KI T Verdreifachte Elementarzelle der kubischen Struktur des Minerals Perowskit CaTiO3 (Ti-Atome sind rot, O-Atome blau und Ca-Atome sind schwarz gezeichnet). ABB. 4 a | Y b a 2 Cu 3 O 6 Tetragonale (oben) und orthorhombische (rechts) Elementarzelle von YBa2Cu3O7-x. Cu-Atome sind rot, O-Atome blau, Ba-Atome schwarz und Y-Atome grün gezeichnet. mentarzelle nur partiell und für x = 1 gar nicht besetzt (Abbildung 4 a). Durch Tempern bei etwa 500 °C entsteht durch Oxidation die (supraleitfähige) orthorhombische Tieftemperaturmodifikation (x ≈ 0) mit geordneter Verteilung der Sauerstoffatome (Abbildung 4 b). In der orthorhombischen Struktur haben die Kupferatome zwei unterschiedliche Plätze: In der Grundfläche einer vierseitigen Pyramide aus Sauerstoffatomen bilden sie die Leitungsschichten und mit vier Sauerstoffnachbarn die Ladungsreservoirs. Parallel zu den Leitungsschichten ist die elektrische Leitfähigkeit wesentlich größer als senkrecht zu ihnen. Gemäß einer Betrachtung lokalisierter Ladungsverteilungen besitzen die Kupferatome in Leitungsschichten die Oxidationszahl +2. Diese Schichten sind von Ladungsreservoirs mit Kupferatomen der Oxidationszahl +3 umgeben. Für das Auftreten von Supraleitung spielt der Ladungsausgleich zwischen Kupferatomen in beiden Schichten in Y3+(Ba2+)2(Cu2+)2Cu3+O7 eine wichtige Rolle. Ein entscheidender Parameter für die Eigenschaften von YBa2Cu3O7-x ist aber der Sauerstoffgehalt und offenbar auch die Ordnung auf den Sauerstoffplätzen. Die Übergangstemperatur sinkt von rund 90 K für x = 0 auf etwa 60 K für x = 0,25 ab. Bei x > 0,5 bricht die Supraleitung zusammen und bei x = 1 ist Cu+ in den Ladungsreservoirs nur noch zweifach (linear) entlang der c-Achse von Sauerstoff koordiniert. Ein Strukturtyp, der supraleitende Eigenschaften zeigt, ist durch Atomsubstitutionen in begrenzter Weise geometrisch und elektronisch durchstimmbar. Dies hat dazu geführt, dass Oxocuprate mit immer komplizierteren Zusammensetzungen und höheren Sprungtemperaturen synthetisiert wurden. Ein Problem bei der Beschreibung einiger die- SUPRALEITFÄHIGKEIT ABB. 4 b | Y B a 2 Cu 3 O 7 ABB. 5 a | 2201 ABB. 5 b | 2212 ABB. 5 c | | F E S T K Ö R PE RC H E M I E 2223 Abb. 5 Idealisierte Elementarzellen von Bi2Sr2Ca0Cu1O6 (2201), Bi2Sr2Ca1Cu2O8 (2212), Bi2Sr2Ca2Cu3O10 (2223) mit zwei Formeleinheiten (von links nach rechts). Cu-Atome sind rot, O-Atome blau, Sr-Atome braun, Bi-Atome schwarz und CaAtome sind grün gezeichnet. In der tetragonalen Struktur sind die in der a-b-Ebene (in 0, 1/2, 0 und 1/2, 0, 0) eingezeichneten Sauerstoffatome nur zur Hälfte vorhanden. ser Strukturen ist, dass sie langperiodisch moduliert sind und Fehlordnungen aufweisen. Die Strukturen dieser kompliziert aufgebauten Oxocuprate können als Abfolgen von Schichten aus MO (bzw. M) und CuO2 betrachtet werden. Bei Strukturbeschreibungen werden diese Schichten als Ausschnitte des NaCl- und Perowskit-Typs bezeichnet. In den CuO2-Leitungsschichten bewegen sich die Ladungsträger. Dazwischen liegen Ladungsreservoirs aus MO bzw. M. Das elektronische Zusammenspiel dieser zwei Schichtarten variiert von System zu System. Die bisher höchsten Übergangstemperaturen wurden in den Systemen Bi-Sr-Ca-Cu-O (Tc ≈ 110 K), Tl-Ba-Ca-Cu-O (Tc ≈ 125 K) und Hg-Ba-Ca-Cu-O (Tc ≈ 133 K, unter Druck: Tc ≈ 160 K) gefunden. Hier soll die wichtige Familie Bi2Sr2Can-1CunO4+2n+δ mit n = 1, 2 und 3 beispielhaft vorgestellt werden. Die Strukturen sind aus n benachbarten CuO2-Schichten aufgebaut (Abbildung 5). Die einfachste Verbindung mit n = 1 enthält zum NaCl-Typ analoge Schichten aus BiO und zum Perowskit-Typ analoge Schichten aus SrO und CuO2 im Verhältnis 2 : 2 : 1. Im Laborjargon werden diese Verbindungen gemäß der Anzahl benachbarter CuO2-Schichten als 1-, 2- oder 3-Schichter oder gemäß ihrer Zusammensetzungen als (BSCCO-) 2201, 2212 und 2223 bezeichnet. Wie Tabelle 2 zeigt, nimmt die Übergangstemperatur in der Reihe von n = 1 – 3 zu. Die Verbindung mit n = 4 konnte bisher nicht rein erhalten werden. Zur Reindarstellung von 2223 hat sich die partielle Substitution von Bi mit Pb, ausgedrückt durch die allgemeine Schreibweise (Bi,Pb)2Sr2Ca2Cu3O10+δ (kurz: (Bi,Pb)-2223), bewährt. Elektrische und magnetische Eigenschaften Materialien werden hinsichtlich ihrer elektrischen Leitfähigkeitseigenschaften in Isolatoren, Halbleiter und Metalle eingeteilt [9] (Abbildung 6). Eine einfache Unterscheidung kann anhand von berechneten oder gemessenen Zustandsdichten getroffen werden. Diese werden durch die Auftragung von Energien über der Anzahl von Energiezuständen (E über N(E)) präsentiert. Dabei wird zwischen besetzten und unbesetzten [10] Zuständen aus Valenz- und Leitungsbändern unterschieden. Klassische Isolatoren sind transparente Materialien mit großen Bandlücken zwischen dem höchsten besetzten und dem tiefsten unbesetzten En- TA B . 2 | Eine ausführliche Darstellung des Bändermodells findet sich z.B. in Chem. unserer Zeit 2001, 35, 42. Ü B E RG A N G S T E M PE R AT U R E N I N D E R FA M I L I E B i 2 S r 2 C a n – 1 Cu n O 4 + 2 n + δ m i t n = 1 , 2 u n d 3 . Substanz Anzahl Übergangstemperatur benachbarter in K CuO2-Schichten, n Bi2Sr2CuO6+δ Bi2Sr2CaCu2O8+δ (Bi,Pb)2Sr2Ca2Cu3O10+δ 1 2 3 Nr. 2 36. Jahrgang 2002 | 10 ca. 80 110 | Chemie in unserer Zeit | 111 ABB. 6 | I S O L ATO R E N , H A L B L E I T E R , M E TA L L E ABB. 7 | E I G E N S C H A F T E N VO N ( B i P b ) - 2 2 2 3 Charakteristika von Isolatoren, Halbleitern und Metallen [11]. ergiezustand. Halbleiter sind undurchsichtig und besitzen kleine Bandlücken zwischen Valenz- und Leitungsband. Um diese zu überwinden und elektrische Leitfähigkeit zu erzeugen, muss einem Halbleiter Aktivierungsenergie zugeführt werden. Metalle zeigen hohe Reflektivitäten im sichtbaren Bereich des Lichtes sowie im IR-Bereich und sehen meistens glänzend aus. Im Zustandsdichteschema wird der metallische Zustand durch ein teilweise besetztes Energieband oder durch Überlappung von Valenz- und Leitungsband erklärt. Der höchste besetzte Energiezustand (bei gegebener Temperatur) wird durch die Fermi-Energie (EF) markiert. Bei 0 K liegen die Elektronen am Fermi-Niveau gepaart vor. Bei höheren Temperaturen können Elektronen auch energetisch höher liegende Energiezustände besetzen. Obwohl die Anregungsenergie zur Besetzung höherer Zustände bei Metallen minimal ist, wird die Beweglichkeit der Elektronen im Festkörper durch die mit steigender Temperatur zunehmende Zahl an Kollisionen mit Atomen eingeschränkt. Deshalb nimmt bei Metallen im Unterschied zu Halbleitern und Isolatoren der elektrische Widerstand mit der Temperatur zu. Isolatoren verhalten sich im Magnetfeld üblicherweise diamagnetisch. Kennzeichnend hierfür ist der negative, temperaturunabhängige Wert ihrer magnetischen Suszeptibilität χ. Das magnetische Verhalten von typischen Metallen, der temperaturunabhängige Pauli-Paramagnetismus, wird durch eine geringe Zahl von ungepaarten Elektronen am Fermi-Niveau verursacht, die auch für die elektrische Leitfähigkeit verantwortlich sind. Im Magnetfeld richten sich die magnetischen Momente (Spins) dieser ungepaarten Elektronen parallel zum Feld aus und liefern positive, nahezu temperaturunabhängige Werte der magnetischen Suszeptibilität. Viele Übergangsmetallverbindungen mit teilweise gefüllten d-Energiezuständen verhalten sich aber trotz kleiner oder keiner Bandlücken nicht wie Metalle, sondern wie Isolatoren (z.B. MnO). Dieses Verhalten resultiert aus elektronisch lokalisierten Elektronenzuständen am FermiNiveau und tritt im Zusammenhang mit ferro- oder antiferromagnetischen Ordnungszuständen auf. 112 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | Temperaturabhängigkeit des spezifischen Widerstands und der magnetischen Suszeptibilität für einen Supraleiter vom Typ (Bi,Pb)2Sr2Ca2Cu3O10+δ. Das Verhalten eines supraleitfähigen Körpers im externen Magnetfeld ist schematisch illustriert. Der supraleitende Zustand Eine Besonderheit stellt der supraleitende Zustand dar. Zur Abgrenzung werden isolierendes, halbleitendes und metallisches Verhalten von Materie als normalleitender Zustand bezeichnet. Der Übergang von Materie vom normalleitenden in den supraleitenden Zustand bei der Übergangstemperatur (auch Sprungtemperatur oder kritische Temperatur, Tc(ritical)) ist durch zwei grundlegende Eigenschaften charakterisiert: 1. Der elektrische Widerstand fällt unterhalb von Tc auf einen unmessbar