Einführung in die Geschichte der islamischen Länder II

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Einführung in die Geschichte der islamischen Länder II
Die Entstehung der salafīya
1
Einleitung: Der Orient und die Moderne
2
Europäisierung, nachholende Entwicklung und ihr Scheitern
2.1
Europa-Begeisterung
2.2
Autokratische Gegenbewegung: Abdülhamid II. (1876-1909)
2.3
Reaktionen auf zunehmende Schwäche der islamischen Länder
3
Modernisierung ohne Verwestlichung: al-Afġānī
4
Vorwärts zu den Altvorderen: Die arabische salafıya, Deoband
4.1
Rašīd Riḍā
4.2
Deoband
1
Einleitung: Der Orient und die Moderne
Ist der Orient – genauer: der islamische Orient – „modernefähig“? Manchmal hat
diese Frage auch eine andere Form, man fragt nach der Kompatibilität von Islam und
Moderne oder Islam und Demokratie, und knüpft daran besorgte Prognosen über die Zukunft
der arabischen oder insgesamt der islamischen Welt. Es wird darauf verwiesen, dass der
Orient, genauer: der islamische Orient, keine Aufklärung erlebt habe, und fügt dann die
Frage an, ob der Islam wohl „aufgeklärt“ werden könne; man verweist auf die christlichen
oder – historisch korrekter – christlich-jüdischen Wurzeln der europäischen Kultur und meint,
mit diesem Hinweis auch die Aufklärung integriert zu haben (wobei der teilweise vehement
antiklerikale und antireligiöse Charakter der Aufklärung eigenartigerweise so gut wie nie
erwähnt wird). Antipode dieser Vorstellung ist implizit eigentlich immer der Islam, der damit
von dem europäischen Projekt der Moderne ausgeschlossen wird.
All diese Fragen stellen heißt sie verneinen. Denn wer an der Moderne partizipiert, den fragt
man nicht, ob er „modernefähig“ sei. Wenn also derartige Fragen gestellt werden, steht im
Hintergrund mehr oder weniger explizit die Vorstellung, es gebe im Orient, genauer: im
islamischen Orient etwas, was sich der Moderne hartnäckig widersetzt. Und wenn die
Menschen im Orient, also genauer: die Muslime, nun doch an der Moderne teilhaben wollen
oder sollen, dann bedeutet das demzufolge, dass sie sich von diesem Etwas lösen müssen,
dass sie es abschütteln, sich davon befreien müssen, um sich zu modernisieren.
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Ist dieses Etwas etwa der Islam?
Betrachten wir noch einmal den Begriff der Moderne. Danach werde ich auf die vorgestellten
Modernisierungs-Pfade in der islamischen Welt eingehen (es gab vier Beispiele: Ägypten,
das Osmanische Reich, Iran, der kolonisierte Orient). Danach geht es mit der historischen
Darstellung weiter, wobei Reaktionen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur
Sprache kommen, sowohl staatliche (Abdülhamid II.) als auch intellektuelle, insbesondere
die Gründerväter der salafīya.
Begriff der Moderne (s.auch Vorlesung 6 mit einem Exkurs zur Begriffsbestimmung der
Moderne nach Ira M. Lapidus). Moderne ist gewiss nicht nur Technik und/oder Technologie,
und daher sind die in den Medien so gern gezeigten Gegenüberstellungen von Menschen in
„traditioneller“ Kleidung und technischen Einrichtungen so wenig aussagekräftig. Billard
spielende Saudis in ihren Gewändern, verschleierte Frauen vor chromblitzenden
Straßenkreuzern oder vor Internet-Bildschirmen, Kamele vor Bohrtürmen: Hier soll das
Kamel die Tradition, der Bohrturm die Moderne versinnbildlichen. Das ist zu primitiv.
Moderne ist eher schon in Zusammenhang zu bringen mit der individuellen Wahlfreiheit
zwischen diversen Lebensstilen, der Gründung der Gemeinschaft auf das Individuum, der
freiwilligen Zugehörigkeit von Individuen zu Gemeinschaften, aus denen sie sich auch wieder
herauslösen können. Und natürlich gehört ebenso dazu eine bestimmte
Wirtschaftsauffassung – der nicht umsonst „modern“ genannte Industrie-Kapitalismus – und
entsprechend auch die Gegenentwürfe, die diesen Kapitalismus ja bereits voraussetzen.
Ferner die dazu gehörenden Formen der gesellschaftlichen Willens- und Meinungsbildung
und so weiter, aber auch die Formen staatlichen Handelns; der moderne Staat greift sehr viel
tiefer in die Gesellschaft ein, misst, reguliert, sortiert, teilt ein und auf, und das in Bereichen,
in denen der Staat „früher“ nicht tätig war. Vormoderne Staaten hat man auf zwei
Tätigkeitsbereiche beschränkt gesehen: Sicherheit innen und außen und Rechtswesen mit
den zu beiden Tätigkeitsfeldern gehörenden Steuerapparaten; in der Neuzeit weiten sich
diese Aufgabenfelder beträchtlich aus. Besonders hervorgehoben wurde und wird die
Kontrolle über die Körper der Menschen als eine staatliche Tätigkeit (zuerst in eine Theorie
gefasst von Michel Foucault, z.B. in Surveiller et punir „Überwachen und Strafen“). Moderne
bedeutet also, dass die wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche dem Anspruch nach auf die
Grundlage rationaler Prinzipien gestellt werden; die Aufklärung, so Foucault, hat die
Freiheiten entdeckt, aber auch die Mechanismen der Disziplinierung entwickelt – beides im
Sinne der Rationalität. Als Basis der Institutionen sollen also immer Vernunftgründe benannt
werden können, die von allen vernunftbegabten Menschen nachvollzogen werden können.
Daraus ergibt sich auch der Universalismus der Moderne.
