Rezensionen Ethik Med 2005 · 17:73–73 DOI 10.1007/s00481-004-0344-8 Online publiziert: 18. Januar 2005 © Springer Medizin Verlag 2005 Urban Wiesing (Hrsg) (2004) Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Philipp Reclam jun., Stuttgart, 455 Seiten, ISBN 3-15-018341-3, 9,60 € Während im englischsprachigen Raum zahlreiche medizinethische Lehr- und Studienbücher vorliegen, sind bisher nur wenige deutsche Lehrbücher zur Ethik in der Medizin erschienen. Der Tübinger Medizinethiker Urban Wiesing bereichert das Angebot mit dem „reader“ Ethik in der Medizin, der in zweiter überarbeiteter und erweiterter Auflage im Reclam Verlag erschienen ist. Das Buch ist in 5 thematische Kapitel gegliedert, die (mit Ausnahme des Einführungskapitels) alle einen Einführungstext mit sich anschließenden Auszügen aus verschiedenen Fachtexten enthalten. Hierbei wurden nicht nur wissenschaftliche Fachartikel aus der deutschen und internationalen medizinethischen Literatur berücksichtigt, sondern auch Stellungnahmen ärztlicher Organisationen und Fachgesellschaften, Kirchen und anderer Institutionen. Bei der Auswahl der Texte wurden namhafte Autorinnen und Autoren berücksichtigt, und es wurde darauf geachtet unterschiedliche, zum Teil kontroverse ethische Positionen darzustellen. Dabei profitiert der Leser von der sorgfältigen Textauswahl und Übersetzung der fremdsprachlichen Originalquellen. Das dargestellte Themenspektrum orientiert sich an den speziellen Lehrzielen für Medizinethik im Medizinstudium der Akademie für Ethik in der Medizin und behandelt die folgenden Themen: hippokratischer Eid, Medizin im Nationalsozialismus, ärztliche Berufsordnung, Arzt-Patient-Verhältnis und informiertes Einverständnis, Forschung am Menschen, Schwangerschaftsabbruch, Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie, Sterbehilfe, Mittelverteilung im Gesundheitswesen, Transplantationsmedizin, Todesbegriff und Hirntodkriterium, Humangenetik, Reproduktionsmedizin sowie Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Sämtliche Kapitel sind praxisorientiert ausgerichtet und geben einen kompetenten und knappen Einblick in die aktuellen Problemfelder der Medizinethik. Besonders werden hierbei das fun- dierte und gleichzeitig allgemeinverständliche Einführungskapitel sowie die Einführungstexte zur Sterbehilfe und zur Mittelverteilung im Gesundheitswesen genannt. Der kommentierte Reader füllt eine bisherige Lücke auf dem deutschsprachigen Buchmarkt und kann die Vorbereitung von medizinethischen Lehrveranstaltungen, insbesondere für den noch wenig erfahrenen Medizinethikdozenten, erleichtern. Aber auch über das Medizinstudium hinaus eignet er sich als kommentierte Sammlung ausgewählter Auszüge aus medizinethischen Fachtexten für den Ethikunterricht anderer Gesundheitsberufe und den allgemein interessierten Leser. Hierzu mögen neben der gelungenen Textauswahl und Kommentierung auch die Aufnahme in die weithin bekannte Reclam-Universal-Bibliothek und der günstige Preis beitragen. Jochen Vollmann, Erlangen Ethik Med 2005 · 17:73–75 DOI 10.1007/s00481-004-0347-5 Online publiziert: 18. Januar 2005 © Springer Medizin Verlag 2005 Nicole C. Karafyllis (Hrsg) (2003) Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen. Mentis, Paderborn, 295 Seiten, ISBN 3-89785-384-1, 32,00 € „Biofakte sind phänomenologisch betrachtet Lebewesen, weil man sie wachsen sieht und sie wie traditionelle Bekannte aussehen, aber sie sind in ihrem Wachsen und Werden nicht autonom, d. h. eigengesetzlich. Der Kern ihrer Wesenhaftigkeit, die ersten Wachstumsbedingungen, wurden verändert.“ Es ist eine alte Frage philosophischer Reflexion: „Was ist der Mensch“? Angesichts aktueller technologischer Innovationen stellen sich nicht nur normative, also ethische Fragen, sondern auch Fragen, die das Wesen, die Identität des Menschen als Spezies betreffen. Der Mensch „als Hybrid zwischen Techniknutzer und Naturwesen“ ist in seiner Naturhaftigkeit, also insbesondere Ethik in der Medizin 1 · 2005 | 73 Rezensionen seiner Körperlichkeit nicht dem Zugriff seiner eigenen Technologien entzogen. Er vermag diese ja durchaus auch auf sich selbst anzuwenden, z. B. im Rahmen der modernen Reproduktions- oder Transplantationsmedizin. Diesem neuartigen Eingreifen in die Natur, und so vor allem in das Werden des Menschen selbst, will Nicole Karafyllis in dem von ihr herausgegebenen Sammelband nachgehen. „Biofakte“, die Herausgeberin gibt dem Leser im Titel diesen Begriff vor und erläutert ihn im ersten einleitenden Beitrag wie folgt: „Der Begriff ‚Biofakt‘ besteht aus einer Verbindung der Wörter ‚Bio‘ und ‚Artefakt’. Artefakte sind künstliche, ersonnene und erschaffene Objekte. ...Biofakte sind biotische Artefakte, d. h. sie sind oder waren lebend.