„An unseren Werken sollen sie uns erkennen“

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„An unseren Werken
sollen sie uns erkennen“
Auch journalistische Ethik
wird erst in der Anwendung glaubwürdig
von Manfred Protze
Unsere Gesellschaft wird mehr und mehr nach Marktregeln organisiert. Auch
die Medien. Das Organisationsprinzip des Marktes hat beim Austausch von
Gütern und Dienstleistungen überzeugende Vorteile im Vergleich zu obrigkeitsstaatlich regulierten und bürokratisch exekutierten Verfahren. Es hat jedoch auch
gravierende Schwachstellen. Fragen der Gerechtigkeit und der Humanität kann
der Markt nicht beantworten. Er bringt auch keine Maßstäbe für die Schutzwürdigkeit und Hilfsbedürftigkeit von Schwachen, Kindern, Jugendlichen, Alten und
Kranken hervor. Barmherzigkeit kennt er ebenso wenig wie Nächstenliebe oder
Solidarität. In seiner Grundkonstruktion funktioniert der Markt darwinistisch.
Erfolg und Misserfolg werden in monetären Größenordnungen bestimmt.
Für die Medien gilt grundsätzlich das Gleiche. Auch wenn wir ihnen aus guten
Gründen in einem aus Erfahrung entwickelten Konsens eine deutlich größere
Bedeutung für das öffentliche und allgemeine Wohl zuordnen als anderen marktfähigen Gütern und Dienstleistungen. Wahrhaftigkeit als Schutz vor kollektiver
und persönlicher Irreführung und Täuschung, Achtung von Würde und Privatsphäre, Schutz vor kollektiver und persönlicher Diskriminierung. Das sind Maßstäbe, die der Medienmarkt nicht von sich aus hervorbringt. Mit dem Ziel, die
Blicke und auch die Kaufentscheidung möglichst vieler Konsumenten auf das
eigene Produkt zu lenken, geraten nicht-monetäre Werte unter Druck und häufig
auch unter die Räder. Und mit den Werten auch Menschen.
Was tun? Den Markt abschaffen und durch Zuteilungsverfahren ersetzen? Das
wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts niemand ernsthaft in Erwägung ziehen.
Zumal staatlich organisierte Verteilungsverfahren sich in der Geschichte gerade
nicht als Garanten für Grundwerte erwiesen haben. Es bleibt ersichtlich nur ein
Weg: Wir sollten die Marktregeln durch soziale und humane Regeln ergänzen,
deren Gesamtheit wir Ethik nennen. Dabei sollten wir darauf achten, dass wir für
diese Ethik einen Konsens im beruflichen und gesellschaftlichen Diskurs finden.
Das erhöht die Durchsetzungsfähigkeit und die Anpassungsfähigkeit an gesell-
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schaftliche Entwicklungen. Dem Staat sollten wir und müssen wir jene Regelungen überlassen, deren Durchsetzung vorerst nur mit repressiven Mitteln gelingt.
Das sprachliche Pendant zu Wahrhaftigkeit ist Glaubwürdigkeit. Sie spielt bezogen auf die Medien eine doppelte Rolle. Zum einen wird das, was wir an Maßstäben und Regeln für die publizistische Arbeit formuliert und öffentlich akzeptiert
haben, erst mit der Umsetzung in der täglichen Praxis glaubwürdig. An unseren
Werken sollen sie uns erkennen, könnte das selbstverpflichtende Postulat lauten.
Glaubwürdigkeit ist zugleich das zentrale Kapital der Medien und der bei ihnen
Beschäftigten. Erodiert die Glaubwürdigkeit, wird dauerhaft auch die ökonomische Basis der Publizistik zerstört. Von ökonomisch erfolgreichen hohen Auflagen
und Quoten so genannter Unterhaltungsmedien sollten wir uns dabei nicht täuschen lassen. Sie haben – wie das Theater, der Zirkus und die fiktionale Literatur
– seit je ihren eigenen Markt. Bei einer undeklarierten Vermischung der Genres
bleibt nur das auf der Strecke, was Glaubwürdigkeit und Orientierungswert für
sich beansprucht.
