Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Ethik und Heilpädagogik Editorial Für die meisten ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Menschen mit Behinderungen soweit möglich gefördert, unterstützt und Teil der «normalen» Gesellschaft sein sollen. Ob diesem Grundkonsens geht aber oft vergessen, dass der Alltag in der Heil- und Sonderpädagogik – also jenen Disziplinen, die sich der Förderung und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen unterschiedlichster Art widmen – mit zahlreichen schwierigen ethischen Fragen verbunden ist. Aber auch grundlegende Punkte wie etwa die Frage, was ein «moralisches Recht auf Integration» überhaupt bedeuten kann, sind so klar nicht, wie es den Anschein macht. Hinzu kommt die besondere Verletzlichkeit der betreuten Personen, was eigene Risiken mit sich bringt, wie der jüngst bekannt gewordene, gravierende Missbrauchsfall im Kanton Bern erneut deutlich gemacht hat. Diese Ausgabe von «Thema in Fokus» widmet sich aus verschiedenen Perspektiven den ethischen Fragen, die sich in der Heil- und Sonderpädagogik stellen. Riccardo Bonfranchi, der seit vielen Jahren praktisch wie wissenschaftlich in diesem Bereich arbeitet, legt diese Fragen kritisch dar. Daniela Ritzenthaler, Mitarbeiterin von Dialog Ethik und Doktorandin im Bereich Sonderpädagogik, beleuchtet die ethischen Positionen, die bei der Diskussion heilpädagogischer Fragen eine Rolle spielen. Und im Interview mit der Sonderpädagogin Franziska Felder gehen wir der Frage nach, was ein «Recht auf Integration» bedeuten kann und was nicht. Parallel zu dieser Ausgabe erscheint im Frühling in der Reihe «Interdisziplinärer Dialog – Ethik im Gesundheitswesen» unser elfter Band zum Thema «Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik. Integration und Separation von Menschen mit geistigen Behinderungen» von Ricchardo Bonfranchi, der vertiefend auf die hier angesprochenen Fragen eingeht. Ihr Team Dialog Ethik Inhalt Schwerpunkt: Ethik und Heilpädagogik – um welche Themen geht es? [2] Ethische Kernfragen: Ethische Fragen in der Heilpädagogik [6] Interview: Franziska Felder: Viele Sonderpädagogen glauben, sich tieferen ethischen Fragen nicht stellen zu müssen [9] Fallbeispiel: Darf Roland mehr essen? [13] Fallbesprechung: «Manisch und beweglich – oder ruhig und behindert?» [13] Ergänzungen: Artikel, Bücher, Links [17] Dialog Ethik Newsletter [18] Dialog Ethik Öffentlich [18] Veranstaltungen [19] Produkte [19] Wortklaubereien [20] Impressum [20] Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Schwerpunkt Ethik und Heilpädagogik – um welche Themen geht es? Die Heilpädagogik versteht sich als Wissenschaft und Praxis der Förderung und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen unterschiedlichster Art. Diese Aufgabe ist im heilpädagogischen Alltag mit zahlreichen ethischen Fragen verbunden, die erst nach und nach ins Bewusstsein dieser Disziplin geraten sind – so jedenfalls der Autor der nachfolgenden Übersicht, Riccardo Bonfranchi. In dieser Zusammenstellung werden wichtige ethische Fragen, die in der Heilpädagogik eine Rolle spielen, vorgestellt und diskutiert. Ethische Fragestellungen haben seit einigen Jahren Konjunktur. Was als richtig und was als falsch zu gelten hat, wird einer genaueren Betrachtung unterzogen. Begriffe werden auf ihre political correctness hin beurteilt und ganz allgemein wird über das Gute und das Böse in unserer Gesellschaft reflektiert. Dies beginnt bereits bei den Begriffen. So kränkt und verletzt beispielsweise der negativ konnotierte Begriff Mongoloismus sowohl Menschen mit Down-Syndrom (oder Trisomie 21) wie auch das Volk der Mongolen in ihrer Ehre und Würde. Entsprechend wird der Begriff kaum mehr verwendet. Eine vertiefte Sensibilisierung ist an die Stelle unreflektierten Gebrauchs von Bedeutungen und Bezeichnungen getreten. Allerdings ist die Sache der wertschätzenden Umsetzung von Begriffen – und darum geht es ja in der Ethik auch – nicht immer so einfach. So hält sich etwa die Bezeichnung «geistige Behinderung» nach wie vor, auch wenn sie nicht korrekt ist. Zwar spricht man heute nicht mehr von geistig Behinderten, sondern von Menschen mit einer geistigen Behinderung – kaum je wird aber gefragt, was eigentlich unter dem hier angesprochenen «Geist» konkret zu verstehen ist und wie dieser überhaupt beeinträchtigt (anstelle von behindert!) sein kann. Besser wäre vielleicht, man würde von kognitiver Beeinträchtigung sprechen, also von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Mangelndes Bewusstsein für ethische Fragestellungen Wie man sieht, beginnen die Schwierigkeiten bereits bei den korrekten Begrifflichkeiten, wenn man sich auf heil- oder besser: sonderpädagogisches Terrain begibt. In der Alltagssprache hat sich häufig die hier nicht näher hinterfragte Doppelbezeichnung Heil- und Sonderpädagogik etabliert. Hierzu ist zu sagen, dass sich die Wissenschaft der Heil- und Sonderpädagogik in Bezug auf die Behandlung von ethischen Fragestellungen in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren nicht besonders hervor getan hat, wenn man sie mit anderen praktischen Disziplinen wie der Medizin, der Ökologie oder auch der Wirtschaft vergleicht. Jede grosse Bank unterhält heute eine Abteilung für Compliance, ökologische Fragen haben oft einen ethischen Bezug und auch in der Medizin hat die Behandlung ethischer Fragen einen hohen Stellenwert. So finden sich beispielsweise an grossen Krankenhäusern eine Kommission für ethische Fragestellungen oder einen darauf spezialisierten Arzt mit Zusatzausbildung in angewandter Ethik, an die sich Mitarbeitende bei schwierigen Fragen wenden können. Dem ist (leider) in der Heil- und Sonderpädagogik nicht so. Hier konnte man – abgesehen von einigen wenigen Veröffentlichungen in den letzten Jahren – zu ethischen Fragestellungen kaum etwas finden. Dies wiederum wirft die Frage auf, ob es in der Heilund Sonderpädagogik solche Fragestellungen im Hinblick auf das, was gerecht, moralisch zulässig, geboten oder verboten ist, nicht gibt. Oder gibt es andere Gründe, die dafür verantwortlich sind, dass sich die Heil- und Sonderpädagogik zum Beispiel zur pränatalen Diagnostik kaum oder – wie ich meine – nur wenig differenziert geäussert hat? Insbesondere bei der pränatalen Diagnostik ist dies auffällig, weil es sich hierbei um einen Vorgang handelt, der Behinderung in der Regel unmittelbar betrifft. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die vor über 20 Jahren geführte Auseinandersetzung um die Thesen des australischen Philosophen Peter Singer in 2 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Ethik und Heilpädagogik – um welche Themen geht es? seinem Buch «Praktische Ethik». Die Diskussion innerhalb der heil- und sonderpädagogischen Profession verlief damals sehr oberflächlich, Singer wurde in den Hörsälen niedergeschrien und ausgepfiffen. Doch eine nachfolgende gründliche Aufarbeitung der von Singer aufgeworfenen Fragen bezüglich beispielsweise des Würdebegriffs bei kognitiv stark beeinträchtigten Menschen hat es meines Wissens im deutschsprachigen Raum kaum gegeben. Und auch andere ethische Fragen, mit denen Fachpersonen in der Heilund Sonderpädagogik in ihrer Arbeit zunehmend konfrontiert sind, kommen erst langsam ins Bewusstsein dieser Disziplin. Ethische Fragen am Grenzgebiet Medizin und Heilpädagogik Die Heil- und Sonderpädagogik wird in Zukunft aber – so lässt sich unschwer voraussagen – um die Reflexion bzw. Aufarbeitung ethischer Fragestellungen nicht herumkommen. Dies ergibt sich nur schon aus den Auswirkungen der modernen Medizin auf die Klientel der Heilpädagogik, denn es wird in Zukunft vermehrt Menschen mit schwerer und schwerster kognitiver Beeinträchtigung geben. Frühestgeburten (ab der 24. Schwangerschaftswoche) sowie Unfälle, bei denen es zu schweren Hirnschäden (durch Ertrinken, Verkehrsunfälle etc.) kommt, werden heute dank der modernen Medizin vermehrt überlebt – allerdings zum Preis schwerer Behinderungen. Wenn diese Menschen nach einer gewissen Zeit das Krankenhaus verlassen und zu Hause leben können (z. B. mit einer Magensonde sowie starker kognitiver und physischer Beeinträchtigung), so haben sie das Recht, entweder ambulant oder im Heim von heil- und sozialpädagogischen Fachkräften betreut zu werden. Hier ergibt sich eine Schnittstelle zwischen medizinischer Versorgung und heil- und sozialpädagogischer Betreuung und auch Förderung. Die Zahl vergleichsweise leicht behinderter Menschen wiederum, insbesondere Menschen mit Down-Syndrom, nimmt tendenziell ab – ebenfalls eine Folge der modernen