Ethik und Heilpädagogik

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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Ethik
und Heilpädagogik
Editorial
Für die meisten ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Menschen
mit Behinderungen soweit möglich gefördert, unterstützt und Teil
der «normalen» Gesellschaft sein sollen. Ob diesem Grundkonsens
geht aber oft vergessen, dass der Alltag in der Heil- und Sonderpädagogik – also jenen Disziplinen, die sich der Förderung und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen unterschiedlichster Art
widmen – mit zahlreichen schwierigen ethischen Fragen verbunden
ist. Aber auch grundlegende Punkte wie etwa die Frage, was ein
«moralisches Recht auf Integration» überhaupt bedeuten kann, sind
so klar nicht, wie es den Anschein macht. Hinzu kommt die besondere Verletzlichkeit der betreuten Personen, was eigene Risiken mit
sich bringt, wie der jüngst bekannt gewordene, gravierende Missbrauchsfall im Kanton Bern erneut deutlich gemacht hat.
Diese Ausgabe von «Thema in Fokus» widmet sich aus verschiedenen Perspektiven den ethischen Fragen, die sich in der Heil- und
Sonderpädagogik stellen. Riccardo Bonfranchi, der seit vielen Jahren
praktisch wie wissenschaftlich in diesem Bereich arbeitet, legt diese
Fragen kritisch dar. Daniela Ritzenthaler, Mitarbeiterin von Dialog
Ethik und Doktorandin im Bereich Sonderpädagogik, beleuchtet die
ethischen Positionen, die bei der Diskussion heilpädagogischer Fragen eine Rolle spielen. Und im Interview mit der Sonderpädagogin
Franziska Felder gehen wir der Frage nach, was ein «Recht auf Integration» bedeuten kann und was nicht. Parallel zu dieser Ausgabe
erscheint im Frühling in der Reihe «Interdisziplinärer Dialog – Ethik
im Gesundheitswesen» unser elfter Band zum Thema «Ethische
Handlungsfelder der Heilpädagogik. Integration und Separation von
Menschen mit geistigen Behinderungen» von Ricchardo Bonfranchi,
der vertiefend auf die hier angesprochenen Fragen eingeht.
Ihr Team Dialog Ethik
Inhalt
Schwerpunkt:
Ethik und Heilpädagogik – um
welche Themen geht es? [2]
Ethische Kernfragen:
Ethische Fragen in der Heilpädagogik [6]
Interview:
Franziska Felder: Viele Sonderpädagogen
glauben, sich tieferen ethischen Fragen
nicht stellen zu müssen [9]
Fallbeispiel:
Darf Roland mehr essen? [13]
Fallbesprechung:
«Manisch und beweglich – oder ruhig
und behindert?» [13]
Ergänzungen:
Artikel, Bücher, Links [17]
Dialog Ethik Newsletter [18]
Dialog Ethik Öffentlich [18]
Veranstaltungen [19]
Produkte [19]
Wortklaubereien [20]
Impressum [20]
Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Schwerpunkt
Ethik und Heilpädagogik – um
welche Themen geht es?
Die Heilpädagogik versteht sich als Wissenschaft und
Praxis der Förderung und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen unterschiedlichster Art.
Diese Aufgabe ist im heilpädagogischen Alltag mit
zahlreichen ethischen Fragen verbunden, die erst
nach und nach ins Bewusstsein dieser Disziplin geraten sind – so jedenfalls der Autor der nachfolgenden
Übersicht, Riccardo Bonfranchi. In dieser Zusammenstellung werden wichtige ethische Fragen, die in
der Heilpädagogik eine Rolle spielen, vorgestellt und
diskutiert.
Ethische Fragestellungen haben seit einigen Jahren
Konjunktur. Was als richtig und was als falsch zu gelten hat, wird einer genaueren Betrachtung unterzogen. Begriffe werden auf ihre political correctness hin
beurteilt und ganz allgemein wird über das Gute und
das Böse in unserer Gesellschaft reflektiert. Dies beginnt bereits bei den Begriffen. So kränkt und verletzt beispielsweise der negativ konnotierte Begriff
Mongoloismus sowohl Menschen mit Down-Syndrom
(oder Trisomie 21) wie auch das Volk der Mongolen in
ihrer Ehre und Würde. Entsprechend wird der Begriff
kaum mehr verwendet. Eine vertiefte Sensibilisierung
ist an die Stelle unreflektierten Gebrauchs von Bedeutungen und Bezeichnungen getreten. Allerdings
ist die Sache der wertschätzenden Umsetzung von
Begriffen – und darum geht es ja in der Ethik auch
– nicht immer so einfach. So hält sich etwa die Bezeichnung «geistige Behinderung» nach wie vor, auch
wenn sie nicht korrekt ist. Zwar spricht man heute
nicht mehr von geistig Behinderten, sondern von
Menschen mit einer geistigen Behinderung – kaum je
wird aber gefragt, was eigentlich unter dem hier angesprochenen «Geist» konkret zu verstehen ist und
wie dieser überhaupt beeinträchtigt (anstelle von behindert!) sein kann. Besser wäre vielleicht, man würde von kognitiver Beeinträchtigung sprechen, also
von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung.
Mangelndes Bewusstsein
für ethische Fragestellungen
Wie man sieht, beginnen die Schwierigkeiten bereits
bei den korrekten Begrifflichkeiten, wenn man sich
auf heil- oder besser: sonderpädagogisches Terrain
begibt. In der Alltagssprache hat sich häufig die hier
nicht näher hinterfragte Doppelbezeichnung Heil- und
Sonderpädagogik etabliert. Hierzu ist zu sagen, dass
sich die Wissenschaft der Heil- und Sonderpädagogik
in Bezug auf die Behandlung von ethischen Fragestellungen in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren
nicht besonders hervor getan hat, wenn man sie mit
anderen praktischen Disziplinen wie der Medizin, der
Ökologie oder auch der Wirtschaft vergleicht. Jede
grosse Bank unterhält heute eine Abteilung für Compliance, ökologische Fragen haben oft einen ethischen
Bezug und auch in der Medizin hat die Behandlung
ethischer Fragen einen hohen Stellenwert. So finden
sich beispielsweise an grossen Krankenhäusern eine
Kommission für ethische Fragestellungen oder einen darauf spezialisierten Arzt mit Zusatzausbildung
in angewandter Ethik, an die sich Mitarbeitende bei
schwierigen Fragen wenden können.
Dem ist (leider) in der Heil- und Sonderpädagogik
nicht so. Hier konnte man – abgesehen von einigen
wenigen Veröffentlichungen in den letzten Jahren
– zu ethischen Fragestellungen kaum etwas finden.
Dies wiederum wirft die Frage auf, ob es in der Heilund Sonderpädagogik solche Fragestellungen im Hinblick auf das, was gerecht, moralisch zulässig, geboten oder verboten ist, nicht gibt. Oder gibt es andere
Gründe, die dafür verantwortlich sind, dass sich die
Heil- und Sonderpädagogik zum Beispiel zur pränatalen Diagnostik kaum oder – wie ich meine – nur wenig differenziert geäussert hat? Insbesondere bei der
pränatalen Diagnostik ist dies auffällig, weil es sich
hierbei um einen Vorgang handelt, der Behinderung
in der Regel unmittelbar betrifft.
Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die vor
über 20 Jahren geführte Auseinandersetzung um die
Thesen des australischen Philosophen Peter Singer in
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Ethik und Heilpädagogik – um
welche Themen geht es?
seinem Buch «Praktische Ethik». Die Diskussion innerhalb der heil- und sonderpädagogischen Profession verlief damals sehr oberflächlich, Singer wurde in
den Hörsälen niedergeschrien und ausgepfiffen. Doch
eine nachfolgende gründliche Aufarbeitung der von
Singer aufgeworfenen Fragen bezüglich beispielsweise des Würdebegriffs bei kognitiv stark beeinträchtigten Menschen hat es meines Wissens im deutschsprachigen Raum kaum gegeben. Und auch andere
ethische Fragen, mit denen Fachpersonen in der Heilund Sonderpädagogik in ihrer Arbeit zunehmend konfrontiert sind, kommen erst langsam ins Bewusstsein
dieser Disziplin.
Ethische Fragen am Grenzgebiet Medizin
und Heilpädagogik
Die Heil- und Sonderpädagogik wird in Zukunft aber –
so lässt sich unschwer voraussagen – um die Reflexion bzw. Aufarbeitung ethischer Fragestellungen nicht
herumkommen. Dies ergibt sich nur schon aus den
Auswirkungen der modernen Medizin auf die Klientel
der Heilpädagogik, denn es wird in Zukunft vermehrt
Menschen mit schwerer und schwerster kognitiver
Beeinträchtigung geben. Frühestgeburten (ab der 24.
Schwangerschaftswoche) sowie Unfälle, bei denen es
zu schweren Hirnschäden (durch Ertrinken, Verkehrsunfälle etc.) kommt, werden heute dank der modernen Medizin vermehrt überlebt – allerdings zum Preis
schwerer Behinderungen. Wenn diese Menschen nach
einer gewissen Zeit das Krankenhaus verlassen und
zu Hause leben können (z. B. mit einer Magensonde
sowie starker kognitiver und physischer Beeinträchtigung), so haben sie das Recht, entweder ambulant oder im Heim von heil- und sozialpädagogischen
Fachkräften betreut zu werden. Hier ergibt sich eine
Schnittstelle zwischen medizinischer Versorgung und
heil- und sozialpädagogischer Betreuung und auch
Förderung. Die Zahl vergleichsweise leicht behinderter Menschen wiederum, insbesondere Menschen
mit Down-Syndrom, nimmt tendenziell ab – ebenfalls
eine Folge der modernen Medizin, bzw. der pränatalen Diagnostik. So lässt sich feststellen, dass die Klientel der Heil- und Sonderpädagogik nicht abnimmt,
sondern sich in Richtung schwere und schwerste Behinderung verlagern wird.