2
Europäisierung, nachholende Entwicklung und ihr Scheitern
2
Über die sich hieraus ergebenden Konsequenzen – der Übertragung eines und
desselben Entwicklungsweges auf alle möglichen Kulturen und Regionen – habe ich schon
gesprochen. Das Konzept der „nachholenden Entwicklung“ ist aus dieser Vorstellung der
bloßen Anwendung eines universalen Prinzips im regionalen Maßstab entstanden. Und nicht
nur in Europa, auch in den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens gab es viele
Denker und Politiker, die dieser Konzeption anhingen. Dies sind die Europäisierer der ersten
Stunde, etwa bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, die von einer wahren Euphorie für alles
Europäische erfasst waren. Dazu gehörten viele Tanzimat-Politiker im Osmanischen Reich,
ihre Entsprechungen in Ägypten wie der im Folgenden vorgestellte al-Ṭahṭāwī, aber auch
z.B. Amīr Kabīr, der Reformpremierminister Irans (1848-52). Während die erste Generation
(noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts) einfach die technisch-militärischen Errungenschaften
übernehmen wollte und so an Europa Anschluss zu finden hoffte, begriff man bald, dass dies
ohne weitgehende Anpassung – d.h. Übernahme – europäischer Institutionen, z.B. im
Rechtswesen, in der Organisation des Staatswesens, nicht gelingen würde. Hinzu kam in
manchen Fällen, in Ägypten früher, im Osmanischen Reich später, in Iran erst durch die
Tätigkeit ausländischer Gesellschaften, die Umorientierung der Produktion auf den
Weltmarkt, in der Praxis auf den Export in europäische und amerikanische Märkte. Ferner
wurde zum ersten Mal eine Öffentlichkeit geschaffen, die über die Zirkel der Gelehrten und
Literaten bzw. des Hofes hinausging, mit Hilfe der Einführung der Presse und des
Buchdrucks, auch in diesem Fall mit der charakteristischen Zeitverschiebung: Ägypten
zuerst, danach Istanbul, Iran zum Schluss. Umorientierungen im Bildungswesen entsprachen
diesen Schritten: Zunächst wurden Bildungsinstitutionen für den Bedarf der Armee
geschaffen (Ausbildung für die technischen Waffengattungen und für Militärärzte), später
kamen Einrichtungen für den Bedarf des Staatsapparats hinzu, später kam ein allgemeiner
gesellschaftlicher Bedarf zum Tragen. Diese dritte Stufe wurde in Iran nur unvollständig
erreicht.
Die kolonisierten Länder entwickelten sich im Grunde entlang der gleichen Linien, nur
wurden die entsprechenden Institutionen mit Orientierung auf die Einrichtungen der
kolonisierenden Metropole geschaffen, und oft gab es kulturelle Schranken, ganz wörtlich:
Grenzen, welche die Angehörigen der kolonisierten Gesellschaft nicht überschreiten
konnten, weder in sozialer noch – oft genug – in räumlicher Hinsicht. Eine eigenständige
Entwicklung war dort nicht möglich.
2.1
Europabegeisterung
Die Europabegeisterung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts möchte ich am
Beispiel eines Mannes vorstellen, Rifāʿa Rifʿat aṭ-Ṭahṭāwī (1801-1878). Er war von 1826 bis
1831 Imam der ersten ägyptischen Studienmission in Paris und hat auch später in den
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Diensten der Herrscher von Ägypten gestanden, insbesondere des Khediven Ismāʿīl (186379), dem Bauherrn des Suez-Kanals, einem besonders Europa-begeisterten Mann, dessen
Ziel es war, Ägypten zu einem Teil Europas werden zu lassen.
Für Ṭahṭāwī waren die Herrscher Ägyptens aus der Linie Muḥammad ʿAlīs wohlwollende
Monarchen, ohne deren Führung Ägypten nicht den Anschluss an den Fortschritt gefunden
hätte. Sie hatten, so Ṭahṭāwī, Ägypten aus seiner Isolation befreit, das Land an Europa
herangeführt. Die moderne Entwicklung sah er besonders in dem neu geschaffenen Zugang
zu europäischer Bildung; er benutzt den Gegensatz von „Unwissenheit“ und „Bildung“, wenn
er von europäischer Bildung spricht. So ist es auch konsequent, wenn er die immer
fortwährende Entwicklung – ein Prinzip der Fortschrittsgläubigkeit im 19. Jahrhundert – als
überragendes Prinzip anerkennt; die Herrscher haben die Aufgabe, diese Entwicklung zum
Nutzen des Landes voranzutreiben. Auch die Rechtsgrundsätze einschließlich der Šarīʿa
müssen sich dem Fortschritt anpassen. Neue Schichten von Gebildeten sind in die
Herrschaft einzubeziehen: Experten für Landwirtschaft, Industrie, Medizin. Das
Allgemeinwohl soll im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Herrschers stehen (das lässt sich
aus dem šarīʿa-gemäßen Prinzip der maṣlaḥa gut begründen, das so viel wie Allgemeinwohl
heißt und gelegentlich als Begründung angeführt wird, wenn die Entwicklung der
Rechtsgrundsätze zu wenig praktikablen Regelungen zu führen droht). Wissenschaft,
Bildung, Gewerbefleiß, Rechtlichkeit – das sind für Ṭahṭāwī die Garanten der fortschrittlichen
Entwicklung, und die Hoffnung, Ägypten könne, wenn es auf diesem Weg fortschreitet, eines
Tages „europäisch“ werden, ist dann natürlich gut begründet. Auch die beginnende koloniale
Penetration gerade Nordafrikas durch europäische Mächte, vor allem Frankreich, konnte
unseren Autor nicht wesentlich von dieser Position abbringen. Die europäischen Mächte
standen nun einmal für Wissenschaft und Fortschritt.
Diese Hoffnung, durch fleißige Anwendung derjenigen Prinzipien, die man als die spezifisch
europäischen Errungenschaften ansah und die demzufolge für die beobachtete europäische
Überlegenheit in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht als ursächlich betrachtet wurden,
auf den Stand der Europäer zu kommen, hatte Ṭahṭāwī nicht allein; er ist damit wie gesagt
lediglich ein Repräsentant einer ganzen Richtung von Autoren und Politikern in der
islamischen Welt, von Nordafrika bis Indien, die in seiner Generation gewiss eine Mehrheit
unter denjenigen stellte, die sich überhaupt über die Gesamtsituation Gedanken machten.