Medizin, bzw. der pränatalen Diagnostik. So lässt sich feststellen, dass die Klientel der Heil- und Sonderpädagogik nicht abnimmt, sondern sich in Richtung schwere und schwerste Behinderung verlagern wird. Damit ergeben sich natürlich vermehrt ethische Fragestellungen, wenn z. B. ein solches Kind von einer heilpädagogischen Schule notfallmässig ins Kinderspital überführt werden muss. Soll man eine solche Überweisung in jedem Fall durchführen? Oder wie verhält man sich als professionell von Behinderung betroffene Fachperson, wenn man von einer Mutter eines schwer- und mehrfach behinderten kleinen Mädchens gefragt wird, ob man das Wachstum des Kindes nicht medikamentös verhindern könne? Denn wenn ihre Tochter grösser und schwerer werde, dann könne sie ja ihr Kind nicht mehr selber pflegen und müsse es weggeben – und das würde ihr das Herz brechen. Das sind nur zwei Beispiele von Fragen, mit denen man in heil- und sonderpädagogischen Institutionen zunehmend konfrontiert ist. Hat die Heil- und Sonderpädagogik hierfür Antworten bzw. werden die zukünftigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in solchen Institutionen bereits in der Ausbildung mit solchen Fragen konfrontiert? Man muss sich dabei bewusst sein, dass durch solche Probleme grundlegende Intuitionen der «heilpädagogischen Moral» verletzt werden können. Die Vorstellung, einen schwer behinderten Menschen bei einem medizinischen Notfall nicht zu reanimieren, ist für viele Heil- und Sonderpädagogen noch schwer zu akzeptieren – in der Medizin aber ein legitimes Thema ethischer Überlegungen, etwa im Fall einer Krebserkrankung im Endstadium. Dabei besteht wohl auch ein berufsethisches Dilemma, denn die mit solchen Dilemmas verknüpften medizinischen Aspekte gehören nicht zum Aufgabengebiet der Heilpädagogik. 3 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Schwerpunkt Ethik und Heilpädagogik – um welche Themen geht es? Integration und Ethik Ein anderer wichtiger Themenkomplex der Heilpädagogik mit ethischen Implikationen ist das in den letzten Jahren prominent diskutierte Thema der Integration insbesondere von Kindern mit einer geistigen oder einer Lern-Behinderung in die Regelschule. Auch hier fehlt es an vertieften ethischen Überlegungen. Vielmehr ist Integration offenbar per se «gut» und die meisten Heil- und Sonderpädagogen befürworten die doch mehr oder weniger methodisch-didaktisch unreflektierte Integration dieser Kinder in die Regelschule in starkem Masse. Dass die Regelschule auf die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder weder eingerichtet noch vorbereitet worden ist, kümmert die etablierte Heil- und Sonderpädagogik nicht ausreichend. Das ethische Problem scheint mir aber zu sein, dass diesen Kindern nicht mehr die gleiche Förderung in heilpädagogischer und therapeutischer Hinsicht (beispielsweise Physio-, Ergotherapie und Logopädie) geboten werden kann, wie sie dies in den dafür konzipierten Institutionen erhalten. Dies kommt meines Erachtens einer Bagatellisierung von Behinderung und damit einer Würdeverletzung gleich, geht man doch heute davon aus, dass jeder Mensch seinen Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen entsprechend geschult und gefördert werden soll. So sehe ich die aktuelle Integrationsdebatte als ein typisches Beispiel dafür, wie ethische Fragen in der Heilpädagogik oft diskutiert werden. Das hehre Ziel (in diesem Fall Integration) versperrt den Blick auf wichtige Folgefragen – hier die Frage, wie man die besonderen Bedürfnisse dieser Menschen, die ja oft als negativ, als beeinträchtigt, als behindert verstanden werden, weiterhin im Auge behält. Dabei muss man sich auch bewusst sein, dass der Verzicht auf Integration ebenfalls ethische Fragen aufwirft – d.h. wenn Kinder und Jugendliche mit einer schwer(st)en und mehrfachen Behinderung in speziellen Institutionen geschult, gefördert und therapiert werden. Hier ergeben sich z. B. Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit bei den anzuwendenden Therapien. Eine heilpädagogische Schule hat ein bestimmtes Kontingent an Therapiemöglichkeiten (Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, Psychomoto- rik-Therapie usw.), aber theoretisch könnte man bei jedem Kind zahlreiche unterschiedliche Therapien anwenden. Wie in der Medizin auch, stösst man hier an eine Kostengrenze, d.h. diese Therapie-Ressourcen müssen verteilt werden. Nach welchen Kriterien hat dies zu geschehen? Die Bestimmung des rechten Masses ist in der Praxis oft nicht einfach und verlangt nach einer Fallbesprechung, die mehr von ethischen als von fachlichen Grundsätzen bestimmt wird. Paternalismus und Selbstbestimmung Ein für die Heilpädagogik ebenfalls wichtiges ethisches Thema ist das Spannungsfeld zwischen Paternalismus und Selbstbestimmung. Die Heilpädagogik – insbesondere wenn es um Menschen mit schwersten kognitiven Beeinträchtigungen geht – bedient sich oft einer advokatorischen Ethik, d.h. man sieht sich als professionelle Fachperson quasi als «Anwalt» der betroffenen behinderten Person. Wie verhält sich das zur Wahrung der Selbstbestimmung der behinderten Kinder und Jugendlichen, die ja in der Regel ihre Bedürfnisse auf Grund der Schwere der Behinderung nicht selber äussern können und wenn, dann nur in sehr verschlüsselter Art und Weise? Was bedeutet eine «best interest» – Entscheidung in einem solchen Fall? Wie sollen die Eltern miteinbezogen werden? Man kann sich in der Heilpädagogik – im Unterschied zur Medizin und Psychiatrie –nicht auf Äusserungen der Person abstützen, als diese «noch normal» war. Verschärft wird dieses Problem durch Fremd- und Auto-Aggressionen, was in der Heil- und Sonderpädagogik immer wieder schwerwiegende Entscheidungen erfordert. Auch hier bewegen sich Heil- und Sozialpädagogen oft in ethischen Grenzbereichen bzw. in Sphären, in denen der Schritt zur Missachtung der Autonomie des Menschen mit auffälligem Verhalten manchmal sehr klein zu werden beginnt. Freiheitsentziehende Massnahmen (Fixierungen, Einsperren, psychischer Druck, Zwang und Drohungen etc.) müssten im Grunde immer mittels eines «Marschhaltes» bzw. einer ethisch motivierten Überprüfung gerechtfertigt werden. Hinzuweisen ist hier auch auf den Umgang mit Macht und Gewalt zwischen betreuten Menschen und den professionell von Behinderung Betroffenen. 4 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Schwerpunkt Ethik und Heilpädagogik – um welche Themen geht es? Zusammengefasst zeigt diese kurze Übersicht drei Problemkomplexe, in denen sich verschärft ethische Fragen stellen und mit denen sich die Heilpädagogik auseinandersetzen muss: Erstens wird die Klientel «schwieriger» dahingehend, dass vermehrt schwerstbehinderte Menschen betreut werden müssen, bei denen sich in medizinischen Notfällen Probleme ergeben (z. B. soll eine Reanimation erfolgen), die den bisherigen ethischen Intuitionen der Heilpädagogik zuwider laufen können. Hierbei ist insbesondere die Rolle von heilpädagogischen Fachleuten gegenüber z. B. Medizinern zu klären. Zweitens ist mit dem ganzen Komplex der «Integration» eine Reihe von noch kaum diskutierten ethischen Fragen verbunden, die oft auch mit Ressourcenverteilung zu tun haben (z. B. wie will man Lehrkräfte, ausreichend unterstützen, in deren Klassen behinderte Kinder integriert werden sollen). Drittens schliesslich ist die grundlegende ethische Ausrichtung der Heilpädagogik oft von «advokatorischer Art», d.h. man versteht sich als Anwalt von Personen, die sich selbst kaum äussern können. Das damit einhergehende Spannungsverhältnis von Autonomie und Fremdbestimmung wird aber oft unterschätzt und wird erst in jüngster Zeit vermehrt im Fachdiskurs aufgenommen. Riccardo Bonfranchi Dr. Riccardo Bonfranchi, MAE, war bis Sommer 2010 Schulleiter der Heilpädagogischen Schule Zürich der RGZ-Stiftung. Er arbeitet heute als selbständiger Berater im Bereich Heil- und Sonderpädagogik. Kontakt: [email protected]; www.bonfranchi.info 5 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Ethische Kernfragen Ethische Fragen in der Heilpädagogik Ein Fazit des Hauptartikels lautet, dass die ethische Diskussion in der Sonderpädagogik oft oberflächlich oder gar nicht geführt wird. Diese Erläuterung der ethischen Kernfragen versucht, Erklärungen für diese Feststellung zu geben und bestehende ethische Argumentationen kurz darzustellen. Berufsethische Fragen in der Sonderpädagogik: Fragen des Machtgefälles zwischen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und den professionellen Sonderpädagogen, die Riccardo Bonfranchi erwähnt, sind berufsethische Fragen. Zur Berufsethik besteht in der Fachliteratur eine Debatte mit Schwerpunkt auf den Grundwerten, auf welche ein Heilpädagoge seine Arbeit abstützen sollte. Spannend ist, dass es in der Sonderpädagogik noch keinen schriftlich festgeschriebenen und anerkannten ethischen Berufskodex gibt. Eine Autorin hat vorgeschlagen, dass sich die Sonderpädagogen überlegen sollten, einen «heilpädagogischen Eid» abzulegen.