3. Der Klimawandel als Brennpunkt neuer Gerechtigkeitskonflikte

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3. Der Klimawandel als Brennpunkt neuer Gerechtigkeitskonflikte
Vorbemerkung: Klimaschutz als neue Dimension der Gerechtigkeit
„Der Klimawandel stellt gegenwärtig die wohl umfassendste Gefährdung der
Lebensgrundlagen der heutigen und der kommenden Generationen sowie der
außermenschlichen Natur dar“ (DBK 2008, Nr. 1). Langfristig und global ist die
Sicherung menschenwürdiger Existenz heute ohne Klimaschutz nicht möglich. Er
fordert in wesentlichen Bereichen eine Transformation unserer Lebens- und
Wirtschaftsweise. Nie zuvor hat die Menschheit so tief, mit so großer räumlicher und
zeitlicher Reichweite in die Biosphäre eingegriffen. Der Klimawandel ist also kein
Schicksal, sondern zum größten Teil durch Menschen verursacht (anthropogen). Damit
ist er ethisch betrachtet eine Frage der Gerechtigkeit.
Die Deutsche Bischofskonferenz kennzeichnet den Klimawandel als „Brennpunkt
globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit“ (DBK 2007). Da die
Armen weit überproportional von den negativen Folgen des Klimawandels betroffen
sind, erzeugt er neue Gerechtigkeitsanforderungen im Umgang mit Energie und Wasser
sowie in der solidarischen Bewältigung von Risiken und Schäden, denen vor allem die
Menschen ausgesetzt sind, die selbst am wenigsten dazu beigetragen haben.
Hinsichtlich der notwendigen Ausweitung des Gerechtigkeitskonzeptes auf die
Beziehung zu künftigen Generationen und zu Menschen in anderen Erdteilen besteht
theoretisch weit gehend Konsens. Ob man den Begriff der Gerechtigkeit sinnvoll auch
auf das Verhältnis zur Natur anwenden kann, ist sozialethisch jedoch umstritten. Was
„ökologischer Gerechtigkeit“ genau bedeutet, was also die Maßstäbe für unsere
Pflichten gegenüber der Natur sind und wie sie zu zwischenmenschlichen
Solidaritätspflichten und ökonomischen Interessen zu gewichten sind, ist Gegenstand
unserer Diskussion. Gerade weil sich damit viele offene Fragen verbinden, die unser
Selbstverständnis und die Grundwert der gesellschaftlichen Ordnung betreffen, ist der
Klimawandel auch philosophisch, ethisch und theologisch ein spannendes Thema.
1. Zum Forschungsstand über Klimaänderungen
Fakten, Prognosen und Hypothesen
Der Klimawandel ist ein komplexes Phänomen, das seit Ende der achtziger Jahre
intensiver Gegenstand weltweiter Forschung ist.1 Die Gewichtung einzelner Faktoren
und Ursachen sowie die Abschätzung regionalspezifischer ökologischer Risiken und
sozialer Folgen unterliegen wegen der Komplexität der Wirkungszusammenhänge
vielfältigen Unsicherheiten. Anthropogene Einflussfaktoren (z.B. Co2-Ausstoß) und
naturale Faktoren (z.B. Sonnenflecken) überlagern sich wechselseitig. Einzelereignisse
wie etwa der Hurrikan Katrina vom Sommer 2005 können nicht eindeutig auf den
Klimawandel zurückgeführt werden. Insgesamt kann der Klimawandel heute jedoch
nicht mehr als bloße Hypothese abgetan werden. Die Fülle von bereits beobachtbaren
Extremereignissen (Stürme, Trockenheiten, Hitzwellen etc.) entspricht signifikant den
aus klimatologischen Modellrechnungen abgeleiteten Erwartungen. Der Klimawandel
1
Signifikant hierfür ist die 1988 durch die „Weltorganisation für Meteorologie“ (WMO) und das
„Umweltprogramm der Vereinten Nationen“ (UNEP/United Nations Environment Programme)
erfolgte Gründung des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) mit Sitz in Genf. Vgl.
