Julian Müller / Ludwig-Maximilians-Universität / Institut für Soziologie / SS 2014 Vorlesung Soziologische Theorien 07. April 2014 Émile Durkheim Organisatorisches • Die Reader zur Vorlesung sind ab sofort im Copyshop Digitalzentrum in der Barerstr. 71 erhältlich • Sonntags ab 20:00 Uhr können die Folien zur Vorlesung auf der Homepage des Lehrstuhls (www.nassehi.de) heruntergeladen werden • Die Texte zur Vorlesung werden in begleitenden Tutorien diskutiert und bearbeitet • Die Anmeldeformalitäten zur Klausur werden noch im Laufe des Semesters erläutert 2 Tutorien zur Vorlesung • • • • • • • • • • Mo 08-10 Uhr: Peter Müller / Suzette Kahlert Mo 08-10 Uhr: Jana Fritsche / Meng Xia Mo 18-20 Uhr: Daniel Ellwanger / Nina Sökefeld Mo 18-20 Uhr: Nicolas Lippert / Tobias Holl Di 08-10 Uhr: Marc Ortmann / Karlson Preuß Di 10-12 Uhr: Franziska Hohl / Maximilian Henninger Di 18-20 Uhr: Veit Braun / Satoshi Kitazume Mi 14-16 Uhr: Matthias Tann / Tobias Sollfrank Mi 14-16 Uhr: Maxi Sonnauer / Elisabeth Schwaiger Do 18-20 Uhr: Julian Simmler / Mirko Broll 3 Programm 07.04. Émile Durkheim Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Neuwied 1961, 128. Emile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit. über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt a.M. 152-173 und 437-450. 115Studie 1977, 14.04. Max Weber Max Weber: »Soziologische Grundbegriffe«. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Frankfurt a.M., 1-17. 21.04. Ostermontag 28.04. Georg Simmel Georg Simmel: »Das Geld in der modernen Cultur«. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Gesamtausgabe Band 5. Frankfurt a.M. 1992, 178-196. 4 05.05. George Herbert Mead George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1992, 194-221 und 230-265. 12.05. Talcott Parsons Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften. München 1972, 12-42. 19.05 Erving Goffman Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a.M. 1977, 31-60. 26.05. Kritische Theorie / Jürgen Habermas Jürgen Habermas: »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«. In: Ders./Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M. 1971, 101-141. 02.06. Niklas Luhmann Niklas Luhmann: »Was ist Kommunikation?«. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Wiesbaden 2005, 109-120. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, 16-35. 5 09.06. Pfingstmontag 16.06. Michel Foucault Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1991, 9-49. 23.06. Pierre Bourdieu Pierre Bourdieu: »Leçon sur la leçon«. In: Ders.: Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon. Frankfurt a.M. 1985, 49-81. 30.06. Bruno Latour Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2007, 9-24 und 76-102. 07.07. Klausur 6 Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen. Wiesbaden 2011. Hans Joas / Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt a.M. 2004. Gerhard Gamm /Andreas Hetzel / Markus Lilienthal: Hauptwerke der Sozialphilosophie. Stuttgart 2001. 7 Man ist wenig daran gewöhnt, die sozialen Phänomene wissenschaftlich zu untersuchen; daher dürften einige in diesem Werke enthaltene Lehren den Leser überraschen. Und doch sollte man, wenn es eine Wissenschaft von der Gesellschaft gibt, füglich von ihr erwarten, daß sie nicht in einer simplen Paraphrase überlieferter Vorurteile aufgeht, sondern uns die Dinge anders betrachten lehrt, als sie gemeinhin erscheinen. (Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a.M. 1984: 85) 8 Wenn ich meine Pflichten als Bruder, Gatte oder Bürger erfülle, oder wenn ich übernommene Verbindlichkeiten einlöse, so gehorche ich damit Pflichten, die außerhalb meiner Person und der Sphäre meines Willens im Recht und in der Sitte begründet sind. Selbst wenn sie mit meinen persönlichen Gefühlen im Einklang stehen und ich ihre Wirklichkeit im Innersten empfinde, so ist diese doch etwas Objektives. Denn nicht ich habe diese Pflichten geschaffen, ich habe sie vielmehr im Wege der Erziehung übernommen. Wie oft kommt es vor, daß über die Einzelheiten der auferlegten Verpflichtungen Unklarheit herrscht, und sich, um sie voll zu erfassen, die Notwendigkeit ergibt, das Gesetz und seine berufenen Interpreten zu Rate zu ziehen. Ebenso hat der gläubige Mensch die Bräuche und Glaubenssätze seiner Religion bei seiner Geburt fertig vorgefunden. Daß sie vor ihm da waren, setzt voraus, daß sie außerhalb seiner Person existieren. Das Zeichensystem, dessen ich mich bediene, um meine Gedanken