2.2
Autokratische Gegenbewegung: Abdülhamid II. (1876-1909)
Die politische Bewegung weg von immer größerer Anpassung an Europa hin zu
einem wieder autokratischen Stil kann man durch die Person des osmanischen Sultans
Abdülhamid II. veranschaulichen. Er kam 1876 an die Macht durch ein Komplott der
Konstitutionalisten; wie bereits dargestellt, bot er die Garantie, die neue osmanische
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Verfassung nicht nur zuzulassen, sondern aktiv zu unterstützen. Das war in den ersten
beiden Jahren seiner Regierung auch der Fall. Die dann folgenden katastrophalen
Niederlagen des Osmanischen Reiches auf dem Balkan führten dazu, dass er das neu
gebildete osmanische Parlament wieder auflöste und für den Rest seiner Regierungszeit
autokratisch herrschte. Sein Regime war auf der absoluten Macht des Sultans aufgebaut,
damit auch der Polizei und der Bürokratie; die Pressezensur wurde wieder schärfer
gehandhabt. Der Sultan spielte gleichzeitig die Karte des Kalifats, er betrachtete sich als
Oberhaupt aller (sunnitischen) Muslime und wurde als solches weitgehend anerkannt (nicht
zuletzt in den kolonisierten Gebieten Mittelasiens und Indiens sowie Indonesiens, wo es eine
muslimische Herrschaft nicht mehr gab, die als muslimische Autorität hätte fungieren
können). Dessenungeachtet kombinierte dieses Regime konservative islamische Züge mit
einer Weiterführung der Reformen in einem eher technischen Verständnis; neue Schulen
wurden gegründet, die Rechtsreform kam voran, und vor allem wurden Eisenbahnen gebaut
und neue Kommunikationswege geschaffen (Post und Telegraf). Auch das Militär wurde
weiter modernisiert, am Ende der Regierungszeit begannen die Osmanen mit dem Aufbau
einer modernen Kriegsflotte (die Schiffe wurden in Europa gebaut).
Die Maßnahmen zur Einführung einer Plantagen-ähnlichen Landwirtschaft mit
Exportorientierung (çiftlik) waren durchaus von Erfolg gekrönt. Seit 1838 hatte die
osmanische Wirtschaft, besonders die Landwirtschaft, sich in den Weltmarkt integrieren
müssen (die Zollregelungen waren so gestaltet worden, dass die Einfuhren in das
Osmanische Reich viel billiger wurden). Getreide, Wolle, (getrocknete) Früchte und Trauben,
Baumwollel, Tabak, Angora-Haare und andere landwirtschaftliche Produkte wurden
exportiert. Ein Schwerpunkt war – notgedrungen – Anatolien, die lange vernachlässigte
Region (immer hatten die osmanischen Sultane die europäischen Besitzungen auf dem
Balkan für wichtiger gehalten, nun waren diese zum großen Teil verloren gegangen). Bis
1913 stieg der Anteil Anatoliens an der landwirtschaftlichen Produktion des Osmanischen
Reiches auf 55% und machte damit 48% des Bruttoinlandsprodukts aus. Von den Exporten
waren 80 bis 85% landwirtschaftliche Produkte.
Diese technischen und teilweise ökonomischen Schritte zur weiteren Entwicklung des
Landes waren jedoch eben von der erwähnten autokratischen politischen Linie begleitet.
Dazu gehörte auch die erneute Betonung des islamischen Charakters der osmanischen
Herrschaft. In den vorangegangenen Reformperioden waren die Sonderregelungen für NichtMuslime (Christen und Juden) auf Druck der europäischen Mächte allmählich aufgehoben
worden, in den 1850er und 1860er Jahren gab es das Projekt einer allgemeinen
osmanischen Staatsangehörigkeit und Loyalität. Seit 1867 konnten Christen in höhere
Staatsämter aufsteigen; 1863 erhielten die Armenier das Recht, eine eigene Versammlung
mit einer Mehrheit von Nicht-Klerikern zu gründen, die Regierung veranlasste, dass die
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Griechisch-Orthodoxen Christen ebenfalls eine solche Versammlung bildeten; die
bulgarische Orthodoxie wurde aus dem Gesamtverbund der griechisch-orthodoxen Kirche
herausgelöst. Die religiöse Differenz sollte keine Schranke mehr zwischen den Untertanen
bzw. zunehmend Bürgern des Osmanischen Reiches sein.
Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Christen, Drusen und Muslimen 1860-61 in
vielen Städten Syriens und des Libanon wurden auch darauf zurückgeführt, dass durch diese
Versuche, Christen und Muslime gleichzustellen, am Ende ein Übergewicht der Christen
(weniger der Juden) drohe; dies hat zunächst die Weiterführung der Reformen nicht
verhindert.
Ein Umdenken setzte aber ein, als das Projekt der Gesamt-Osmanischen Loyalität offenbar
gescheitert war. Die Völker des Balkans formierten sich zunächst als „KonfessionsNationen“: Gemeinsamkeit suchen die frühen Nationalisten in der gemeinsamen
Zugehörigkeit zu einer Kirche; das ist dann einfacher und näherliegend, wenn diese Kirchen
– wie in der Orthodoxie gängig – autokephal sind, also eine eigene Hierarchie haben, die
vom Patriarchen in Istanbul entweder gar nicht oder nur sehr locker abhängt. Diese
Konfessionsnationen (das klassische Beispiel ist Rumänien) werden erst sehr allmählich mit
„nationalistischem“, auch säkularem Inhalt gefüllt, man entdeckt die Sprache als Instrument,
beginnt, in dieser Sprache zu schreiben, entwickelt ein eigenes Alphabet, sammelt
Überlieferungen (Folklore: Märchen, Lieder) und konstituiert um all dies herum einen eigenen
diskursiven Raum; dies alles ist Voraussetzung für die Forderung nach staatlicher
Unabhängigkeit.
Abdülhamid hat aus den zunehmenden Spannungen zwischen Christen und Muslimen im
asiatischen Teil des Reiches, der enorm beschleunigten Loslösung der christlichen Völker
auf dem Balkan aus dem Verband des Osmanischen Reiches und der immer schneller
zunehmenden militärischen Schwäche des Reiches die Konsequenz gezogen, dass die
Politik der Liberalisierung, des Konstitutionalismus und der Gesamt-Osmanischen Identität
gescheitert ist.
Mit seiner Unterstützung des Panislamismus und dann in den 1890er Jahren den ersten
Massakern an Armeniern hat er in den westeuropäischen Ländern das Bild des
orientalischen Despoten – nicht modernefähig, nicht demokratiefähig – bedient.