IPCC, Climate Change, Paris 2007; oder: http://www.ipcc.ch oder www.d-ipcc.de.
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ist eine Tatsache. Seine Ausmaße sind dramatisch und stellen eine sozialethische
Herausforderungen ersten Ranges dar. Folgende Phänomene und Begleiterscheinungen
sind dabei wesentlich:
(1) Globaler Temperaturanstieg: Seit 1900 vollzieht sich ein deutlicher Anstieg der
globalen Mitteltemperaturen (bisher um 0,74 Grad Celsius).2 Die Erhöhung der
globalen Temperatur in den letzten 30 Jahren muss mit einer Wahrscheinlichkeit von
95% auf menschliche Eingriffe zurückgeführt werden. Nach Schätzungen des
Intergovernmental Panel on Climate Change wird sich die Atmosphäre bis zum Jahr
2100 um 1,1 bis 6,4 Grad Celsius erwärmen. Die Folgen sind nicht nur
Dürrekatastrophen und Extremniederschläge, sondern auch ein Anstieg des
Meeresspiegels und eine Verschiebung der Klimazonen.
(2) Hitzewellen: Die Häufung von Perioden extremer Hitze und Trockenheit in
bestimmten Regionen ist signifikant. So war der August 2003 in Deutschland bei
weitem der wärmste seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen. Andere Regionen, wie
etwa das südliche Afrika sind noch extremer betroffen. Klimaexperten gehen davon aus,
dass in Zukunft solche Hitzeperioden häufiger und intensiver werden.
(3) Anstieg des Meeresspiegels: Der globale mittlere Meeresspiegel ist im vergangenen
Jahrhundert um 10 bis 20 Zentimeter angestiegen. Bis zum Jahr 2100 wird ein Anstieg
um weitere 18 bis 59 cm erwartet, was die Bevölkerung in tief liegenden
Küstengebieten – darunter zahllose Städte – sowie auf kleineren Inseln massiv bedroht.
Die Möglichkeit eines Anstiegs des Meeresspiegels um mehrere Meter kann nicht
ausgeschlossen werden.
(4) Niederschläge und Überschwemmungen: Die Erwärmung bodennaher Temperaturen
geht Hand in Hand mit der Abkühlung höherer Atmosphärenschichten, was insgesamt
zu
einer
Veränderung
der
großräumigen
Zirkulationssysteme
und
Niederschlagsverteilungen führt. In tropischen und subtropischen Gebieten zeichnen
sich Niederschlagsabnahmen ab, während in mittleren und höheren Breitengraden die
Menge und Heftigkeit von Niederschlägen zunimmt. Diesem Erwartungsmuster
entsprechen in Mitteleuropa etwa die Starkregen in den Wintern 1993/94 und 1994/95,
die zu Jahrhunderthochwässern in der Rheinregion führten, die extremen
Sommerniederschläge der Jahre 2002 und 2005, die katastrophalen
Überschwemmungen im Bereich der Elbe (2002) und der Nordalpen (2005) auslösten.3
2. Soziale Folgeprobleme
(1) Gefährdung von Ernährungssicherheit und Wasserversorgung: Die Bewältigung
von klimabedingten Ernteverlusten und die Anpassung der Viehwirtschaft an neue
klimatische Verhältnisse sind mit Kosten verbunden, die nicht von allen Staaten oder
landwirtschaftlichen Betrieben aufgebracht werden können. In einigen Regionen der
Erde führt die Klimaveränderung zu einer massiven Beeinträchtigung der
Ernährungssicherheit. Dazu kommt, dass infolge von Erwärmung und
Überschwemmungen der Parasitenbefall zunehmen und entsprechende Ernteausfälle
verursachen wird. Zudem leiden nach Prognosen des Milleniumsberichtes der UNO im
2
3
Vgl. zum Folgenden: IPCC 2007 (Anmerkung 1), bes. Bericht der Arbeitsgruppe 1:
Zusammenfassung für Entscheidungsträger.
