Titelthema Soziale Netzwerke im virtuellen Zeitalter Wie Soziale Arbeit mit systematischen Netzwerkanalysen soziale Teilhabe fördern kann Individuelle Ressourcen zu identifizieren und daraus Unterstützung für von Krankheit, Behinderung und Pflegebedürftigkeit betroffene Menschen zu erschließen sind wesentliche Aufgaben Sozialer Arbeit im Gesundheitswesen. Der systematische Einsatz von Instrumenten der Netzwerkanalyse kann im Beratungsprozess zu einer besseren Einschätzung der im Einzelfall vorhandenen Netzwerke und so zu verbesserten sozialen Teilhabe beitragen. pervertierten virtuellen Freundschaften und der immer rasanteren Vernetzung im Internet sind die konkreten und realen sozialen Netzwerke bei Betroffenen hinsichtlich der Frage von Unterstützung, aber auch Belastung einzigartig. Diese Netzwerke verändern sich im Verlaufe des Lebens und erfordern von den Menschen immer wieder neue Adaptionen von Anpassungsmustern (Pauls 2004). Soziale Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag im Gesundheitswesen, indem sie kranken Menschen hilft, soziale Probleme zu überwinden und soziale Unterstützung aktiviert. Hierbei ist das Ziel, die Patientenautonomie weitestgehend wieder herzustellen. Der Begriff des sozialen Netzwerkes wird häufig in einem Atemzug mit so- Stephan Dettmers Es ist ein wichtiges Kriterium Sozialer Arbeit in der Beratungstätigkeit, die sozialen Bezüge von Klienten zu berücksichtigen. Dazu gehören auch die jeweiligen Interaktionsstrukturen innerhalb der sozialen Netzwerke (vgl. Dorfman 1996). Die Integration von „Konzepten des sozialen Netzwerkes und der Sozialen Unterstützung“ in die Sozialarbeitswissenschaft sind für Frietsch und Löcherbach (1995) absolut notwendig. Gerade im Zeitalter von zialer Unterstützung verwendet, allerdings handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Konzepte. Das soziale Netzwerk ist als Bezugsrahmen zu verstehen, in dem soziale Unterstützung lediglich ein Teilaspekt ist (vgl. Laireiter 1993). So wissen wir aus der Beratungspraxis, dass ein soziales Netzwerk durchaus für erkrankte Menschen belastend sein kann. Das Vorhandensein eines Netzwerkes ist somit noch keine ausreichende Bedingung für Soziale Unterstützung (Dettmers 2008). Historisch betrachtet ist der Begriff soziales Netzwerk unter anderem im Jahre 1954 durch den britischen Sozialanthropologen Barnes geprägt worden. Er hat die Knotenpunkte vergleichbar einem Fischernetz mit den Personen und die ver- Typologien sozialer Netzwerke (vgl. Haß 2002) Netzwerktyp 6 Untersuchungseinheit Totales Gesamtnetzwerk alle Beziehungen/Interaktionen in einer sozialen Einheit Partielles Gesamtnetzwerk Beziehungen/Interaktionen eines bestimmten Typs in einer sozialen Einheit Egozentriertes Netzwerk Beziehungen/Interaktionen einer fokalen Person zu seinen Netzwerkmitgliedern (Dyaden) und deren Beziehungen untereinander (Netzstruktur) Strukturnetzwerk Organisationen und Institutionen Forum sozialarbeit + gesundheit 1/2011 Foto: Knut W. , fotolia.com Der britische Sozialanthropologe Barnes verglich bereits 1954 die Personen eines sozialen Netzwerkes mit Knotenpunkten eines Fischernetzes. bindenden Netzstrukturen äquivalent zu den Interaktionen beschrieben (vgl. Jansen 2003, Laireiter 1993). Eine Aufgabe der Sozialen Arbeit kann es sein, im Netzwerk liegende Ressourcen zu identifizieren und somit kontinuierliche Hilfen zu mobilisieren, die bis dato nur von „professio- Netzwerksperspektive ist auch durch die „Flexibilität, Modernität und Innovationskraft“ zu begründen (Diller 2002). Diese spezifische Sicht auf gesundheitsrelevante Aspekte bei betroffenen Menschen kann auch helfen, die Folgen der modernen gesellschaftlichen Veränderungen für den Einzelnen neben der „Makroebene besser Eine Aufgabe der Sozialen Arbeit kann es sein, im Netzwerk liegende Ressourcen zu identifizieren und somit kontinuierliche Hilfen zu mobilisieren, die bis dato nur von „professionellen Helfern“ erbracht wurden. nellen Helfern“ erbracht wurden (Priller 1999). In der Klinischen Sozialarbeit ist dieser Ansatz mit Bezugnahme auf ihr Verständnis von der Person-in-ihrer-Welt eine lange währende Selbstverständlichkeit (vgl. Salomon 1926, Pauls 2004). Die Anziehungskraft der zu verstehen“ (Straus 2004). Soziale Probleme und Ressourcen von einzelnen Personen im Kontext zu ihrer natürlichen und sozialen Umwelt