Wolfgang Ernst ARCHIVBILDER Endversion publiziert in: Götz-Lothar Darsow (Hg.), Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann-holzboog) 2000, 175-193 I. LATENZ UND SYNCHRONISATION (there is no memory) Was treibt einen Historiker dazu, sich der Medienarchäologie zu verschreiben und das Gedächtnis der Vergangenheit von ihren Verführungen durch die historische Imagination befreien zu wollen? Es ist eine Erfahrung ähnlich derjenigen, die Gabi Teichert macht, Geschichtslehrerin in Alexander Kluges Film Die Patrotin (1979), als sie wissen will, wo denn eigentlich der Ort der deutschen Geschichte, wie sie konkret faßbar ist. So gräbt sie nachts mit dem Spaten nach Weltkriegstrümmern oder verstrickt Politiker auf einem SPD-Parteitag ins Pausengespräch; doch Geschichte findet nicht statt. So geht es dem Historiker an dem Ort, wo er der Geschichte am nächsten zu kommen scheint - im Archiv. Gerade dort löst sie sich, je genauer er hinschaut, unter seinen Händen buchstäblich in ihre diskreten Bestandteile auf. An die Stelle einer zusammenhängenden Erzählbarkeit tritt die modulare Konfiguration. Hegel Die Schere zwischen der Erfahrung von Gedächtnis als kaltem Speicher und der individuell angeeigneten Vergangenheit als Erinnerung hat Hegel geschichtsphilosophisch zu schließen versucht. Um den Effekt von historischem Sinn zu erzielen, muß er jedoch die Spuren seiner eigenen Gedächtnistechnik tilgen. So argumentiert Hegel gegen das „tote Prinzip der Bewegung“ von Apparaten (Über die wissenschaftlichen Behandlungen des Naturrechts), doch die Verzettelung seiner Lektüren nahm ihrerseits die Form eines Gedächtnisapparats an: „Alles, was ihm bemerkenswert erschien <...> schrieb er auf ein einzelnes Blatt, welches er oberhalb mit der allgemeinen Rubrik bezeichnete, unter welche der besonder Inhalt subsumiert werden mußte. In der Mitte des oberen Randes schrieb er dann mit großen Buchstaben, nicht selten mit Fracturschrift das Stichwort des Artikels. Diese Blätter selbst ordnete er für sich wieder nach dem Alphabet und war mittels dieser einfachen Vorrichtung im Stane, seine Excerpte jeden Augenblick zu benutzen. Bei allem Umherziehen hat er diese Incunablen seiner Bildung immer aufbewahrt. Sie liegen theils in Mappen, theils in Schiebfutteralen, denen auf dem Rücken eine orientirende Etikette aufgeklebt ist.“1 Die eigentümliche Leistung des Gedächtnisses, so Hegel, ist das Zeichensetzen, das Namengeben. Das produktive Gedächtnis, das Äquivalent der antiken mnemosyne, hat es überhaupt nur mit Zeichen zu tun (Enzyklopädie § 458), als freie, willkürliche Tat des setzenden Geistes.2 Hypomnèmata: Dem entspricht automatisiert der Stapel sortierter Lochkarten in Charles Babbages Entwurf einer Analytical Engine, wofür er nicht die Leitmetapher des Archivs, sondern der Bibliothek wählt (ganz wie in der Sprache objektorientierten Programmierens): „Each set of cards made for any formula will at any future time recalculate that formula with whatever constants may be required. Thus the Analytical Enginge will possess a library of ist own. Every set of cards once made will at any future time reproduce the calculations for which it was first arranged.“3 Damit wird Gedächtnis rekursiv, eine Funktion von Rückkopplungen. Am Ende seiner Phänomenologie des Geistes wählt Hegel als Bild für die historische Selbstvergewisserung des Absoluten erneut ein Magazin, die Form einer zu durchschreitenden Bildergalerie, wie sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Berliner Vorlesungen als Schinkels Altes Museum baute. Gedächtnis ist ihm „Schädelstätte“; auch das kulturelle Gedächtnis der Nation ist nichts als die 1 Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844, 12 f; siehe Friedrich Kittler, Die Nacht der Substanz, Bern (Benteli) 1989, 18ff 2 Hermann Schmitz, Hegels Begriff der Erinnerung, in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 9, Bonn (Bouvier) 1964, 37-44 (40) 3 Charles Babbage, Passages from the Life of a Philosopher, London 1864, 119 1 diskursive Benutzeroberfläche von alphanumerischen Datenbanken wie dem Marbacher Literaturarchiv: „Wenn die Nation einen Schädel hat, einen Ort, wo ihr Gedächtnis sitzt, dann ist er hier <...