kleinen Wert ab. 2. Die magnetische Suszeptibilität sinkt unterhalb von Tc stark ab und nimmt negative Werte an. Dieses Verhalten entspricht dem eines sehr starken Diamagneten, der die Feldlinien eines von außen einwirkenden Magnetfeldes aus seinem Inneren verdrängt (Abbildung 7). Die Feldlinien des äußeren Magnetfeldes werden bis auf einen dünnen Randbereich aus dem Volumen des Supraleiters verdrängt. Daraus resultiert z. B. das Schweben einer SUPRALEITFÄHIGKEIT Abb. 8 Abstoßende und anziehende Wechselwirkung zwischen Supraleiter und Permanentmagneten. Eine aufgrund des Meissner-Ochsenfeld-Effektes über einem Ringmagneten schwebende Supraleitertablette aus (Bi,Pb)2Sr2Ca2Cu3O10+δ. Unter dem Ringmagneten befindet sich eine Supraleitertablette gleichen Materials, zur Demonstration der anziehenden Wirkung aufgrund des Pinning-Verhaltens. ABB. 9 | | F E S T K Ö R PE RC H E M I E M AG N E T I S I E R U N G S KU RV E N Magnetisierungskurven von Supraleitern 1. und 2. Art (gepunktete und durchgezogene Linie). Supraleitertablette über einem Magneten gemäß dem Meissner-Ochsenfeld-Effekt [12] (Abbildung 8). Um diesen Schwebezustand zu erreichen, ist es unerheblich, ob das supraleitfähige Material vor oder nach dem Unterschreiten der Übergangstemperatur in das Magnetfeld gebracht wurde. Einteilung von Supraleitern Nicht nur durch das Überschreiten der Übergangstemperatur, sondern auch der Einfluss eines Magnetfeldes kann den supraleitenden Zustand zusammenbrechen lassen. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um ein externes Magnetfeld handelt oder ob das Magnetfeld durch den im Supraleiter fließenden Suprastrom selbst erzeugt wird. Für praktische Anwendungen besteht natürlich besonderes Interesse an Materialien, deren supraleitfähiger Zustand auch in Gegenwart starker Magnetfelder erhalten bleibt. Die kritische Magnetfeldstärke, welche den Übergang zwischen dem supraleitenden und dem normalleitenden Zustand kennzeichnet, wird Hc genannt. Hinsichtlich des Übergangsverhaltens in Abhängigkeit von der Magnetfeldstärke wird zwischen Supraleitern 1. Art und 2. Art (oder Ordnung) unterschieden. Bei denen 1. Art wird die Magnetisierung proportional zur Magnetfeldstärke immer stärker negativ [13]. Beim Überschreiten von Hc erfolgt ein scharfer Übergang in den normalleitenden Zustand. Beim Unterschreiten von Hc setzt die Supraleitung ebenso plötzlich wieder ein. Zu diesem Typ zählen supraleitfähige Elemente, wie V, Sn oder Hg. Bei Supraleitern 2. Art setzt der Übergang eher schleppend nach dem Überschreiten von Hc1 ein. Im Übergangszustand zwischen Hc1 und Hc2 dringt magnetischer Fluss mit zunehmender Magnetfeldstärke fortschreitend in das supraleitende Material ein (Shubnikov-Phase), bis die Supraleitung zusammenbricht (Abbildung 9) [14, 15, 16]. Die Shubnikov-Phase Im Zwischenzustand (zwischen Hc1 und Hc2) wird das Volumen von Supraleitern 2. Art nicht gleichmäßig vom Magnetfeld durchsetzt. In dieser Shubnikov-Phase koexistieren supra- und normalleitende Bereiche im Material. Da die supraleitenden Bereiche feldfrei sein müssen, kann sich der magnetische Fluss nur in normalleitenden Bereichen befinden. Die Feldlinien durchziehen die normalleitenden Bereiche des Materials in Richtung des angelegten Feldes und sind von Kreisströmen umgeben, die dafür sorgen, dass der Rest des Supraleiters feldfrei bleibt (Abbildung 10). Weil die magnetischen Feldlinien den Supraleiter in einzelnen nebeneinander verlaufenden Schläuchen durchlaufen, werden sie auch Flussschläuche genannt. Jeder Flussschlauch enthält ein Flussquant [17]. Dass diese Vorstellungen durchaus real sind, kann mit Hilfe der magnetischen Dekoration gezeigt werden. Bei diesem Verfahren wird auf eine supraleitende Probe in der Shubnikov-Phase ein sehr feines ferromagnetisches Pulver aufgebracht. Das Pulver wird aus supraleitenden Bereichen verdrängt, sammelt sich in Bereichen hoher Magnetfeldstärke an und markiert so die Flussschläuche (Abbildung 11). Wird die von außen angelegte Feldstärke erhöht, dringt immer mehr magnetischer Fluss in die Probe ein, und die Flussschlauchdichte erhöht sich, bis keine supraleitenden Bereiche mehr vorhanden sind. Diesem Punkt ordnet man die obere kritische Feldstärke Hc2 zu, die um ein Vielfaches höher ist als Hc bei Supraleitern 1. Art. Da die Supraleitung auch bei hohen Feldstärken (einige zig kOe bzw. mehrere Mio. A/m) erhalten bleibt, sind Supraleiter 2. Art, zu denen auch die supraleitenden Oxocuprate gehören, die für die Anwendungen interessanten Materialien. Als Einheit der Magnetfeldstärke wird heute in der Magnetochemie überwiegend Oersted verwendet (CGS-System). Die SI-Einheit ist Ampere/ Meter. Umrechnung 1 Oe = 1000/4 π) A/m. Stromtransport und Pinning Fließt ein Transportstrom durch einen Supraleiter 2. Art, treten noch weitere Effekte in Erscheinung. Zum einen erzeugt jeder Strom in einem Leiter ein Magnetfeld, das mit steigender Stromstärke größer wird. So kann auch ein Transportstrom durch Wirkung seines Eigenfeldes in der Lage sein, die OXOCUPRATE: Supraleitung aufzuheben. Zudem SUPRALEITUNG sind die Flussschläuche nicht statisch, sondern können sich durch AUCH BEI HOHEN den Supraleiter bewegen. Diese MAGNETFELD Bewegung wird durch den STÄRKEN fließenden Strom verursacht und äußert sich in einer Erwärmung des Leiters, also einem Energieverlust. Das Problem der Flussschlauchwanderung kann jedoch für intermetallische Phasen durch absichtlich erzeugte normalleitende Ausscheidungen unterbunden werden (Pinning). Im Falle der Oxocuprate reichen solche Ausscheidungen allerdings nicht mehr aus. Da die KohärenzNr. 2 36. Jahrgang 2002 | | Chemie in unserer Zeit | 113 ABB. 10 > Schematische Darstellung der Shubnikov-Phase. Flussschläuche (normalleitende Bereiche) sind blau, die induzierten Kreisströme rot und supraleitende Bereiche gelb gezeichnet. | F LU S S S C H L Ä U C H E , S C H E M AT I S C H ABB. 11 | F LU S S S C H L Ä U C H E , M A R K I E R T >> Magnetisch dekorierter Supraleiter zur Markierung der Flussschläuche. Im Nullfeld eingefrorener Fluss [18]. länge (vgl. Abschnitt über Cooper-Paare) nicht mehr im 1000 nm-, sondern im 1 nm-Bereich liegt, müssen Pinningoder Haftzentren in atomarer Größenordnung eingeführt werden. Als günstig hierfür haben sich Kristalldefekte oder Dotierungen durch paramagnetische Ionen erwiesen [19]. Die Flussschlauchverankerung hat weitere Konsequenzen. Konnte bei einem Supraleiter 2. Art ohne Pinning die Magnetisierungskurve reversibel durchlaufen werden, ist dies bei Materialien mit Pinning-Verhalten nicht mehr möglich, da magnetischer Fluss im Material verbleibt und so eine Restmagnetisierung (Remanenz) hervorruft. Durch diese Irreversibilität zeigen solche Supraleiter ein ausgeprägtes Hystereseverhalten, ganz ähnlich dem eines Ferromagneten (Abbildung 12). Zur Aufzeichnung des Hystereseverhaltens wird der Supraleiter ohne Magnetfeld unter seine Sprungtemperatur abgekühlt und anschließend die Magnetfeldstärke langsam erhöht. Dabei steigt die Magnetisierung linear negativ an, wie bei den Supraleitern 1. Art. Beim Erreichen des unteren kritischen Feldes Hc1 dringt magnetischer Fluss in das Material ein. Der supraleitende Zustand bleibt dabei erhalten. Die Magnetisierung steigt nun nicht mehr negativ proportional zum angelegten Feld, sondern wird allmählich geringer und würde beim oberen kritischen Feld Hc2 den Wert Null erreichen. Bei der in Abbildung 11 gezeigten Messung ist dies jedoch nicht der Fall, da mit den normalerweise benutzten Magnetometern die benötigte Feldstärke nicht erzeugt werden kann. Durch das Pinning bleibt magnetischer Fluss in den Flussschläuchen „gefangen“, so dass bei einer Erniedrigung des äußeren Feldes die remanente Magnetisierung mitgemessen wird, da in den Flussschläuchen die Feldliniendichte konstant und höher ist als im Außenfeld (vgl. mit paramagnetischen oder ferromagnetischen Substanzen). Abhängig davon, wie gut die Flussschläuche in der Probe haften bleiben, kehrt sich das Vorzeichen der Magnetisierung bei mehr oder weniger hohen Außenfeldern um. Wird das äußere Feld umgepolt, sinkt die Magnetisierung wieder. Bei -Hc2 würde das Material in den nor114 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | malleitenden Zustand kommen. Aus der remanenten Magnetisierung bei 0 Oe kann nach Bean (sofern man die Kristallitgröße kennt) [20, 21] die kritische Stromdichte errechnet werden. Diese