Die Armenier-Massaker sind ebenfalls in dieser Phase ein Ausdruck der Spannung zwischen
Muslimen und Christen im Osmanischen Reich. Ähnlich wie in den Balkan-Ländern wuchs
auch in Armenien die nationale Bewegung, zunächst wiederum in Form einer KonfessionsNation, aber bald mit auch säkular-politischen Formen. Wie weit diese Bewegung von
Russland unterstützt wurde, ist eine offene Frage; berücksichtigt werden muss, dass die
radikaleren armenischen Gruppen auch in Russland illegal waren und auch dort verfolgt
wurden.
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Die nationale Bewegung der Armenier nahm von 1890-97 auch militante Formen an, dazu
gehören Anschläge auf osmanische Beamte. Die Regierung Abdülhamids war in den von
Armeniern bewohnten Provinzen des östlichen Anatolien nicht sehr gut präsent. Es gab
daher eine indirekte Antwort, die Gründung der sog. Ḥamidīye-Regimenter, die vor allem von
kurdischen Großgrundbesitzern geführt und von deren Leuten bemannt wurden. Es sind
wohl diese Ḥamidīye-Regimenter gewesen, die 1894 die ersten Armenier-Massaker im
Osmanischen Reich verübt haben. Die öffentliche Meinung in Europa war entsprechend
aufgebracht. Die armenische Bewegung ging daraufhin in den Untergrund. Das Ende kam
dann während des Ersten Weltkriegs: ab 1915 kam es zu einer weitreichenden Deportation
von Armeniern aus ihren bisherigen Wohngebieten. Als Grund dafür wurde benannt, dass
Armenier die russische Armee unterstützten oder unterstützen könnten. Die deportierten
Armenier wurden zum großen Teil in die syrische Wüste gebracht, wo viele von ihnen
umgekommen sind. Der historische Streit wegen des Armeniermassakers kreist um zwei
Fragen: Erstens um die Zahl der Opfer. Die türkische Seite erkennt an, dass es Opfer
gegeben hat, und dass die Deportation nicht in allen Fällen gerechtfertigt war, aber sie gibt
eine viel niedrigere Zahl an Opfern. Zweitens geht es darum, ob die damalige osmanische
Regierung die Massaker angeordnet hat. Das wird von der türkischen Seite bestritten.
2.3
Reaktion auf zunehmende Schwäche der islamischen Länder
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, für manche schon früher, wurde also
ersichtlich, dass die Strategie der rückhaltlosen Europäisierung nicht zum Erfolg führen
würde. Dies in mehrfacher Hinsicht. Zum einen blieb die militärische Schwäche des
Osmanischen Reichs bestehen, ja sie verschlimmerte sich noch. Das hatte spätestens der
osmanisch-russische Krieg von 1878 gezeigt, der die Russen kurz vor Istanbul sah. Auch die
finanzielle Lage hatte sich keineswegs verbessert: 1875 hatte die osmanische Regierung
den Staatsbankrott anmelden müssen. Trotz gewisser Erfolge auf den Weltmärkten für
landwirtschaftliche Produkte war ein industrieller Aufschwung der islamischen Länder nicht in
Sicht. Ähnliche Entwicklungen, vor allem in finanzieller Hinsicht, waren in Ägypten, später
auch in Iran zu beobachten. Schließlich konnte man auch weltweit nicht übersehen, dass die
europäischen Mächte nach Belieben muslimische Staaten ihren Kolonialreichen einverleiben
konnten, und dass der antikoloniale Widerstand, wo es ihn gab, zu keinem militärisch
nennenswerten Ergebnis führte.
Ferner hatte die Liberalisierungspolitik zu Spannungen im Inneren geführt, die sich in bis
dahin unbekannten blutigen Auseinandersetzungen zwischen religiösen Gruppen entluden.
Die Balkanvölker waren auch durch weitgehende Zugeständnisse an ihre Autonomie nicht
mehr bereit, im Staatsverband des Osmanischen Reiches zu bleiben. Dabei erntete das
Osmanische Reich für die Gleichstellung von Christen und Muslimen keineswegs die
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Anerkennung im Ausland, die es meinte verdient zu haben. Stattdessen hielt die europäische
öffentliche Meinung dem Osmanischen Reich (und auch anderen islamischen Ländern)
immer wieder vor, der Islam sei es, der sie an der Modernisierung hindere. Diese Position –
der Islam sei insgesamt nicht modernefähig und sei daher das wesentliche Hindernis bei der
Entwicklung der islamischen Länder auf Pfaden, die für Europa positiv sind – wird bis heute
aufrecht erhalten (s.o.).
Auf diese Position können Muslime, denen die Zukunft ihrer Länder am Herzen liegt, auf drei
Weisen reagieren, wie mir scheint. Die vierte – nämlich die Position als solche
zurückzuweisen und zu sagen, Religion, welche auch immer, habe mit Moderne im oben
skizzierten Sinn rein gar nichts zu tun, ist im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
höchstens von isolierten Denkern vertreten worden. Erst heute scheint sie an Anhängern zu
gewinnen.
Erste Reaktion. Man sagt: Ja, es ist richtig – der Islam ist das größte Hindernis bei der
Modernisierung. Also weg damit, so weit weg wie möglich! Man hat hier die Position der
radikalen Verwestlicher, darunter einiger Tanzimat-Politiker und insbesondere einiger
Vertreter der Jungtürken (dazu in der kommenden Stunde), bei denen diese Ablehnung des
Islam, die durchaus auch offen und öffentlich vorgetragen wurde, eine mehr oder weniger gut
feststellbare Grundlage gewesen ist.
Zweite Reaktion. Man sagt: Ja, es ist richtig – der Islam ist ein Hindernis bei der
Modernisierung. Aber das ist nicht der richtige Islam, sondern ein falsch verstandener. Wir
werden uns also modernisieren, indem wir den Islam reformieren. Das ist auch möglich:
Denn der Islam steht als solcher keineswegs im Widerspruch zu einer rationalen Gestaltung
des gesellschaftlichen Lebens, sondern kann ein wirksames Instrument bei der Einrichtung
einer solchen rationalen gesellschaftlichen Ordnung sein.