Damit ergeben sich natürlich vermehrt ethische Fragestellungen, wenn z. B. ein solches Kind von einer
heilpädagogischen Schule notfallmässig ins Kinderspital überführt werden muss. Soll man eine solche
Überweisung in jedem Fall durchführen? Oder wie
verhält man sich als professionell von Behinderung
betroffene Fachperson, wenn man von einer Mutter eines schwer- und mehrfach behinderten kleinen
Mädchens gefragt wird, ob man das Wachstum des
Kindes nicht medikamentös verhindern könne? Denn
wenn ihre Tochter grösser und schwerer werde, dann
könne sie ja ihr Kind nicht mehr selber pflegen und
müsse es weggeben – und das würde ihr das Herz
brechen. Das sind nur zwei Beispiele von Fragen, mit
denen man in heil- und sonderpädagogischen Institutionen zunehmend konfrontiert ist. Hat die Heil- und
Sonderpädagogik hierfür Antworten bzw. werden die
zukünftigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in solchen Institutionen bereits in der Ausbildung mit solchen Fragen konfrontiert?
Man muss sich dabei bewusst sein, dass durch solche Probleme grundlegende Intuitionen der «heilpädagogischen Moral» verletzt werden können. Die
Vorstellung, einen schwer behinderten Menschen bei
einem medizinischen Notfall nicht zu reanimieren, ist
für viele Heil- und Sonderpädagogen noch schwer zu
akzeptieren – in der Medizin aber ein legitimes Thema
ethischer Überlegungen, etwa im Fall einer Krebserkrankung im Endstadium. Dabei besteht wohl auch
ein berufsethisches Dilemma, denn die mit solchen
Dilemmas verknüpften medizinischen Aspekte gehören nicht zum Aufgabengebiet der Heilpädagogik.
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Schwerpunkt
Ethik und Heilpädagogik – um welche Themen geht es?
Integration und Ethik
Ein anderer wichtiger Themenkomplex der Heilpädagogik mit ethischen Implikationen ist das in den
letzten Jahren prominent diskutierte Thema der Integration insbesondere von Kindern mit einer geistigen
oder einer Lern-Behinderung in die Regelschule. Auch
hier fehlt es an vertieften ethischen Überlegungen.
Vielmehr ist Integration offenbar per se «gut» und
die meisten Heil- und Sonderpädagogen befürworten
die doch mehr oder weniger methodisch-didaktisch
unreflektierte Integration dieser Kinder in die Regelschule in starkem Masse. Dass die Regelschule auf
die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder weder eingerichtet noch vorbereitet worden ist, kümmert die
etablierte Heil- und Sonderpädagogik nicht ausreichend.
Das ethische Problem scheint mir aber zu sein, dass
diesen Kindern nicht mehr die gleiche Förderung in
heilpädagogischer und therapeutischer Hinsicht (beispielsweise Physio-, Ergotherapie und Logopädie) geboten werden kann, wie sie dies in den dafür konzipierten Institutionen erhalten. Dies kommt meines
Erachtens einer Bagatellisierung von Behinderung
und damit einer Würdeverletzung gleich, geht man
doch heute davon aus, dass jeder Mensch seinen Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen entsprechend geschult und gefördert werden soll.
So sehe ich die aktuelle Integrationsdebatte als ein
typisches Beispiel dafür, wie ethische Fragen in der
Heilpädagogik oft diskutiert werden. Das hehre Ziel
(in diesem Fall Integration) versperrt den Blick auf
wichtige Folgefragen – hier die Frage, wie man die
besonderen Bedürfnisse dieser Menschen, die ja oft
als negativ, als beeinträchtigt, als behindert verstanden werden, weiterhin im Auge behält.
Dabei muss man sich auch bewusst sein, dass der
Verzicht auf Integration ebenfalls ethische Fragen
aufwirft – d.h. wenn Kinder und Jugendliche mit einer schwer(st)en und mehrfachen Behinderung in
speziellen Institutionen geschult, gefördert und therapiert werden. Hier ergeben sich z. B. Fragen nach
der Verteilungsgerechtigkeit bei den anzuwendenden
Therapien. Eine heilpädagogische Schule hat ein bestimmtes Kontingent an Therapiemöglichkeiten (Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, Psychomoto-
rik-Therapie usw.), aber theoretisch könnte man bei
jedem Kind zahlreiche unterschiedliche Therapien
anwenden. Wie in der Medizin auch, stösst man hier
an eine Kostengrenze, d.h. diese Therapie-Ressourcen müssen verteilt werden. Nach welchen Kriterien
hat dies zu geschehen? Die Bestimmung des rechten
Masses ist in der Praxis oft nicht einfach und verlangt
nach einer Fallbesprechung, die mehr von ethischen
als von fachlichen Grundsätzen bestimmt wird.
Paternalismus und Selbstbestimmung
Ein für die Heilpädagogik ebenfalls wichtiges ethisches Thema ist das Spannungsfeld zwischen Paternalismus und Selbstbestimmung. Die Heilpädagogik –
insbesondere wenn es um Menschen mit schwersten
kognitiven Beeinträchtigungen geht – bedient sich oft
einer advokatorischen Ethik, d.h. man sieht sich als
professionelle Fachperson quasi als «Anwalt» der betroffenen behinderten Person. Wie verhält sich das
zur Wahrung der Selbstbestimmung der behinderten
Kinder und Jugendlichen, die ja in der Regel ihre Bedürfnisse auf Grund der Schwere der Behinderung
nicht selber äussern können und wenn, dann nur in
sehr verschlüsselter Art und Weise? Was bedeutet
eine «best interest» – Entscheidung in einem solchen
Fall? Wie sollen die Eltern miteinbezogen werden?
Man kann sich in der Heilpädagogik – im Unterschied
zur Medizin und Psychiatrie –nicht auf Äusserungen
der Person abstützen, als diese «noch normal» war.
Verschärft wird dieses Problem durch Fremd- und
Auto-Aggressionen, was in der Heil- und Sonderpädagogik immer wieder schwerwiegende Entscheidungen
erfordert. Auch hier bewegen sich Heil- und Sozialpädagogen oft in ethischen Grenzbereichen bzw. in
Sphären, in denen der Schritt zur Missachtung der
Autonomie des Menschen mit auffälligem Verhalten
manchmal sehr klein zu werden beginnt. Freiheitsentziehende Massnahmen (Fixierungen, Einsperren, psychischer Druck, Zwang und Drohungen etc.) müssten
im Grunde immer mittels eines «Marschhaltes» bzw.
einer ethisch motivierten Überprüfung gerechtfertigt
werden. Hinzuweisen ist hier auch auf den Umgang
mit Macht und Gewalt zwischen betreuten Menschen
und den professionell von Behinderung Betroffenen.
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Schwerpunkt
Ethik und Heilpädagogik – um welche Themen geht es?
Zusammengefasst zeigt diese kurze Übersicht drei
Problemkomplexe, in denen sich verschärft ethische
Fragen stellen und mit denen sich die Heilpädagogik
auseinandersetzen muss: Erstens wird die Klientel
«schwieriger» dahingehend, dass vermehrt schwerstbehinderte Menschen betreut werden müssen, bei
denen sich in medizinischen Notfällen Probleme ergeben (z. B. soll eine Reanimation erfolgen), die den
bisherigen ethischen Intuitionen der Heilpädagogik
zuwider laufen können. Hierbei ist insbesondere die
Rolle von heilpädagogischen Fachleuten gegenüber
z. B. Medizinern zu klären. Zweitens ist mit dem ganzen Komplex der «Integration» eine Reihe von noch
kaum diskutierten ethischen Fragen verbunden, die
oft auch mit Ressourcenverteilung zu tun haben (z. B.
wie will man Lehrkräfte, ausreichend unterstützen,
in deren Klassen behinderte Kinder integriert werden sollen). Drittens schliesslich ist die grundlegende
ethische Ausrichtung der Heilpädagogik oft von «advokatorischer Art», d.h. man versteht sich als Anwalt
von Personen, die sich selbst kaum äussern können.
Das damit einhergehende Spannungsverhältnis von
Autonomie und Fremdbestimmung wird aber oft unterschätzt und wird erst in jüngster Zeit vermehrt im
Fachdiskurs aufgenommen.
Riccardo Bonfranchi
Dr. Riccardo Bonfranchi, MAE, war bis Sommer 2010
Schulleiter der Heilpädagogischen Schule Zürich der
RGZ-Stiftung. Er arbeitet heute als selbständiger Berater im Bereich Heil- und Sonderpädagogik. Kontakt:
[email protected]; www.bonfranchi.info
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Ethische Kernfragen
Ethische Fragen in der Heilpädagogik
Ein Fazit des Hauptartikels lautet, dass die ethische
Diskussion in der Sonderpädagogik oft oberflächlich
oder gar nicht geführt wird. Diese Erläuterung der
ethischen Kernfragen versucht, Erklärungen für diese
Feststellung zu geben und bestehende ethische Argumentationen kurz darzustellen.