liegt bei den Oxocupraten im Bereich von mehreren Millionen A /cm2 (bei 5 K) – ein weiterer Grund, warum diese Materialien für technische Anwendungen so interessant sind. Da durch das Pinning magnetischer Fluss im Supraleiter verbleibt, zeigt sich neben dem abstoßenden MeissnerOchsenfeld-Effekt auch ein durch das Pinning entstandener anziehender Effekt (Abbildung 8). Temperaturabhängigkeit Bisher wurde der Einfluss der Temperatur (Tc) und des Magnetfeldes (Hc) auf den Übergang zwischen Normal- und Supraleitung getrennt voneinander betrachtet. Tatsächlich sind diese beiden kritischen Größen aber voneinander nicht unabhängig. Am Beispiel eines Supraleiters 2. Art zeigt Abbildung 13 die Temperatur- und Magnetfeldabhängigkeit und die Existenzbereiche des supraleitenden und des gemischten Zustandes (Shubnikov-Phase). Beide kritischen Felder Hc1 und Hc2 zeigen eine ausgeprägte Temperaturabhängigkeit. Dies gilt ebenso für den Stromtransport. Eine hohe Sprungtemperatur ist natürlich günstig, macht aber alleine noch keinen „guten“ Supraleiter aus. Deshalb müssen alle magnetischen und elektrischen Eigenschaften (Hc, Pinning, Stromtragevermögen) der Materialien so optimiert werden, damit sie ihr Potential schon bei Temperaturen knapp unterhalb von Tc in ausreichendem Maße entfalten können. Theorie der Supraleitung, BCS-Theorie Die gravierendsten Änderungen beim Übergang vom normalleitenden in den supraleitenden Zustand finden bei den elektrischen und magnetischen Eigenschaften statt. Deshalb lag die Vermutung nahe, dass dem Phänomen ein spezifisches Ordnungsphänomen der Leitungselektronen zugrunde liegen müsse. SUPRALEITFÄHIGKEIT ABB. 12 | H YS T E R E S E VO N ( B i P b ) - 2 2 2 3 ABB. 13 | | F E S T K Ö R PE RC H E M I E M AG N E T I S C H E PH A S E N << Hysterese der Magnetisierung eines (Bi,Pb)2Sr2Ca2Cu3 O10+δ-Hochtemperatursupraleiters bei 5 K. < Drei verschiedene magnetische Phasen eines Supraleiters 2. Art. Im Teilchenbild wird der elektrische Widerstand als inelastischer Stoß von Ladungsträgern mit Atomrümpfen erklärt. Die den Elektronen durch den Stoß entzogene Energie wird in Schwingungsenergie der Atomrümpfe und damit in Wärme überführt. Im Wellenbild können Elektronen als stehende Wellen betrachtet werden, wobei der Impuls p der Teilchen nach De Broglie als Quotient aus dem Planckschen Wirkungsquantum h und der Wellenlänge λ als p = h / λ berechnet werden kann. Der Verlustmechanismus des elektrischen Widerstands entspricht dann einer inelastischen Streuung von Wellen an Streuzentren. Inelastische Streuung kann nur dann auftreten, wenn in der streuenden Materie Übergänge zwischen Energieniveaus stattfinden können: Der Elektronenwelle oder allgemeiner der Ladungsträgerwelle wird dabei Energie entzogen. Sind keine Energieniveaus vorhanden, in die Übergänge stattfinden könnten oder ist ihr energetischer Abstand größer als die Energie der Ladungsträgerwelle, kann kein elektrischer Widerstand auftreten. Analog erklärt sich z. B. die Durchsichtigkeit von FensEINE ALLGEMEIN terglas: Der Umstand, dass in GÜLTIGE THEORIE Glas der Abstand zwischen DER HOCHTEMPERAbesetzten und unbesetzten EnTURSUPRALEITUNG ergieniveaus größer als die Energie von Lichtwellen ist, verGIBT ES NICHT hindert eine Wechselwirkung zwischen der Lichtwelle und dem Material – Licht passiert eine Fensterscheibe nahezu ungestört. Gemäß der nach den Initialen ihrer Entwickler J. Bardeen, L. N. Cooper und J. R. Schrieffer benannten BCS-Theorie [22] wird durch eine attraktive Wechselwirkung von Elektronen eine Energielücke zwischen besetzten und unbesetzten Zuständen aufgespannt. Diese Energielücke verhindert das Auftreten von Streuprozessen beim Stromtransport, also das Vorhandensein eines elektrischen Widerstands. Innerhalb dieser Lücke stehen keine Energieniveaus zur Verfügung, in die durch Streuung Übergänge stattfinden könnten. Ähnlich wie die Fensterscheibe für Lichtwellen transparent ist, ist ein Festkörper im supraleitfähigen Zustand für die als Wellen betrachteten Ladungsträger transparent. Deshalb bewegt sich eine Ladungs- trägerwelle verlustfrei im Festkörper und der Stromfluss erfolgt widerstandsfrei. Elektron-Phonon-Kopplung Die gegenseitige Anziehung der Leitungselektronen wird durch die Elektron-Phonon-Kopplung [23, 24] verursacht. In einem einfachen dynamischen Modell kann dieser Vorgang veranschaulicht werden: Ein Festkörper sei durch ein Gitter aus positiv geladenen, um ihre Ruhelage schwingenden Atomrümpfe und dem umgebenden Elektronengas gegeben. Bei der Bewegung der negativ geladenen Elektronen durch das Gitter der positiv geladenen Atomrümpfe tritt Coulombsche Anziehung auf. Die Rümpfe werden aus ihrer Schwingung um ihre Ruhelage in Richtung der „vorüberfliegenden“ Elektronen ausgelenkt, dies bedeutet eine Polarisation des Gitters. Da die Trägheit der Atomrümpfe im Vergleich zu den Elektronen wesentlich höher ist, können sie den Bewegungen der Elektronen nicht schnell genug folgen – es resultieren somit Polarisationsspuren. Diese veränderte Ladungsverteilung hat Auswirkungen auf die Bewegung von Elektronen im Gitter: Sie können sich in der Polarisationsspur ihrer „Vorgänger“ durch den Festkörper fortbewegen. Da in diesen Spuren eine Anhäufung positiver Ladung auftritt, ist für ihre Bewegung keine Anregungsenergie erforderlich. Quantentheoretisch wird dieser Mechanismus durch den Austausch eines virtuellen Phonons, dem Quasiteilchen einer Gitterschwingung, beschrieben: Die SchwingungsNr. 2 36. Jahrgang 2002 | | Chemie in unserer Zeit | 115 ABB. 14 | K R I S TA L L F E L DAU F S PA LT U N G d 9 - S YS T E M ABB. 15 | Z U S TA N DS D I C H T E OXO C U PR AT E Zustandsdichte der Oxocuprate. Links: zu erwartendes Schema, rechts: Aufspaltung des halbbesetzten dx2-y2-Blocks in zwei Energieblöcke. Cooper-Paare Cooper konnte zeigen, dass eine paarweise Korrelation von Elektronen mit entgegengesetztem Eigendrehimpuls (Spin) und entgegengesetzt gleich großem Gesamtimpuls ( p1′ , p2′ ) unter Energiegewinn möglich ist. Diese Elektronenpaare werden Cooper-Paare genannt. Da sie einen Gesamtspin von null aufweisen, ist für sie im Gegensatz zu Elektronen (Spin halbzahlig) das Pauli-Prinzip nicht mehr gültig. Daraus ergibt sich der Energiegewinn: Die ungepaarten Elektronen besetzten unter Beachtung des Pauli-Prinzips ursprünglich hohe Energiezustände. Nach der Bildung von Cooper-Paaren ist die Besetzung energiereicher Zustände nicht mehr nötig; alle Paare besetzen einen energetisch tief liegenden Zustand; sie befinden sich im Grundzustand. Das bedeutet, dass sie in ihren physikalischen Größen übereinstimmen müssen. Wird ein elektrisches Feld angelegt, werden die zweifach negativ geladenen Cooper-Paare zum Pluspol hin beschleunigt, wobei alle Paare denselben Impuls erhalten und als Gesamtheit den Stromtransport bewerkstelligen. Eine Wechselwirkung mit dem Gitter ist nur dann möglich, wenn genug Energie zur Verfügung steht, um die Cooper-Paare aufzubrechen. Da alle Cooper-Paare dieselbe Energie besitzen, brechen alle gleichzeitig auf, wenn ihre kinetische Energie größer als ihre Bindungsenergie geworden ist. Dabei ist es unerheblich, ob die kinetische Energie durch Beschleunigen in einem elektrischen oder magnetischen Feld oder durch Wärmebewegung zugeführt wird. Demnach existiert neben einer Übergangstemperatur auch ein kritischer Strom und ein kritisches Magnetfeld. Ein Überschreiten dieser materialspezifischen Größen führt zum Verlust der Supraleitfähigkeit. Da der über Phononen vermittelten Paarbildung der Elektronen sehr geringe Bindungsenergien zugrunde liegen, liegt die Ausdehnung der Cooper-Paare in der Größenordnung 100 bis 1000 nm. Diese Ausdehnung wird als Kohärenzlänge ξ bezeichnet. Da der mittlere Abstand der Leitungselektronen in Metallen nur ungefähr 0,1 nm beträgt, durchdringen sich Cooper-Paare. → Anordnung der Cu-3d-Energiezustände im oktaedrischen Kristallfeld (links). Aufhebung der Entartung der t2gund eg-Energiezustände bei gestreckt oktaedrischer Umgebung (Mitte) und die daraus resultierende Zustandsdichte (rechts). vorgänge des Gitters werden durch Fourier-Zerlegung in einzelne harmonische Wellen aufgeteilt. Diesen Wellen können bestimmte Energien zugeordnet werden. Innerhalb eines Energieintervalls, dessen Größe der Energie der Gitterschwingungen entspricht, können Leitungselektronen einander über die Elektron-Phonon-Kopplung beeinflussen: Phononen besitzen nach De Broglie einen Impuls p = h/λ. Durch „Austausch“ von Phononen können Elektronen mit den Impulsen p1, p2 miteinander wechselwirken, wobei der Impuls- und Energieübertrag zwischen den Elektronen dem Impuls und der Energie des Phonons entspricht. Phononen, die nur während der Wechselwirkung der Elektronen existieren, werden als virtuelle Austauschphononen bezeichnet. Die Elektronen besitzen nach der Wechselwirkung die Impulse p1′ , p2′ . Damit Supraleitung stattfinden kann, müssen für die Impulse nach dem Phononenaustausch bestimmte Bedingungen gelten. Im Gegensatz zum elektrischen Widerstand, bei dem Elektronen Phononen erzeugen, die „ins Gitter laufen“ und dem Elektronensystem Energie entziehen, ist diese Austauschwechselwirkung verlustfrei. → → → TA B . 