“ Es sind mit Biofakten also Objekte gemeint, die einerseits durch ihre Lebendigkeit, und hier besonders durch ihr Wachstum, und andererseits durch ihre technische Zugerichtetheit bestimmt sind. Damit sind jedoch nicht die schon seit wohl jeher bestehenden, durch bloße Kulturalisierung der Natur entstandenen Objekte der Pflanzen- und Tierzüchtung gemeint. Denn durch Züchtung, durch gezielte Selektion, kann der Mensch zwar in eingeschränktem Sinne die Entwicklung bestimmter Objekte beeinflussen, in ihrem Wachstum, dem Ursprung ihrer Naturwüchsigkeit aber bleiben auch Züchtungsobjekte autonom. Die Neuartigkeit eines Biofaktes besteht erst darin, die Bedingungen seines Wachstums dem menschlichen Handeln allererst zu verdanken. Damit beginnt der Mensch in unserer Zeit die für ihn vormals klaren Grenzen zwischen dem Natürlichen als dem, was seine Ursache in sich selbst hat, und dem Technischen als dem, was seine Ursache im Menschen hat, zusehends zu verwischen. Es gelingt heute einerseits, etwa durch Computerprogramme, natürliche Phänomene, wie Wachstum, Selektion, nahezu hinreichend zu simulieren, andererseits können biologische Systeme zu eigentlich unnatürlicher Produktion gebracht werden (z. B. Insulin aus E. coli/Saccharomyces). Und dies zeigt auch schon eine der Gefahren der „biotechnischen Einflussnahme auf das Wachstum“. Eine der menschlichen Kontrolle unterliegende Produktion unterliegt stets auch der Möglichkeit menschlicher Optimierung und Normierung. Und durch die oben bereits beschriebene Anwendung biotechnischer Verfahren auf den Menschen selbst, z. B. im Rah- 74 | Ethik in der Medizin 1 · 2005 men moderner Reproduktionsmedizin, kommt es zur Existenz erster menschlicher Biofakte, wie etwa durch In-vitro-Fertilisation und ähnlich gezeugte Kinder. Der hier schon aufgezeigten Bedeutung, den ethischen und soziokulturellen Konsequenzen dieser Entwicklungen, versuchen auch die anderen Aufsätze des Sammelbandes nachzugehen. So vielfältig wie bereits heute Zahl und Art der uns begegnenden Biofakte sind, so vielfältig stellen sich diese 5 Aufsätze denn auch dar. Dabei gliedern sich die Beiträge in 4 Themenfelder. Unter dem Stichwort „Vision und Reproduktion“ beschäftigen sich Gisela Engel (Frankfurt/M), Hannimari Jokinen, Gordon Uhlmann (Hamburg), Hille Haker (Harvard, USA) und Peter Wehling (Augsburg) mit der Optimierung des Menschen, seines Körpers in literarischer Utopie, Kunst und Sport. Die Beiträge von Rudolf Kötter (Erlangen), Gotlind B. Ulshöfer (Frankfurt/M.) und Malte-Christian Gruber (Frankfurt/M.) stellen sich dem Thema der „Rekonstruktion und Regeneration“ unter wissenschaftstheoretischer, ökonomischer und rechtlicher Sichtweise. Dabei beleuchten sie u. a. so wichtige Begriffe wie „Wachstum“, „ökonomische Rationalität“ und die Frage der „Potenzialität“. Das Thema der „Transplantation und Animation“ wird von Hans Werner Ingensiep (Essen), Silke Schicktanz (Münster) und Gregor Schiemann (Tübingen) unter den Blickwinkel der Überschreitung von Organismus bzw. speziesüberschreitenden Wachstumsprozessen, etwa durch „Verpflanzung“ betrachtet. Im letzten Themenkomplex „Programmierung und Lebenserfahrung“ schließlich geht es den Autoren und Autorinnen Oliver Deussen (Konstanz), Martina M. Keitsch (Trondheim, Norwegen), Paul B. Baltes (Berlin) und Ingeborg Bellmann (Frankfurt/ M.) um Fragen der Natürlichkeit oder Künstlichkeit von Wachstumsprozessen und die Bedeutung des Phänomens Wachstum für die eigene Lebensentwicklung. Nicole Karafyllis präsentiert eine, insbesondere durch die inhaltliche Klammer „Biofakte“, für die Ethik in der Medizin interessante und insgesamt lesenswerte Aufsatzsammlung. Mit dem wachsenden Fortschritt in der Reproduktionsmedizin und der Gentechnologie und den damit