* Sie hat darin Werte und Haltungen aufgenommen, die für die sonderpädagogische Arbeit zentral sind. Dabei nennt sie auch den Schutz vor Gewalt und vor dem Ausnutzen von Abhängigkeiten (also den Umgang mit Machtgefällen). Eine Schlussfolgerung ihrer Überlegungen lautet, dass das Einführen eines Eides auch Schwierigkeiten mit sich bringen würde und dieser allein kein Garant für «ethisch richtiges Handeln» in der Berufspraxis ist. Die Sonderpädagogik sollte sich der Frage nach der Verbindlichkeit von Grundwerten in der eigenen Profession vermehrt stellen. Es wäre hilfreich, sich auf einen Ethikkodex zu einigen – auch um die kontroverse Auseinandersetzung mit den konkreten Anforderungen an die Heilpädagoginnen möglich zu machen: Was bedeutet es in der täglichen Arbeit, bestimmten Werten verpflichtet zu sein? Sozialethische Fragestellungen: Die Integration von Kindern mit einer Behinderung in die Regelklassen ist hauptsächlich eine sozialethische Frage. Verschiedene Werte müssen hierbei auf gesellschaftlicher Ebene gegeneinander abgewogen werden. Sie können nicht (nur) auf individueller Ebene für das einzelne Kind entschieden werden, da schulpolitische Entscheidungen, welche auf kantonaler oder kommunaler Ebene getroffen werden, die Rahmenbedingungen für die Integration festlegen. Das Interview (siehe S. 10) beschäftigt sich mit den ethischen Dimensi- onen der Integration. Andere in der Sonderpädagogik häufig diskutierte sozialethische Fragen sind jene der Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung in der Gesellschaft, sowie die ethischen Fragen, welche durch die Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik entstehen. Inwieweit solche sozialethischen Themen allerdings sonderpädagogische Fragestellungen darstellen (also das Kerngeschäft der Heilpädagogik betreffen, nämlich die Betreuung und Förderung von Menschen mit einer Entwicklungsverzögerung), ist in der Fachwelt umstritten. Ethische Einzelfall-Dilemmata in der heilpädagogischen Arbeit: In der Sonderpädagogik werden bisher nur sehr selten Dilemmasituationen interdisziplinär mittels einer ethischen Fallbesprechung gelöst. Da in dieser kurzen Übersicht keine Gesamtschau über die Dilemmathemen gegeben werden kann, wird exemplarisch auf die Selbstbestimmungsdebatte eingegangen. Weitere Themen, die vereinzelt in der Literatur angeschnitten werden, betreffen die Sexualität und den Kinderwunsch von Menschen mit einer geistigen Behinderung sowie Zwangsmassnahmen (z. B. bei selbstverletzendem Verhalten). Selbstbestimmung für Menschen mit einer geistigen Behinderung: Der Ruf nach Selbstbestimmung für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist in der Fachliteratur in den letzten 10 bis 15 Jahren sehr stark geworden. Verschiedene Autoren fordern mehr Entscheidungsspielraum auch im Behindertenheim, einige sprechen gar von einem «Paradigma Selbstbestimmung für die Heilpädagogik». Allerdings zeigte eine Serie von in englischsprachigen Ländern durchgeführten empirischen Studien, dass die Forderung nach Selbstbestimmung für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die in einem Heim leben, nur ungenügend in die Praxis umgesetzt worden ist. In einer qualitativen Studie sagte ein Mann mit einer Körperbehinderung, Selbstbestimmung im Heim sei gar nicht möglich. Einige Gründe für die ungenügende Umsetzung mögen neben institutionellen Rahmenbedingungen auch in den ethischen Dilemmata liegen, welche die Forderung der Selbstbestimmung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung mit sich bringt. Eine der Schwierigkeiten liegt sicher darin, dass in der Geschichte der Heilpädagogik die Werte «Fürsorge» und «Gutes tun» eine wichtige Rolle in 6 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Ethische Kernfragen Ethische Fragen in der Heilpädagogik der Betreuung gespielt haben. Auch heute stehen die Heilpädagoginnen oft im Konflikt, ob sie für den Menschen entscheiden sollen, um «Gutes zu tun» z. B. um eine Gefährdung der Gesundheit zu verhindern, oder ob sie den Menschen mit einer Behinderung selbst bestimmen lassen sollen. Ein klassisches Beispiel dafür sind Dilemmata bei der Ernährung. Viele Menschen mit einer geistigen Behinderung essen sehr gerne. Mit zunehmendem Alter können durch Übergewicht oder einseitige Ernährung vermehrt gesundheitliche Probleme auftreten (z. B. Diabetes, Herz-Kreislaufkrankheiten). Dann wird meist vom Heimarzt das Einhalten einer Diät gefordert. Wie soll bei den Mahlzeiten damit umgegangen werden, wenn ein Bewohner diese Diät nicht einhalten will? Um selbstbestimmt zu entscheiden, sollte ein Mensch in Bezug auf die Entscheidung urteilsfähig sein, also die Folgen seines Verhaltens abschätzen können. Der Bewohner im Beispiel müsste also verstehen, welche Folgen das Nichteinhalten der Diät auf seine Gesundheit hätte. Ist er bereit, einen Herzinfarkt in Kauf zu nehmen? Kann er kognitiv erfassen, was dies bedeuten würde? Die Abklärung der Urteilsfähigkeit in Bezug auf eine bestimmte Frage ist bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung nicht immer einfach: Wie genau müssen die Folgen einer Handlung verstanden werden, damit die Urteilsfähigkeit gegeben ist? Bei Menschen ohne Behinderung wird meist nicht nachgefragt, ob sie die Folgen der Entscheidung wirklich nachvollziehen können. Ein ethisches Argument in der Sonderpädagogik fordert, dass man bei allen Menschen den gleichen Massstab ansetzen muss. Es darf nicht sein, dass man bei Menschen mit einer geistigen Behinderung höhere Anforderungen an eine Entscheidung stellt als in der Normalbevölkerung. Viele von uns essen ebenfalls zu viel und nehmen das Risiko, deshalb zu erkranken, in Kauf, oder sie verdrängen es. Dürfen Menschen mit einer Behinderung diese Gefahren nicht auch verdrängen zugunsten des Genusses während dem Essen? In der Sonderpädagogik wird zuweilen argumentiert, es gebe auch ein Recht auf unvernünftige Entscheidungen. Auch die Definition von Selbstbestimmung ist in der Argumentation bedeutend: Ist sie vor allem ein Abwehrrecht, im Sinne eines Schutzes vor Fremdbestimmung, dann muss jede Fremdbestimmung mit starken Argumenten begründet werden. Ein solch starkes Argument könnte bei Urteilsunfähigkeit der behinderten Person das Gefährdungsrisiko sein. Das bedeutet, dass ein grosses Risiko der Gefährdung vorhanden sein muss, um eine Fremdbestimmung zu rechtfertigen. Als Risiko wird das Produkt der Eintretenswahrscheinlichkeit mit dem potentiellen Schaden verstanden. Im Beispiel wäre das: Risiko = «Wahrscheinlichkeit, dass ein Herzinfarkt auftritt» mal «Schadenspotential des Herzinfarktes». Wäre der eintretende potentielle Schaden nach einer Entscheidung also nur klein, dann wäre eine Fremdbestimmung nicht zu rechtfertigen. Wenn der Schaden für die Person sehr gross wäre (z. B. ein Herz-KreislaufStillstand), dann müsste noch bestimmt werden, wie gross die Eintretenswahrscheinlichkeit dieses Schadens ist, um eine Fremdbestimmung zu rechtfertigen. Die grundsätzliche Frage dieser Argumentation – wie gross muss eine Gefährdung sein, damit eine Fremdbestimmung gerechtfertigt wäre? – kann unterschiedlich beantwortet werden und zeigt, dass diese Argumente sowie die Abklärung der Urteilsfähigkeit jeweils in der Einzelfallsituation sorgfältig im Team diskutiert werden müssten. Die Rolle der Sonderpädagogen: Wer entscheidet bei medizinethische Fragen? Ein letzter Punkt wird in der ethischen Debatte in der Sonderpädagogik noch nicht berücksichtigt: Es gibt medizinethische Entscheidungen, die zwar die Klientel der Heilpädagogik betreffen, die aber nicht von den Sonderpädagogen getroffen werden. Die verbesserten medizinischen Therapiemöglichkeiten für Menschen mit einer schweren körperlichen und/oder geistigen Behinderung werfen – neben all den Vorteilen, die sie bringen – dieselben medizinethischen Fragen auf, die bei allen anderen Patientengruppen auch entstehen: Soll das Leben in jedem Fall verlängert werden? Wann darf aus ethischer Sicht auf eine Therapie verzichtet werden? Urteilsfähige Menschen (also z. B. Erwachsene mit einer Körperbehinderung) entscheiden selbst über die Behandlung. Bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung ist die Situation