3 | → I S OTO PE N E F F E K T * Element Hg Pb Sn Cd Tl Isotopenexponent β 0,50 0,48 0,47 0,50 0,50 *Angegeben ist der Isotopenexponent β aus der Proportionalität Tc ∝ m-β für verschiedene Elemente. 116 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | → SUPRALEITFÄHIGKEIT ABB. 16 | | F E S T K Ö R PE RC H E M I E H E R S T E L LU N G E I N E S 1 2 3 - H T S L Temperatur-Zeit-Profil für die Präparation des 1 2 3-Supraleiters YBa2Cu3O7-x. Übergangstemperatur Tc Die Übergangstemperatur Tc zwischen normalleitendem und supraleitendem Zustand kann mit Hilfe der BCS-Theorie berechnet werden (Gleichung 1): Tc = 1,13 hω D e 2πkB 1 – N ( E F )V * Demnach lässt sich Tc aus dem Planckschen Wirkungsquantum h, der Boltzmann-Konstante kB, der Zustandsdichte der Elektronen an der Fermikante N(EF), dem Parameter V*, der die Elektron-Phonon-Wechselwirkung beschreibt, und der Debye-Frequenz ωD, die die Gitterschwingungen von Festkörpern charakterisiert, berechnen. Über die stoffspezifischen Größen N(EF), V* und ωD lässt sich die Höhe der Übergangstemperatur steuern. Ein aus der BCS-Theorie zu erwartendes Ergebnis wird als Isotopeneffekt bezeichnet. Gemeint ist damit eine Abhängigkeit der Übergangstemperatur von der Atommasse m der jeweiligen Materie. Aus der Proportionalität der Übergangstemperatur zur Debye-Frequenz ωD wird wegen der Abhängigkeit der Debye-Frequenz von der Masse der schwingenden Atome folgende Massenabhängigkeit der Übergangstemperatur erwartet (Gleichung 2): Tc ∝ ω D ∝ m – 1 2 Anschaulich formuliert bedeutet dies, dass Gitter aus schwereren Isotopen mit niedrigeren Frequenzen schwingen und deshalb eine Polarisation des Gitters verzögert auftritt. Das engt das Energieintervall, in dem die Paarung von Elektronen stattfindet, ein und senkt damit die Übergangstemperatur. So liegt die Übergangstemperatur des Zinnisotops 123Sn um ca. 0,15 K unterhalb der des Isotops 113Sn. Dieses Verhalten wird experimentell für viele Supraleiter bestätigt [25, 26]. Dabei wird die Abhängigkeit der Übergangstemperatur von der Atommasse isotopenreiner supraleitfähiger Metalle untersucht (Tc ∝ m–β). Diese Isotopenvariation ergab eine hervorragende Übereinstimmung mit dem theoretisch zu erwartenden Isotopenexponent β = 0,5 (Tabelle 3). Hohe Sprungtemperaturen sind nach Gleichung 1 für Stoffe zu erwarten, die eine große Zustandsdichte für Elektronen an der Fermikante und eine starke Elektron-PhononKopplung aufweisen. Metalle mit großen Zustandsdichten zeigen aber oft nur schwache Elektron-Phonon-Kopplungen, so dass die metallischen Element-Supraleiter alle Übergangstemperaturen unterhalb von 9,3 K (Tc von Nb) aufweisen. Die Legierung Nb3Sn zeigt eine starke ElektronPhonon-Kopplung. Ihre Übergangstemperatur erreicht 18 K. Die höchste Übergangstemperatur für metallische Systeme liegt bei 39 K: Dieser hohe Wert wird von Magnesiumdiborid MgB2 erreicht [18]. Gleichung 1 kann jedoch nicht ohne weiteres auf die vom Perowskit-Typ abgeleiteten Oxocuprat-Hochtemperatursupraleiter angewandt werden. Die Elektron-PhononKopplung ist für diese Verbindungen zu schwach, um die gefundenen hohen Übergangstemperaturen oberhalb von 77 K zu erklären. Dennoch kann die Sprungtemperatur Tc z. B. durch geeignete Atomsubstitution über die damit verbundene Variation der Ladungsträgerkonzentration bzw. der Zustandsdichte verändert werden. Die BCS-Theorie erklärt die wesentlichen Eigenschaften der klassischen Niedrigtemperatursupraleiter, erlaubt aber keine Vorhersage, ob bei einem Material Supraleitfähigkeit zu erwarten ist. Abb. 17 Lichtmikroskopische Aufnahme der Oberfläche eines gesinterten (Bi,Pb)-2223 Presslings. Die plättchenförmigen Kristalle sind schuppenartig miteinander verwachsen. Elektronische Struktur von OxocupratHochtemperatursupraleitern Wie erwähnt, kann die hohe Übergangstemperatur der Oxocupratsupraleiter nicht mit Hilfe der BCS-Theorie erklärt werden. Die für derartige Verbindungen charakteristischen elektronischen Eigenschaften, die sich von denen „konventioneller“ Übergangsmetalloxide unterscheiden, sollen nun beschrieben werden: Nr. 2 36. Jahrgang 2002 | | Chemie in unserer Zeit | 117 ABB. 18 Ablauf der Bandleiterherstellung vom Ausgangsstoff bis zum fertigen Bandleiter. | BA N D L E I T E R H E R S T E L LU N G Bei konventionellen Übergangsmetalloxiden liegt der Energieinhalt der gefüllten Sauerstoff-p-Energiezustände im allgmeinen deutlich unter dem der Metall-d-Energiezuständen. Tritt in diesen Oxiden Leitfähigkeit auf, erfolgt sie in den teilweise mit Elektronen besetzten Metall-d-Zuständen. In den Oxocupraten jedoch ist der Energieunterschied zwischen den Cu-3d- und O-2p-Zuständen geringer [27] (Abbildungen 14 und 15). Die Valenzelektronenkonfiguration für Cu2+ ist 3d9. Im oktaedrischen Kristallfeld wird für eine d9-Konfiguration eine Verzerrung (Jahn-Teller-Effekt) erwartet, weil dadurch eine Energieabsenkung von d-Elektronen resultiert. Die Entartung der t2g- und eg-Orbitale wird bei der entlang der zAchse gestreckten Anordnung von CuO6-Einheiten, wie sie auch in den Oxocupraten auftritt, aufgehoben. Alle Orbitale mit z-Komponente werden in ihrer Energie abgesenkt, diejenigen mit x- und y-Komponenten werden angehoben (Abbildung 14). Von besonderer Bedeutung ist das einfach besetzte Niveau mit dx2-y2-Orbitalcharakter. Im Festkörper sind die gestreckten CuO6-Oktaeder miteinander verbrückt. Dadurch wird die Anzahl ihrer diskreten Energieniveaus vervielfacht, was in der Systematik der Festkörperchemie in Form einer Bandstruktur oder Zustandsdichte (Abbildung 14, rechts) dargestellt wird. Unter Berücksichtigung der O2--Energiezustände liegt der halbbesetzte Cu2+-Block mit dx2-y2-Charakter energetisch an der 118 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | Oberkante der gefüllten O-2p- und Cu-3d-Energiezustände (Abbildung 15, links). Von einer elektronischen Struktur mit einem halbbesetzten Energieblock (dx2-y2) könnte metallische Leitfähigkeit erwartet werden. Diese findet man experimentell jedoch nicht. Erklärung hierfür ist eine antiferromagnetische Kopplung der Elektronen im halbbesetzten Energiezustand, die eine Aufspaltung in einen gefüllten und ein leeren Energieblock bewirkt (Abbildung 15 rechts). Daher entsteht eine Energielücke zwischen den gefüllten (Valenzband) und leeren (Leitungsband) dx2-y2-Zuständen. Werden nun Elektronen durch Oxidation oder Reduktion entfernt oder hinzugefügt, so werden freie Ladungsträger und damit auch elektrische Leitfähigkeit erzeugt. Formal kann das z. B. durch Oxidation oder Reduktion einzelner Cu2+-Ionen zu Cu3+ oder Cu+ formuliert werden. Bei einer Oxidation wirken Defektelektronen als Ladungsträger (p-Dotierung), bei Reduktion Elektronen (n-Dotierung). Eine Variation der Ladungsträgerkonzentration von etwa 0,2 Ladungsträgern pro Cu2+ bewirkt bei Temperaturen oberhalb der Übergangstemperatur metallische Leitfähigkeit; bei genügend tiefen Temperaturen wird supraleitendes Verhalten gefunden. Diese Ladungsträgerkonzentration entspricht einer Cu-Oxidationsstufe von Cu1,8+ für n-Dotierung bzw. Cu2,2+ für p-Dotierung. Dabei ist die p-Dotierung weit häufiger. Dies kann auf mehrere Weisen geschehen: a) Die CuO2-Ebenen werden durch blockartige Schichten, die als Ladungsreservoir bezeichnet werden, voneinander separiert. Durch Variation der Zusammensetzung in diesen Blöcken kann Ladung aus den Cu2+-dx2-y2-Zuständen entfernt oder hinzugefügt werden. Verbindungen wie YBa2Cu3O7-x zeigen eine starke Phasenbreite. b) Pro Formeleinheit kann ein Mol Sauerstoff entfernt werden. Die Zusammensetzung kann dabei zwischen den Extremen YBa2Cu3O7 und YBa2Cu3O6 variieren. Der Sauerstoffeinund -ausbau entspricht der Oxidation und Reduktion von Cu2+. Die zuvor erwähnte antiferromagnetische Kopplung und anschließende Erzeugung freier Ladungsträger wird als mögliche Ursache der Hochtemperatursupraleitung diskutiert. Dieser Ansatz ist nur einer von vielen und kann sicher nicht als erwiesen betrachtet werden. So würde das Modell der vollständigen Hybridisierung, das von einer vollständigen Mischung von Zuständen an der Fermikante ausgeht, eine Oxidation bzw. Reduktion einzelner Cu-Atome nicht zulassen, da die erzeugten Ladungsträger nicht einzelnen Elementen zuzuorden wären. Weiterhin wird wegen des geringen Abstandes der Cu-3d-Zustände von den O-2p-Zuständen Oxidation in den O-2p-Niveaus, also die Entstehung O- angenommen, die Löcher also nicht dem Kupfer sondern dem Sauerstoff zugeordnet. Eine universelle Theorie der Hochtemperatursupraleitung gibt es nach wie vor nicht. Präparation von Oxocupratsupraleitern Die supraleitfähigen Oxocuprate vom Typ 1 2 3 (YBa2Cu3O7-x) und (Bi,Pb)2Sr2Can-1CunO4+2n+δ mit n = 1, 2 SUPRALEITFÄHIGKEIT oder 3 lassen sich im Labor durch Erhitzen geeigneter Kombinationen von Metalloxiden und -carbonaten herstellen. Ausgehend von leichter zersetzlichen Ausgangsverbindungen wie Nitraten, Peroxiden oder organischen Komplexbildnern wie Citraten oder Tartraten erreicht man in der Regel höhere Reaktivitäten. Die richtige thermische Behandlung der gut durchmischten Ausgangsverbindungen ist für einen vollständigen Umsatz und eine hohe Übergangstemperatur entscheidend. Ein Temperatur-Zeit-Profil für die Herstellung von YBa2Cu3O7-x aus Y2O3, BaO2 und CuO ist in der Abbildung 16 dargestellt. Bei der Präparation des 1 2 3Supraleiters spielt insbesondere der zweite Temperschritt bei 500 °C eine wichtige Rolle: YBa2Cu3O7-x bildet sich bereits nach dem Temperschritt bei 930 °C. Allerdings entsteht dabei die tetragonale, nicht supraleitfähige Hochtemperaturmodifikation (Abbildung 4, links) mit einem niedrigen Sauerstoffgehalt (x ≈ 1). Bei 500 °C findet Oxidation statt. Die Sauerstoffaufnahme bewirkt eine Verzerrung der tetragonalen Hochtemperaturphase in die orthorhombiOXOCUPRATSUPRAsche, supraleitfähige TieftemLEITER ENTSTEHEN peraturphase (x ≤ 0,5). Die BEIM ERHITZEN Übergangstemperatur von YBa2Cu3O7-x hängt stark vom VON METALLOXIDEN Sauerstoffgehalt ab. Sie kann Werte über 90 K erreichen. Supraleitfähige Verbindungen vom Typ (Bi,Pb)2Sr2Can-1CunO4+2n+δ bilden sich bei Temperaturen um 850 °C nach ca. 100 h Reaktionszeit aus den jeweiligen Nitraten, Oxiden und Carbonaten. Eine Einstellung des Sauerstoffgehaltes ist meist nicht erforderlich, da die Verbindungen im Vergleich zu 1 2 3 wesentlich weniger Variation des Sauerstoffgehaltes zulassen. Sowohl die 1 2 3- als auch die (Bi)-2223- und (Bi,Pb)2223-Supraleiter sind für die Anwendung in der Elektronik und Elektrotechnik von großem Interesse. Da diese Materialien in großer Menge und Homogenität hergestellt werden müssen, bedient sich die chemische Industrie besonderer Herstellungstechniken. Homogene Gemische von Ausgangsverbindungen können ausgehend von salpetersauren Lösungen ihrer Salze durch Fällungen, Pyrolyse oder durch Gefriertrocknung hergestellt werden. Dabei wird angestrebt, die Homogenität der Lösung „einzufrieren“. Diese Ausgangsverbindungen, z.B. ein Pyrolysat, werden danach in einer thermischen Behandlung zum Precursor [28] umgesetzt und danach zu (Bi,Pb)-2223 weiterverarbeitet. Die thermischen Behandlungen stellen hohe Anforderungen an die Verfahrenstechnik, da nur durch exaktes Einhalten geeigneter Prozessparameter mit gleichbleibender Qualität produziert werden kann. Supraleitfähige Drähte in Form von Bandleitern Als Material für technische Anwendungen ist neben 1 2 3 das für den Bau supraleitender Kabel besser zu verarbeitende (Bi,Pb)-2223 von besonderer Bedeutung. Mit einer Übergangstemperatur von etwa 110 K ist eine Kühlung mit | F E S T K Ö R PE RC H E M I E Abb. 19 a Lichtmikroskopische Aufnahme eines Querschliffs eines Silberbandleiters mit 55 Filamenten (VAC Hanau). Die supraleitende Keramik (schwarz) ist von einer Silbermatrix (hell) umgeben. flüssigem Stickstoff für Anwendungen völlig ausreichend. Doch stellen die Materialeigenschaften von (Bi,Pb)-2223 die Anwender vor fast unlösbare Probleme. (Bi,Pb)-2223 kristallisiert in winzigen Plättchen (Abbildung 17) mit typischen Größenordnungen von 10 – 100 µm Ausdehnung in kristallographischer a- und b-Richtung und einer Dicke von wenigen µm in c-Richtung. Die einzelnen Kristalle können im supraleitenden Zustand sehr hohe elektrische Ströme transportieren: auf die Querschnittsfläche von 1 cm2 normiert sind dies bei 77 K (Siedepunkt von Stickstoff) mehrere Millionen Ampère. Für technische Anwendungen ist es aber unabdingbar, dass der Strom über größere Strecken hinweg transportiert wird. Es müssen daher Kontakte zwischen den einzelnen Kristallen geschaffen werden (Korn-Korn-Kontakte). Dazu müssen die Kristalle eine vergleichbare Größe sowie die richtige Orientierung zueinander aufweisen. Ihre Orientierung ist wichtig, da die Leitfähigkeit des Materials stark anisotrop ist. Der Strom wird nur in den CuO2-Ebenen in a-bNr. 2 36. Jahrgang 2002 | | Abb. 19 b Lichtmikroskopische Aufnahme des keramischen Kerns eines geglühten Monofilamentleiters. Die plättchenförmigen Supraleiterkristalle (dunkel) sind bevorzugt parallel zur Silberhülle (hell) orientiert, Löcher erscheinen schwarz. Chemie in unserer Zeit | 119 ABB. 20 Schematische Strom-Spannungs-Kennlinie eines Bandleiters. | S T RO M - S PA N N U N G S - K E N N L I N I E Richtung gut geleitet, während in c-Richtung schlechte Leitfähigkeit besteht. Die Kristalle können miteinander in Kontakt gebracht werden, indem aus einem Precursor ein Sinterkörper hergestellt wird. Dabei wird das Precursorpulver durch Pressen verdichtet, wobei die (Bi,Pb)-2212-Kristallplättchen (Hauptbestandteil im Precursor) parallel zu einander ausgerichtet werden. In einem mehrstündigen Tempervorgang wird der Precursor zu (Bi,Pb)-2223 umgesetzt. Dabei wird die bevorzugte Orientierung der (Bi,Pb)-2212 Kristalle – Textur genannt – auf das neu gebildete (Bi,Pb)-2223 übertragen. Die einzelnen Kristalle sind nun in der richtigen Orientierung miteinander verwachsen, so dass über ihre Grenzen hinweg ein Transportstrom fließen kann. Seine maximale Stärke liegt in der Größenordnung von einigen 1000 bis 10000 A/cm2 und damit um ca. 3 bis 4 Zehnerpotenzen unter dem von (Bi,Pb)-2223-Einkristallen, weil schlechte Kornkontakte den Strom begrenzen. Zum Vergleich: Die maximale Stromtragfähigkeit von Kupfer beträgt nur 100 A/cm2! Ein Beispiel für einen solchen Sinterkörper ist die in Abbildung 8 abgebildete schwebende Tablette. Der durch das äußere Magnetfeld induzierte Strom kann über ihre gesamte Oberfläche fließen. Er verursacht ein dem äußeren Magnetfeld entgegengerichtetes Feld und lässt durch die abstoßende Wirkung den Körper schweben. Der Beitrag der einzelnen, voneinander isolierten Supraleiterkristalle wäre nicht ausreichend. Deshalb schwebt eine aus (Bi,Pb)-2223Pulver gepresste aber ungetemperte Tablette nicht. Ein so hergestellter Sinterkörper ist hart und sehr spröde. Elastische Eigenschaften sind aber für Anwendungen, bei denen Supraleiter als Ersatzwerkstoff für konventionelle Kabel zum Einsatz kommen, von essentieller Bedeutung. Kabel für Stromleitungen, Drähte für Motoren- und Transformatorenwicklungen erfahren mechanische Beanspruchungen, die zur Rissbildung in der supraleitenden Keramik und damit zum Verlust der Stromtragfähigkeit führen würden. Das Problem kann durch die Herstellung sehr dünner Drähte gelöst werden. Vergleichbar mit dem Schritt vom 120 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | zerbrechlichem Glasstab hin zur elastischen Glasfaser, gewinnt die Supraleiterkeramik elastische Eigenschaften. Für die Herstellung dieser superdünnen Drähte – Dicke ≈ 10 µm, ein menschliches Haar ist 40 – 100 µm dick – wurde ein spezielles Verfahren entwickelt. Aus dem Precursorpulver wird ein CIP- (Cold Isostatic Pressed) Stab gepresst, dieser mit einem Hüllrohr aus Silber oder einer Silberlegierung ummantelt und an den Enden verschlossen. Durch mehrere Hämmer- und Ziehschritte einer der klassischen Drahtherstellung angelehnten kalten Umformung, wird der anfängliche Durchmesser von ca. zwei bis drei Zentimeter auf etwa ein Zehntel reduziert und schließlich der Stab durch Walzen zu