Berufsethische Fragen in der Sonderpädagogik:
Fragen des Machtgefälles zwischen Menschen mit
einer kognitiven Beeinträchtigung und den professionellen Sonderpädagogen, die Riccardo Bonfranchi
erwähnt, sind berufsethische Fragen. Zur Berufsethik
besteht in der Fachliteratur eine Debatte mit Schwerpunkt auf den Grundwerten, auf welche ein Heilpädagoge seine Arbeit abstützen sollte. Spannend ist,
dass es in der Sonderpädagogik noch keinen schriftlich festgeschriebenen und anerkannten ethischen
Berufskodex gibt. Eine Autorin hat vorgeschlagen,
dass sich die Sonderpädagogen überlegen sollten,
einen «heilpädagogischen Eid» abzulegen.* Sie hat
darin Werte und Haltungen aufgenommen, die für die
sonderpädagogische Arbeit zentral sind. Dabei nennt
sie auch den Schutz vor Gewalt und vor dem Ausnutzen von Abhängigkeiten (also den Umgang mit Machtgefällen). Eine Schlussfolgerung ihrer Überlegungen
lautet, dass das Einführen eines Eides auch Schwierigkeiten mit sich bringen würde und dieser allein kein
Garant für «ethisch richtiges Handeln» in der Berufspraxis ist. Die Sonderpädagogik sollte sich der Frage
nach der Verbindlichkeit von Grundwerten in der eigenen Profession vermehrt stellen. Es wäre hilfreich,
sich auf einen Ethikkodex zu einigen – auch um die
kontroverse Auseinandersetzung mit den konkreten
Anforderungen an die Heilpädagoginnen möglich zu
machen: Was bedeutet es in der täglichen Arbeit, bestimmten Werten verpflichtet zu sein?
Sozialethische Fragestellungen: Die Integration
von Kindern mit einer Behinderung in die Regelklassen ist hauptsächlich eine sozialethische Frage. Verschiedene Werte müssen hierbei auf gesellschaftlicher Ebene gegeneinander abgewogen werden. Sie
können nicht (nur) auf individueller Ebene für das
einzelne Kind entschieden werden, da schulpolitische
Entscheidungen, welche auf kantonaler oder kommunaler Ebene getroffen werden, die Rahmenbedingungen für die Integration festlegen. Das Interview (siehe
S. 10) beschäftigt sich mit den ethischen Dimensi-
onen der Integration. Andere in der Sonderpädagogik häufig diskutierte sozialethische Fragen sind jene
der Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung in
der Gesellschaft, sowie die ethischen Fragen, welche
durch die Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik
entstehen. Inwieweit solche sozialethischen Themen
allerdings sonderpädagogische Fragestellungen darstellen (also das Kerngeschäft der Heilpädagogik betreffen, nämlich die Betreuung und Förderung von
Menschen mit einer Entwicklungsverzögerung), ist in
der Fachwelt umstritten.
Ethische Einzelfall-Dilemmata in der heilpädagogischen Arbeit: In der Sonderpädagogik werden
bisher nur sehr selten Dilemmasituationen interdisziplinär mittels einer ethischen Fallbesprechung gelöst.
Da in dieser kurzen Übersicht keine Gesamtschau
über die Dilemmathemen gegeben werden kann, wird
exemplarisch auf die Selbstbestimmungsdebatte eingegangen. Weitere Themen, die vereinzelt in der Literatur angeschnitten werden, betreffen die Sexualität
und den Kinderwunsch von Menschen mit einer geistigen Behinderung sowie Zwangsmassnahmen (z. B.
bei selbstverletzendem Verhalten).
Selbstbestimmung für Menschen mit einer geistigen Behinderung: Der Ruf nach Selbstbestimmung für Menschen mit einer geistigen Behinderung
ist in der Fachliteratur in den letzten 10 bis 15 Jahren
sehr stark geworden. Verschiedene Autoren fordern
mehr Entscheidungsspielraum auch im Behindertenheim, einige sprechen gar von einem «Paradigma
Selbstbestimmung für die Heilpädagogik». Allerdings
zeigte eine Serie von in englischsprachigen Ländern
durchgeführten empirischen Studien, dass die Forderung nach Selbstbestimmung für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die in einem Heim leben,
nur ungenügend in die Praxis umgesetzt worden ist.
In einer qualitativen Studie sagte ein Mann mit einer
Körperbehinderung, Selbstbestimmung im Heim sei
gar nicht möglich. Einige Gründe für die ungenügende
Umsetzung mögen neben institutionellen Rahmenbedingungen auch in den ethischen Dilemmata liegen, welche die Forderung der Selbstbestimmung bei
Menschen mit einer geistigen Behinderung mit sich
bringt. Eine der Schwierigkeiten liegt sicher darin,
dass in der Geschichte der Heilpädagogik die Werte
«Fürsorge» und «Gutes tun» eine wichtige Rolle in
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Ethische Kernfragen
Ethische Fragen in der Heilpädagogik
der Betreuung gespielt haben. Auch heute stehen die
Heilpädagoginnen oft im Konflikt, ob sie für den Menschen entscheiden sollen, um «Gutes zu tun» z. B.
um eine Gefährdung der Gesundheit zu verhindern,
oder ob sie den Menschen mit einer Behinderung
selbst bestimmen lassen sollen. Ein klassisches Beispiel dafür sind Dilemmata bei der Ernährung. Viele Menschen mit einer geistigen Behinderung essen
sehr gerne. Mit zunehmendem Alter können durch
Übergewicht oder einseitige Ernährung vermehrt
gesundheitliche Probleme auftreten (z. B. Diabetes,
Herz-Kreislaufkrankheiten). Dann wird meist vom
Heimarzt das Einhalten einer Diät gefordert. Wie
soll bei den Mahlzeiten damit umgegangen werden,
wenn ein Bewohner diese Diät nicht einhalten will?
Um selbstbestimmt zu entscheiden, sollte ein Mensch
in Bezug auf die Entscheidung urteilsfähig sein, also
die Folgen seines Verhaltens abschätzen können. Der
Bewohner im Beispiel müsste also verstehen, welche
Folgen das Nichteinhalten der Diät auf seine Gesundheit hätte. Ist er bereit, einen Herzinfarkt in Kauf zu
nehmen? Kann er kognitiv erfassen, was dies bedeuten würde? Die Abklärung der Urteilsfähigkeit in Bezug auf eine bestimmte Frage ist bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung nicht immer einfach:
Wie genau müssen die Folgen einer Handlung verstanden werden, damit die Urteilsfähigkeit gegeben
ist? Bei Menschen ohne Behinderung wird meist nicht
nachgefragt, ob sie die Folgen der Entscheidung wirklich nachvollziehen können. Ein ethisches Argument
in der Sonderpädagogik fordert, dass man bei allen
Menschen den gleichen Massstab ansetzen muss.
Es darf nicht sein, dass man bei Menschen mit einer
geistigen Behinderung höhere Anforderungen an eine
Entscheidung stellt als in der Normalbevölkerung.
Viele von uns essen ebenfalls zu viel und nehmen das
Risiko, deshalb zu erkranken, in Kauf, oder sie verdrängen es. Dürfen Menschen mit einer Behinderung
diese Gefahren nicht auch verdrängen zugunsten des
Genusses während dem Essen? In der Sonderpädagogik wird zuweilen argumentiert, es gebe auch ein
Recht auf unvernünftige Entscheidungen.
Auch die Definition von Selbstbestimmung ist in der
Argumentation bedeutend: Ist sie vor allem ein Abwehrrecht, im Sinne eines Schutzes vor Fremdbestimmung, dann muss jede Fremdbestimmung mit
starken Argumenten begründet werden. Ein solch
starkes Argument könnte bei Urteilsunfähigkeit der
behinderten Person das Gefährdungsrisiko sein. Das
bedeutet, dass ein grosses Risiko der Gefährdung
vorhanden sein muss, um eine Fremdbestimmung zu
rechtfertigen. Als Risiko wird das Produkt der Eintretenswahrscheinlichkeit mit dem potentiellen Schaden
verstanden. Im Beispiel wäre das: Risiko = «Wahrscheinlichkeit, dass ein Herzinfarkt auftritt» mal
«Schadenspotential des Herzinfarktes». Wäre der
eintretende potentielle Schaden nach einer Entscheidung also nur klein, dann wäre eine Fremdbestimmung nicht zu rechtfertigen. Wenn der Schaden für
die Person sehr gross wäre (z. B. ein Herz-KreislaufStillstand), dann müsste noch bestimmt werden, wie
gross die Eintretenswahrscheinlichkeit dieses Schadens ist, um eine Fremdbestimmung zu rechtfertigen. Die grundsätzliche Frage dieser Argumentation
– wie gross muss eine Gefährdung sein, damit eine
Fremdbestimmung gerechtfertigt wäre? – kann unterschiedlich beantwortet werden und zeigt, dass
diese Argumente sowie die Abklärung der Urteilsfähigkeit jeweils in der Einzelfallsituation sorgfältig im
Team diskutiert werden müssten.
Die Rolle der Sonderpädagogen: Wer entscheidet bei medizinethische Fragen? Ein letzter Punkt
wird in der ethischen Debatte in der Sonderpädagogik noch nicht berücksichtigt: Es gibt medizinethische
Entscheidungen, die zwar die Klientel der Heilpädagogik betreffen, die aber nicht von den Sonderpädagogen getroffen werden. Die verbesserten medizinischen Therapiemöglichkeiten für Menschen mit einer
schweren körperlichen und/oder geistigen Behinderung werfen – neben all den Vorteilen, die sie bringen
– dieselben medizinethischen Fragen auf, die bei allen
anderen Patientengruppen auch entstehen: Soll das
Leben in jedem Fall verlängert werden? Wann darf
aus ethischer Sicht auf eine Therapie verzichtet werden?