S. a. ausführlich unter http://www.awi.de/de/aktuelles und_presse/ .
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Jahr 2025 bis zu zwei Drittel der Menschheit unter Wasserknappheit, wobei der
Klimawandel zentrale Ursache ist.4
(2) Ausbreitung von Krankheiten: Durch die Klimaveränderungen, so Prognosen von
IPCC und die WHO, werden eine Reihe schwerer Krankheiten häufiger auftreten und
sich schneller ausbreiten, besonders vektorübertragene Krankheiten5. Ferner werden
vermehrt Menschen an Hitzestress sterben.
(3) Kriegs- und Fluchtursache Klimawandel: Insbesondere in Entwicklungsländern
werden zahllose Menschen auf der Flucht vor Überschwemmungen, Stürmen, Dürre,
Hunger oder Hygieneproblemen aufgrund mangelnder Wasserversorgung ihren
Lebensraum verlassen müssen. „Besondere Aufmerksamkeit verdient die
Wasserversorgung. Fachleute befürchten, künftige Kriege würden nicht mehr nur um
Öl, sondern um Wasser geführt.“6 Die Zerstörung von Lebensräumen könnte bald
mehrere hundert Millionen Menschen in die Migration treiben. Migrationen,
klimabedingte Destabilisierung von Gesellschaften und der Kampf um den Zugang zu
Ressourcen werden ins Zentrum der Sicherheitsprobleme des 21. Jahrhunderts rücken.
„Das größte Marktversagen der Geschichte“
Der so genannte „Stern-Review“, der im Oktober 2006 im Auftrag der Britischen
Regierung veröffentlicht wurde, schätzt die Folgen des Klimawandels bei Nichthandeln
auf 5 – 20 % des globalen Bruttosozialproduktes. Das wären bis zu 5.500 Mrd. Euro im
Jahr und überträfe die monetären Kosten der beiden Weltkriege zusammen. Stern
spricht vom „größten Marktversagen in der bisherigen Geschichte“.7
Stern belässt es nicht dabei, ein Katastrophenszenario zu entwerfen, sondern berechnet
gleichzeitig, dass bei raschem Handeln die schlimmsten Folgen mit vergleichbar
geringem Aufwand bewältigt werden können (ca. 300 Mrd./Jahr sind 1% des BIP).
Schon heute erreichen die Schäden durch die heftiger und häufiger werdenden Stürme
und Überflutungen astronomische Höhen – allein für den Hurrikan Katrina werden sie
von der amerikanischen Regierung mit 200 Mrd. US-Dollar beziffert. In Deutschland
haben die Überflutungen an Rhein, Elbe und Loisach enorme Kosten verursacht. In den
armen Regionen der Erde sind die monetär messbaren Schäden geringer, nicht jedoch
die Belastungen durch Trockenheiten, Ernteausfälle, Stürme und Überschwemmungen.
Die Zeit drängt – nach Stern und anderen Experten bleibt uns ein Zeitfenster von zehn
bis fünfzehn Jahren für grundlegende Änderungen, wenn wir den Klimawandel ohne
eskalierende Kosten und Konflikte bewältigen wollen. Gründe für die Zeitknappheit
sind vor allem: (a) Die Destabilisierung von Lebensräumen durch den Klimawandel, die
aufgrund der Trägheit des Systems nur bei raschem Wandel der anthropogenen
Belastungsfaktoren gebremst werden können. (b) Die Gefahr ökologischer Kippschalter
im Klimasystem, die nach gegenwärtigen Analysen rapide steigt, wenn der
Klimawandel 2° übersteigt. (c) Sich anbahnende Konflikte um die knapper werdenden
Ressourcen, besonders Wasser und Öl. (c) Die Trägheit der gesellschaftlichen Systeme,
deren weltweiter Wachstum mit den Anforderungen des Klimaschutzes kollidiert, deren
Umgestaltung im nötigen Maß jedoch mehrere Jahrzehnte in Anspruch nimmt.
4
5
6
7
UNEP, Global Environmental Outlook 2000, Nairobi/London 1999, 24-51.
Durch Organismen, meist Insekten, verbreitete Krankheiten wie z.B. Malaria, Dengue-Fieber,
Gelbfieber und verschiedene Arten von Hirnhautentzündung.