Ideal wäre eine widerspruchsfreie Allianz von Markt und Ethik. Und warum
sollte es eine bloße Utopie sein, dass künftig immer mehr Menschen Geld bevorzugt für solche Medien ausgeben, die im jeweiligen Produkt ethisch stets das einlösen, was sie kollektiv und individuell öffentlich versprochen haben?
Der Pressekodex des Deutschen Presserats ist die verbindliche ethische Qualitäts-Zusage einer ganzen Branche. Die Verleger von Zeitungen und Zeitschriften
sowie die beiden großen Journalistengewerkschaften in Deutschland haben diese
Qualitätsstandards entwickelt und sich zu eigen gemacht. Das ifp gehört zu jenen
Journalistenschulen, die mit dem Presserat der Auffassung sind, dass die praktische Umsetzung ethischer Standards wesentlich von ihrer Verankerung in der
Berufsausbildung von Journalisten abhängt. Beide arbeiten daher auf diesem Feld
eng zusammen. Begründbar und wünschenswert wäre eine Ausdehnung dieser
Kooperation auf die berufliche Fort- und Weiterbildung. Auch Berufs-Ethik
bezieht ihre Überzeugungskraft und Akzeptanz von der ihrer Bestätigung und
Weiterentwicklung im Diskurs mit der Alltagspraxis.
Dieses Buch soll Anregungen für die Umsetzung geschriebener Ethik im Redaktionsalltag geben. Es versucht, die oft als zu groß empfundene Lücke zwischen
Alltagsanforderungen und Leitbildern überwindbar zu machen. Es will zugleich
einen Beitrag leisten, die Auseinandersetzung mit Ethik aus der jeweils individuellen Vergewisserung in einen verbindlichen kollegialen Diskurs zu überführen.
Manfred Protze ist dpa-Redakteur und Vorsitzender des Beschwerdeausschusses (Kammer 1) des Deutschen Presserats.
IFP, Ethik im Redaktionsalltag. ISBN 978-3-89669-469-0
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Die Fakten
und die Quoten
Der schmale Grat, auf dem sich
Journalisten oft bewegen müssen
von Roger Gerhardy
Dabei ist das ganz einfach mit dem Journalismus: Man schaut, was auf der Straße oder jenseits des Kirchturms los ist und veröffentlicht das. Fertig. Die klassische Variante dieses Berufs verkörperte unser dörflicher Gemeindediener, der vormittags durch die Gassen bummelte, mit einer Bimmel auf sich aufmerksam
machte und den Leuten die – zumeist vom Bürgermeister abgesegneten – dörflichen Neuigkeiten zurief. Dann ging er nach Hause, mit sich zufrieden und stolz
auf seine Bedeutung für das Gemeinwesen.
Bis eines Tages aus einer Seitengasse ein Konkurrent auftauchte, ausgestattet mit
einer lauteren Bimmel und bunteren Gewändern. Der begnügte sich nicht mit
den Bonbons vom Bürgermeisteramt, sondern erzählte den Leuten – an den offiziellen Schreibtischen vorbei – Sachen, die sie nicht für möglich gehalten hätten.
Von den veruntreuten Mitgliedsbeiträgen durch den Dirigenten vom Männergesangsverein wusste er ebenso viel wie von den aushäusigen Vaterfreuden des
Grundschuldirektors. Die Intrigen des örtlichen Bauunternehmers bei der Vergabe von Bauplätzen waren ihm ebenso geläufig wie die Spielschulden des Dorfbäkkers. Obendrein wusste er genau, wann es lukrativer war zu schweigen statt zu
reden. Außerdem hatte er immer Zeit für einen Schwatz unter der Dorflinde und
einen Umtrunk im Schützenhaus. Kontaktpflege nannte er das. Darob vereinsamte der alte Gemeindediener. Nur ab und zu lauerte er dem Neuen, Freischaffenden
auf, wenn sich das Publikum verstreut hatte, um mit ihm heftig über die ethischen Grundsätze dieses altehrwürdigen Berufsstandes der Nachrichtenübermittler zu streiten.