Urteilsfähige Menschen (also z. B. Erwachsene mit einer Körperbehinderung) entscheiden selbst über die
Behandlung. Bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung ist die Situation komplexer. Wenn sie
urteilsfähig sind in Bezug auf die Entscheidung, können sie diese auch selbst treffen. Sonst wird stellvertretend für sie entschieden. Lebt die Person in einem
Heim, entscheiden nicht die betreuenden Sonderpädagogen über medizinische Entscheidungen. Dafür
sind sie einerseits medizinisch zu wenig ausgebildet,
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Ethische Kernfragen
Ethische Fragen in der Heilpädagogik
um in allen (Not-)Fällen die Situation richtig einschätzen zu können. Andererseits treffen juristisch gesehen die gesetzlichen Vertreter der Menschen mit
einer Behinderung die Entscheidungen oder die behandelnden Ärzte.
Als These kann deshalb formuliert werden, dass ein
Teil der Dilemmata bisher im heilpädagogischen Bereich deshalb so wenig bearbeitet wurde, weil die
Heilpädagogen kaum Entscheidungsspielraum haben.
Hier wäre herauszuarbeiten, welche Rolle praktisch
tätige Heilpädagoginnen in dieser Situation übernehmen können und sollen.
Zusammenfassend müssten sich die Heilpädagoginnen in Bezug auf die Ethik folgende Fragen stellen:
Welche ethischen Fragen stellen sich in unserem Berufsalltag (in der Sonderschule, im Heim für Menschen mit einer geistigen Behinderung)?
Welche ethischen Entscheidungen kann ich als Sonderpädagogin treffen, resp. welche fallen in meinen
Kompetenzbereich?
Wie gehe ich (wie gehen wir als Team/wie gehen wir
als Institution) mit ethischen Fragen um, die in meiner/unserer Entscheidungskompetenz liegen? Brauchen wir ethische Unterstützungssysteme?
Wenn Entscheidungen anstehen, von denen ich zwar
im Alltag betroffen bin, die aber nicht in meinem
Entscheidungsbereich liegen (z. B. medizinische Entscheidungen), habe ich dennoch ein Recht (oder gar
eine Pflicht) mich allenfalls (im Interesse der Menschen mit einer Behinderung) in die Entscheidungsfindung einzubringen?
Daniel Ritzenthaler
* Meier, Margrit (2008): Entwurf eines berufsethischen Eides.
In: VHN, 1, 69-71.
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Interview
Franziska Felder: «Viele Sonderpädagogen
glauben, sich tieferen ethischen Fragen
nicht stellen zu müssen»
Ob Integration, moralischer Status von Behinderung
oder konkrete Dilemmas in der heilpädagogischen
Praxis: die Heil- und Sonderpädagogik ist mit zahlreichen ethischen Fragen konfrontiert, die zunehmend auch von der Disziplin selbst thematisiert
werden. «Thema im Fokus» sprach mit der Sonderpädagogin Franziska Felder, die zum Thema Ethik
und Behinderung forscht.
Sie arbeiten zum Thema «Haben Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Integration?» Ist das
für eine Sonderpädagogin nicht schon fast eine ketzerische Frage?
Auf den ersten Blick wirkt das tatsächlich so – und
zumindest zu Beginn meines Projekts ist diese Frage
in der Tat als «ketzerisch» aufgenommen worden. An
einem Kongress habe ich damit ziemlichen Wirbel ausgelöst, denn alle Anwesenden gingen davon aus, dass
eine solche Frage gar nicht gestellt werden dürfe, da
es sich ja von selbst verstehe, dass die Antwort Ja laute. Dabei wurde nicht verstanden, dass es sich bei der
Frage gar nicht um eine geschlossene Frage handelt –
eine Frage also, bei der man mit Ja oder Nein antworten kann –, sondern dass sie viele Folgefragen auslöst,
die keineswegs trivial oder gar ketzerisch sind, sondern
den Kern sonderpädagogischer Annahmen, Werte und
Konzepte betreffen. Es geht beispielsweise darum,
was man unter Behinderung, Integration oder einem
moralischen Recht dazu überhaupt versteht. Dabei
ist die Frage, was ein moralisches Recht denn genau
ist, noch die am wenigsten komplexe Frage. Sehr viel
schwieriger ist bereits die Frage, was das eigentliche
moralische Problem daran ist, eine Behinderung zu haben. Kern des Problems bildet die genaue Bedeutung
von «Integration» und die Frage, worin überhaupt das
moralische Problem besteht, wenn man «zu wenig»
oder «nicht» integriert ist.
Was genau verstehen Sie denn unter «Integration» bzw.
inwiefern ist dieser Begriff anzupassen an Art und
Schweregrad einer Beeinträchtigung?
Grundsätzlich hat das Konzept der Integration nichts
mit der Art oder dem Schweregrad einer Beeinträch-
tigung zu tun, es ist unabhängig von Behinderung. Integration bedeutet für alle Menschen die Befriedigung
bestimmter sozialer Bedürfnisse sowie die Ausübung
bestimmter sozialer Interessen. Letztere sind bei allen Menschen unterschiedlich ausgebildet. Schwerst
behinderte Menschen beispielsweise haben oft nicht
die kognitiven Möglichkeiten, komplexere Interessen
auszubilden, wohl aber haben sie Bedürfnisse. Zudem
sind auch die Möglichkeiten der Menschen aus unterschiedlichen Gründen sehr verschieden. Behinderten
Menschen fehlt es beispielsweise oft an Ressourcen,
am Zugang zu Gebäuden, Technologien usw. Das erschwert ihre Integration. Die Integration von Menschen unterscheidet sich also erst in der lebensweltlichen Anwendung dieses Konzeptes.
Doch welche Unterschiede in der lebensweltlichen
Anwendung des Konzeptes Integration sind gerechtfertigt? Analog wie in der Medizin, wo man das Ausschöpfen aller Möglichkeiten fordern könnte (dies aber aus
Kostengründen faktisch nicht tut), könnte man auch im
Bereich Integration enorme (finanzielle) Ressourcen
einfordern. So könnte man beispielsweise die Eingliederung sämtlicher behinderter junger Menschen in die
Regelschulen fordern und in jeder Klasse die entsprechenden Fachkräfte bereitstellen. Wäre ein solcher
Schritt moralisch gefordert, auch wenn dies grosse
finanzielle Konsequenzen hat?
Diesbezüglich gibt es einigen Klärungsbedarf. Erstens
ist die Forderung nach Integration oft keine «übertriebene» Forderung. Gewiss ist Integration auch mit
Ressourcen verbunden, und oft auch mit der Änderung bestimmter Strukturen, was sehr weitgehend
sein kann. Aber wenn man diese Forderungen sofort
als unangemessen ablehnt, übersieht man, dass es
sich in vielen Fällen um ganz grundlegende, wichtige Forderungen nach Zugang handelt, die sogenannt
nicht behinderte Menschen selbstverständlich für sich
in Anspruch nehmen und die auch zum Konsens einer demokratischen Gesellschaft gehören. Das Recht
beispielsweise, politisch integriert zu sein, also als
Staatsbürger handeln zu können, ist ein Grundrecht
aller Bürger. Also sollte man dafür sorgen, dass bei-
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
«Viele Sonderpädagogen glauben, sich
tieferen ethischen Fragen nicht stellen
zu müssen»
spielsweise auch blinde Bürger verbesserten Zugang
zu Wahllokalen haben – dies nur als kleines Beispiel.
Zweitens hat man bei der Frage nach den nötigen
Ressourcen meistens schwerstbehinderte Menschen
vor Augen, bei denen man davon ausgeht, dass sie
auch mit der besten Förderung beispielsweise nicht
lesen lernen. Darum geht es aber lebensweltlich
kaum. Sonderpädagogisch Tätige können in Zusammenarbeit mit weiteren Fachleuten und Angehörigen
meistens gut abschätzen, was in den Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen liegt und was nicht.
Es wäre aber fatal, würde man schwerstbehinderten
Menschen basale Integrationsmöglichkeiten nicht ermöglichen, weil sie etwa nicht lesen lernen können.
Aus der Unterstellung, alle Ressourcen zu wollen,
hätte man dann sozusagen legitimiert, ihnen gar keine mehr zu geben. Gewiss beinhaltet eine Abwägung
von Ressourcen verschiedene Gesichtspunkte und
die Ressourcen für behinderte Menschen müssen gegen andere mögliche Verteilungen abgewogen werden. Da es aber oft um ganz grundlegende Bedürfnisse von Menschen geht und nicht um teure Vorlieben,
hat man meines Erachtens gute Argumente, viel in
das Wohlergehen behinderter Menschen zu investieren.
Drittens ist schliesslich oft gar nicht erwiesen, wie
teuer Integrationsmassnahmen wirklich sind. Ein
Sonderschulplatz beispielsweise kostet jährlich über
40›000 Franken, ein Vielfaches eines Regelschulplatzes. Und ganz generell kostet der soziale Ausschluss
respektive seine sozialen Folgen – Einsamkeit, soziale, psychische und körperliche Probleme – die Gesellschaft oft mehr als Bemühungen um Integration der
betroffenen Menschen oder Gruppen.
Wie sieht die Erfolgsbilanz der bisherigen Integrationsbemühungen aus?