Die deutschen Bischöfe: Gerechter Friede (Die deutschen Bischöfe 66), Bonn 2000, Ziffer 96.
N. Stern: The Economics of Climate Change, London 2006, II.
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Zentraler Grund für das Marktversagen angesichts des Klimawandels ist die
Externalisierung (Auslagerung) der Kosten für fossile Energien: Wir benutzen die
Atmosphäre als Müllhalde und verbrennen die Zukunft unserer Kinder und Enkel.
Weitere Gründe sind die Sprunghaftigkeit, Politikabhängigkeit, und internationale
Unberechenbarkeit von Energiepreisen sowie die Langfristigkeit technischer
Entwicklungen und Investitionszyklen, die auch im Grundlagenbereich notwendig sind
und sich häufig auf betriebswirtschaftlicher Ebene nicht rechnen. Ein hoher Ölpreis
führt nicht automatisch zu geringerem Verbrauch, da entsprechend mehr in die
Exploration von Ölfeldern, die Nutzung von Ölschiefer und Ölsanden sowie in die
Verflüssigung von Kohle investiert wird. Deshalb ist ein Strukturwandel der
Energieversorgung wesentlich eine Frage politischer und damit auch moralischer
Entscheidungen und nicht ein Selbstläufer marktwirtschaftlicher Anpassungen.8
Bei aller berechtigten Kritik an der Dominanz von wirtschaftlichem Denken gegenüber
der Politik, sollte nicht übersehen werden, dass sich Klimaschutz nicht gegen die
Märkte durchsetzen lässt. In vieler Hinsicht können Märkte effektive und Freiheit
fördernde Steuerungsinstrumente sein. Jedoch brauchen sie neue Rahmenbedingungen,
Grenzen und eine Kultur der Verantwortung und Fairness, ohne die auch der
marktwirtschaftliche Wettbewerb nicht mit einer humanen Gesellschaft vereinbar ist.9
Die Ordnungsidee der Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft, für die sich die Kirchen
1985, vor den politischen Parteien, ausgesprochen haben,10 könnte die politische
Leitidee Europas im Klimawandel sein. Sie ist jedoch auch ethisch eine höchst
anspruchsvolle Idee. Moralische Standards in der Gesellschaft sind ein unterschätzter
Wirtschaftsfaktor. Märkte funktionieren auf Dauer nur auf der Basis einer Kultur der
Fairness.
3. Die Besonderheit der ethischen Probleme des Klimawandels
Die Besonderheit der ethischen Probleme des Klimawandels liegt in der großen Distanz
von Verursachern und Leidtragenden:
(a) Unsere heutige Lebensweise, die zu Klimaänderungen führt, ist eine Hypothek auf
die Zukunft und wird vor allem die kommenden Generationen belasten.
(b) Die armen Länder des Südens sind nur zu einem geringen Anteil an der
Verursachung beteiligt und können sich den Veränderungen kaum anpassen, während
die Industriestaaten die Emission der klimaschädigenden Treibhausgase verursachen
und bessere Chancen haben, sich gegen Folgen des Klimawandels abzusichern.
(c) Der Klimawandel beeinträchtigt in grundlegender Weise die Lebensräume von
Fauna und Flora und berührt damit das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Vor diesem Hintergrund ist die gegenwärtige Form der Energieversorgung, die der
Motor des Klimawandels und zugleich die Basis unseres bisherigen Wohlstandsmodells
ist, weder ethisch zu rechtfertigen noch wirtschaftlich vernünftig.
Klimawandel fordert eine zeitliche und räumliche Ausweitung von Solidarität, was nur
dann nicht in eine Überforderung und Verflachung mündet, wenn es gelingt, die damit
8
9
10
vgl. Vogt, Notwendiger Strukturwandel. Neue Wege für die Energieversorgung, in: Herder
Korrespondenz 54 (2000), 296-301.
vgl. Vogt, Markt und Moral 2008.
EKD/DBK 1985, Nr. 79-87.
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verbundenen Ansprüche und Pflichten zu präzisieren, akteursspezifisch einzugrenzen,
freiheitlich zu pluralisieren und strukturell zu verankern.