Dritte Reaktion. Man sagt: Ja, es ist mindestens teilweise richtig – der Islam ist ein Hindernis
bei der Modernisierung, und es ist auch richtig, dass ein falsches Verständnis von Islam die
Hauptursache für die Misere in den islamischen Ländern ist. Es handelt sich nämlich um eine
geistig-religiöse Misere. Wir werden also den Islam reinigen, und wenn alle Muslime dem so
gereinigten Islam folgen, wird es uns allen mit Gottes Hilfe besser gehen.
Die zweite und die dritte Position werden uns im weiteren Verlauf beschäftigen.
3
Modernisierung ohne Verwestlichung: al-Afġānī
Für die zweite Position sei Ǧamāl ad-dīn al-Afġānī benannt. Anders als sein Name zu
sagen scheint und er selbst glauben machen wollte, stammte er nicht aus Afghanistan,
sondern aus Iran (Asadābād/Iran 1839 – Istanbul 1897). Er war ein politischer Aktivist und
Publizist, kein systematischer Denker. Sein vorrangiges Ziel scheint es gewesen zu sein,
den britischen Einfluss in der islamischen Welt zu stoppen und zurückzudrängen (er hatte als
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junger Mann einige Zeit in Indien gelebt). Dazu war ihm annähernd jedes Mittel recht, auch
bei den Bündnispartnern war er nicht wählerisch; so hat er auch versucht, den britischrussischen Gegensatz für seine politischen Ziele auszunutzen. Er war auf Grund seiner
politischen Aktivitäten oft zu einem Ortswechsel gezwungen.
Die wichtigste Publikation, die er begründet hat, hieß al-ʿUrwa al-wuṯqā „Das feste Band“, in
Anspielung auf koranische Ausdrücke. Die Zeitschrift erschien 1884 in Paris, sie hat es auf
insgesamt 14 Ausgaben gebracht, was in Anbetracht der damaligen Verhältnisse nicht wenig
ist (aber auch nicht besonders viel). In ihr warb al-Afġānī für europäische Tugenden, die er
hinter dem Erfolg der europäischen Länder sah: Unternehmungsgeist, Aktivität,
Rationalismus. Hierher gehören dann auch freiheitliche politische Institutionen und eine
moderne, d.h. auch um Naturwissenschaften bemühte Bildung und Erziehung. Um Europa
standhalten zu können, ja um daran denken zu können, europäische Länder zu besiegen,
müssen die islamischen Länder von Europa lernen. Aber Europa sollte nicht einfach imitiert
werden – diesen Fehler warf er den Regierungen des Osmanischen Reiches, Ägyptens und
Irans vor, für welche alle er zu einem Zeitpunkt in seinem Leben tätig war oder tätig zu sein
versuchte – sondern es galt, bei allem Lernen von Europa die Grundwerte des Islam nicht zu
vergessen. Der Islam müsste aber, um den europäischen Tugenden nicht länger im Wege zu
stehen, von Aberglauben und vielerlei alten Zöpfen befreit wserden, die sich in seiner
Jahrhunderte langen Geschichte über den rationalen und durchaus mit Europa kompatiblen,
konkurrenz- und zukunftsfähigen Kern des Islam gelegt hätten. Daher müssten die
Basistexte des Islam neu gelesen und interpretiert werden, wobei rationale Methoden
anzuwenden wären, die dann den rationalen Charakter des Islam auch herausarbeiten
würden.
Wieweit die politische Einheit des Islam bei al-Afġānī im Mittelpunkt des politischen Denkens
und Handelns stand oder stehen sollte, scheint kontextabhängig gewesen zu sein. In
Ländern mit starker muslimischer Mehrheit hat er offenbar auch islamische Mobilisierung
befürwortet, dann konnte es auch so wirken, als sei er für ein Bündnis mit dem osmanischen
Sultan auch mit dessen panislamistischem Programm einverstanden. In Ländern wie Indien
aber, in denen die Muslime nur eine Minderheit stellten, war er eher für eine Mobilisierung im
nationalen Rahmen, so dass dort die panislamistische Karte (einschließlich der Anerkennung
Abdülhamids als Kalif) in den Hintergrund trat.
Auf eine Formel gebracht war Afġānī für eine Modernisierung des Islam und der islamischen
Länder ohne Verwestlichung. Das war für ihn deswegen möglich, weil der Islam in seinem
Kern rational ist, eine Religion, in der nichts gegen das naturwissenschaftliche Weltbild
spricht und auch nichts gegen solche Formen des Wirtschaftens, die auf individuelle Aktivität
und auf Profitstreben ausgerichtet sind.
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Der zweite wichtige Vertreter des Reformislam am Ende des 19. Jahrhunderts gehört nicht
so eindeutig in diese Position „Reform und Modernisierung ohne Verwestlichung“, obwohl er
ein Schüler und zeitweiliger Weggefährte Afġānīs gewesen ist. Die Rede ist von Muḥammad
ʿAbduh (1849-1905). ʿAbduh hat fast sein ganzes Leben, abgesehen von Phasen des Exils
und der Verbannung, in Ägypten verbracht. Er war Gelehrter und Publizist, später hat er
wichtige Ämter bekleidet (was Afġānī nie gelang): Er wurde Obermufti von Ägypten und hat
als solcher auch die Azhar-Universität tief beeinflusst. Gemeinsam mit al-Afġānī hat er die
genannte Zeitschrift al-ʿUrwa al-wuṯqā herausgegeben (er war mit Afġānī zusammen aus
Ägypten ausgewiesen worden und dann nach Paris gegangen). Besonders um die Reform
des Bildungswesens (wohlgemerkt: des islamischen Bildungswesens) und auch des
Gerichtswesens hat er sich bemüht.
Zitat ʿAbduh
Folgende Gedanken werden hier zusammengefasst.
Erstens. In Lehre und Praxis des Islam haben sich im Laufe der Zeit Fehler breitgemacht.
Diese Fehler werden als schädliche Neuerungen bezeichnet.
Zweitens. Die Beseitigung dieser Fehler ist daher die zentrale Aufgabe.
Drittens. Ist die Beseitigung der schädlichen Neuerungen gelungen, wird das Handeln der
Muslime frei von Unordnung und Verworrenheit sein, d.h. sie werden zielgerichtet und in
Übereinstimmung mit der wahren Lehre des Islam handeln können.