einem flachen Band umgeformt. Nach der kalten Umformung wird der Precursor im Silberbandleiter zu (Bi,Pb)-2223 umgesetzt. Hierfür wird der Bandleiter einer mehrstufigen thermomechanischen Behandlung (TMB) unterzogen, bei der er mehrere Stunden geglüht und zwischen den Glühungen zur Verdichtung und besseren Orientierung der (Bi,Pb)-2223-Kristalle kalt gewalzt wird (Abbildung 18). Beim Glühen (meist in einem Gasgemisch aus 92 % N2, 8 % O2, bei Temperaturen von ca. 820 °C) nimmt die Keramik je nach Sauerstoffgehalt des Precursors entweder Sauerstoff auf oder gibt ihn ab. Da Silber in diesem Temperaturbereich für Sauerstoff gut durchlässig ist, kann ein Sauerstoffaustausch zwischen der Keramik ZUNEHMENDE ANWENund der Glühatmosphäre DUNGEN FÜR HTSL: durch die Hülle hindurch STARKSTROMKABEL, stattfinden. Um eine höchstmögliche Strom- STROMBEGRENZER, tragfähigkeit zu erreichen, ENERGIESPEICHER ... müssen zwei bis drei solcher Glüh- und Walzschritte durchgeführt werden, wobei nach der letzten Glühung des Bandleiters das Walzen entfällt. Durch die Walzschritte wird die Keramik verdichtet, um die Zahl und Größe der Löcher in ihr zu verkleinern. Die Temperschritte dienen der Reaktion zu 2223 und sollen entstandene Risse ausheilen. Abbildung 19 b zeigt die supraleitende Keramik am Beispiel eines dreimal geglühten Monofilamentleiters. Gut sichtbar sind die plättchenförmigen Supraleiterkristalle, ihre überwiegend parallele Orientierung zur Silberhülle und die immer noch vorhandenen schwarz erscheinenden Löcher, die den Stromfluss unterbrechen. Alternativ zum Monofilamentleiter mit einer einzigen Keramikfüllung können vor dem Flachwalzen mehrere dieser Rohdrähte gebündelt und in ein weiteres Rohr eingebracht werden. Die Umformung beginnt von Neuem. Man erhält schließlich einen Multifilamentleiter mit mehreren Keramikfilamenten. Abbildung 19 a zeigt einen solchen Silberbandleiter mit 55 Filamenten (schwarz), die in eine Silbermatrix (hell) eingebettet sind. Die Herstellung eines solchen Leiters mit derart feinen einzelnen Filamenten – die Querschnittsfläche eines Filaments liegt unter 1/100 mm2 – SUPRALEITFÄHIGKEIT setzt umfangreiche Erfahrungen in der Umformtechnik voraus. Bisher lassen sich mit diesem Verfahren Bandleiter in Längen von mehreren 100 m bis über einem 1 km produzieren. Ein Bandleiter wie in Abbildung 19 a erreicht bei 77 K eine maximale Stromtragfähigkeit von ca. 85 A, das sind auf den Keramikquerschnitt normiert 40000 A/ cm2, oder auf den gesamten Bandleiter (inklusive der Silberummantelung) bezogen 10000 A/cm2. Um die über den gesamten Bandleiter berechneten maximalen Stromstärken auf mindestens 20000 A/cm2 zu erhöhen und die hohen Herstellungskosten zu senken, sind aber noch weitere Entwicklungsarbeiten zu leisten. Nur so können die neuen Werkstoffe auch in wirtschaftliche Konkurrenz zu den konventionellen Kabeln treten. Die kritische Stromstärke Die maximale Stromtragfähigkeit, auch kritische Stromstärke genannt, gibt an, wie groß der von einem supraleitenden Material zu transportierende Strom sein darf. Ein Überschreiten der kritischen Stromstärke führt zum Übergang in den normalleitenden Zustand. Grund dafür ist das Auseinanderbrechen der Cooper-Paare. Für den Stromtransport werden die Cooper-Paare im elektrischen Feld beschleunigt. Die Zahl der pro Zeiteinheit zu transportierenden Ladungen (Stromstärke) bestimmt bei gegebenem Leiterquerschnitt die Geschwindigkeit und damit die kinetische Energie der Cooper-Paare im Supraleiter. Wird diese kinetische Energie größer als die Bindungsenergie zwischen den Elektronen der Paare, brechen sie auseinander, und es erfolgt der Übergang in den normalleitenden Zustand. Die erreichbare Stromstärke ist dabei eine Funktion von Temperatur und Magnetfeld: Je tiefer die Temperatur, desto kleiner ist die thermische Energie, die den Cooper-Paaren zugeführt wird und um so größer kann die kinetische Energie (der zu transportierende Strom) werden, bis die Supraleitung durch Aufbrechen der CooperPaare verschwindet. Die kritische Stromstärke ist das wichtigste Qualitätskriterium für einen Bandleiter. Da sie seine Leistungsfähigkeit zum Ausdruck bringt, musste eine allgemein gültige Messvorschrift geschaffen werden, um Bandleiter vergleichen zu können. Diese besagt, dass der kritische Strom | F E S T K Ö R PE RC H E M I E dann erreicht ist, wenn bei angelegtem Strom ein Spannungsabfall von 1 µV an zwei Kontakten gemessen wird, die 1 cm voneinander entfernt sind. Bei einer weiteren Erhöhung der Stromstärke steigt der Widerstand extrem an, die Silberhülle trägt zum Stromtransport bei. Gemessen wird im Regelfall bei T = 77 K im Eigenfeld (ohne äußeres Magnetfeld) des Bandleiters (Abbildung 20). Abb. 21 Eine Ader eines aus (Bi,Pb)-2223Silberbandleitern gefertigten Stromkabels (Bild: Australian Superconductor). Hochtemperatursupraleiter und ihre Anwendungen Der Einsatz der hochtemperatursupraleitenden Kabel hat bereits begonnen: Im Frühjahr 2001 ist in Kopenhagen ein supraleitendes Kabel auf Basis von (Bi,Pb)-2223 in Betrieb gegangen, das auf einen Nennstrom von 2 kA und 36 kV ausgelegt ist. In Detroit USA ist ein weiteres supraleitendes Kabel im Aufbau begriffen. Es sollen dort neun alte Kupferkabel durch drei neue aus (Bi,Pb)2223-Bandleitern gefertigte Starkstromkabel ersetzt werden, die das Dreifache an elektrischer Energie transportieren können. Wie ein solches Kabel aufgebaut ist, zeigt Abbildung 21. Auf ein mit Flüssigstickstoff gekühltes Trägerrohr sind Silberbandleiter in koaxialer Anordnung gewickelt, die durch eine elektrische Isolationsschicht räumlich voneinander getrennt sind. Nach außen hin folgt eine weitere Isolationsschicht. Drei dieser Kabel werden in einer mit flüssigem N2 gekühlten und isolierten Ummantelung aus Stahlrohr zusammengefasst und bilden ein dreiphasiges Starkstromkabel. Die Vorteile dieser HTSL-Kabel sind vielschichtig. Die Energieverluste betragen nur etwa ein Drittel von denen eines Kupferkabels, wobei die Verluste, die durch die Kühlung entstehen, den Löwenanteil bilden. Ein Vergleich soll dies verdeutlichen: Ein konventionelles 110 kV-Kupferkabel mit einer Leistung von 400 MW verliert auf jedem Kilometer Kabellänge 120 kW an elektrischer Leistung, das supraleitende Pendant inklusive der Kühlung nur 40 kW. Bei gleichem Platzbedarf sind die HTSL-Kabel dazu noch deutlich leistungsfähiger. Wie im Falle von Detroit kann so zusätzlicher Strombedarf durch Ersatz alter Kabel auf bestehenden Trassen gedeckt werden, denn oft behindert die Raumnot von Großstädten den Neubau. Nicht (Bi,Pb)-2223 sondern YBa2Cu3O7-x (1 2 3) wird für den Bau von Kurzschlussstrombegrenzern verwendet. Diese Nr. 2 36. Jahrgang 2002 | | Chemie in unserer Zeit | 121 N E U E R A N SAT Z P U N K T F Ü R D I E E R K L Ä R U N G D E R H O C H T E M PE R AT U R S U PR A L E I T U N G | Trotz großer Erfolge bei der Herstellung und Entwicklung der Hochtemperatursupraleiter ist der zugrunde liegende Mechanismus noch immer weitgehend ungeklärt. Durch Neutronenstreu-Experimente an Tl2Ba2CuO6 hat ein Physikerteam am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung, vom Centre d'Energie Atomique in Frankreich und von der Russischen Akademie der Wissenschaften jetzt gezeigt, dass möglicherweise eine ungewöhnliche, fluktuierende magnetische Ordnung von zentraler Bedeutung für die Hochtemperatursupraleitung ist. Die herkömmliche Theorie der Supraleitung ist auf die Hochtemperatursupraleiter nur beschränkt anwendbar. Ihr zufolge bilden je zwei freie Elektronen eines Metalls unterhalb der Sprungtemperatur ein Cooper-Paar, das sich in der Quantenmechanik als neues Teilchen, das Boson, beschreiben lässt. Seit den Arbeiten von Einstein und Bose zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiß man, dass ein System von Bosonen bei tiefen Temperaturen in einen makroskopisch kohärenten Zustand übergeht, dessen quantenmechanische Wellenfunktion sich über das gesamte System erstreckt. Im kondensierten Zustand kann sich daher jedes Boson ohne Widerstand vom einem zum anderen Ende eines Materials bewegen. Die Entdeckung dieser Bose-Einstein-Kondensation in Systemen atomarer Bosonen wurde im Jahr 2001 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet. Der Supraleitung liegt ein ähnliches Prinzip zugrunde, allerdings sind die Cooper-Paare elektrisch geladen und können daher den elektrischen Strom ungehindert transportieren. Da