lassen sich für die Soziale Arbeit bestens mit der Einbeziehung der egozentrierten Netzwerke analysieren. Quantitative und qualitative Analysen egozentrierter Netzwerke Die Analyse egozentrierter Netzwerke kann mittels quantitativer oder qualitativer Verfahren erfolgen. Im ersten Fall stellt sich dann die Frage, wie man über quantitative Verfahren bestimmte Merkmale in dem jeweiligen Netzwerk herausarbeiten kann. Der Fokus kann dann insbesondere auf die unterschiedlichen Beziehungen innerhalb des Netzwerkes gelegt werden. Dorothea Jansen (2006) bietet dazu eine „Klassifikation von Relationseinheiten“ an. Dazu gehören: der Austausch von materiellen Gütern, der Austausch von nichtmateriellen Gütern wie Informationen, Erwartungen, Werten und Normen, „grenzüberschreitende Relationen“, d. h. unterschiedliche Netzwerkbildung durch mehrere Rollen von Netzwerkbeteiligten, instrumentelle sachliche Beziehungen, emotionale Beziehungen, 1/2011 Forum sozialarbeit + gesundheit 7 Titelthema machtfokussierte Beziehungen und Verwandtschaftsbeziehungen Damit erlaubt es sich außerdem, wesentliche Aspekte sozialer Probleme im Kontext der Kategorien „Ausstattung und Kommunikation/Austausch“ aufzuschlüsseln (Staub-Bernasconi 2004). Die Nutzung von qualitativen Verfahren wie beispielsweise Ecomaps als subjektorientiertes Visualisierungsund Erhebungsinstrument zur Darstellung der Interaktionsmuster zwischen Patienten und ihren Sozialsystemen erbringt wichtige neue Erkenntnisse, zumal auch die Erwartungen und Sichtweisen der Patienten entschlüsselt werden können (Dettmers 2009). Gleichzeitig können somit umfassende ethnografische Daten gewonnen werden. Grundsätzliche Ziele qualitativer Netzwerkanalysen lassen sich folgendermaßen beschreiben (vgl. Straus 2002): umfassende Illustration des Netzwerkes umfassende Analyse und Einschätzung von komplexen Strukturen mit Hilfe der Netzwerkanalyse Möglichkeit einer praktikablen und einfachen „Handhabung“, um einen „schicht- und sprachunabhängigen“ Einsatz zu gewährleisten Instrument möglichst mit „dialogischen Qualitäten“, also partizipatorischer Beteiligung der Klienten Aspekt der Selbstreflexion für die interviewte Person ist wichtig, da die sozialen Beziehungen dadurch besser strukturiert werden können Flexibilität ist in der Anwendung zu gewährleisten Netzwerkanalysen können zur Verbesserung der sozialen Teilhabe genutzt werden Die diagnostische Nutzung von Instrumenten zur Netzwerkanalyse erfolgt in der Beratungspraxis selten systematisch. Dabei zeigt sich, dass ein praxis- und forschungsorientier- 8 ter Einsatz dieser Instrumente zur besseren Einschätzung von egozentrierten Netzwerken viele Potenziale beinhaltet, ohne sich in Makro- bzw. Mikroperspektiven zu verlieren. Es könnte ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal Sozialer Arbeit sein, transparente und intersubjektiv validierte Netzwerkanalysen zur Verbesserung der sozialen Teilhabe von erkrankten Menschen zu nutzen. Allerdings ist die subjektive Aussage von Betroffenen über Veränderungen in ihren Netzwerken häufig geprägt durch das eigene Krankheitserleben. So sind bei der Bewertung des Krankheitszustandes häufig unterschiedliche Einschätzungen seitens der Patienten, Familienmitglieder oder auch beteiligter Gesundheitsfachberufe zu berücksichtigen (vgl. Hurrelmann 2000). Stephan Dettmers, M. A. ist Diplom Sozialarbeiter (FH) und Leiter Sozialdienst und Pflegeüberleitung am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel sowie Mitglied des DVSG-Vorstandes, 6 [email protected] Literatur Dettmers, Stephan (2009): Eco-Maps als Forschungsinstrument in der Klinischen Sozialarbeit. In: Pantucek, Peter/Röh, Dieter (Hrsg.): Perspektiven Sozialer Diagnostik: Über den Stand der Entwicklung von Verfahren und Standards. Berlin, München: LIT Verlag; S. 233–242. Diller, Christian (2002): Zwischen Netzwerk und Institution. Eine Bilanz regionaler Kooperationen in Deutschland. Leverkusen: Leske + Budrich. Dorfman, Rachelle A. (1996): Clinical Social Work. Definition, Practice and Vision. New York: Brunner/Mazel. Frietsch, Robert/Löcherbach, Peter (1995): Unterstützung als Handlungsansatz in der Sozialen Arbeit. In Ningel, R./Funke, W. (Hrsg.) Soziale Netze in der Praxis. Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie (Hogrefe), S. 40–53. 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