auszudrücken, das Münzsystem, in dem ich meine Schulden zahle, die Kreditpapiere, die ich bei meinen geschäftlichen Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufs führen ein von dem Gebrauche, den ich von ihnen mache, unabhängiges Leben. (Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a.M. 1984: 105f.) 9 Hier liegt also eine Klasse von Tatbeständen von sehr speziellem Charakter vor: sie bestehen in besonderen Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, die außerhalb der Einzelnen stehen und mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft deren sie sich ihnen aufdrängen. Mit organischen Erscheinungen sind sie nicht zu verwechseln, denn sie bestehen aus Vorstellungen und Handlungen, ebenso wenig mit psychischen Erscheinungen, deren Existenz sich im Bewusstsein des Einzelnen erschöpft. Sie stellen also eine neue Gattung dar und man kann ihnen mit Recht die Bezeichnung ‚sozial‘ vorbehalten. Sie gebührt ihnen. Denn da ihr Substrat nicht im Individuum gelegen ist, so verbleibt für sie kein anderes als die Gesellschaft [...]. (Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a.M. 1984: 106f.) 10 Die erste und grundlegendste Regel besteht darin, die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten. (Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a.M. 1984: 115) 11 Wir behaupten also keineswegs, daß die sozialen Phänomene materielle Dinge sind, sondern daß sie mit dem gleichen Rechtstitel Gegenstände sind wie die materiellen Dinge, wenn auch solche anderer Art. Was ist eigentlich ein Ding? Das Ding verhält sich zur Idee wie etwas, das man von außen kennt, zu etwas, das man von innen kennt. Ein Ding ist jeder Gegenstand der Erkenntnis, der der Vernunft nicht von Natur aus zugänglich ist, von dem wir uns auf Grund einfacher gedanklicher Analyse keine angemessene Vorstellung bilden können; [...] Tatbestände einer bestimmten Ordnung wie Dinge zu behandeln, bedeutet also nicht, sie in diese oder jene Kategorie des Seienden einzureihen; es bedeutet nur, daß man ihnen gegenüber eine bestimmte geistige Haltung einnimmt. Es bedeutet vor allem, an ihre Erforschung mit dem Prinzip heranzutreten, daß man absolut nicht weiß, was sie sind, und daß ihre charakteristischen Eigenschaften sowie die sie bedingenden unbekannten Ursachen durch Introspektion nicht entdeckt werden können, mag sie noch so aufmerksam sein. (Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a.M. 1984: 89f.) 12 Wir gelangen also zu folgender Regel: Die bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestands muß in den sozialen Phänomenen, die ihm zeitlich vorangehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewußtseins gesucht werden. (Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a.M. 1984: 193) 13 Wenn es eine Wahrheit gibt, die die Geschichte über jeden Zweifel erhoben hat, dann die, daß die Religion einen immer kleineren Anteil des sozialen Lebens umfasst. Am Anfang erstreckt sie sich auf alles; [...] Nach und nach lösen sich die politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Funktionen von der religiösen Funktion, richten sich gesondert ein und nehmen einen immer weltlicheren Charakter an. Gott, der zuerst, wenn man so sagen darf, in allen menschlichen Beziehungen gegenwärtig war, zieht sich fortschreitend zurück. [...] Das Individuum empfindet also, daß es immer weniger von außen gesteuert wird. Es wird immer mehr zur Quelle spontaner Aktivität. (Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M. 1999: 224) 14 Wie geht es zu, daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein? Denn es ist unwiderlegbar, daß diese beiden Bewegungen, wie gegensätzlich sie auch erscheinen, parallel verlaufen. Das ist das Problem, das wir uns gestellt haben. Uns schien, daß die Auflösung dieser scheinbaren Antinomie einer Veränderung der sozialen Solidarität geschuldet ist, die wir der immer stärkeren Arbeitsteilung verdanken. (Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M. 1999: 82) 15 Die Solidarität, die aus Ähnlichkeiten entsteht, erreicht ihr Maximum, wenn das Kollektivbewußtsein unser ganzes Bewusstsein genau deckt und in allen Punkten mit ihm übereinstimmt: aber in diesem Augenblick ist unsere Individualität gleich Null. [...] Wir schlagen daher vor, diese Art der Solidarität mechanisch zu nennen. [...] In den Gesellschaften, in denen diese Solidarität sehr entwickelt ist, gehört sich das Individuum nicht selbst, wie wir weiter unten sehen