Der durch den Klimawandel ausgelöste Kooperationsdruck liegt quer zu bestehenden
Gemeinschaften und fordert, sich auf ferne Not einzulassen. „Diese Art von Solidarität
setzt Selbstüberwindung und Selbstüberschreitung voraus."11 Da das Klima ein
kollektives Gut ist, dessen Schädigung alle gemeinsam tragen müssen und dessen
Nutzen
sich
kaum
individualisieren
lässt,
ist
die
Blockade
von
Veränderungsbewegungen durch Trägheit und Trittbrettfahrermentalität nicht
verwunderlich. Investitionen für Klimaschutz sind leicht ausbeutbar und bedürfen eines
spezifischen institutionellen Schutzes.
4. Herausforderungen für einen neuen global deal zum Klimaschutz
In der bisherigen Klimaforschung gibt es eine Diskrepanz zwischen der intensiven
Sammlung und Analyse naturwissenschaftlicher Daten und der kaum vorhandenen
Beschäftigung mit damit verbundenen Gerechtigkeitskonflikten. Klimaschutz wird nur
auf der Grundlage eines „global deal“ gelingen. Dessen Kern ist CO2-Gerechtigkeit.
Bundeskanzlerin Angela Merkel vertritt die Position, dass der Maßstab hierfür eine ProKopf-Berechnung sein muss: CO2-Gerechtigkeit ist gewahrt, wenn jeder Mensch auf
dieser Erde nicht mehr Kohlendioxid produziert als er anderen zu produzieren zubilligt.
Eine Nebenbedingung hierfür ist, dass die insgesamt erzeugte Menge an Treibhausgasen
die globale Tragekapazität nicht überschreiten darf, was derzeit durch das Ziel
konkretisiert wird, dass die Erwärmung 2° C nicht übersteigen darf.
Die Berechnung pro Kopf, und nicht wie bisher üblich pro Land, ist vom
menschenrechtlichen Ansatz her konsequent. Sie stößt allerdings angesichts der
Tatsache, dass ein Nordamerikaner derzeit ca. 100mal so viel CO2 emittiert wie ein
Mensch in Südindien oder Westafrika, auf erbitterte Widerstände. Um keinen falschen
Anreiz für Bevölkerungswachstum zu setzen, sollte man für die Berechnung der
Bevölkerungszahl ein Basisjahr festlegen.
Zwar ist absolute Gleichbehandlung in zweifacher Hinsicht problematisch: Die
geografischen und kulturellen Differenzen erzeugen einen unterschiedlichen Bedarf. Ein
gewisser Ausgleich findet dadurch statt, dass die nördlichen Länder, die höhere
Kapazitäten haben, in energetische Effizienz- und Substitutionsstrategien zu investieren,
eine historische CO2-Schuld abzutragen haben. Bezogen auf das Kriterium der
Leistungsgerechtigkeit müssen die Industrieländer einen größeren Beitrag zum
Klimaschutz leisten.12 Hierbei kann auch eine Rolle spielen, dass die Industrieländer
aufgrund ihres höheren Standards technischer Entwicklung mit der gleichen Menge des
Ausstoßes an klimarelevanten Gasen höhere Nutzeneffekte erziehen können.
Auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit spricht für einen höheren Beitrag der
Industrieländer bzw. der Eliten in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Hier geht
es nicht um das Überleben, sondern um Wohlstandsverluste weit jenseits des
Existenzminimums. Nach dem Kriterium des Verursacherprinzips müssten die
Industrieländer, die in den letzten 150 Jahren ca. 90% der klimarelevanten Gase
ausgestoßen haben, den Großteil des Klimaschutzes bewältigen. Hier stellt sich die
11
12
Baumgartner 2004 (Anm. 9), 284.
Vgl.: Baer:The Right to Development in a Climate Constrained World (2007).
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Frage, welches Gewicht der Vergangenheit für die Konzeption von Gerechtigkeit
zugebilligt wird. Die enormen Steigerungsraten und Unterschiede in den Entwicklungsund Schwellenländern sollten nicht übersehen werden.