verbundenen neu geschaffenen Möglichkeitsräumen des Eingreifens in das Werden des Menschen werden die in diesem Buch behandelten klassischen The- men der philosophischen Anthropologie (Was ist der Mensch?) gerade für die Medizin fruchtbar. So ergeben sich etwa neue Aspekte für die Diskussion, welches Menschenbild in der modernen Medizin vorherrschend ist und wie Menschenbilder von der Medizin und den durch sie ermöglichten neuen Handlungsoptionen beeinflusst werden. Außerdem zeigt sie auch Schnittpunkte zu verwandten, biowissenschaftlichen Disziplinen und zu weniger verwandten auf. Demjenigen, der sich einer Betrachtung des Menschen in einer zeitgenössischen Perspektive nähern möchte, wird dieses Buch wärmstens empfohlen. Stefan Siegel, Erlangen Ethik Med 2005 · 17:75–75 DOI 10.1007/s00481-005-0357-y Online publiziert: 1. Februar 2005 © Springer Medizin Verlag 2005 Urban Wiesing (Hrsg. in Verbindung mit Gisela Bockenheimer-Lucius, Eduard Seidler und Georg Marckmann) (2003) Diesseits von Hippokrates. 20 Jahre Beiträge zur Ethik in der Medizin im Ärzteblatt Baden-Württemberg. Gentner Verlag, Stuttgart, 411 Seiten, ISBN 3-87247-615-7 Die Diskussion um Ethik in der Medizin hat in den vergangenen 20 Jahren Fachkreise und Öffentlichkeit großenteils vehement bewegt. War mit der Verpflichtung auf den Eid des Hippokrates das ärztliche Ethos bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts allgemeine, wenig hinterfragte Richtschnur im Selbstverständnis der Mediziner wie in den Erwartungen der Kranken an den Arzt, so zeigt sich seither eine zunehmende Problematisierung ärztlichen Handelns in der ArztPatient-Beziehung, in der Umsetzung des rasant wachsenden Erkenntnisfortschritts in die Praxis, in der auch juristisch zu regelnden Einordnung in das wissenschaftlich und sozialstaatlich strukturierte Gesundheitssystem. Dieser expansiven Entwicklung entspricht die Ausweitung der „Ethik in der Medizin“ als Forschungs- und akademisches Lehrgebiet, einhergehend mit einer immer differenzierteren Professionalisierung der Aus- und Weiterbildung. Die hier vorgelegte Sammlung von über 70 Aufsätzen zu medizin-ethischen Fragen aus dem Ärzteblatt Baden-Württemberg aus den Jahren 98– 2003 spiegelt eindrucksvoll diese Entwicklung wider. Sie reicht von der Reflexion medizinischer Ethik als der durch den Erfahrungshintergrund geprägten, wertbezogenen Handlungsorientierung bis zu der gesetzlich geregelter Praktiken im Bereich der Reproduktionsmedizin (Präimplantations- und Pränataldiagnostik, In-vitro-Fertilisation, Schwangerschaftsabbruch) oder der Entscheidungen am Lebensende (Sterbehilfe, Euthanasie, Hirntod, Patientenverfügungen), von der Intensivmedizin bis zur Transplantation, von der Frage der Organspende anenzephaler Neugeborener bis zur evidenzbasierten Medizin. Die thematische Differenzierung wird auch von philosophisch untermauerter Theoriebildung begleitet. Es geht auch um die an Grundwerten, wie Menschenwürde, Lebensrecht, Gerechtigkeit, Personenschutz, ausgerichtete Diskussion um Gesetzesregelungen (Transplantations-, Embryonenschutz-, Stammzellgesetz u. a.) oder um die Güterverteilung im Solidar- und Subsidiarsystem unserer Gesundheitsökonomie. Es geht um die ärztliche Ethik im medizinischen Fortschritt („Abschied von Hippokrates?“) bis zum (kultur-)historischen Ort des Genfer Gelöbnisses, um Forschung am Menschen, um die Kompetenzentwicklung ethischer Urteilsbildung bis zur Institutionalisierung von Ethikkommissionen für die Forschung oder Beratung in der Alltagspraxis. Die Vielfalt der so prägnanten und jeweils den Kern des Problems treffenden Aufsätze (kaum einer ist über 8 Seiten lang) bietet dem jungen Leser wie dem alterfahrenen Arzt oder jedem in der medizinischen Betreuung und Versorgung kranker Menschen involvierten Helfer eine Fundgrube von Denkanstößen, Beratung, sachlicher oder moralischer Hilfe. Mit dem Nachdenken über die angesprochenen, meist existenziellen Fragen geht es aber auch um unser Selbst- und Menschenbild. So ist das Buch auch dem nicht im Berufsfeld der Medizin Tätigen wärmstens zu empfehlen. Den Herausgebern und dem Verlag des Ärzteblattes Baden-Württemberg ist für dieses äußerst anregende Buch zu danken. Klaus Gahl, Braunschweig Ethik in der Medizin 1 · 2005 | 75