>. Nur hinschauen muß man, lesen in diesem raschelnden Gehirn der Gelehrtenrepublik, dessen Zellen rechteckig und exakt vermessen sind: 400 x 285 x 170 Millimeter.“4 So modular wie ein Marbacher Archivkasten ist das Gedächtnis der deutschen Literatur. Seine traditionelle Anschreibbarkeit ändert sich buchstäblich mit den Techniken: An die Stelle alphanumerischer Adressierungen durch Findbücher und Kataloge, Inventare etc. tritt der digitale Datenfilter. Computer memory Datenspeicher und das für den Zugriff „notwendige Beiwerk“ (Ranulph Glanville), der Adreßkopf, werden im Computer getrennt und damit nicht für ein gemeinsamen Teil des Gedächtnisses gehalten. Das Gedächtnis bedarf (systemtheoretisch formuliert) dieser Unterscheidung, um operabel zu werden. Für digitale Rechner ist der Begriff „Gedächtnis“ nichts als eine poetische Metapher: „A computing machine, capable of solving problems must posess a `memory´ or, less poetically, an `information storage unit.´ The recent history of improvement in computing machines has been largely a history of improving memory devices. <...>. When we speak of the `memory´ of a machine, we are using the term in a rather different sense from the usual one involving human mental activity. In a computer the component labeled `memory´ serves the functions of storing unstructions, data put into the machine and results of computations which are held until they are needed for successive operations.“5 Wenn der Computer das erste Medium ist, das in der Organisation seiner Signifikanten an den dreidimsensionalen Raum nicht mehr gebunden ist <Winkler 1994: § 5>, macht für ihn auch die Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart nur noch metaphorisch Sinn. Ridenour <1955: 94> differenziert drei Gedächtnisebenen des Computers: „The first is the inner <i. U. zu Hegels „interiorisierter“ Erinnerung> or hight-speed memory of the machine. This is the machine´s analogue to the scratch-pad <Kurzzeitgedächtnis / no memory>; it is used to store the data and instructions in current use. <...> it must permit rapid access to its data and it must be erasable. <...> It must <...> be supplemented with an intermediate-speed memory - the analogue to a human computer´s notebooks and files of documents. <...> Like the inner memory, it must be erasable. The third class of machine memory corresponds to books and similar large repositories of the knowledge of mankind.“ Eine neue Geschichtszeit wird anhand des magnetic core memory diskutiert: „the cores remember their magnetic history, while the ferro-electric crystal remembers its electric history.“ <96> Die kybernetisch motivierte Metapher vom Gedächtnis als Informationsspeicher ist nur scheinbar eine Wiederentdeckung der Vorstellung vom Gedächtnis als Thesaurus von Erinnerungen; aus der Sicht des radikalen Konstruktivismus ist sie vielmehr sein Ende. Der Computer kennt genau genommen kein Gedächtnis, sondern nur Zustände. Durch die Gleichbehandlung von Operanden und Operatoren rückt der Begriff der Latenz an seine Stelle; so wird das Gedächtnis für das Medium Computer über den Zustandsbegriff eingeführt: „Die rhythmischen Muster der Zustandsübergänge folgen dabei streng formalen Regeln. <...> Die Vergangenheit eines Prozesses muß, wenn sie erinnert werden soll, als Teil des Zustands der Maschine gespeichert werden. Die inneren Systemzustände, d. h. die Menge der Werte in den Speichern und Registern der Maschine, fungieren somit sowohl als Gedächtnis der Maschine als auch als Abbildungsfläche für die Repräsentationen der Außenwelt. 4 Christof Siemes, Im Schatzhaus der Poeten (über das Deutsche Literaturarchiv Marbach am Neckar), in: zeitmagazin Nr. 46, 10. November 1995, 26-34 (30) 5 Louis N. Ridenour, Computer Memories, in: Scientific American, vol. 192, no. 6 (June 1955), 92-100 (92) 2 <...> Der innere Momentanzustand ist von der Außenwelt abgekoppelt. So hält der Computer eigentlich nur Vergangenes gegenwärtig. Diese Erinnerungsfetzen (z. B. Bilder) werden durch Programmierung auf ein zu bestimmendes Ziel hin schrittweisen Veränderungen unterworfen werden.