Sie ist gemischt, es gibt positive und negative Entwicklungen. Vom Grundsatz her ist es zu begrüssen,
dass Menschen mit Behinderung bestimmte Rechte
betreffend Integration haben, die in der Schweiz beispielsweise im BehiG (Behindertengleichstellungsgesetz) festgelegt sind. So soll man bei einem behinderten Kind nicht von vornherein davon ausgehen,
Lic. phil. Franziska Felder studierte Sonderpädagogik, Betriebswirtschaft, und Filmwissenschaft an
der Universität Zürich, war Primarlehrerin und arbeitete als Betreuerin in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung sowie als Lehrerin für geistig behinderte Menschen. Sie doktorierte an der
Universität Zürich in Sonderpädagogik zum Thema
«Haben Menschen mit Behinderung ein moralisches
Recht auf Integration?». Gegenwärtig leitet sie als
Studienleiterin den Bereich Gesellschaft und Behinderung an der Paulus-Akademie, Zürich.
dass es in eine Sonderschule muss. Vielmehr muss
man die Situation des betroffenen Individuums genau
unter die Lupe nehmen und man muss einen begründeten Entscheid darüber treffen, ob das Wohlergehen
dieses Kindes oder Jugendlichen in einer Regelklasse
oder einer Sonderschule am besten unterstützt werden kann. Separation oder Exklusion wird also begründungsbedürftig – nicht mehr die Integration. Es
zeigt sich aber auch, dass die soziale Kohäsion in der
Gesellschaft eher abnimmt, dass die Solidarität mit
behinderten Menschen eher schwach ist. Das zeigt
sich nicht zuletzt auch in den Verschärfungen, die in
der neusten IV-Revision geplant sind. Auch im schulischen Kontext deutet vieles auf eine Ernüchterung
hin. Man hat da wohl ideologisch zu überfrachtet argumentiert und agiert. Integration löst nicht alle Probleme, nicht alle Kinder können in der Regelschule
reüssieren. Und es gibt auch Kinder und Jugendliche,
die Regelklassen an den Rand oder gar zum Kippen
bringen. Hier einfach Integration zu fordern, ohne die
Möglichkeiten der Klasse zu beachten, ist blauäugig
und schadet der Integration. Diese funktioniert nur,
wenn immer wieder zwischen Allgemeinem und Besonderem vermittelt wird, wenn das Verbindende und
Gemeinsame noch gesehen werden kann und wenn
auch genügend Ressourcen und die richtigen Strukturen da sind, das zu vertiefen.
10
Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Interview
«Viele Sonderpädagogen glauben, sich tieferen ethischen Fragen nicht stellen
zu müssen»
Wie beurteilen Sie generell den «ethischen Tiefgang»
der Integrationsdebatte innerhalb der Sonderpädagogik – aber auch generell in der Gesellschaft?
Ethik ist nur ein Teilbereich in der Sonderpädagogik
und nicht jeder Sonderpädagoge kann und soll sich
kompetent zu ethischen Fragen äussern. Zwar hat
jeder sonderpädagogisch Tätige bestimmte ethische
Motive und ist auch ausgebildet, sein Handeln zu hinterfragen, er ist damit aber – wie der Rest der Bevölkerung übrigens auch – nicht automatisch fähig, eine
hochstehende ethische Diskussion zu verstehen und
gestalten zu können. Es dürfte nur wenige Experten
geben, die «ethisch tiefgründig» zu Fragen der Integration diskutieren. Was ich aber dennoch kritisiere,
ist die fehlende Einsicht vieler in der Sonderpädagogik Tätiger, wonach ihr Handeln und ihre Klientel ethische Fragen auslöst, die man nicht einfach nur ideologisch abwenden oder als rein rhetorisch hinstellen
kann. Allein schon wegen Ressourcenknappheit
müssen auch sonderpädagogische Mittel gegenüber
Dritten begründen werden. In der Gesellschaft wiederum stelle ich fest, dass man zwar die grundlegenden Anliegen behinderter Menschen teilt – niemand
ist gegen Integration –, dann aber Vorurteilen und
versteckter Diskriminierung erliegt. Dies geschieht
beispielsweise, indem man behinderte Menschen als
inkompetent darstellt, ihnen andere Bedürfnisse oder
Wünsche unterstellt oder indem man generell eine
karitativ-mitleidige Art ihnen gegenüber an den Tag
legt. Oft fällt den Menschen auch nicht auf, dass sie
diese Haltung an den Tag legen, das heisst, sie sehen auch nicht, dass sie diese unreflektierten Annahmen und Vorurteile in Einzelfällen überprüfen sollten.
Daher ist es schwierig, dagegen anzukämpfen, denn
die Menschen sind sich ihrer Einstellungen oft selbst
nicht bewusst.
Wenn man sich an die Singer-Debatte zurückerinnert,
so haben Exponenten der Heilpädagogik damals scharf
und apodiktisch auf die Thesen des Ethikers reagiert,
aber ohne – so scheint es – sich wirklich mit ihm auseinanderzusetzen. Wäre das heute auch noch so?
Ich teile die Auffassung, dass damals die Exponenten
der Heilpädagogik die Thesen von Singer beschimpft,
sich aber nicht damit auseinandergesetzt haben. Die
Fehde wurde auf einer persönlichen Ebene geführt,
auf der inhaltlichen Ebene aber meinte man fatalerweise, nicht antworten zu müssen. Ich befürchte
auch, dass viele Sonderpädagogen diesbezüglich in
der Zwischenzeit wenig gelernt haben. Es gibt aber
glücklicherweise auch Ausnahmen. So gibt es einen
Kreis von Sonderpädagogen und Ethikern, die ernsthaft an der Diskussion von kritischen Fragen interessiert sind, die im Zusammenhang mit Behinderung
entstehen. Ein gutes Beispiel, wie man es anders machen kann, war eine Konferenz in New York zum Thema «Geistige Behinderung und die Herausforderung
für die Philosophie», die ich vor zwei Jahren besuchte.
Dort haben sich die Leute nach dem Referat Peter
Singers in einer Schlange angestellt und sein Referat
gekontert, ohne fundamentalistisch-ideologisch oder
rein emotional zu argumentieren. Im Publikum waren
zudem Spitzenvertreter der zeitgenössischen Moralphilosophie versammelt, wie etwa Martha Nussbaum
oder Ian Hacking, die Behinderung als ein spannendes Thema für sich entdeckt haben. Dies zeigt auch,
dass es philosophische Gegenentwürfe zu Singers
Ansatz gibt, die für die Sonderpädagogik gewinnbringend sind.
Welchen Stellenwert hat Ethik in der Ausbildung von
Heilpädagoginnen und Heilpädagogen?
Das kann ich zu wenig beurteilen. Grundsätzlich ist
die Ethik disziplinär in der Allgemeinen Sonderpädagogik angesiedelt – zusammen mit den historischen
und theoretischen Fragen. Da die Allgemeine Sonderpädagogik an den heutigen Universitäten einen
schweren Stand hat und viele Lehrstühle nicht mehr
ersetzt werden, hat entsprechend auch die Ethik der
Sonderpädagogik einen schweren Stand. Angesichts
der mannigfaltigen Herausforderungen bin ich aber
zuversichtlich, dass Ethik in der Berufsausbildung von
Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen einen
hohen Stellenwert erhalten wird.
Was sind Ihrer Ansicht nach die zentralen ethischen
Herausforderungen, denen sich die Heilpädagogik
künftig stellen muss?
Wir sind mit zahlreichen, sehr unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Es gilt zum einen,
zentrale philosophische Konzepte auf ihre sonderpädagogischen Konsequenzen hin zu befragen – also
11
Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 93 – Oktober 2010
Interview
«Viele Sonderpädagogen glauben, sich tieferen ethischen Fragen nicht stellen
zu müssen»
Begriffe wie Autonomie, Selbstbestimmung, Gleichheit, Gesundheit, Krankheit oder das gute Leben.
Hier kann meines Erachtens auch die Philosophie
etwas von der Sonderpädagogik lernen, denn Behinderung als Dimension menschlichen Seins respektive Möglichkeit menschlicher Existenz fordert viele
philosophische Ansätze heraus. Zum anderen muss
die Sonderpädagogik anerkennen, dass sie differenziertere Antworten zu ihren eignen ethischen Fragen
bereithalten muss als beispielsweise die relativ pauschalen Verunglimpfungen während der sogenannten
Singer-Debatte. Nur so wird ihr Wissen auch von der
Ethik ernst genommen und es kann ein Dialog über
die Wissenschaftsgrenzen hinweg aufgenommen
werden. Denn die Herausforderungen, beispielsweise
Fragen der Integration, erfordern verstärkt interdisziplinäre Zugänge.
se gesellschaftlich und gemeinschaftlich zu fördern, so
dass sich Menschen freiwillig und mit guten Absichten
einander zuwenden.
Interview: Markus Christen
Um zurück zur Ausgangsfrage zu kommen: Haben
behinderte Menschen ein Recht auf Integration?
Ja, das haben sie – allerdings nur auf Nicht-Exklusion in
Form von Nicht-Diskriminierung, auf Integration in die
Gesellschaft und auf die Ermöglichungsbedingungen
für gemeinschaftliche Integration. Ich gehe in meiner
Arbeit von einer Sphäre gemeinschaftlicher und einer
Sphäre gesellschaftlicher Inklusion aus. Da der Gegenstand eines moralischen Rechts drei Bedingungen
unterliegt – er muss erzwingbar sein, er muss erfüllbar sein und er muss ein wichtiges Gut abdecken –,
kommt Integration in der Gemeinschaft an ihre Grenzen. Gemeinschaften haben Assoziationsfreiheit und
können daher nicht gezwungen werden, jemanden zu
integrieren, sei er nun behindert oder nicht. Zudem
wäre mit einer solchen Form von Integration oft auch
das zentrale Element einer gemeinschaftlichen Integration verletzt, nämlich die Freiwilligkeit. Das sieht
man am deutlichsten bei Freundschaften. Ist jemand
nur mein Freund, weil er gezwungen wird, ist das keine
richtige Freundschaft. Da aber gerade gemeinschaftliche Integration die wichtige Form von Integration ist
– jeder von uns denkt diesbezüglich zuerst an Familie,
Freunde oder konkrete Gruppen –, schafft ihre Abwesenheit oft problematische Lebenssituationen. Gerade
behinderten Menschen fehlen oft genau diese Bezüge. Hier kommen nicht Rechte, sondern Solidarität ins
Spiel. Und es ist eine schwierige Herausforderung, die-
12
Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Fallbeispiel
Fallbeispiel: Darf Roland mehr essen?