die beiden Elektronen eines Cooper-Paars negativ geladen sind, stoßen sie sich elektrisch ab. Deshalb wird für die Bildung der Cooper-Paare eine der elektrischen Abstoßung entgegenwirkende, anziehende Kraft gebraucht. In “herkömmlichen” Supraleitern beruht diese auf den koordinierten Bewegungen der positiv geladenen Atomkerne, den Phononen. Die Stärke der durch Phononen vermittelten Paarbildungskraft reicht allerdings nur für die Supraleitung bei sehr niedrigen Temperaturen. Für die Bildung von Cooper-Paaren in Hochtemperatursupraleitern bedarf es einer stärkeren Kraft, deren Ursprung noch immer umstritten ist. Mit der Neutronenstreuung können detaillierte Daten über die Beschaffenheit von Materialien gewonnen werden. Neutronen haben einen Eigendrehimpuls, den Spin, und damit ein magnetisches Moment. Sie verhalten sich deshalb wie winzige Stabmagnete. Dasselbe gilt für die Elektronen innerhalb eines Festkörpers. Durch die Wechselwirkung zwischen Elektronen des Festkörpers und eingestrahlten Neutronen wird der einfallende Neutronenstrahl abgelenkt, was gemessen und ausgewertet werden kann. Bisher jedoch wurden Neutronenstreu-Experimente mit Hochtemperatursupraleitern dadurch erschwert, dass die dafür benötigten großen Einkristalle nur äußerst schwer zu erzeugen waren. Es gelang jetzt, dieses Problem zu umgehen: Packt man mehrere hundert winzige Kristalle des Materials in eine Art Mosaik, so ist dieses als Ganzes einem großen Einkristall nahezu äquivalent. Bei den Neutronenstreu-Experimenten am Hochtemperatursupraleiter Tl2Ba2CuO6 wurden Ansatzpunkte für einen magnetischen Mechanismus zur Bildung von CooperPaaren gefunden. Bekannt war aus Untersuchungen von bestimmten Kupferoxidmaterialien mit magnetischer Neutronenstreuung, dass sich der Spin der Elektronen in Hochtemperatursupraleitern grundsätzlich anders verhält als in herkömmlichen Supraleitern. Während sie in konventionellen Supraleitern völlig ungeordnet sind, weisen die Spins in Hochtemperatursupraleitern eine ungewöhnliche magnetische Ordnung auf: Der Spin jedes zweiten Elektrons ist - bei einer Momentaufnahme - genau in die andere Richtung orientiert wie der erste. Doch anders als in Materialien wie magnetisiertem Eisen, wo alle Elektronenspins dauerhaft in eine Richtung zeigen, fluktuiert dieses magnetische Ordnungsmuster in den Hochtemperatursupraleitern. Gemäß den Forschern lassen die gewonnenen Daten es plausibel erscheinen, dass sich die Cooper-Paare in diesem Hochtemperatursupraleiter über einen magnetischen Mechanismus bilden. Dieser könnte darauf beruhen, dass sich Elektronenpaare einfacher durch einen Hintergrund fluktuierender Elektronenspins bewegen können als einzelne freie Elektronen - sie würden auf diese Weise magnetische Energie sparen. Die Forscher glauben, dass mit diesen Ergebnissen nach fast 15 Jahren Forschung eine endgültige Theorie der Hochtemperatursupraleitung in greifbare Nähe gerückt ist - vorausgesetzt eine fluktuierende magnetische Ordnung lässt sich tatsächlich in allen Hochtemperatursupraleitern nachweisen. 122 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | Bauelemente sollen in den Umspanneinheiten des Stromversorgungsnetzes zum Einsatz kommen. Es handelt sich dabei um selbstregenerierende elektronische Sicherungen, die im Falle eines Defektes im Netz den auftretenden Kurzschlussstrom begrenzen sollen. Dieser kann den 50-fachen Wert des Nennstromes annehmen und muss von den Bauelementen (z.B. Transformator) der Umspanneinheit verkraftet werden. Um Beschädigungen zu vermeiden, ist eine platz- und kostenintensive Überdimensionierung der Bauelemente notwendig. Die supraleitenden Strombegrenzer reduzieren jedoch den Kurzschlussstrom innerhalb weniger Millisekunden auf den fünffachen Wert des Nennstroms. Durch den Einsatz der HTSL-Technik können die extremen Überdimensionierungen konventioneller Bauteile vermieden werden oder bestehende Systeme durch Nachrüstung mit Strombegrenzern mit höheren Nennströmen belastet werden. Das Funktionsprinzip der HTSL-Kurzschlussstrombegrenzer ist einfach: Ein Bauelement aus 1 2 3-Platten, die durch Aufdampfen von 1 2 3 auf ZrO2 hergestellt werden, wird in den Stromkreis geschaltet. Solange der Strom im Normbereich liegt, befindet sich 1 2 3 im supraleitenden Zustand. Das Bauelement wird so dimensioniert, dass die im Kurzschlussfall auftretenden Stromsstärken den kriDIE ZUKUNF T DER tischen Strom überschreiHTSL: NICHT NUR ten und einen Übergang in VERLUSTBARER den normalleitenden Zustand erzwingen. Der starSTROMTRANSPORT ke Anstieg des Widerstandes begrenzt den Strom. Sobald der Normalzustand wieder erreicht ist, wird der Stromfluss durch Übergang in den supraleitenden Zustand wieder freigegeben. Die Kühlung des Bauelements erfolgt mit flüssigem Stickstoff. Sowohl in den USA als auch in Europa existieren Prototypen, die sich bereits in der Langzeiterprobung befinden. Weitere potentielle Anwendungen in der Energietechnik sind SMES-Speicher (Superconducting Magnetic Energy Storage). Dabei wird Energie in großen supraleitenden Ringen gespeichert. Da der elektrische Strom direkt gespeichert wird, kann man die sonst unvermeidlichen Verluste bei der Umwandlung der elektrischen Energie in andere Energieformen vermeiden (z.B. chemische Energie in Akkumulatoren oder potentielle Energie in Pumpspeicherbecken) und einen hohen Wirkungsgrad erreichen. Da sich die elektrische Energie innerhalb von Sekundenbruchteilen abrufen lässt, kann die Stabilität des Stromnetzes verbessert werden. Eine weitere prominente Anwendung für supraleitende Magnete ist die Magnetschwebebahn MAGLEV (Magnetic Levitation). Wenn die Bahn in Bewegung ist, induzieren supraleitende Magnete an der Fahrzeugunterseite in den metallischen Leiterschleifen der Schienen Wirbelströme. Die induzierten Ströme nehmen dabei mit der Geschwindigtkeit der Bahn zu. Die aus den Wirbelströmen resultierenden Magnetfelder sind denen der Supraleitermagnete entgegen- SUPRALEITFÄHIGKEIT gerichtet (Lenzsche Regel). Ist die Geschwindigkeit der Bahn ausreichend hoch, beginnt sie durch die Abstoßung zu schweben. In Generatoren, großen Elektromotoren (beispielsweise für den Antrieb von Schiffen) oder Transformatoren (besonders für die E-Lokomotiven der Bahn interessant) eingesetzt, können Supraleiter helfen, Verluste und Baugröße zu reduzieren und die Leistung zu verbessern. Alle Anwendungsbeispiele befinden sich im Versuchsoder Prototypenstadium. Neben noch zu lösenden technischen Problemen und der Weiterentwicklung der Kühltechnik, werden auch die Kosten über die Zukunft der neuen Materialien entscheiden. Unmittelbar vor ihrem Einsatz stehen die HTSL im Bereich der Elektronik. Bandfilter für die Mobilfunkkommunikation können durch Einsatz von HTSL-Materialien (1 2 3) erheblich kompakter und leistungsfähiger gemacht werden (bessere Sprachqualität und Auslastung der Frequenzen). Der Bandfilter hat die Aufgabe, in den Relaisstationen der Mobilfunkkommunikation das Signal vom Störrauschen zu trennen. Die bisher zum Einsatz kommenden etwa fußballgroßen Hohlraum-Resonatoren aus Kupfer können nun auf Chipgröße reduziert werden. Ideal sind diese neuen Bandfilter für den Einsatz in Kommunikationssatelliten, die Dutzende solcher Filter besitzen und bei denen, wegen des Transports ins All, besonders auf Größe und Gewicht geachtet werden muss. Die Kühlung soll mit miniaturisierten Kühlmaschinen stattfinden. Mit Hilfe von SQUID-Sensoren (Superconducting Quantum Interference Device) können sehr schwache Magnetfelder detektiert werden. Neben der Untersuchung von magnetischen Eigenschaften eignen sich diese Sensoren z. B. in der Materialprüfung zur Detektion feinster Risse in metallischen Werkstoffen. Mit Hilfe von SQUID-Sensoren ist es möglich, Variationen im Erdmagnetfeld zu erfassen, die beispielsweise auf Bodenschätze hindeuten können oder dem Archäologen bei der Suche nach lohnenden Ausgrabungstätten helfen. Selbst die winzigkleinen Magnetfelder, die von den Muskeln im menschlichen Herz erzeugt werden, sind mit Hilfe von SQUIDs messbar, so dass diese Sensoren auch in der Diagnostik von Herzerkrankungen eingesetzt werden können. SQUIDs erfassen Änderungen im Magnetfeld, die einem Zehnmilliardstel des Erdmagnetfeldes entsprechen. Ein SQUID besteht im Wesentlichen aus einem supraleitenden Ring, in den eine „Schwachstelle“ – ein Josephson-Kontakt – eingebaut ist, und detektiert Magnetfelder in Form eines Ringstroms. Die Schwachstelle stellt eine Tunnelbarriere für Cooper-Paare dar und begrenzt den Abschirmstrom im Ring. Jedes Flussquant, das in die vom supraleitenden Ring umschlossene Fläche eingedrungen ist, wird an dieser Tunnelbarriere registriert. Wird dieses Ringsystem in einen Schwingkreis eingebaut, können die Flussquanten in Form von Spannungstößen detektiert werden. Mit einem SQUID kann man also Magnetfelder „Flussquant für Flussquant“ vermessen. IM INTERNET: | F E S T K Ö R PE RC H E M I E | Die Web-Seite der Arbeitsgruppe Meyer ist unter www.uni-tuebingen.de/AK_H.