komplexer. Wenn sie urteilsfähig sind in Bezug auf die Entscheidung, können sie diese auch selbst treffen. Sonst wird stellvertretend für sie entschieden. Lebt die Person in einem Heim, entscheiden nicht die betreuenden Sonderpädagogen über medizinische Entscheidungen. Dafür sind sie einerseits medizinisch zu wenig ausgebildet, 7 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Ethische Kernfragen Ethische Fragen in der Heilpädagogik um in allen (Not-)Fällen die Situation richtig einschätzen zu können. Andererseits treffen juristisch gesehen die gesetzlichen Vertreter der Menschen mit einer Behinderung die Entscheidungen oder die behandelnden Ärzte. Als These kann deshalb formuliert werden, dass ein Teil der Dilemmata bisher im heilpädagogischen Bereich deshalb so wenig bearbeitet wurde, weil die Heilpädagogen kaum Entscheidungsspielraum haben. Hier wäre herauszuarbeiten, welche Rolle praktisch tätige Heilpädagoginnen in dieser Situation übernehmen können und sollen. Zusammenfassend müssten sich die Heilpädagoginnen in Bezug auf die Ethik folgende Fragen stellen: Welche ethischen Fragen stellen sich in unserem Berufsalltag (in der Sonderschule, im Heim für Menschen mit einer geistigen Behinderung)? Welche ethischen Entscheidungen kann ich als Sonderpädagogin treffen, resp. welche fallen in meinen Kompetenzbereich? Wie gehe ich (wie gehen wir als Team/wie gehen wir als Institution) mit ethischen Fragen um, die in meiner/unserer Entscheidungskompetenz liegen? Brauchen wir ethische Unterstützungssysteme? Wenn Entscheidungen anstehen, von denen ich zwar im Alltag betroffen bin, die aber nicht in meinem Entscheidungsbereich liegen (z. B. medizinische Entscheidungen), habe ich dennoch ein Recht (oder gar eine Pflicht) mich allenfalls (im Interesse der Menschen mit einer Behinderung) in die Entscheidungsfindung einzubringen? Daniel Ritzenthaler * Meier, Margrit (2008): Entwurf eines berufsethischen Eides. In: VHN, 1, 69-71. 8 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Interview Franziska Felder: «Viele Sonderpädagogen glauben, sich tieferen ethischen Fragen nicht stellen zu müssen» Ob Integration, moralischer Status von Behinderung oder konkrete Dilemmas in der heilpädagogischen Praxis: die Heil- und Sonderpädagogik ist mit zahlreichen ethischen Fragen konfrontiert, die zunehmend auch von der Disziplin selbst thematisiert werden. «Thema im Fokus» sprach mit der Sonderpädagogin Franziska Felder, die zum Thema Ethik und Behinderung forscht. Sie arbeiten zum Thema «Haben Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Integration?» Ist das für eine Sonderpädagogin nicht schon fast eine ketzerische Frage? Auf den ersten Blick wirkt das tatsächlich so – und zumindest zu Beginn meines Projekts ist diese Frage in der Tat als «ketzerisch» aufgenommen worden. An einem Kongress habe ich damit ziemlichen Wirbel ausgelöst, denn alle Anwesenden gingen davon aus, dass eine solche Frage gar nicht gestellt werden dürfe, da es sich ja von selbst verstehe, dass die Antwort Ja laute. Dabei wurde nicht verstanden, dass es sich bei der Frage gar nicht um eine geschlossene Frage handelt – eine Frage also, bei der man mit Ja oder Nein antworten kann –, sondern dass sie viele Folgefragen auslöst, die keineswegs trivial oder gar ketzerisch sind, sondern den Kern sonderpädagogischer Annahmen, Werte und Konzepte betreffen. Es geht beispielsweise darum, was man unter Behinderung, Integration oder einem moralischen Recht dazu überhaupt versteht. Dabei ist die Frage, was ein moralisches Recht denn genau ist, noch die am wenigsten komplexe Frage. Sehr viel schwieriger ist bereits die Frage, was das eigentliche moralische Problem daran ist, eine Behinderung zu haben. Kern des Problems bildet die genaue Bedeutung von «Integration» und die Frage, worin überhaupt das moralische Problem besteht, wenn man «zu wenig» oder «nicht» integriert ist. Was genau verstehen Sie denn unter «Integration» bzw. inwiefern ist dieser Begriff anzupassen an Art und Schweregrad einer Beeinträchtigung? Grundsätzlich hat das Konzept der Integration nichts mit der Art oder dem Schweregrad einer Beeinträch- tigung zu tun, es ist unabhängig von Behinderung. Integration bedeutet für alle Menschen die Befriedigung bestimmter sozialer Bedürfnisse sowie die Ausübung bestimmter sozialer Interessen. Letztere sind bei allen Menschen unterschiedlich ausgebildet. Schwerst behinderte Menschen beispielsweise haben oft nicht die kognitiven Möglichkeiten, komplexere Interessen auszubilden, wohl aber haben sie Bedürfnisse. Zudem sind auch die Möglichkeiten der Menschen aus unterschiedlichen Gründen sehr verschieden. Behinderten Menschen fehlt es beispielsweise oft an Ressourcen, am Zugang zu Gebäuden, Technologien usw. Das erschwert ihre Integration. Die Integration von Menschen unterscheidet sich also erst in der lebensweltlichen Anwendung dieses Konzeptes. Doch welche Unterschiede in der lebensweltlichen Anwendung des Konzeptes Integration sind gerechtfertigt? Analog wie in der Medizin, wo man das Ausschöpfen aller Möglichkeiten fordern könnte (dies aber aus Kostengründen faktisch nicht tut), könnte man auch im Bereich Integration enorme (finanzielle) Ressourcen einfordern. So könnte man beispielsweise die Eingliederung sämtlicher behinderter junger Menschen in die Regelschulen fordern und in jeder Klasse die entsprechenden Fachkräfte bereitstellen. Wäre ein solcher Schritt moralisch gefordert, auch wenn dies grosse finanzielle Konsequenzen hat? Diesbezüglich gibt es einigen Klärungsbedarf. Erstens ist die Forderung nach Integration oft keine «übertriebene» Forderung. Gewiss ist Integration auch mit Ressourcen verbunden, und oft auch mit der Änderung bestimmter Strukturen, was sehr weitgehend sein kann. Aber wenn man diese Forderungen sofort als unangemessen ablehnt, übersieht man, dass es sich in vielen Fällen um ganz grundlegende, wichtige Forderungen nach Zugang handelt, die sogenannt nicht behinderte Menschen selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen und die auch zum Konsens einer demokratischen Gesellschaft gehören. Das Recht beispielsweise, politisch integriert zu sein, also als Staatsbürger handeln zu können, ist ein Grundrecht aller Bürger. Also sollte man dafür sorgen, dass bei- 9 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 «Viele Sonderpädagogen glauben, sich tieferen ethischen Fragen nicht stellen zu müssen» spielsweise auch blinde Bürger verbesserten Zugang zu Wahllokalen haben – dies nur als kleines Beispiel. Zweitens hat man bei der Frage nach den nötigen Ressourcen meistens schwerstbehinderte Menschen vor Augen, bei denen man davon ausgeht, dass sie auch mit der besten Förderung beispielsweise nicht lesen lernen. Darum geht es aber lebensweltlich kaum. Sonderpädagogisch Tätige können in Zusammenarbeit mit weiteren Fachleuten und Angehörigen meistens gut abschätzen, was in den Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen liegt und was nicht. Es wäre aber fatal, würde man schwerstbehinderten Menschen basale Integrationsmöglichkeiten nicht ermöglichen, weil sie etwa nicht lesen lernen können. Aus der Unterstellung, alle Ressourcen zu wollen, hätte man dann sozusagen legitimiert, ihnen gar keine mehr zu geben. Gewiss beinhaltet eine Abwägung von Ressourcen verschiedene Gesichtspunkte und die Ressourcen für behinderte Menschen müssen gegen andere mögliche Verteilungen abgewogen werden. Da es aber oft um ganz grundlegende Bedürfnisse von Menschen geht und nicht um teure Vorlieben, hat man meines Erachtens gute Argumente, viel in das Wohlergehen behinderter Menschen zu investieren. Drittens ist schliesslich oft gar nicht erwiesen, wie teuer Integrationsmassnahmen wirklich sind. Ein Sonderschulplatz beispielsweise kostet jährlich über 40›000 Franken, ein Vielfaches eines Regelschulplatzes. Und ganz generell kostet der soziale Ausschluss respektive seine sozialen Folgen – Einsamkeit, soziale, psychische und körperliche Probleme – die Gesellschaft oft mehr als Bemühungen um Integration der betroffenen Menschen oder Gruppen. Wie sieht die Erfolgsbilanz der bisherigen Integrationsbemühungen aus? Sie ist gemischt, es gibt positive und negative Entwicklungen. Vom Grundsatz her ist es zu begrüssen, dass Menschen mit Behinderung bestimmte Rechte betreffend Integration haben, die in der Schweiz beispielsweise im BehiG (Behindertengleichstellungsgesetz) festgelegt sind. So soll man bei einem behinderten Kind nicht von vornherein davon ausgehen, Lic. phil. Franziska Felder studierte Sonderpädagogik, Betriebswirtschaft, und Filmwissenschaft an der Universität Zürich, war Primarlehrerin und arbeitete als Betreuerin in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung sowie als Lehrerin für geistig behinderte Menschen. Sie doktorierte an der Universität Zürich in Sonderpädagogik zum Thema «Haben Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Integration?». Gegenwärtig leitet sie als Studienleiterin den Bereich Gesellschaft und Behinderung an der Paulus-Akademie, Zürich. dass es in eine Sonderschule muss. Vielmehr muss man die Situation des betroffenen Individuums genau unter die Lupe nehmen und man muss einen begründeten Entscheid darüber treffen, ob das Wohlergehen dieses Kindes oder Jugendlichen in einer Regelklasse oder einer Sonderschule am besten unterstützt werden kann. Separation oder Exklusion wird also begründungsbedürftig – nicht mehr die Integration. Es zeigt sich aber auch, dass die soziale Kohäsion in der Gesellschaft eher abnimmt, dass die Solidarität mit behinderten Menschen eher schwach ist. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in den Verschärfungen, die in der neusten IV-Revision geplant sind. Auch im schulischen Kontext deutet vieles auf eine Ernüchterung hin. Man hat da wohl ideologisch zu überfrachtet argumentiert und agiert. Integration löst nicht alle Probleme, nicht alle Kinder können in der Regelschule reüssieren. Und es gibt auch Kinder und Jugendliche, die Regelklassen an den Rand oder gar zum Kippen bringen. Hier einfach Integration zu fordern, ohne die Möglichkeiten der Klasse zu beachten, ist blauäugig und schadet der Integration. Diese funktioniert nur, wenn immer wieder zwischen Allgemeinem und Besonderem vermittelt wird, wenn das Verbindende und Gemeinsame noch gesehen werden kann und wenn auch genügend Ressourcen und die richtigen Strukturen da sind, das zu vertiefen. 10 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Interview «Viele Sonderpädagogen glauben, sich tieferen ethischen Fragen nicht stellen zu müssen» Wie beurteilen Sie generell den «ethischen Tiefgang» der Integrationsdebatte innerhalb der Sonderpädagogik – aber auch generell in der Gesellschaft? Ethik ist nur ein Teilbereich in der Sonderpädagogik und nicht jeder Sonderpädagoge kann und soll sich kompetent zu ethischen Fragen äussern. Zwar hat jeder sonderpädagogisch Tätige bestimmte ethische Motive und ist auch ausgebildet, sein Handeln zu hinterfragen, er ist damit aber – wie der Rest der Bevölkerung übrigens auch – nicht automatisch fähig, eine hochstehende ethische Diskussion zu verstehen und gestalten zu können. Es dürfte nur wenige Experten geben, die «ethisch tiefgründig» zu Fragen der Integration diskutieren. Was ich aber dennoch kritisiere, ist die fehlende Einsicht vieler in der Sonderpädagogik Tätiger, wonach ihr Handeln und ihre Klientel ethische Fragen auslöst, die man nicht einfach nur ideologisch abwenden oder als rein rhetorisch hinstellen kann. Allein schon wegen Ressourcenknappheit müssen auch sonderpädagogische Mittel gegenüber Dritten begründen werden. In der Gesellschaft wiederum stelle ich fest, dass man zwar die grundlegenden Anliegen behinderter Menschen teilt – niemand ist gegen Integration –, dann aber Vorurteilen und versteckter Diskriminierung erliegt. Dies geschieht beispielsweise, indem man behinderte Menschen als inkompetent darstellt, ihnen andere Bedürfnisse oder Wünsche unterstellt oder indem man generell eine karitativ-mitleidige Art ihnen gegenüber an den Tag legt. Oft fällt den Menschen auch nicht auf, dass sie diese Haltung an den Tag legen, das heisst, sie sehen auch nicht, dass sie diese unreflektierten Annahmen und Vorurteile in Einzelfällen überprüfen sollten. Daher ist es schwierig, dagegen anzukämpfen, denn die Menschen sind sich ihrer Einstellungen oft selbst nicht bewusst. Wenn man sich an die Singer-Debatte zurückerinnert, so haben Exponenten der Heilpädagogik damals scharf und apodiktisch auf die Thesen des Ethikers reagiert, aber ohne – so scheint es – sich wirklich mit ihm auseinanderzusetzen. Wäre das heute auch noch so? Ich teile die Auffassung, dass damals die Exponenten der Heilpädagogik die Thesen von Singer beschimpft, sich aber nicht damit auseinandergesetzt haben. Die Fehde wurde auf einer persönlichen Ebene geführt, auf der inhaltlichen Ebene aber meinte man fatalerweise, nicht antworten zu müssen. Ich befürchte auch, dass viele Sonderpädagogen diesbezüglich in der Zwischenzeit wenig gelernt haben. Es gibt aber glücklicherweise auch Ausnahmen. So gibt es einen Kreis von Sonderpädagogen und Ethikern, die ernsthaft an der Diskussion von kritischen Fragen interessiert sind, die im Zusammenhang mit Behinderung entstehen. Ein gutes Beispiel, wie man es anders machen kann, war eine Konferenz in New York zum Thema «Geistige Behinderung und die Herausforderung für die Philosophie», die ich vor zwei Jahren besuchte. Dort haben sich die Leute nach dem Referat Peter Singers in einer Schlange angestellt und sein Referat gekontert, ohne fundamentalistisch-ideologisch oder rein emotional zu argumentieren. Im Publikum waren zudem Spitzenvertreter der zeitgenössischen Moralphilosophie versammelt, wie etwa Martha Nussbaum oder Ian Hacking, die Behinderung als ein spannendes Thema für sich entdeckt haben. Dies zeigt auch, dass es philosophische Gegenentwürfe zu Singers Ansatz gibt, die für die Sonderpädagogik gewinnbringend sind. Welchen Stellenwert hat Ethik in der Ausbildung von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen? Das kann ich zu wenig beurteilen. Grundsätzlich ist die Ethik disziplinär in der Allgemeinen Sonderpädagogik angesiedelt – zusammen mit den historischen und theoretischen Fragen. Da die Allgemeine Sonderpädagogik an den heutigen Universitäten einen schweren Stand hat und viele Lehrstühle nicht mehr ersetzt werden, hat entsprechend auch die Ethik der Sonderpädagogik einen schweren Stand. Angesichts der mannigfaltigen Herausforderungen bin ich aber zuversichtlich, dass Ethik in der Berufsausbildung von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen einen hohen Stellenwert erhalten wird. Was sind Ihrer Ansicht nach die zentralen ethischen Herausforderungen, denen sich die Heilpädagogik künftig stellen muss? Wir sind mit zahlreichen, sehr unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Es gilt zum einen, zentrale philosophische Konzepte auf ihre sonderpädagogischen Konsequenzen hin zu befragen – also 11 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 93 – Oktober 2010 Interview «Viele Sonderpädagogen glauben, sich tieferen ethischen Fragen nicht stellen zu müssen» Begriffe wie Autonomie, Selbstbestimmung, Gleichheit, Gesundheit, Krankheit oder das gute Leben. Hier kann meines Erachtens auch die Philosophie etwas von der Sonderpädagogik lernen, denn Behinderung als Dimension menschlichen Seins respektive Möglichkeit menschlicher Existenz fordert viele philosophische Ansätze heraus. Zum anderen muss die Sonderpädagogik anerkennen, dass sie differenziertere Antworten zu ihren eignen ethischen Fragen bereithalten muss als beispielsweise die relativ pauschalen Verunglimpfungen während der sogenannten Singer-Debatte. Nur so wird ihr Wissen auch von der Ethik ernst genommen und es kann ein Dialog über die Wissenschaftsgrenzen hinweg aufgenommen werden. Denn die Herausforderungen, beispielsweise Fragen der Integration, erfordern verstärkt interdisziplinäre Zugänge. se gesellschaftlich und gemeinschaftlich zu fördern, so dass sich Menschen freiwillig und mit guten Absichten einander zuwenden. Interview: Markus Christen Um zurück zur Ausgangsfrage zu kommen: Haben behinderte Menschen ein Recht auf Integration? Ja, das haben sie – allerdings nur auf Nicht-Exklusion in Form von Nicht-Diskriminierung, auf Integration in die Gesellschaft und auf die Ermöglichungsbedingungen für gemeinschaftliche Integration. Ich gehe in meiner Arbeit von einer Sphäre gemeinschaftlicher und einer Sphäre gesellschaftlicher Inklusion aus. Da der Gegenstand eines moralischen Rechts drei Bedingungen unterliegt – er muss erzwingbar sein, er muss erfüllbar sein und er muss ein wichtiges Gut abdecken –, kommt Integration in der Gemeinschaft an ihre Grenzen. Gemeinschaften haben Assoziationsfreiheit und können daher nicht gezwungen werden, jemanden zu integrieren, sei er nun behindert oder nicht. Zudem wäre mit einer solchen Form von Integration oft auch das zentrale Element einer gemeinschaftlichen Integration verletzt, nämlich die Freiwilligkeit. Das sieht man am deutlichsten bei Freundschaften. Ist jemand nur mein Freund, weil er gezwungen wird, ist das keine richtige Freundschaft. Da