Es gibt eine Fülle sehr unterschiedlicher Gesichtspunkte, die gerechtigkeitstheoretisch
zu berücksichtigen sind, so dass die Gleichbehandlung pro Kopf als Maßstab der CO2Gerechtigkeit, trotz aller Problematik durchaus als akzeptable Annäherung erscheint.
Dies sollte zumindest so lange für die politische Ethik als Orientierung gelten, als sich
in der ethisch-philosophischen Diskussion und in der Erhebung entsprechender
empirischer Daten über die Verteilung von Lasten und Kosten des Klimawandels und
Klimaschutzes kein belastungsfähiger Konsens über andere Berechungen herausschält.
Zugleich bedarf es gerechtigkeitstheoretischer Forschung, um die Kriterien und die
Verteilung von Pflichten im Klimaschutz zu klären. CO2- Gerechtigkeit erfordert nach
aktuellem Verhandlungsstand, dass der Ausstoß klimarelevanter Gase in Europa bis
2020 um 20% (gegenüber 1990), wenn nichteuropäische Länder mitziehen um 30%
reduziert wird. Deutschland will mit einer 40%igen Reduktion vorangehen, was dem
oberen Rand des in Bali verhandelten Korridors entspricht (25-40% Reduktion bis 2020
in den Industrienationen). Bis zum Ende des Jahrhunderts sollte der CO2-Ausstoß um
80–90% reduziert werden. Diese Ziele sind nur durch eine neue industrielle Revolution
zu erreichen. Ein Anfang ist bereits gemacht: Deutschland ist in der Entkoppelung von
Energieverbrauch und Wirtschaftsentwicklung seit zwanzig Jahren erfolgreich und hätte
genügend technische Möglichkeiten dies ohne Wohlstandsverluste entsprechend weiter
auszubauen. Die Schließung der Gerechtigkeitslücken in der Steuer- und Finanzreform
und der zahlreichen Ausnahmeregelungen, die deren Lenkungswirkung teilweise
zerstören, wären Wege zu einer weiteren Verbesserung der deutschen CO2-Bilanz.
Notwendig für den global deal ist eine stärkere Einbeziehung der Entwicklungsländer in
die Reduktionsziele. Auch in den Industrieländern dominiert bisher trotz der KyotoVerpflichtungen eine erhebliche Zunahme des CO2-Ausstoßes.13
Der ethisch am meisten diskutierte Aspekt des global deal ist der Handel mit
Emissionszertifikaten. Dazu kommen Fragen der flexiblen Mechanismen der
Klimapolitik (Joint Implementation und Clean Development Mechanism). Diese
Mechanismen bieten große Allokationsvorteile (effektiverer Einsatz der begrenzten
Mittel), was nicht nur ein ökonomisches Argument ist, sondern vor allem aufgrund der
drängenden Zeit auch ethisch von hohem Wert sein kann. Emissionshandel braucht
jedoch funktionierende Märkte, was nur in begrenzten Territorien wie z.B. der EU der
Fall ist. Oft sind die Zuteilungsregeln unklar (in Deutschland umsonst). Der Erwerb von
Zertifikaten darf nicht zur Ersatzhandlung für Strukturreformen im eigenen Land oder
Unternehmen werden.
Der globale Gesellschaftsvertrag zum Klimaschutz fordert eine differenzierte
Abgrenzung von responsibilities und capabilities, von gemeinsamer und geteilter
Verantwortung. Klimaschutz wird nur dann zustande kommen, wenn die Lasten global
gerecht verteilt und durch Rahmenbedingungen Anreize für klimafreundliches
Wirtschaften strukturell verankert sind.
13
Zahlen für 2005: USA haben ihren CO2-auisstoß um 16,3 % erhöht, Dänemark um 14 %, Portugal um
15,8 %, Australien um 17,65 %, Italien um 18,6 %, Spanien um 38,3 % Kanada um 31,3 %: Vgl.
unfccc.int/ghg_emissions_data/ghg_data_from_unfccc/time_series_annex_i/items/3841.php [Februar
2008].
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