Viertens. Die Besserung des Einzelnen durch Bildung („Erleuchtung durch die wahren
religiösen und weltlichen Wissenschaften“) führt zur Besserung der Gemeinschaft der
Gläubigen insgesamt.
Die Frage ist dann natürlich sofort: Welches sind diese schädlichen Neuerungen, wie erkennt
man sie? Dann ist es nicht mehr schwer, sie zu überwinden, die Mittel dazu stehen bereit:
Studium der wahren weltlichen und religiösen Wissenschaften. Ist das Programm soweit
umgesetzt, ist der Erfolg auch auf der materiellen (wirtschaftlichen und politischen) Seite,
also den Lebensbedingungen der Muslime, eine Frage der Zeit.
Die Position ʿAbduhs markiert so den Übergang zu der folgenden. Noch stärker als bei
Afġānī wird die Modernisierung als ein Zurück zu den Basistexten gesehen, die neu zu lesen
und rational zu interpretieren sind. Das Nebeneinander von religiösen und weltlichen
Wissenschaften, das ja die modernen Naturwissenschaften explizit einschließt, ist dabei in
etwa wie folgt zu gestalten: Bei nicht auflösbaren Widersprüchen zwischen Positionen der
Basistexte, vor allem des Koran, und Erkenntnissen der modernen Wissenschaften sind die
Basistexte dann symbolisch zu verstehen. Der Koran könne auf eine gewisse Weise den
Naturwissenschaften nicht widersprechen, da Gott so verstanden zwei Bücher herabgesandt
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habe, das eine geschaffen, nämlich die Schöpfung, und das andere ungeschaffen und
geoffenbart, nämlich den Koran. Daher diene die Naturerkenntnis letztlich auch der
Gotteserkenntnis.
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Vorwärts zu den Altvorderen: Die arabische salafīya, Deoband
4.1
Rašīd Riḍā
Die dritte Position, diejenige also, die den Ausweg allein im Islam sucht, ist diejenige
der expliziten salafīya. Der Ausdruck salafīya kommt von ar. as-salaf aṣ-ṣāliḥ, „die frommen
Altvorderen“, also den Muslimen jener Zeit, als der Islam, weil rein und unverfälscht, die
Grundlage für die Stärke der Muslime bildete; gemeint ist die Zeit des Propheten und der
Rechtgeleiteten Kalifen (etwa bis 661), also die erste Generation des Islam. Daher kann man
sagen: Die salafīya wollen zurück, aber in Wirklichkeit vorwärts, zu den frommen
Altvorderen. Sowohl Afġānī als auch ʿAbduh gelten als Wegbereiter der salafīya, aber nicht
als ihre wirklichen Gründer.
Der Hauptvertreter und eigentliche Gründer der Richtung ist vielmehr Rašīd Riḍā (18651935), ein Libanese, der aber in Ägypten Karriere gemacht hat. Er ist bekannt als Gründer
und zunächst auch Herausgeber der Zeitschrift al-Manār („das Leuchtfeuer“ oder auch „das
Minarett“), die seit 1898 erschien und bis 1935, also bis zum Tod Riḍās, am Markt blieb. Er
selbst war einer der eifrigsten Autoren.
Riḍā vollzog unter den islamischen Reformern die Hinwendung zu den Positionen der
Wahhābīya, die er seit ihren neuerlichen Erfolgen im Ḥiǧāz (Gründung des Dritten
saʿūdischen Staates bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, 1924 Übernahme der Kontrolle
über die Heiligen Städte) auch politisch unterstützte. Er hatte sich früh von allen getrennt, die
im Osmanischen Reich noch eine Perspektive sahen, was für Afġānī und auch für ʿAbduh
noch selbstverständlich gewesen war – hier ist man eben zwei Generationen weiter, und seit
1908 bestimmen die sehr dezidiert nicht religiösen Jungtürken die Geschicke des Reichs. Mit
dieser Regierung wollte Riḍā nichts zu tun haben, vielmehr gehörte er zu denjenigen, die
auch eine Brücke zum entstehenden arabischen Nationalismus schlagen (den Jungtürken
wurde eine Turkisierungspolitik zu Lasten der Araber und des Arabischen vorgeworfen). Riḍā
unterstützte daher auch den „arabischen Aufstand“ gegen die osmanische Herrschaft
während des Ersten Weltkriegs (ab 1916).
Die Salafīya insgesamt stehen für Reform des Islam und gleichzeitigen Widerstand gegen
die Verwestlichung; diese Position teilen sie allerdings mit vielen anderen. Aber sie beziehen
eine skeptische Haltung gegenüber allen Dingen die aus Europa kommen, weil sie aus
Europa kommen. Anders als bei Afġānī und auch noch ʿAbduh hat sich nun eine generelle
Europa-Skepsis breitgemacht.
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Die Salafīya wendet sich mit ihrem Appell „Zurück zum reinen Islam der Altvorderen“ eben
nicht einfach nach rückwärts. Sie haben vielmehr ein komplexes Programm zur Erneuerung
des Islam, das besser als dasjenige der Wahhābīya geeignet ist, weite Verbreitung zu finden
(heute ist der Unterschied nicht mehr sehr groß, und am Ende sind eine überwältigende
Mehrheit der muslimischen Gelehrten heute in einer Tradition von salafitischen Gedanken,
teilweise mit wahhabitischen Akzenten).
Die Salafīya fordern insbesondere die „Öffnung des Tors des iǧtihād“. Unter iǧtihād versteht
man die eigenständige Bemühung („Bemühung“ ist die Wortbedeutung) um Auffinden der
richtigen Entscheidung in einer vorgelegten Frage, ohne dass man sich dabei auf eine
Lehrautorität stützen müsste. Der Gegenbegriff ist taqlīd, was mit „Nachahmung“ übersetzt
wird; jemand, der sich im taqlīd übt, geht in den Texten der Lehrautoritäten seiner
Rechtsschule so lange auf die Suche nach der richtigen Lösung auf die vorgelegte Frage, bis
er sie gefunden hat, sonst muss er passen. Ein Mann, der sich im iǧtihād übt, also ein
muǧtahid, ist darauf nicht angewiesen. Er kann die Lösung der Frage aus den Basistexten
selbst entwickeln. Das sind im radikalsten Fall nur der Koran und das Korpus der
prophetischen Überlieferung ḥadīṯ bzw. sunna. Bei diesem Umgang mit den Basistexten sind
gewisse Regeln anzuwenden, die auch mit Logik zu tun haben. In einem etwas weniger
radikalen Fall werden gewisse Texte einer Rechtsschule beigezogen, dann ist der muǧtahid
kein „absoluter muǧtahid“, sondern ein „muǧtahid in der Rechtsschule“; und es können noch
weitere Einschränkungen vorgenommen werden. Aber in jedem Fall ist die eigenständige
Bemühung um das Finden der richtigen Lösung das Kennzeichen.