aber gerade gemeinschaftliche Integration die wichtige Form von Integration ist – jeder von uns denkt diesbezüglich zuerst an Familie, Freunde oder konkrete Gruppen –, schafft ihre Abwesenheit oft problematische Lebenssituationen. Gerade behinderten Menschen fehlen oft genau diese Bezüge. Hier kommen nicht Rechte, sondern Solidarität ins Spiel. Und es ist eine schwierige Herausforderung, die- 12 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Fallbeispiel Fallbeispiel: Darf Roland mehr essen? Das vorliegende Fallbeispiel ist fiktiver Natur, orientiert sich aber an realen Gegebenheiten. Roland ist ein 56-jähriger Mann, er lebt in einem Heim für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Während der Geburt hat er zu wenig Sauerstoff erhalten, was seine Gehirnfunktionen beeinträchtigt hat, er leidet an einer mittelschweren geistigen Behinderung. Er neigt zu starkem Übergewicht, wenn er nicht eine strukturierte Diät einhält. Essen bedeutet für ihn aber Lebensqualität, die Mahlzeiten sind Höhepunkte in seinem Tag. Er hat mehrfach geäussert, dass er mehr Essen will und dass er die ihm verordnete Diät nicht einhalten will. Wenn man ihm das Essen verbietet, dann geht er mit seinem Taschengeld Süssigkeiten und Fast-Food kaufen und isst heimlich. Roland hat seit mehreren Jahren Diabetes. Nun war er beim Hei- marzt, der aufgrund des Übergewichts (er hatte im letzten Jahr mehrere Kilogramm zugenommen) und der gesundheitlichen Situation (Diabetes, Gefährdung für Herz-Kreislaufkrankheiten) Druck ausübt, dass das Team ihn dazu bringen soll, die Diät einzuhalten. Er findet, Roland müsse zudem das Taschengeld weggenommen werden, damit er nicht unkontrolliert ungesunde Nahrung zu sich nimmt und sich damit gefährdet. Aufgabe: Wie soll das heilpädagogische Team der Wohngruppe auf die Forderung des Hausarztes reagieren? Welche Werte stehen im Raum? Welche Argumente sprechen für die stärkere Gewichtung von welchem Wert? Fallbesprechung TiF 94: «Manisch und beweglich – oder ruhig und behindert?» Der an Morbus Parkinson leidende, mit Tiefer Hirnstimulation (THS) behandelte 58-jährige Peter S. befindet sich in einem schweren Dilemma: Durch die THS waren seine Bewegungsstörung und seine Depressionen erfolgreich therapiert worden, doch im Laufe der Zeit war er (leicht) manisch geworden; er hatte die Hälfte der Ersparnisse verprasst und war tagelang von zu Hause weggeblieben. Seine Frau wandte sich deswegen zunehmend von ihm ab, und schliesslich wurde er wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und anschliessender Beamtenbeleidigung vor Gericht gestellt. Dort wurde ihm eine psychiatrische Therapie verordnet. Da offenbar die Tiefe Hirnstimulation die Ursache seiner manischen Störung war, wurde sie für die Therapie abgeschaltet; dadurch verschwanden die wahnhaften Züge und die Manie, doch Peter S. wurde depressiv und war durch Parkinson-Symptomatik körperlich schwer behindert. In dieser Situation muss Peter S. sich entscheiden: Entweder verzichtet er auf die Tiefe Hirnstimulation – dann wird er weiter schwer depressiv und körperlich so schwer behindert sein, dass er in einem Pflegeheim leben muss. Oder er lässt die Stimulation wieder anschalten – dann werden voraussichtlich seine Lebenslust, aber auch die Manie und die wahnhaften Züge zurückkehren, so dass er in einer psychiatrischen Anstalt leben müssen wird. Ein Dilemma wie das von Peter S. ist in dieser extremen Form glücklicherweise sehr selten. Doch es wird in der Fachliteratur zunehmend berichtet, dass Patienten, gerade solche, bei denen die Bewegungsstörungen sehr gut durch die Tiefe Hirnstimulation therapiert worden waren, unter psychischen und dadurch unter sozialen Folgeproblemen zu leiden haben. Während ein Teil der Patienten depressiv und apathisch wird (wahrscheinlich nicht durch die Stimulation, sondern die dadurch ermöglichte Medikamentenreduktion), entwickelt der andere Teil der Patienten mani- 13 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Fallbesprechung «Manisch und beweglich – oder ruhig und behindert?» sche Störungen. Das Spektrum umfasst Hedonismus, Kontrollverlust, Kaufsucht, Hypersexualität und Grössenwahn. Mögliche Folgen sind der Verlust des Privatvermögens, Überschuldung, riskantes Autofahren, unangemessenes Sexualverhalten bis zu sexuell motivierten Straftaten. Häufig verschlechtern sich die Paarbeziehungen und es treten Probleme im Beruf auf. Bei den meisten Patienten lassen sich Lösungen oder zumindest Kompromisse finden, indem etwa die Stimulationsparameter angepasst werden (manchmal zum Preis gewisser motorischer Verschlechterungen) oder die psychischen Probleme durch Psychopharmaka behandelt werden. Häufig geht eine durch THS verursachte Manie innerhalb mehrerer Monate von selbst zurück. Peter S. scheint aber einer der wenigen Patienten zu sein, für die eine Lösung des Dilemmas oder ein Kompromiss nicht möglich sind, und so präsentiert sich das Dilemma in aller Schärfe: entweder schwer depressiv und körperlich schwer behindert oder lebenslustig bis manisch und körperlich unbeeinträchtigt. Entweder Pflegeheim oder psychiatrische Anstalt. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Erstens: Wer soll entscheiden, in welchem Zustand Peter S. den Rest seines Lebens verbringen soll? Der Respekt vor der Autonomie des Patienten erfordert prima facie, dass der Patient selbst entscheiden darf, ob die Tiefe Hirnstimulation an- oder abgeschaltet wird. Dazu müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Der Patient muss erstens alle relevanten Informationen über die verschiedenen Optionen erhalten und verstanden haben. Zweitens muss er fähig zur Autonomie sein. Das setzt bestimmte Anforderungen an die intellektuellen Kapazitäten, die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und zur Selbststeuerung voraus. Rechtlich gilt die erste Voraussetzung als erfüllt, wenn der Patient umfassend und objektiv über die Therapieoptionen aufgeklärt worden ist und diese verstanden hat. Die zweite Voraussetzung ist juristisch grundsätzlich für jeden Erwachsenen erfüllt, es sei denn, er wurde wegen akuter oder chronischer psychischer Krankheit oder Behinderung von einem Gericht unter Betreuung (für medizinische Angelegenheiten) gestellt, so dass sein Betreuer Therapieentscheide für ihn treffen muss – und zwar im Sinne des Patienten und möglichst mit dessen Einverständnis. Da Peter S. nicht unter Betreuung gestellt wur- de und trotz gewisser kognitiver Beeinträchtigungen die verschiedenen Optionen und deren Folgen durchaus verstehen kann, darf er die Entscheidung selbst treffen. Es gibt keinen hinreichenden Grund, dass ein Gericht, die behandelnden Psychiater oder seine Ehefrau die Entscheidung an seiner Stelle treffen. Zweitens: In welchem Zustand soll Peter S. die Entscheidung darüber treffen, in welchem Zustand er den Rest seines Lebens verbringen will – bei an- oder bei abgeschalteter Stimulation, manisch oder depressiv? Die Antwort auf diese Frage sollte sich an zwei Kriterien orientieren: erstens an der Fähigkeit des Patienten zur Autonomie, zweitens an der Authentizität der Entscheidung. Damit ein Patient eine vernünftige Entscheidung treffen kann, muss er bestimmte intellektuelle Fähigkeiten sowie eine gewisse Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und zur Selbststeuerung haben. Sowohl mit als auch ohne Stimulation sind diese Fähigkeiten bei Peter S. möglicherweise geringer als vor seiner Parkinson-Erkrankung. Sowohl Depressionen als auch Manien beeinträchtigen häufig diese Fähigkeiten, allerdings in unterschiedlicher Richtung. Bei Peter S. ist zu erwarten, dass er im Zustand ohne Stimulation durch die parkinsonbedingte Depression ein geringes Selbstwertgefühl hat, unter Schuldgefühlen, Angst und Hoffnungslosigkeit leidet. Er könnte zu dem Schluss kommen, dass er für seine «Untaten» während der Stimulation nun Strafe in Form von körperlicher Behinderung und andauernder Depression verdient. Er könnte auch befürchten, dass er mit Stimulation den Rest des Vermögens verschleudern, seine Frau betrügen und von ihr verlassen und schliesslich wegen fortgesetzter Geschwindigkeitsübertretungen im Gefängnis enden würde. Im Zustand mit Stimulation würde Peter S. wieder manisch und hätte eventuell Wahnvorstellungen, z. B. in Hinblick auf seine Frau, die Polizei oder die Ärzte. Möglicherweise würde er denken, dass sein Leben mit Stimulation wieder grossartig würde, dass er alle Probleme in den Griff bekäme, sich endlich von seiner Frau, die ihm sein Glück nicht gönnt, scheiden lassen würde und wieder sein schnelles Auto fahren