Das vorliegende Fallbeispiel ist fiktiver Natur, orientiert sich aber an realen Gegebenheiten.
Roland ist ein 56-jähriger Mann, er lebt in einem Heim
für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Während der Geburt hat er zu wenig Sauerstoff erhalten,
was seine Gehirnfunktionen beeinträchtigt hat, er leidet an einer mittelschweren geistigen Behinderung.
Er neigt zu starkem Übergewicht, wenn er nicht eine
strukturierte Diät einhält. Essen bedeutet für ihn aber
Lebensqualität, die Mahlzeiten sind Höhepunkte in
seinem Tag. Er hat mehrfach geäussert, dass er mehr
Essen will und dass er die ihm verordnete Diät nicht
einhalten will. Wenn man ihm das Essen verbietet,
dann geht er mit seinem Taschengeld Süssigkeiten
und Fast-Food kaufen und isst heimlich. Roland hat
seit mehreren Jahren Diabetes. Nun war er beim Hei-
marzt, der aufgrund des Übergewichts (er hatte im
letzten Jahr mehrere Kilogramm zugenommen) und
der gesundheitlichen Situation (Diabetes, Gefährdung
für Herz-Kreislaufkrankheiten) Druck ausübt, dass
das Team ihn dazu bringen soll, die Diät einzuhalten. Er findet, Roland müsse zudem das Taschengeld
weggenommen werden, damit er nicht unkontrolliert
ungesunde Nahrung zu sich nimmt und sich damit gefährdet.
Aufgabe: Wie soll das heilpädagogische Team der
Wohngruppe auf die Forderung des Hausarztes reagieren? Welche Werte stehen im Raum? Welche Argumente sprechen für die stärkere Gewichtung von
welchem Wert?
Fallbesprechung TiF 94: «Manisch und
beweglich – oder ruhig und behindert?»
Der an Morbus Parkinson leidende, mit Tiefer Hirnstimulation (THS) behandelte 58-jährige Peter S. befindet sich in einem schweren Dilemma: Durch die THS
waren seine Bewegungsstörung und seine Depressionen erfolgreich therapiert worden, doch im Laufe der
Zeit war er (leicht) manisch geworden; er hatte die
Hälfte der Ersparnisse verprasst und war tagelang
von zu Hause weggeblieben. Seine Frau wandte sich
deswegen zunehmend von ihm ab, und schliesslich
wurde er wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und
anschliessender Beamtenbeleidigung vor Gericht gestellt. Dort wurde ihm eine psychiatrische Therapie
verordnet. Da offenbar die Tiefe Hirnstimulation die
Ursache seiner manischen Störung war, wurde sie für
die Therapie abgeschaltet; dadurch verschwanden
die wahnhaften Züge und die Manie, doch Peter S.
wurde depressiv und war durch Parkinson-Symptomatik körperlich schwer behindert. In dieser Situation
muss Peter S. sich entscheiden: Entweder verzichtet
er auf die Tiefe Hirnstimulation – dann wird er weiter
schwer depressiv und körperlich so schwer behindert
sein, dass er in einem Pflegeheim leben muss. Oder
er lässt die Stimulation wieder anschalten – dann
werden voraussichtlich seine Lebenslust, aber auch
die Manie und die wahnhaften Züge zurückkehren, so
dass er in einer psychiatrischen Anstalt leben müssen
wird.
Ein Dilemma wie das von Peter S. ist in dieser extremen Form glücklicherweise sehr selten. Doch es wird
in der Fachliteratur zunehmend berichtet, dass Patienten, gerade solche, bei denen die Bewegungsstörungen sehr gut durch die Tiefe Hirnstimulation therapiert worden waren, unter psychischen und dadurch
unter sozialen Folgeproblemen zu leiden haben. Während ein Teil der Patienten depressiv und apathisch
wird (wahrscheinlich nicht durch die Stimulation, sondern die dadurch ermöglichte Medikamentenreduktion), entwickelt der andere Teil der Patienten mani-
13
Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Fallbesprechung
«Manisch und beweglich – oder ruhig und behindert?»
sche Störungen. Das Spektrum umfasst Hedonismus,
Kontrollverlust, Kaufsucht, Hypersexualität und
Grössenwahn. Mögliche Folgen sind der Verlust des
Privatvermögens, Überschuldung, riskantes Autofahren, unangemessenes Sexualverhalten bis zu sexuell motivierten Straftaten. Häufig verschlechtern sich
die Paarbeziehungen und es treten Probleme im Beruf
auf. Bei den meisten Patienten lassen sich Lösungen
oder zumindest Kompromisse finden, indem etwa die
Stimulationsparameter angepasst werden (manchmal
zum Preis gewisser motorischer Verschlechterungen)
oder die psychischen Probleme durch Psychopharmaka behandelt werden. Häufig geht eine durch THS
verursachte Manie innerhalb mehrerer Monate von
selbst zurück.
Peter S. scheint aber einer der wenigen Patienten zu
sein, für die eine Lösung des Dilemmas oder ein Kompromiss nicht möglich sind, und so präsentiert sich
das Dilemma in aller Schärfe: entweder schwer depressiv und körperlich schwer behindert oder lebenslustig bis manisch und körperlich unbeeinträchtigt.
Entweder Pflegeheim oder psychiatrische Anstalt.
Daraus ergeben sich folgende Fragen:
Erstens: Wer soll entscheiden, in welchem Zustand
Peter S. den Rest seines Lebens verbringen soll? Der
Respekt vor der Autonomie des Patienten erfordert
prima facie, dass der Patient selbst entscheiden darf,
ob die Tiefe Hirnstimulation an- oder abgeschaltet
wird. Dazu müssen zwei Voraussetzungen erfüllt
sein: Der Patient muss erstens alle relevanten Informationen über die verschiedenen Optionen erhalten
und verstanden haben. Zweitens muss er fähig zur
Autonomie sein. Das setzt bestimmte Anforderungen an die intellektuellen Kapazitäten, die Fähigkeit
zur Selbsterkenntnis und zur Selbststeuerung voraus. Rechtlich gilt die erste Voraussetzung als erfüllt,
wenn der Patient umfassend und objektiv über die
Therapieoptionen aufgeklärt worden ist und diese
verstanden hat. Die zweite Voraussetzung ist juristisch grundsätzlich für jeden Erwachsenen erfüllt, es
sei denn, er wurde wegen akuter oder chronischer
psychischer Krankheit oder Behinderung von einem
Gericht unter Betreuung (für medizinische Angelegenheiten) gestellt, so dass sein Betreuer Therapieentscheide für ihn treffen muss – und zwar im Sinne
des Patienten und möglichst mit dessen Einverständnis. Da Peter S. nicht unter Betreuung gestellt wur-
de und trotz gewisser kognitiver Beeinträchtigungen
die verschiedenen Optionen und deren Folgen durchaus verstehen kann, darf er die Entscheidung selbst
treffen. Es gibt keinen hinreichenden Grund, dass ein
Gericht, die behandelnden Psychiater oder seine Ehefrau die Entscheidung an seiner Stelle treffen.
Zweitens: In welchem Zustand soll Peter S. die Entscheidung darüber treffen, in welchem Zustand er
den Rest seines Lebens verbringen will – bei an- oder
bei abgeschalteter Stimulation, manisch oder depressiv? Die Antwort auf diese Frage sollte sich an
zwei Kriterien orientieren: erstens an der Fähigkeit
des Patienten zur Autonomie, zweitens an der Authentizität der Entscheidung. Damit ein Patient eine
vernünftige Entscheidung treffen kann, muss er bestimmte intellektuelle Fähigkeiten sowie eine gewisse
Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und zur Selbststeuerung haben. Sowohl mit als auch ohne Stimulation
sind diese Fähigkeiten bei Peter S. möglicherweise
geringer als vor seiner Parkinson-Erkrankung. Sowohl Depressionen als auch Manien beeinträchtigen
häufig diese Fähigkeiten, allerdings in unterschiedlicher Richtung. Bei Peter S. ist zu erwarten, dass er
im Zustand ohne Stimulation durch die parkinsonbedingte Depression ein geringes Selbstwertgefühl hat,
unter Schuldgefühlen, Angst und Hoffnungslosigkeit
leidet. Er könnte zu dem Schluss kommen, dass er für
seine «Untaten» während der Stimulation nun Strafe
in Form von körperlicher Behinderung und andauernder Depression verdient. Er könnte auch befürchten,
dass er mit Stimulation den Rest des Vermögens verschleudern, seine Frau betrügen und von ihr verlassen und schliesslich wegen fortgesetzter Geschwindigkeitsübertretungen im Gefängnis enden würde.
Im Zustand mit Stimulation würde Peter S. wieder
manisch und hätte eventuell Wahnvorstellungen, z. B.
in Hinblick auf seine Frau, die Polizei oder die Ärzte.