Und da sie nicht gestorben sind, leben und hadern sie noch heute: Wie weit
darf man gehen, um an Neuigkeiten zu kommen? Darf ich den Namen eines Tatverdächtigen nennen, bevor ein Gerichtsurteil ergangen ist? Darf ich eine Meldung herausgeben, die nur halb abgesichert ist, nur um der Konkurrenz zuvorzukommen? Ist es nicht unkollegial, nach dem Prinzip der verbrannten Erde zu
recherchieren, sodass nie wieder ein Journalist sich auf dem von mir betretenen
Terrain bewegen kann, ohne auf heftige Aggressionen zu stoßen? Darf man sein
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Publikum durch das Absenken des inhaltlichen Niveaus ausdehnen? Ist das nicht
eine Verachtung des Publikums, ihm derart zu signalisieren, für wie geistig minderbemittelt man es einschätzt? Kurz: Muss ich Respekt haben sowohl vor den
Leuten, über die, wie auch vor denen, für die ich schreibe und sende?
Der „Deutsche Presserat“ wie auch das „ifp – Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses“ stellen sich von unterschiedlichen Positionen aus derselben
Aufgabe: einen fairen und verantwortungsbewussten Journalismus zu fördern.
Dieses Buch über „Ethik im Redaktionsalltag“ ist dazu ein wesentlicher Beitrag.
Da journalistische Ethik anhand konkreter Fälle lebendiger und nachhaltiger diskutiert werden kann als durch das abstrakte Studium des Presserechts – obwohl
das damit nicht herabgemindert werden soll – , wurde hier eine Fülle entsprechenden Materials zusammengetragen. Es beschäftigt sich nicht vorrangig mit
den Problemen der großen und überregionalen Zeitungen, sondern zeigt Situationen, in denen sich auch junge Journalisten manchmal unsicher fühlen. Dies zeigen unsere Erfahrungen bei der überbetrieblichen Fortbildung von Volontären in
der katholischen Presse und Volontären an Tageszeitungen. Wie geht man mit
Pressegeschenken um? Wie ernst hat man Sperrfristen zu nehmen? Worauf ist bei
lokaler Wirtschaftberichterstattung zu achten? In den aufgeführten Fällen liefern
zahlreiche Expertentipps und Hinweise aus den Redaktionen weiterführende
Anregungen zur Diskussion und Festigung der eigenen Meinung.
„Fehler zu machen, ist unvermeidlich“, heißt es in diesem Buch, „nichts daraus
zu lernen ist unverzeihlich.“ Das gilt auch für renommierte Kolleginnen und Kollegen, die im ersten Teil ihre entsprechenden Erfahrungen schildern; nicht mit
einer spektakulären Selbstenthüllung, sondern um die Schmalheit des Grates zu
zeigen, auf dem sich Journalisten zuweilen bewegen, bewegen müssen.
Die Rahmenbedingungen der Presselandschaft haben sich in den vergangenen
Jahren rapide verschlechtert. Verschärfter Wettbewerb, Zeitdruck, Personalmangel
haben die Voraussetzung für eine ethische Reflexion dieses Berufsstandes nachhaltig erschwert. Doch gerade die wäre in der Öffentlichkeit gefordert, denn das
Ansehen der Journalisten sinkt infolge der Zunahme an Verstößen gegen die
Grundsätze eines fairen Umgangs mit den Fakten. Je früher sich Journalisten mit
ethischen Fragen für ihr tägliches Verhalten auseinander setzen, desto größer werden die Chancen, verantwortungsbewussten Journalismus zu erleben.
Vielleicht kommen wir wieder dahin, dass nicht der Gemeindediener mit der
größeren Glocke auch das zahlreichere Publikum hat; denn die Hoffnung, dass
letztlich Qualität sich durchsetzt, sollte nicht sterben.
P. Roger Gerhardy OSA ist Direktor des ifp in München.
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Hinweise
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Hinweise zum Arbeiten mit diesem Buch
Bei der Gliederung des Arbeitsbuches „Ethik im Redaktionsalltag“ haben wir
uns an der realen Entstehung eines journalistischen Beitrags (Text und Bild) orientiert: Am Anfang steht die Vorarbeit zur Informationsbeschaffung (Kapitel 1:
Recherche), danach folgt die Sammlung oder Aufbereitung für die Informationsvermittlung (Kapitel 2: Veröffentlichung) und schließlich die Nachbereitung
(Kapitel 3: Nach der Veröffentlichung). Die von uns gewählte Gliederung soll insbesondere jungen, mit ethischen Fragestellungen unerfahrenen Journalisten das
Verständnis und das Wiederauffinden von typischen Problemfällen des Redaktionsalltags erleichtern. Sie weicht daher von der historisch gewachsenen Systematik
des Pressekodex ab, der im Anhang abgedruckt ist.