Mit der (Wieder-) Belebung des iǧtihād schuf die Salafīya eine völlig neue Situation im
Umgang mit der islamischen Lehrtradition. Bislang war es so, dass die Gelehrten sich auf
den Schultern ihrer Vorgänger sahen, die Rezeption der Basistexte erfolgte immer im Lichte
dieser langen und sehr ausgefeilten Tradition, bis dahin, dass die Rezeption der Basistexte
gegenüber dem Studium der späteren Kommentare und Kompendien in den Hintergrund trat.
Nun wird diese Tradition übersprungen, zumindest teilweise, und der direkte Zugriff auf die
Basistexte soll wieder die Regel sein. Zunächst wird dabei noch darauf geachtet, dass die
Studierenden die Tradition zumindest kennen; das Überschreiten der Experten-Grenze bei
der Interpretation der Basistexte ist später das Ergebnis der Tätigkeit gewisser Vertreter des
politischen Islam.
Gleichzeitig wendet sich die Salafīya genauso wie die Wahhābīya gegen die Sufi-ʿUlamāʾSynthese, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet hatte. Darunter versteht man, dass
Gelehrte an den Riten und Bräuchen des „volkstümlichen“ Islam teilnehmen und diesen
dadurch eine zusätzliche Legitimation verschaffen. In den späteren Jahrhunderten des
Osmanischen Reiches war es gang und gäbe, dass Gelehrte auch einer sufischen
Bruderschaft angehörten, und dass diese Bruderschaften neben ihren mystischen Übungen
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und den entsprechenden Zusammkünften auch an Riten und Feierlichkeiten maßgeblich
beteiligt waren, die in früheren Zeiten nicht die Billigung von Gelehrten gefunden hätten, war
in den Hintergrund geraten. Die Grabkomplexe bedeutender sufischer Meister oder anderer
prominenter Gestalten aus der islamischen Geschichte waren ebenso zentrale Orte
religiöser Praxis wie die großen Moscheen der osmanischen Städte. Diese Praktiken, dieses
System lehnt die Salafīya ab, wobei sie nicht das gleiche Maß von Militanz entfaltet wie die
Wahhābīya.
Die Rückkehr zu den Basistexten bedeutet daneben, dass diese in ganz anderer Weise
wörtlich genommen werden als bisher. Wenn sie durch den Filter einer Jahrhunderte langen
Tradition geleitet werden, ist die jeweilige Interpretation immer schon bekannt, und auch die
Abwägungen von eventuell widersprüchlich scheinenden Stellen sind geläufig. In einem so
sehr auf der Lehrtradition beruhenden System kann es kaum Überraschungen geben. Das
Wörtlich-Nehmen der Basistexte unterscheidet die Salafīya auch von den Modernisierern
vom Schlage Afġānīs: Von symbolischen Bedeutungen ist nicht mehr die Rede.
Mit dem Überspringen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lehrtradition wird auch das
ganze System der feinen Abstimmung zwischen wissenschaftlicher, durchaus auch
rationaler Systematisierung in den Bereichen Recht und Ritual beiseite geräumt, und es
dauert wie gesagt nicht mehr allzu lange, bis sich Personen an die Interpretation der
Basistexte machen, die dazu in früheren Zeiten nicht berechtigt gewesen wären.
Iǧtihād gab es nach neueren Forschungen zu allen Zeiten, aber es war nie eine Tätigkeit, die
für alle offen war. Das berühmte „Tor des iǧtihād“ war nie ganz geschlossen, aber es war
natürlich geschlossen für die allermeisten Muslime, die sich eben an das halten mussten,
was kompetente Leute als richtige Lösung und daher als richtiges Verhalten ermittelt hatten.
Die Salafīya öffnet damit der freihändigen Interpretation der Basistexte durch Laien den Weg,
der heute – in der „Neo-Salafīya“ in vielen Fällen gegangen wird. Die Freigabe der
Interpretation für Laien bedeutet dabei nicht unbedingt und nicht immer eine Liberalisierung
der Auslegungspraxis; ganz im Gegenteil, sie führt zu einer Konkurrenz, zu einem
gegenseitigen sich Überbieten in Islamizität der rituellen Praxis, wobei diese Konkurrenz
manchmal in einer recht begrenzten Anzahl von Feldern stattfindet. Die Freigabe der
Interpretation bedeutet daher eine zunehmende Unterwerfung der interpretatorischen Praxis
unter die jeweils verfolgten politischen Ziele.
Die Salafīya, ebenso wie die anderen Reformbestrebungen in den Zentren der islamischen
Welt im 19. Jahrhundert, steht mit den Bemühungen um Reinigung des islamischen Rituals
und überhaupt der Islamisierung der gesellschaftlichen Praxis, wie sie als Antwort auf das
Vordringen der europäischen Mächte vielerorts gefordert und angegangen wurde – das war
ein wichtiger Aspekt bei der Betrachtung der antikolonialen Bewegungen aus der ersten
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Hälfte des 19. Jahrhunderts – vielleicht in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Aber es
fällt auf, dass die Antworten der salafitischen Autoren wesentliche Punkte aus der
Reformdebatte aufnehmen, die seit dem 18. Jahrhundert die islamische Welt durchzieht.
Insbesondere das direkte Anknüpfen an der Praxis, an der Lehre und auch an der Person
des Propheten Muḥammad ist keineswegs neu, sondern ist grundlegendes Element der sog.