Möglicherweise würde er denken, dass sein Leben mit
Stimulation wieder grossartig würde, dass er alle Probleme in den Griff bekäme, sich endlich von seiner
Frau, die ihm sein Glück nicht gönnt, scheiden lassen
würde und wieder sein schnelles Auto fahren dürfte. Deshalb sollte Peter S. psychiatrisch untersucht
werden, einmal mit und einmal ohne Stimulation, um
Ausmass und Folgen der Manie bzw. der Depression festzustellen und herauszufinden, ob in einem der
beiden Zustände seine Einsichts- und Urteilsfähigkeit
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
«Manisch und beweglich – oder ruhig
und behindert?»
signifikant höher ist als in dem anderen. Sollte das
der Fall sein, sollte Peter S. in dem Zustand, in dem
seine Einsichts- und Urteilsfähigkeit höher ist, die
Entscheidung über die Fortsetzung der Stimulation
treffen. Führt diese Untersuchung nicht zur Klärung,
sollte überlegt werden, in welchem Zustand der Patient wahrscheinlich eine authentischere Entscheidung
treffen wird, also eine Entscheidung, die zu seiner
Persönlichkeit, seinen Einstellungen und Überzeugungen passt.
Hinter diesem Kriterium steckt die Idee, dass es so
etwas wie eine wahre Persönlichkeit gibt, an der die
Authentizität des Handelns dieser Person gemessen werden kann. Diese Vorstellung ist prima facie
plausibel, aber nicht unproblematisch: Zum einen ist
die Persönlichkeit weniger stabil als häufig gedacht,
zum anderen verändert sie sich gerade durch neuropsychiatrische Erkrankungen wie Morbus Parkinson
sowie möglicherweise durch eine länger andauernde Stimulation. Wann ist Peter S. also am meisten
er selbst und am besten in der Lage, eine authentische Entscheidung über seine zukünftige Persönlichkeit und sein zukünftiges Verhalten zu treffen? Ist er
ohne Stimulation am authentischsten, weil er dann
nicht durch den technischen Einfluss auf sein Gehirn
manipuliert wird? Oder ist er am meisten er selbst,
wenn die Stimulation seine parkinsonbedingte Depression kuriert und er dadurch wieder sein Wesen
vor der Erkrankung zurückgewinnt? Die Frage, ob ein
Patient mit oder ohne Stimulation authentischer ist,
lässt sich nicht allgemeingültig beantworten, sondern muss für den individuellen Patienten beantwortet werden. Psychologische Tests sind hierfür nicht
ausreichend; vielmehr sind intensive Gespräche mit
dem Patienten notwendig, um herauszufinden, was
er als seine wahre Persönlichkeit betrachtet und wie
diese sich im Verlauf der Krankheit und der Therapie verändert hat. Auch Gespräche mit Angehörigen
und eventuell Ärzten, die den Patienten schon über
Jahre kennen, sollten geführt werden, um neben der
Innenperspektive auch die Aussenperspektiven von
nahestehenden Personen zu erheben. Wenn es ein
einigermassen sicheres Urteil darüber gibt, ob Peter
S. mit oder ohne Stimulation authentischer ist, sollte
er authentischeren Zustand über die Fortsetzung der
Stimulation entscheiden.
Dr. phil. Dipl.-Phys. Sabine Müller ist als Medizinethikerin wissenschaftliche Angestellte an
der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Charité Universitätsmedizin Berlin. Sie ist
Mitglied des Redaktionsteams von «Thema im
Fokus».
Bleibt nach beiden Kriterien die Entscheidung weiter
unklar, also ist der Patient mit und ohne Stimulation
als ungefähr gleich einsichts- und urteilsfähig und authentisch zu beurteilen, könnte man folgendermassen
verfahren: Man könnte ihn zweimal fragen, ob er die
Fortsetzung der Stimulation will: einmal im Zustand
mit Stimulation, einmal ohne Stimulation. Die Reihenfolge der Befragung wird dabei möglicherweise eine
Rolle spielen, so dass man nicht von zwei unabhängigen Entscheidungen ausgehen kann. Diesen Weg
gleich zu wählen, also ohne sorgfältige Einschätzung
der Autonomie und der Authentizität, ist daher nicht
empfehlenswert. Nur wenn die beiden Kriterien nicht
zu einer Klärung geführt haben, könnte dieses Verfahren ein Ausweg sein. Entscheidet der Patient sich
nun in beiden Fällen gleich, ist damit die Entscheidung getroffen. Sollte die Entscheidung aber uneinheitlich ausfallen, sollte man sich am Benefizienz- und
Nonmalefizienz-Prinzip orientieren und die Alternative
wählen, mit der es dem Patienten besser geht. Massgeblich ist dafür seine eigene Einschätzung.
Anders müsste die Entscheidung allerdings lauten,
wenn der Patient im Zustand der Stimulation nicht
nur zu Verkehrsdelikten und Beamtenbeleidigungen,
sondern zu schwereren Straftaten neigen würde, z. B.
zu Sexualdelikten, Diebstahl, Betrug, Drogenmissbrauch oder Gewalttaten. Stimulationsparameter, die
wahrscheinlich den Kontrollverlust über das se­xuelle
Verhalten oder über aggressive Impulse oder Drogen- oder Medikamentenmissbrauch oder kriminelles
Ver­
halten zur Folge haben, dürfen nicht eingestellt
werden, auch nicht auf Ver­langen des Patienten. Dies
ist ebenso wenig erlaubt wie die Verschreibung von
15
Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Fallbesprechung
«Manisch und beweglich – oder ruhig und behindert?»
Medikamenten, die zu derartigen Verhaltensstörungen führen. Wären derartige Auswirkungen bei Peter
S. zu erwarten, müsste die Stimulation auf jeden Fall
abgestellt werden. Umgekehrt müsste die Entscheidung auch anders getroffen werden, wenn der Patient
ohne Stimulation schwer suizidgefährdet ist.
Schliesslich sollte die Entscheidung über die Stimulation nicht als endgültig betrachtet werden. Der Patient
sollte die Möglichkeit haben, seine Entscheidung zu
revidieren und sie an sich möglicherweise ändernde
Lebensbedingungen, zunehmende Bewegungsstörungen und Einflüsse des zunehmenden Alters anzupassen. Von Zeit zu Zeit sollte daher eine psychiatrische
Untersuchung stattfinden, um zu überprüfen, ob die
Entscheidung noch richtig für den Patienten ist und
um mögliche Gefahren, z. B. Selbst- oder Fremdgefährdung, zu erkennen. Der Stimulator und die Elektroden sollten daher möglichst nicht unmittelbar nach
der eventuellen Entscheidung gegen die Stimulation
entfernt werden, es sei denn, der Patient leidet darunter, weil er sie nun als unnütze Fremdkörper empfindet oder dadurch an die fehlgeschlagene Therapie
oder die frühere Manie erinnert wird.
In einem ähnlichen Fall, der in einer niederländischen
Fachzeitschrift veröffentlicht wurde, wandten sich die
behandelnden Ärzte an das Ethikkomitee ihrer Klinik.
Dieses riet, den Patienten bei abgeschalteter Stimulation entscheiden zu lassen. Der Patient wählte die
Fortsetzung der Stimulation mit der Konsequenz der
Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung.
Sabine Müller
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Artikel/Bücher, Links
Ergänzungen
Artikel/Bücher
Grüber K., Nicklas-Faust J., Schmidt S., Wagner-Kern
M. (Hrsg.) (2004): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivenwechsel. Campus Verlag, N. Y. (Ed.)
Haeberlin U. (2005): Grundlagen der Heilpädagogik.
Einführung in eine wertgeleitete erziehungswissenschaftliche Disziplin. Bern: Paul Haupt
Haehner U., Niehoff U., Sack R., Walther H. (1998):
Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung.
Lebenshilfe-Verlag, M. (Ed.)
Rock K. (2001): Sonderpädagogische Professionalität unter der Leitidee der Selbstbestimmung. Bad
Heilbrunn: Klinkhardt (Ed.)
Speck O. (1999): Ethische Grundlagen. In: ders.:
Menschen mit geistiger Behinderung und ihre
Erziehung. Ein heilpädagogisches Lehrbuch. München, Basel: Reinhardt Verlag. 64–99
Waldschmidt A. (2003): Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma – Perspektiven der
Disability Studies. Aus Politik und Zeitgeschichte,
8, 13–20
Wohlgensinger C. (2007): Unerhörter Kinderwunsch.
Die Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung: Eine Betrachtung aus sonderpädagogisch-ethischer Perspektive. Luzern: Edition SZH
Links
Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft
www. imew.de
Self-Determination Resource Website
www.selfdeterminationak.org/resources_for_parents.html
Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik SZH
http://www.szh.ch/de/page33721.aspx
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Dialog Ethik – Newsletter
Dialog Ethik Öffentlich
Ethik im Dialog: Bundesgerichtsurteil vom
23. November 2010
Einer Patientin, welche an Morbus Pompe (unheilbare chronische Erkrankung mit grossem Leidensdruck) leidet, wurde das Arzneimittel Myozyme aus
Kostengründen verweigert. Dessen Wirksamkeit sei
zu gering im Verhältnis zu den anfallenden Kosten.
Bei den Kosten-Wirksamkeitsüberlegungen wurden
krankheitsübergreifende Vergleiche und nicht Therapievergleiche angestellt. Dies deshalb, weil es für
diese Krankheit keine alternativen Behandlungsmöglichkeiten gibt. Darin liegt auch eines der Probleme
dieses Urteils: Es fehlen verbindliche Standards für
die Beurteilung der Wirksamkeit einer therapeutischen Massnahme.
Steigende Zugriffszahlen auf www.dialog-ethik.ch
Dialog Ethik konnte 2010 im Vergleich zum Vorjahr die
Besucherzahl auf der Homepage um 17 % steigern.
Neben den Angeboten für Fachpersonen und Organisationen stossen auch die Patientenverfügungen auf
steigendes Interesse. Auch lassen immer mehr Leute
ihre ausgefüllten Patientenverfügungen registrieren.