dürfte. Deshalb sollte Peter S. psychiatrisch untersucht werden, einmal mit und einmal ohne Stimulation, um Ausmass und Folgen der Manie bzw. der Depression festzustellen und herauszufinden, ob in einem der beiden Zustände seine Einsichts- und Urteilsfähigkeit 14 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 «Manisch und beweglich – oder ruhig und behindert?» signifikant höher ist als in dem anderen. Sollte das der Fall sein, sollte Peter S. in dem Zustand, in dem seine Einsichts- und Urteilsfähigkeit höher ist, die Entscheidung über die Fortsetzung der Stimulation treffen. Führt diese Untersuchung nicht zur Klärung, sollte überlegt werden, in welchem Zustand der Patient wahrscheinlich eine authentischere Entscheidung treffen wird, also eine Entscheidung, die zu seiner Persönlichkeit, seinen Einstellungen und Überzeugungen passt. Hinter diesem Kriterium steckt die Idee, dass es so etwas wie eine wahre Persönlichkeit gibt, an der die Authentizität des Handelns dieser Person gemessen werden kann. Diese Vorstellung ist prima facie plausibel, aber nicht unproblematisch: Zum einen ist die Persönlichkeit weniger stabil als häufig gedacht, zum anderen verändert sie sich gerade durch neuropsychiatrische Erkrankungen wie Morbus Parkinson sowie möglicherweise durch eine länger andauernde Stimulation. Wann ist Peter S. also am meisten er selbst und am besten in der Lage, eine authentische Entscheidung über seine zukünftige Persönlichkeit und sein zukünftiges Verhalten zu treffen? Ist er ohne Stimulation am authentischsten, weil er dann nicht durch den technischen Einfluss auf sein Gehirn manipuliert wird? Oder ist er am meisten er selbst, wenn die Stimulation seine parkinsonbedingte Depression kuriert und er dadurch wieder sein Wesen vor der Erkrankung zurückgewinnt? Die Frage, ob ein Patient mit oder ohne Stimulation authentischer ist, lässt sich nicht allgemeingültig beantworten, sondern muss für den individuellen Patienten beantwortet werden. Psychologische Tests sind hierfür nicht ausreichend; vielmehr sind intensive Gespräche mit dem Patienten notwendig, um herauszufinden, was er als seine wahre Persönlichkeit betrachtet und wie diese sich im Verlauf der Krankheit und der Therapie verändert hat. Auch Gespräche mit Angehörigen und eventuell Ärzten, die den Patienten schon über Jahre kennen, sollten geführt werden, um neben der Innenperspektive auch die Aussenperspektiven von nahestehenden Personen zu erheben. Wenn es ein einigermassen sicheres Urteil darüber gibt, ob Peter S. mit oder ohne Stimulation authentischer ist, sollte er authentischeren Zustand über die Fortsetzung der Stimulation entscheiden. Dr. phil. Dipl.-Phys. Sabine Müller ist als Medizinethikerin wissenschaftliche Angestellte an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Universitätsmedizin Berlin. Sie ist Mitglied des Redaktionsteams von «Thema im Fokus». Bleibt nach beiden Kriterien die Entscheidung weiter unklar, also ist der Patient mit und ohne Stimulation als ungefähr gleich einsichts- und urteilsfähig und authentisch zu beurteilen, könnte man folgendermassen verfahren: Man könnte ihn zweimal fragen, ob er die Fortsetzung der Stimulation will: einmal im Zustand mit Stimulation, einmal ohne Stimulation. Die Reihenfolge der Befragung wird dabei möglicherweise eine Rolle spielen, so dass man nicht von zwei unabhängigen Entscheidungen ausgehen kann. Diesen Weg gleich zu wählen, also ohne sorgfältige Einschätzung der Autonomie und der Authentizität, ist daher nicht empfehlenswert. Nur wenn die beiden Kriterien nicht zu einer Klärung geführt haben, könnte dieses Verfahren ein Ausweg sein. Entscheidet der Patient sich nun in beiden Fällen gleich, ist damit die Entscheidung getroffen. Sollte die Entscheidung aber uneinheitlich ausfallen, sollte man sich am Benefizienz- und Nonmalefizienz-Prinzip orientieren und die Alternative wählen, mit der es dem Patienten besser geht. Massgeblich ist dafür seine eigene Einschätzung. Anders müsste die Entscheidung allerdings lauten, wenn der Patient im Zustand der Stimulation nicht nur zu Verkehrsdelikten und Beamtenbeleidigungen, sondern zu schwereren Straftaten neigen würde, z. B. zu Sexualdelikten, Diebstahl, Betrug, Drogenmissbrauch oder Gewalttaten. Stimulationsparameter, die wahrscheinlich den Kontrollverlust über das se­xuelle Verhalten oder über aggressive Impulse oder Drogen- oder Medikamentenmissbrauch oder kriminelles Ver­ halten zur Folge haben, dürfen nicht eingestellt werden, auch nicht auf Ver­langen des Patienten. Dies ist ebenso wenig erlaubt wie die Verschreibung von 15 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Fallbesprechung «Manisch und beweglich – oder ruhig und behindert?» Medikamenten, die zu derartigen Verhaltensstörungen führen. Wären derartige Auswirkungen bei Peter S. zu erwarten, müsste die Stimulation auf jeden Fall abgestellt werden. Umgekehrt müsste die Entscheidung auch anders getroffen werden, wenn der Patient ohne Stimulation schwer suizidgefährdet ist. Schliesslich sollte die Entscheidung über die Stimulation nicht als endgültig betrachtet werden. Der Patient sollte die Möglichkeit haben, seine Entscheidung zu revidieren und sie an sich möglicherweise ändernde Lebensbedingungen, zunehmende Bewegungsstörungen und Einflüsse des zunehmenden Alters anzupassen. Von Zeit zu Zeit sollte daher eine psychiatrische Untersuchung stattfinden, um zu überprüfen, ob die Entscheidung noch richtig für den Patienten ist und um mögliche Gefahren, z. B. Selbst- oder Fremdgefährdung, zu erkennen. Der Stimulator und die Elektroden sollten daher möglichst nicht unmittelbar nach der eventuellen Entscheidung gegen die Stimulation entfernt werden, es sei denn, der Patient leidet darunter, weil er sie nun als unnütze Fremdkörper empfindet oder dadurch an die fehlgeschlagene Therapie oder die frühere Manie erinnert wird. In einem ähnlichen Fall, der in einer niederländischen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde, wandten sich die behandelnden Ärzte an das Ethikkomitee ihrer Klinik. Dieses riet, den Patienten bei abgeschalteter Stimulation entscheiden zu lassen. Der Patient wählte die Fortsetzung der Stimulation mit der Konsequenz der Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung. Sabine Müller 16 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Artikel/Bücher, Links Ergänzungen Artikel/Bücher Grüber K., Nicklas-Faust J., Schmidt S., Wagner-Kern M. (Hrsg.) (2004): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivenwechsel. Campus Verlag, N. Y. (Ed.) Haeberlin U. (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. Einführung in eine wertgeleitete erziehungswissenschaftliche Disziplin. Bern: Paul Haupt Haehner U., Niehoff U., Sack R., Walther H. (1998): Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. Lebenshilfe-Verlag, M. (Ed.) Rock K. (2001): Sonderpädagogische Professionalität unter der Leitidee der Selbstbestimmung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (Ed.) Speck O. (1999): Ethische Grundlagen. In: ders.: Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Erziehung. Ein heilpädagogisches Lehrbuch. München, Basel: Reinhardt Verlag. 64–99 Waldschmidt A. (2003): Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma – Perspektiven der Disability Studies. Aus Politik und Zeitgeschichte, 8, 13–20 Wohlgensinger C. (2007): Unerhörter Kinderwunsch. Die Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung: Eine Betrachtung aus sonderpädagogisch-ethischer Perspektive. Luzern: Edition SZH Links Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft www. imew.de Self-Determination Resource Website www.selfdeterminationak.org/resources_for_parents.html Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik SZH http://www.szh.ch/de/page33721.aspx 17 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Dialog Ethik – Newsletter Dialog Ethik Öffentlich Ethik im Dialog: Bundesgerichtsurteil vom 23. November 2010 Einer Patientin, welche an Morbus Pompe (unheilbare chronische Erkrankung mit grossem Leidensdruck) leidet, wurde das Arzneimittel Myozyme aus Kostengründen verweigert. Dessen Wirksamkeit sei zu gering im Verhältnis zu den anfallenden Kosten. Bei den Kosten-Wirksamkeitsüberlegungen wurden krankheitsübergreifende Vergleiche und nicht Therapievergleiche angestellt. Dies deshalb, weil es für diese Krankheit keine alternativen Behandlungsmöglichkeiten gibt. Darin liegt auch eines der Probleme dieses Urteils: Es fehlen verbindliche Standards für die Beurteilung der Wirksamkeit einer therapeutischen Massnahme. Steigende Zugriffszahlen auf