-J.-Meyer/ abrufbar. Umfangreiche Arbeiten zur Supraleitung werden u. a. auch am Forschungszentrum Karlsruhe durchgeführt. Die Web-Adresse ist www.fzk.de Man erkennt schnell, dass die Zukunft der Supraleiter sich nicht nur auf einen verlustarmen Transport von Strom beschränkt, sondern mit Anwendungen im Bereich der Elektronik, vom Bandfilter oder SQUID-Sensor bis hin zum supraleitenden Computer mit Taktraten im 100-GigahertzBereich oder den supraleitenden Magnetspulen von NMRSpektrometern und -Tomographen, ein vielseitiges und erfolgsversprechendes Zukunftspotential besitzt. Zusammenfassung und Ausblick Das genaue Verständnis der elektronischen Vorgänge oder Mechanismen bei der Supraleitung bedeutet einen wichtigen Fortschritt für die Forschung. Bisher gibt es keine allgemeingültige Theorie der HTSL. Währenddessen werden supraleitende Materialien in der Technik erprobt und eingesetzt. Sie eröffnen einschneidende Veränderungen auf Gebieten der Energieübertragung, -speicherung, der Antriebstechnik und der Mikroelektronik. Gegenwärtig sind Oxocuprate aufgrund ihrer hohen Übergangstemperatur die bedeutendsten Materialien für Anwendungen auf dem Gebiet der Supraleitung. Aber auch die Erschließung neuer Verbindungen mit anderen Elementen und Strukturen hilft, Geheimnisse des Mechanismus der Supraleitung zu lüften. Ob Supraleitung auch bei erheblich höheren Temperaturen als bisher möglich ist, werden wir erst in der Zukunft erfahren. Die Entdeckung der Supraleitfähigkeit von MgB2 ist vielleicht ein wichtiger Schritt. Die Synthese neuer supraleitfähiger Materialien bleibt weiterhin der Intuition der Wissenschaftler überlassen, solange keine Theorie existiert, die Hilfestellungen für das nächste Experiment liefert. Summary Superconductivity remains a frontier in science. The mile stones of discoveries of superconducting compounds include Hg, Nb3Sn, MgB2, YBa2Cu3O7-x and Bi2Sr2Ca2Cu3O10+δ, of which the last two (or their derivatives) have a major impact towards today´s technological developments. We provide a general description on the synthesis, structure and on physical properties of superconductors. As there is no generally accepted theory for the mechanism of superconductivity, we provide some insight of contemporary models of the superconducting state. Finally we describe important aspects of the fabrication and application of superconducting oxocuprate materials. Nr. 2 36. Jahrgang 2002 | | Chemie in unserer Zeit | 123 Literatur und Anmerkungen [1] Im Jahre 1913 erhielt Onnes den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Tieftemperaturphysik. [2] J. Bardeen, L. N. Cooper und J. Schrieffer erhielten 1972 den Nobelpreis für Physik. [3] J. G. Bednorz und K. A. Müller, Z. Phys. B 1986, 64, 189. Bednorz und Müller (IBM Zürich) erhielten 1987 den Nobelpreis für Physik. [4] W. Buckel, Supraleitung, 5. Aufl., VCH, Weinheim, 1993, S. 269 ff. [5] Die Bezeichnung „Keramik“ ist für die meisten supraleitfähigen Oxocuprate irreführend. Bei vielen Oxocupraten ändert sich der Sauerstoffgehalt in Abhängigkeit vom äußeren Sauerstoff-Partialdruck, sie sind thermisch instabil und zersetzen sich beim Schmelzen. [6] A. Simon, Angew. Chem. 1997, 109, 1872. [7] B. T. Matthias, Phys. Rev. 1955, 97, 74. [8] J. Nagamatsu, N. Nakagawa, T. Muranaka, Y. Zenitani und J. Akimitsu, Nature 2001, 410, 63. [9] W. Tremel, R. Seshadri und E. W. Finckh, Chem. unserer Zeit 2001, 35, 42. [10] Unbesetzte Energiezustände existieren nur als Modellvorstellung. Sie können zwar unter Annahme der Besetzung berechnet, aber nicht gemessen werden. [11] Das entscheidende Kriterium zur Einteilung von Halbleitern und Metallen ist die Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit. [12] W. Meissner und R. Ochsenfeld, Naturwissenschaften 1933, 21, 787. [13] Diesen Zustand nennt man Meissner-Phase. [14] V.L. Ginsburg und L. D. Landau, Zh. Eksp. Teor. Fiz. 1950, 20, 1044. [15] A. A. Abrikosov, Zh. Eksp. Teor. Fiz. 1957, 32, 1442. [16] L. P. Gorkov, Zh. Eksp. Teor. Fiz. 1959, 36, 1918. [17] Der magnetische Fluß (Φ) ist quantisiert. Die kleinste Einheit von Φ ist h/2e, wobei h das Plancksche Wirkungsquantum bedeutet und e die Elementarladung. [18] W. Buckel, Supraleitung, 5. Aufl., VCH, Weinheim, 1993, S. 170. [19] S. X. Dou, X. L. Wang, Y. C. Guo, Q. Y. Hu, P. Mikheenko, J. Horvat, M. Ionescu und H. K. Liu, Supercond. Sci. Technol. 1997, 10, A52. [20] C. P. Bean, Phys. Rev. Lett. 1962, 8, 250. [21] C. P. Bean, Rev. Mod. Phys. 1964, 36, 31. [22] J. Bardeen, L. N. Cooper und J. R. Schrieffer, Phys. Rev. 1957, 108, 1175. [23] H. Fröhlich, Phys. Rev. 1950, 79, 845. [24] J. Bardeen, Phys. Rev. 1950, 80, 567. [25] C. A. Reynolds, B. Serin, W. H. Wright und L. B. Nesbitt Phys. Rev. 1950, 78, 487. [26] E. Maxwell, Phys. Rev 1950, 78, 477. [27] R. J. Cava, J. Am. Ceram. Soc. 2000, 83, 5. [28] Der Precursor ist ein meist pulverförmiges Zwischenprodukt oder Gemenge, welches durch eine geeignete Behandlung in ein gewünschtes Produkt überführbar ist. Zur Herstellung von (Bi,Pb)2223 wird aus einer salpetersauren Lösung von Metallnitraten und -oxiden ein fester Rückstand gewonnen (z. B. durch Sprühpyrolyse). Dieser wird durch Kalzinierung thermisch zum Precursor umgesetzt. Sowohl bei der Pyrolyse als auch bei der Kalzinierung werden die Nitrate unter Abgabe von Stickstoffoxiden zu Oxiden zersetzt. Der Precursor besteht aus (Bi,Pb)-2212 sowie Ca- und Cu-haltigen Nebenphasen. Er kann zur Herstellung von Sinterkörpern und Bandleitern verwendet und thermisch zu (Bi,Pb)-2223 umgesetzt werden. 124 | Chemie in unserer Zeit | 36. Jahrgang 2002 Nr. 2 | Die Autoren H.-Jürgen Meyer ist seit 1996 Professor für Anorganische Chemie an der Universität Tübingen. Nach dem Chemiestudium und der Promotion an der TUBerlin folgten Forschungsaufenthalte an der Iowa State University (Ames, Iowa), der Cornell University (Ithaca, New York) und 1993 die Habilitation an der Universität Hannover. Seine wissenschaftlichen Interessen umfassen Synthese, Reaktivität, Strukturanalyse, Bandstrukturrechnungen sowie elektrische und magnetische Eigenschaften von Feststoffen. Zu den aktuell untersuchten Verbindungsgruppen zählen Übergangsmetallhalogenide mit Metallclustern, Metall-(B,C,N)-Verbindungen und Oxocuprate. Jochen Glaser studierte Chemie an der Universität Tübingen. In seiner Diplom- und Doktorarbeit im Arbeitskreis von S. Kemmler-Sack beschäftigte er sich mit supraleitenden Oxocupraten und der Optimierung ihrer Eigenschaften. Seit 1998 arbeitet er im Arbeitskreis von H.-J. Meyer als Postdoktorand über Carbide und Silizide der Erdalkali- und Seltenerdmetalle. Frank Schwaigerer studierte Chemie und Physik für das höhere Lehramt an der Universität Tübingen und stellte 1997 seine Zulassungsarbeit in der anorganischen Chemie in der Arbeitsgruppe von S. Kemmler-Sack fertig. Im Rahmen seiner Doktorarbeit in der Arbeitsgruppe von H.-J. Meyer beschäftigte er sich mit der „Darstellung und Optimierung von Precursoren für HTSL-Bandleiter“. Mittlerweile unterrichtet er am Friedrich-Schiller-Gymnasium die Fächer Chemie und Physik. Bernd Sailer studierte Chemie an der Universität Tübingen. In seiner Diplomarbeit im Arbeitskreis von S. Kemmler-Sack sowie im Rahmen seiner Doktorarbeit in der Arbeitsgruppe von H.-J. Meyer beschäftigte er sich mit der Optimierung der Eigenschaften von HTSL-Precursoren und Bandleitern. Derzeit arbeit er bei der Vacuumschmelze GmbH im Geschäftsbereich Supraleiter im Bereich Entwicklung und Optimierung von (Bi, Pb)-2223-Bandleitern. Die Web-Seite der Arbeitsgruppe ist unter http://www.uni-tuebingen.de/AK_H.-J.-Meyer/ abrufbar. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. H.-Jürgen Meyer, Institut für Anorganische Chemie, EberhardKarls-Universität, Auf der Morgenstelle 18, D-72076 Tübingen, Tel.: 07071-29-76234, E-Mail: [email protected]