Ethisches Urteilen von Fall zu Fall
Bei allen hier aufgenommenen Beispielen handelt es sich um reale Vorfälle aus
der journalistischen Praxis. Immer haben sich Leserinnen und Leser von Zeitungen oder Zeitschriften beim Deutschen Presserat über die Veröffentlichung
beschwert. Ob nach Meinung des Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats
zu Recht oder Unrecht, lässt sich am Ende eines jeden Kapitels nachlesen. Hier
findet man die Begründungen für die Urteile des Beschwerdeausschusses. Möglicherweise kann nicht jeder Leser den Entscheidungen voll zustimmen. Dies liegt
zum Teil in der Natur der Sache, da ethisches Empfinden erhebliche Ermessensspielräume zulässt. Wo nach Wahrnehmung des einen bereits die Persönlichkeitsrechte eines Menschen angetastet sind, stellt sich nach Einschätzung des anderen
ein Ereignis gänzlich anders dar – so geschehen etwa anlässlich der veröffentlichten Fotos von Sterbenden am 11. September 2001.
Innerhalb jedes Kapitels finden sich zuerst die Fallbeispiele, Stellungnahmen
der Redaktion, die entsprechenden Ziffern und Richtlinien des Pressekodex sowie
Anregungen zur Diskussion. Am Ende des Kapitels sind die Entscheidungen des
Presserats zum Fall als Lösungen aufgeführt. Die Fallbeispiele werden ergänzt
durch zusätzliche „Hinweise aus dem Redaktionsalltag“ (die mit !!! gekennzeichnet sind) und um „Notizen aus der Anwaltskanzlei“ (§§§).
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Hinweise
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Hinweis, Missbilligung, Rüge
Der Presserat verfügt über verschiedene Maßnahmen, mit denen er Verstöße
gegen den Pressekodex oder Verletzungen der journalistischen Pflichten ahnden
kann. Mit den Ausdifferenzierungen „Hinweis“, „Missbilligung“ und „öffentliche
Rüge“ bzw. „nicht-öffentliche Rüge“ drückt er die jeweilige Schwere des Vergehens aus.
Bei einem geringen Verstoß gegen den Pressekodex spricht der Presserat einen
so genannten „redaktionellen Hinweis“ aus, der die Redaktion auf einen Fehler
hinweisen soll. Die „Missbilligung“ ist im Ton schon schärfer und sagt aus, dass
der Beschwerdeausschuss ausdrücklich missbilligt, was die Zeitung oder Zeitschrift veröffentlicht hat. Eine „Rüge“ wird dann ausgesprochen, wenn ein massiver Verstoß gegen den Pressekodex festgestellt wird. Hier wird zwischen „öffentlichen“ und „nicht-öffentlichen Rügen“ unterschieden. Eine „öffentliche Rüge“
soll von dem gerügten Organ auch abgedruckt werden, bei einer „nicht-öffentlichen Rüge“ muss die Zeitung diese nicht abdrucken. Die Maßnahme wird meist
aus Opferschutzgründen gewählt, um ein Opfer einer Berichterstattung nicht
erneut zum Gegenstand einer Darstellung zu machen.
Im Sinne der Selbstverpflichtung sind rund 90 Prozent aller Verlage in Deutschland freiwillig die Verpflichtung zum Abdruck einer „Rüge“ eingegangen und
veröffentlichen diese in nahezu allen Fällen auch. Die Leser sollen von einem
Fehlverhalten der Redaktion erfahren. Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass der
Presserat keine gesetzliche Instanz ist, somit nicht Richter, sondern kollegialer
Ratgeber sein möchte, mit dem Ziel, ein übergreifendes journalistisches Berufsethos zu etablieren.
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