Ein Vorteil davon ist, dass die Aktualität gewährleistet
wird und die Qualität der ausgefüllten Patientenverfügungen steigt: Dank der Durchsicht einer Fachperson
können Missverständnisse und Unstimmigkeiten behoben werden.
Mehr dazu unter:
www.dialog-ethik.ch/128154305169-de-index.html
Sonstige Medienpräsenz
Mehr zur Haltung von Dialog Ethik zu dieser Frage
unter:
• Basler Zeitung: Juristische Entscheide müssen hinterfragt werden
www.dialog-ethik.ch/128230000948-de-index.html
• Schweizer Radio DRS, Tagesgespräch: Ethikerin
Ruth Baumann-Hölzle zu Zwangsernährung
Medical Board verabschiedet dritten Fachbericht
Das Medical Board hat den dritten Fachbericht publiziert, diesmal zum Thema der Behandlung der häufig
vorkommenden Mitralklappeninsuffizienz. Es hat die
konventionelle Operation am offenen Herzen mit einem schonenderen Katheterverfahren verglichen. Da
sich das Verfahren noch im Forschungsstadium befindet, empfiehlt das Gremium, die Methode nur für
nichtoperable Patientinnen und Patienten einzusetzen
und vertiefte Langzeitstudien durchzuführen.
Mehr dazu unter:
www.dialog-ethik.ch/128230000948-de-index.html
Zweite Podiumsveranstaltung der
«Zukunftsuniversität»
Am 3. Februar organisierte Dialog Ethik im Rahmen
der «Zukunftsuniversität» eine Podiumsdiskussion
im Sphères in Zürich. Zusammen mit Prof. Dr. Harald
Welzer und Prof. Dr. Martin Hölzle diskutierte Prof. Dr.
Jean-Pierre Wils über das Thema Ökologie und Demokratie. Auch mit dem zahlreich erschienenen Publikum entstanden spannende Diskussionen.
• Primary Care: Von der Heilpflege zur Gesundheitswerkstatt – von der Heilsökonomie zum
Gesundheitsmarkt
• Schweizer Fernsehen, Der Club: Transplantation:
Wird bald jeder zum Organspender?
Weitere Angaben finden Sie unter
www.dialog-ethik.ch/12815431129-de-index.html
Vorträge/Schulungen
• Dargebotene Hand, Aarau: Suizidalität, Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid als ethische Herausforderungen für die Psychiatrie (Vortrag
von Diana Meier-Allmendinger, 01.12.2010)
• Pflegeschule Zug: Einführung in die Ethik (Schulung mit Markus Breuer, 30.11.–03.12.2010)
• Integrierte Psychiatrie Winterthur: Zwangsernährung (Schulung mit Walter Anghileri, Dezember
2010)
• APH Schönbühl: Abschluss der Moderatorenschulung für Fallbesprechungen von fünf Personen (Walter Anghileri)
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Dialog Ethik – Newsletter
• Patientenverfügungen und ethische Entscheidungen am Lebensende, Fortbildung für SeelsorgerInnen (Dialog Ethik, 17.01.2011)
Bodenseedialoge 2011
• APH Herrenbergli, Zürich: Patientenverfügungen
(Kurzreferat an einem Angehörigenanlass, Daniela
Ritzenthaler, 19.01.2011)
Diese 4-Länder-Fachtagung zu interdisziplinären Fragen der Frauenheilkunde in Bregenz lädt Ärztinnen
und Ärzte, Hebammen und VertreterInnen humanwissenschaftlicher Nachbardisziplinen (Psychologie,
Psychotherapie, Seelsorge, Medizinethik, etc.) ein,
belastende Ereignisse in der Geburtshilfe multiprofessionell zu betrachten.
• Konferenz der Schweizerischen Berufsverbände
der Logopäden, Bern: Ethik-Richtlinien (Workshop u.a. mit Ruth Baumann-Hölzle, 22.01.2011)
Weitere Angaben finden Sie unter
www.dialog-ethik.ch/128154312823-de-index.html
Veranstaltungen
Datum: 2. bis 3. September 2011
www.dialog-ethik.ch/128230425177-de-index.html
Vorschau
19. September 2011: Beginn Fortbildung Fallbesprechungen
7. Dezember 2011: Beginn Fortbildung Fallbesprechungen leiten
Soweit nicht anders vermerkt, finden die Veranstaltungen in Zürich statt. Für nähere Informationen oder
eine Anmeldung kontaktieren Sie bitte unser Sekretariat oder schauen Sie sich auf unserer Homepage
um: 044 252 42 01 / [email protected] /
Detailliertere Informationen siehe
www.dialog-ethik.ch
Produkte
Certificate of Advanced Studies: «Ethische Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen
Riccardo Bonfranchi
Beginn: 25. Februar 2011
Unser Basiskurs vermittelt solide Grundkenntnisse in
Ethik, die sich im beruflichen Alltag konkret umsetzen
lassen. Ethische Fragen von der Neonatologie über
die Intensivmedizin bis zur Geriatrie werden thematisiert, und ethische Entscheidungsfindung interdisziplinär trainiert.
Die angewandte Ethik bietet Methoden reflektierten
Umgangs mit Dilemmasituationen und belastenden
Konflikten. Sie stellt Klärungs- und Entscheidungshilfen für den beruflichen Alltag bereit. Oft eröffnen sich
gänzlich neue Lösungsperspektiven.
www.dialog-ethik.ch/basiskurs_d.php
www.dialog-ethik.ch/128230425177-de-index.html
Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik.
Integration und Separation von Menschen
mit geistigen Behinderungen
Soll man Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in die Regelschule integrieren? Dient die pränatale Diagnostik einer verwerflichen Aussonderung
behinderter Menschen? Ist es unmoralisch, schwerst
behinderte Menschen nach einem medizinischen Notfall nicht mehr zu reanimieren? Vermehrt wird der
heilpädagogische Alltag von solchen Fragen geprägt,
die erst nach und nach ins Bewusstsein der Heil- und
Sonderpädagogik geraten. Im Buch «Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik» werden diese Fragen
systematisch aufgearbeitet. In einem ersten Teil wird
das moralische Selbstverständnis der Heil- und Sonderpädagogik, die sich in der Vergangenheit oft nur
undifferenziert und oberflächlich mit den ethischen
Dilemmas ihrer Disziplin auseinandergesetzt hat, kritisch analysiert. Der zweite Teil setzt sich mit den
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 95 – Februar 2011
Dialog Ethik – Newsletter
ethischen Problemen der Integration behinderter
Menschen auseinander. Der Autor zeigt auf, warum
gerade in der modernen Gesellschaft Menschen mit
kognitiven Beeinträchtigungen vermehrt an den Rand
gedrängt werden und warum eine oberflächliche Integration die Würde behinderter Menschen verletzt. Im
dritten Teil untersucht der Autor die oft vorgebrachte These, pränatale Diagnostik gefährde die Akzeptanz behinderter Menschen. Riccardo Bonfranchi, der
selbst während Jahrzehnten in der Heil- und Sonderpädagogik gearbeitet und geforscht hat, unterzieht
moralische Gemeinplätze der Heilpädagogik einer
scharfsinnigen ethischen Analyse.
Band 11 in der Reihe «Interdisziplinärer Dialog – Ethik
im Gesundheitswesen». Lang-Verlag, Bern. Das Buch
erscheint im Frühjahr 2011, ca. 220 Seiten, ca. CHF
48.–
Vorbestellung unter: [email protected],
Tel: +41 (0)44 252 42 01
Impressum
«Thema im Fokus» erscheint sechsmal jährlich
Redaktion und regelmässige redaktionelle
Mitarbeit;
Markus Christen, Sabine Müller, Felix Würsten
Gestaltung, Produktion
Ursi Anna Aeschbacher
Korrektorat
Sandra Bourguignon
Bildnachweis:
Bernd Boscolo/Pixelio.de, Autoren
Kontakt
Dialog Ethik, Interdisziplinäres Institut
für Ethik im Gesundheitswesen
Schaffhauserstrasse 418
8050 Zürich
Tel. +41 (0)44 252 42 01
Fax +41 (0)44 252 42 13
eMail: [email protected]
Web: www.dialog-ethik.ch
Wortklaubereien
Unfall
«Les extrêmes se touchent» – Anwendungsfälle für dieses Jean de la Bruyère (1645 – 1696) zugeschriebene Bonmot findet man in jeder Sprache zu Hauf. So bedeutet die Vorsilbe un- im Deutschen meistens eine Verneinung
(unwahr, unschön etc.), sie kann aber auch für das pure Gegenteil stehen, wenn man z. B. im Lotto eine Unsumme
gewinnt, oder generell eine Steigerung irgendeiner «Qualität» bis zur Unmässigkeit bezeichnen. So auch beim
Unfall, der leider nicht ein (glückliches) Nicht-Fallen, sondern meistens einen kapitalen Sturz beschreibt. Allerdings muss man für einen Unfall im Sinne des Versicherungsrechts überhaupt nicht umfallen; dieses umschreibt
den Unfall als Körperschädigung durch eine plötzlich und unfreiwillig einwirkende äussere Gewalt. Unfall ist also
der überfallmässige, aus «heiterem Himmel» auf einen herabfallende «Schicksalsschlag». Dass Extremsportler
sich oft freiwillig zumindest einem grossen Risiko eines solchen unfreiwilligen Schadens aussetzen, führt gelegentlich dazu, dass die Versicherungsleistung in solchen Fällen für die Betroffenen oft unerfreulich stark gekürzt
wird, was aus der Sicht der mitzahlenden Solidargemeinschaft aber nicht als unbillig erscheint – ja eine ungekürzte Leistung würde geradezu als Unfall des Versicherungswesens gewertet.
xamba
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