werden. Es ist im besten Sinne des Wortes eine Sache, über die die Gesellschaft verfügt. (Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M. 1999: 181f.) 16 Ganz anders verhält es sich mit der Solidarität, die das Ergebnis der Arbeitsteilung ist. Während die vorherbesprochene Solidarität beinhaltet, daß sich die Individuen ähnlich sind, setzt diese voraus, daß sie sich voneinander unterscheiden. Die erste ist nur möglich, in dem die individuelle Persönlichkeit in der kollektiven Persönlichkeit aufgeht. Die zweite ist nur möglich, wenn jeder ein ganz eigenständiges Betätigungsfeld hat, wenn er also eine Persönlichkeit hat. [...] Tatsächlich hängt einerseits jeder um so enger von der Gesellschaft ab, je geteilter die Arbeit ist, und andrerseits ist die Tätigkeit eines jeden um so persönlicher, je spezieller sie ist. [...] Also wächst hier die Individualität des Ganzen zur gleichen Zeit wie die Individualität der Teile. [...] Diese Solidarität ähnelt jener, die man bei den höheren Tieren beobachten kann. Jedes Organ hat dort seine eigene Physiognomie und seine Autonomie, und trotzdem ist die Einheit des Organismus um so größer, je stärker die Individualisierung der Teile ausgeprägt ist. Aufgrund dieser Analogie schlagen wir vor, die Solidarität, die sich der Arbeitsteilung verdankt, organische Solidarität zu nennen. (Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M. 1999: 182f.) 17 Jede Gesellschaft ist eine moralische Gesellschaft. In bestimmter Hinsicht ist dieser Zug in organisierten Gesellschaften sogar noch stärker betont. Weil sich das Individuum nicht selbst genügt, erhält es von der Gesellschaft alles, was es benötigt, und für ebendiese Gesellschaft setzt es sich ein. So bildet sich ein starkes Gefühl der Abhängigkeit, in der es sich befindet: Es gewöhnt sich daran, seinen Wert richtig einzuschätzen, d.h. sich als ein Teil eines Ganzen zu betrachten, als Organ eines Organismus. [...] Die Gesellschaft ihrerseits lernt, die Mitglieder nicht als Dinge zu betrachten, auf die sie ein Recht hat, sondern als Mitarbeiter, auf die sie nicht verzichten kann und denen gegenüber sie Pflichten hat. Zu Unrecht stellt man also die Gesellschaft, die aus der Gemeinschaftlichkeit des Glaubens entsteht, der Gesellschaft gegenüber, die auf der Zusammenarbeit beruht, indem man nur der ersten einen moralischen Charakter zubilligt und in der zweiten nur eine wirtschaftliche Gruppierung sieht. In Wirklichkeit hat gerade die Zusammenarbeit ebenfalls ihre eigenständige Moralität. (Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M. 1999: 285) 18 Wir können also den Schluß ziehen, indem wir sagen, daß alle sozialen Bande, die der Ähnlichkeit entstammen, allmählich ihre Kraft verlieren. Dieses Gesetz allein reicht bereits hin, um die ganze Gewichtigkeit der Rolle der Arbeitsteilung aufzuzeigen. Denn in der Tat, da die mechanische Solidarität immer schwächer wird, muß sich entweder das eigentliche soziale Leben vermindern, oder eine andere Solidarität muß nach und nach an die Stelle derer treten, die im Begriff ist, sich aufzulösen. Man muß wählen. Vergeblich hält man daran fest, daß sich das Kollektivbewußtsein zugleich mit dem der Individuen erweitert und festigt. Wir haben bewiesen, daß sie beiden sich im umgekehrten Verhältnis verändern. Trotzdem besteht der soziale Fortschritt nicht aus einer stetigen Auflösung; im Gegenteil, je mehr man fortschreitet, desto mehr gewinnen die Gesellschaften ein tiefes Gefühl ihrer selbst und ihrer Einheit. Es muß also ein anderes soziales Band geben, das dieses Ergebnis nach sich zieht. Nun gibt es aber kein anderes als jenes, das sich aus der Arbeitsteilung ableitet. [...] Die Arbeitsteilung übernimmt immer mehr die Rolle, die früher das Kollektivbewußtsein erfüllt hatte. Sie hauptsächlich hält die sozialen Aggregate der höheren Typen zusammen. Damit gewinnt die Arbeitsteilung natürlich eine viel bedeutendere Funktion als jene, die ihr die Ökonomen gewöhnlich zuerkennen. (Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M. 1999: 228) 19 Weiterführende Literatur • Heike Delitz: Émile Durkheim zur Einführung. Hamburg 2013. • Friedrich H. Tenbruck: »Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie«. In: Zeitschrift für Soziologie 10. Jg., 4 (1981), 333-350. • Tanja Bogusz/Heike Delitz (Hg.): Émile Durkheim. Soziologie – Ethnologie – Philosophie. Frankfurt a.M./New York 2013. • Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München 2004. 20