„Muḥammad-Pfade“, von denen es sowohl in der sufischen Bewegung als auch in
reformorientierten Gelehrtenkreisen eine ganze Reihe gegeben hat. Ferner hatte schon das
Beispiel der Wahhābīya gezeigt, dass auch in einer Situation, die nicht durch unmittelbare
Konfrontation mit europäischem Vordringen gekennzeichnet ist, gewisse typische
Reformideen Platz greifen; der Unterschied liegt oft hauptsächlich im Ausmaß der Militanz,
welche die entsprechenden Strömungen an den Tag legen. Manche Reformbewegungen
haben auch schon vor der Salafīya beansprucht, in den alten Texten die Antwort auf die
Herausforderungen der Zeit gefunden zu haben.
Annähernd gleichzeitig mit der Entwicklung der Salafīya in Ägypten (und den arabischen
Ländern des Osmanischen Reiches) bildet sich in Indien in einer Lehrkontroverse diejenige
Richtung heraus, die man die indische Wahhabīya genannt hat, obwohl es vermutlich keine
direkte Beeinflussung gab.
4.2
Deoband
Deoband ist eine kleine Stadt in der Nähe von Delhi, berühmt durch eine islamische
Hochschule, die dort 1866 oder 1867 (die Angaben sind nicht ganz eindeutig) gegründet
wurde. Diese Dār al-ʿulūm Dīwband genannte Einrichtung besteht bis heute und bezeichnet
sich selbst (auf ihrer Website) als die zweitwichtigste islamisch-sunnitische Lehranstalt nach
der Azhar-Universität in Kairo. Das ist möglicherweise nicht einmal übertrieben. Ihre
Ausstrahlung reicht über Südasien weit hinaus, und schon der Umstand, dass es sich mit
Sicherheit um die wichtigste Einrichtung dieser Art in Südasien handelt, macht sie
erwähnenswert.
Deoband steht im Rahmen der islamischen Erneuerungsbewegungen des 18. und 19.
Jahrhunderts und somit in der Nachfolge von Šāh Walīallāh, der im 18. Jahrhundert als
erster in Indien die für dies Jahrhundert insgesamt typischen „Reform“-Bewegungen
angestoßen hat (ar. taǧdīd : „Erneuerung“ und iṣlāḥ „Korrektur“, dieser Begriff wird heute mit
„Reform“ übersetzt, es ist aber im Grunde kein Fortschritts-Gedanke damit verbunden).
Diese Reformbewegung greift in Indien wie auch sonst das bis dahin geübte Prinzip der
„Nachahmung“ (taqlīd) an.
Der in der vorigen Vorlesung genannte Anführer einer antikolonialen Bewegung, Saiyid
Aḥmad Barelwī, der in den 1820er Jahren eine ǧihād-Bewegung ins Leben gerufen hatte,
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hatte seit seiner Pilgerfahrt nach Mekka gute Beziehungen zur Wahhābīya; Deoband ist nicht
die direkte Fortführung dieser Bewegung, aber in vielen Punkten hat Deoband Parallelen zur
Lehre der Wahhābīya, auch wenn es vielleicht keinen direkten Einfluss gab.
Deoband hat heute ca. 3000 Studierende, und der Campus wird aktiv ausgebaut. Die
Absolventenstatistik zeigt klar ein überwiegend südasiatisches Profil, aber innerhalb des
Subkontinents keine weitere Regionalisierung. Viele Studierende kamen und kommen aus
Regionen, in denen Urdu nicht gesprochen wird. Die Schule wirkt also mit an der Etablierung
von Urdu als der Hauptsprache der Muslime in Indien.
Die Inhalte betonen die Überlieferungs-Wissenschaften (ar. manqūlāt). Das mag in einer
Einrichtung, die sich von der „Nachahmung“ verabschiedet hat, überraschen. Aber gemeint
ist ein besonderer Ansatz, wie man dem Vorbild des Propheten folgen kann: Man versucht,
für jede Situation die passende Überlieferung vom Propheten (hadīṯ) zu finden. Das ist ein
Ansatz, der sich in der Geschichte des islamischen Denkens mit dem Namen von Aḥmad b.
Ḥanbal verbindet (gest. 855). Bekanntlich sind die arabischen Wahhābīya Nachfolger von
Aḥmad b. Ḥanbal; in Indien ist dagegen die stärker auf juristische Systematik orientierte
ḥanafitische Rechtsschule traditionell am weitesten verbreitet. Deoband steht für eine
Annäherung an die ḥanbalitische Auffassung.
Das Ergebnis der Reform à la Deoband ist also nicht eine Modernisierung des islamischen
Denkens einschließlich der Rechtsfindung, sondern eine Skripturalisierung anderen Typs.
Weitere Parallelen zu anderen „salafitischen“ Reformbewegungen ergeben sich in der
kritischen Haltung gegenüber dem Schrein-Islam, auch wenn, was bei den Wahhābīya
ausgesprochen selten ist, manche Deobandis auch in sufischen Bruderschaften organisiert
sind. An den Schreinen soll das rituelle Gebet (ar. ṣalāt) nicht verrichtet werden, die
Konzeption der Fürsprache für die einfachen Gläubigen durch die großen Verstorbenen (ar.
šifāʿa) wird abgelehnt, das bezieht sich auch auf den Propheten, der ebenfalls keine
Fürsprache üben kann. Die Militanz der Wahhābīya haben die Deobandis in ihrer Ablehnung
des Schrein-Islams jedoch nicht, sie gehen also nicht so weit, Schreine zu zerstören.
Es gibt ferner eine Reihe von Details, in denen Deobandis dem Vorbild des Propheten
folgen, wie es in der Ḥadīṯ-Überlieferung erkennbar wird (z.B. die Möglichkeit für Witwen,
wieder eine Ehe einzugehen, das war im indischen Kontext unüblich geworden – der Prophet
hat auch Witwen geheiratet, das taten manche Deobandi-Gelehrte dann auch).
Deoband steht somit auch für eine Externalisierung dessen, was „richtiges islamisches
Leben“ ausmacht. Was Deoband als Bewegung insgesamt ausmacht, ist eine sehr
weitgehender Schwerpunkt darin, dass sie eine Reihe von rituellen Praktiken und
individuellen Verhaltensweisen ermutigen, die sich auf die gottesdienstlichen Handlungen,
die Kleidung und alltägliches Verhalten beziehen. Manche sehen daher in Deoband einen
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wichtigen Ursprung für die unter den Taliban zu trauriger Berühmtheit gelangte Auffassung
vom Islam.
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