www.dialog-ethik.ch Dialog Ethik konnte 2010 im Vergleich zum Vorjahr die Besucherzahl auf der Homepage um 17 % steigern. Neben den Angeboten für Fachpersonen und Organisationen stossen auch die Patientenverfügungen auf steigendes Interesse. Auch lassen immer mehr Leute ihre ausgefüllten Patientenverfügungen registrieren. Ein Vorteil davon ist, dass die Aktualität gewährleistet wird und die Qualität der ausgefüllten Patientenverfügungen steigt: Dank der Durchsicht einer Fachperson können Missverständnisse und Unstimmigkeiten behoben werden. Mehr dazu unter: www.dialog-ethik.ch/128154305169-de-index.html Sonstige Medienpräsenz Mehr zur Haltung von Dialog Ethik zu dieser Frage unter: • Basler Zeitung: Juristische Entscheide müssen hinterfragt werden www.dialog-ethik.ch/128230000948-de-index.html • Schweizer Radio DRS, Tagesgespräch: Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle zu Zwangsernährung Medical Board verabschiedet dritten Fachbericht Das Medical Board hat den dritten Fachbericht publiziert, diesmal zum Thema der Behandlung der häufig vorkommenden Mitralklappeninsuffizienz. Es hat die konventionelle Operation am offenen Herzen mit einem schonenderen Katheterverfahren verglichen. Da sich das Verfahren noch im Forschungsstadium befindet, empfiehlt das Gremium, die Methode nur für nichtoperable Patientinnen und Patienten einzusetzen und vertiefte Langzeitstudien durchzuführen. Mehr dazu unter: www.dialog-ethik.ch/128230000948-de-index.html Zweite Podiumsveranstaltung der «Zukunftsuniversität» Am 3. Februar organisierte Dialog Ethik im Rahmen der «Zukunftsuniversität» eine Podiumsdiskussion im Sphères in Zürich. Zusammen mit Prof. Dr. Harald Welzer und Prof. Dr. Martin Hölzle diskutierte Prof. Dr. Jean-Pierre Wils über das Thema Ökologie und Demokratie. Auch mit dem zahlreich erschienenen Publikum entstanden spannende Diskussionen. • Primary Care: Von der Heilpflege zur Gesundheitswerkstatt – von der Heilsökonomie zum Gesundheitsmarkt • Schweizer Fernsehen, Der Club: Transplantation: Wird bald jeder zum Organspender? Weitere Angaben finden Sie unter www.dialog-ethik.ch/12815431129-de-index.html Vorträge/Schulungen • Dargebotene Hand, Aarau: Suizidalität, Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid als ethische Herausforderungen für die Psychiatrie (Vortrag von Diana Meier-Allmendinger, 01.12.2010) • Pflegeschule Zug: Einführung in die Ethik (Schulung mit Markus Breuer, 30.11.–03.12.2010) • Integrierte Psychiatrie Winterthur: Zwangsernährung (Schulung mit Walter Anghileri, Dezember 2010) • APH Schönbühl: Abschluss der Moderatorenschulung für Fallbesprechungen von fünf Personen (Walter Anghileri) 18 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Dialog Ethik – Newsletter • Patientenverfügungen und ethische Entscheidungen am Lebensende, Fortbildung für SeelsorgerInnen (Dialog Ethik, 17.01.2011) Bodenseedialoge 2011 • APH Herrenbergli, Zürich: Patientenverfügungen (Kurzreferat an einem Angehörigenanlass, Daniela Ritzenthaler, 19.01.2011) Diese 4-Länder-Fachtagung zu interdisziplinären Fragen der Frauenheilkunde in Bregenz lädt Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und VertreterInnen humanwissenschaftlicher Nachbardisziplinen (Psychologie, Psychotherapie, Seelsorge, Medizinethik, etc.) ein, belastende Ereignisse in der Geburtshilfe multiprofessionell zu betrachten. • Konferenz der Schweizerischen Berufsverbände der Logopäden, Bern: Ethik-Richtlinien (Workshop u.a. mit Ruth Baumann-Hölzle, 22.01.2011) Weitere Angaben finden Sie unter www.dialog-ethik.ch/128154312823-de-index.html Veranstaltungen Datum: 2. bis 3. September 2011 www.dialog-ethik.ch/128230425177-de-index.html Vorschau 19. September 2011: Beginn Fortbildung Fallbesprechungen 7. Dezember 2011: Beginn Fortbildung Fallbesprechungen leiten Soweit nicht anders vermerkt, finden die Veranstaltungen in Zürich statt. Für nähere Informationen oder eine Anmeldung kontaktieren Sie bitte unser Sekretariat oder schauen Sie sich auf unserer Homepage um: 044 252 42 01 / [email protected] / Detailliertere Informationen siehe www.dialog-ethik.ch Produkte Certificate of Advanced Studies: «Ethische Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen Riccardo Bonfranchi Beginn: 25. Februar 2011 Unser Basiskurs vermittelt solide Grundkenntnisse in Ethik, die sich im beruflichen Alltag konkret umsetzen lassen. Ethische Fragen von der Neonatologie über die Intensivmedizin bis zur Geriatrie werden thematisiert, und ethische Entscheidungsfindung interdisziplinär trainiert. Die angewandte Ethik bietet Methoden reflektierten Umgangs mit Dilemmasituationen und belastenden Konflikten. Sie stellt Klärungs- und Entscheidungshilfen für den beruflichen Alltag bereit. Oft eröffnen sich gänzlich neue Lösungsperspektiven. www.dialog-ethik.ch/basiskurs_d.php www.dialog-ethik.ch/128230425177-de-index.html Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik. Integration und Separation von Menschen mit geistigen Behinderungen Soll man Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in die Regelschule integrieren? Dient die pränatale Diagnostik einer verwerflichen Aussonderung behinderter Menschen? Ist es unmoralisch, schwerst behinderte Menschen nach einem medizinischen Notfall nicht mehr zu reanimieren? Vermehrt wird der heilpädagogische Alltag von solchen Fragen geprägt, die erst nach und nach ins Bewusstsein der Heil- und Sonderpädagogik geraten. Im Buch «Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik» werden diese Fragen systematisch aufgearbeitet. In einem ersten Teil wird das moralische Selbstverständnis der Heil- und Sonderpädagogik, die sich in der Vergangenheit oft nur undifferenziert und oberflächlich mit den ethischen Dilemmas ihrer Disziplin auseinandergesetzt hat, kritisch analysiert. Der zweite Teil setzt sich mit den 19 Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011 Dialog Ethik – Newsletter ethischen Problemen der Integration behinderter Menschen auseinander. Der Autor zeigt auf, warum gerade in der modernen Gesellschaft Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen vermehrt an den Rand gedrängt werden und warum eine oberflächliche Integration die Würde behinderter Menschen verletzt. Im dritten Teil untersucht der Autor die oft vorgebrachte These, pränatale Diagnostik gefährde die Akzeptanz behinderter Menschen. Riccardo Bonfranchi, der selbst während Jahrzehnten in der Heil- und Sonderpädagogik gearbeitet und geforscht hat, unterzieht moralische Gemeinplätze der Heilpädagogik einer scharfsinnigen ethischen Analyse. Band 11 in der Reihe «Interdisziplinärer Dialog – Ethik im Gesundheitswesen». Lang-Verlag, Bern. Das Buch erscheint im Frühjahr 2011, ca. 220 Seiten, ca. CHF 48.– Vorbestellung unter: [email protected], Tel: +41 (0)44 252 42 01 Impressum «Thema im Fokus» erscheint sechsmal jährlich Redaktion und regelmässige redaktionelle Mitarbeit; Markus Christen, Sabine Müller, Felix Würsten Gestaltung, Produktion Ursi Anna Aeschbacher Korrektorat Sandra Bourguignon Bildnachweis: Bernd Boscolo/Pixelio.de, Autoren Kontakt Dialog Ethik, Interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen Schaffhauserstrasse 418 8050 Zürich Tel. +41 (0)44 252 42 01 Fax +41 (0)44 252 42 13 eMail: [email protected] Web: www.dialog-ethik.ch Wortklaubereien Unfall «Les extrêmes se touchent» – Anwendungsfälle für dieses Jean de la Bruyère (1645 – 1696) zugeschriebene Bonmot findet man in jeder Sprache zu Hauf. So bedeutet die Vorsilbe un- im Deutschen meistens eine Verneinung (unwahr, unschön etc.), sie kann aber auch für das pure Gegenteil stehen, wenn man z. B. im Lotto eine Unsumme gewinnt, oder generell eine Steigerung irgendeiner «Qualität» bis zur Unmässigkeit bezeichnen. So auch beim Unfall, der leider nicht ein (glückliches) Nicht-Fallen, sondern meistens einen kapitalen Sturz beschreibt. Allerdings muss man für einen Unfall im Sinne des Versicherungsrechts überhaupt nicht umfallen; dieses umschreibt den Unfall als Körperschädigung durch eine plötzlich und unfreiwillig einwirkende äussere Gewalt. Unfall ist also der überfallmässige, aus «heiterem Himmel» auf einen herabfallende «Schicksalsschlag». Dass Extremsportler sich oft freiwillig zumindest einem grossen Risiko eines solchen unfreiwilligen Schadens aussetzen, führt gelegentlich dazu, dass die Versicherungsleistung in solchen Fällen für die Betroffenen oft unerfreulich stark gekürzt wird, was aus der Sicht der mitzahlenden Solidargemeinschaft aber nicht als unbillig erscheint – ja eine ungekürzte Leistung würde geradezu als Unfall des Versicherungswesens gewertet. xamba 20