“6 Internet Das Internet hat Konsequenzen für das Geschick des Archivs: Kommt es als Institution im digitalen Zeitalter ans Ende, zur Erfüllung im Sinne aristotelischer Entelechie, indem das World Wide Web alles in ein Archiv verwandelt (Volker Grassmuck)? Wenn schon nicht die Archive, so zerfällt doch der Begriff des Archivs, da seine Metapher universal wird; die Entstofflichung vertrauter Gegenstände erzwingt das Überdenken ihrer Bedeutung (Jeanette Hofmann). Wenn jede Datenbank ArchivCharakter bekommt, wird das Dokument zur Fiktion (Hans Ulrich Reck). „Andererseits archiviere ich wirklich gar nicht mehr so viel - habe irgendwie das seltsame Vertrauen, bestimmte Materialien im Netz einfach wiederzufinden“ (Heiko Idensen). Das Archiv als Metapher für für das Internet täuscht über die Differenz von öffentlich verfügbarem und non-diskursiv gespeichertem Wissen hinweg, indem „keineswegs archäologische Produkte archiviert werden, sondern eine veränderte Verfügbarkeit von `Kulturwissen´ vorliegt, das eine Historie allenfalls autopoietisch konstruiert, ohne archiviertes Wissen zugänglich zu machen.“7 Wenn unser Begriff der Vergangenheit eine Funktion ihrer Speichermodi ist, erfolgt damit keine Subordinierung alternativer Gedächtnisformen durch die Syntax der Historie mehr, sondern deren parataktisches Nebeneinander. Die Kultursemiotik von J. Lotman erklärt das Gedächtnis zu einer Bedingung von Kultur schlechthin. Bedeutet die Verwandlung der Gedächtnistechniken in synchrone Datennetze die Preisgabe dieses Aprioris, was auf ein Umdenken des Archivs in eine Theorie des permanenten kulturellen Recyclings hinausläuft (Walter Moser)? "Wir sind <...> in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern her als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt."8 Heterotopien Michel Foucault beschreibt die Beschleunigung des Gedächtnisses in Raum-, nicht Zeitbegriffen: "Heutzutage setzt sich die Lagerung an die Stelle der Ausdehnung, die die Ortschaften ersetzt hatte. Die Lagerung oder Plazierung wird durch die Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen definiert; formal kann man sie als Reihen, Bäume, Gitter beschreiben. Andererseits kennt man die Bedeutsamkeit der Probleme der Lagerung in der zeitgenössischen Technik: Speicherung der Information oder der Rechnungsteilresultate im Gedächtnis einer Maschine, Zirkulation diskreter Elemente mit zufälligem Ausgang (wie etwa die Autos auf einer Straße oder auch die Töne auf einer Telefonleitung), Zuordnung von Markierten oder codierten Elementen innerhalb einer Menge, die entweder zufällig verteilt oder univok oder plurivok klassiert ist usw." <Foucault 1993: 36f> Doch gegen die These von der Arbitrarität der Verknüpfungen stehen Positivitäten: 6 Georg Fleischmann / Ursula Damm, Innere Zustände, in: Der telematische Raum, hg. NGBK Berlin 1997, 7377 (74 f.). Zu gedächtnislosen (memoryless) Operationen siehe Georg Fleischmann, An Event-tree Based Analysis Technique for Generalized Stochastic Graphs (Typoskript) 7 Andreas Schelske, e-mail vom 20. April 1997 <[email protected]> 8 Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck / Peter Gente / Heidi Paris / Stefan Richter (Hgg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig (Reclam) 51993, 34-46 (34) 3 "Es gibt <...> wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen als Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können." <Foucault 1993: 39> There is no memory im geschichtsphilosophisch emphatischen Sinne, keine lieux de mémoire, und schon gar nicht Maurice Halbwachs' quasi-metaphysische Instanz eines "kollektiven Gedächtnisses". Es sei denn, daß die Geschichtswissenschaft solche monumentale Widerlager im Namen diverser Interpreatanten diskursiv mobilisiert: "Sie ist die Arbeit und Anwendung einer dokumentarischen Materialität (Bücher, Texte, Erzählungen, Register, Akten, Gebäude, Institutionen, Regelungen, Techniken, Gegentände, Sitten usw.), die <...> in jeder Gesellschaft spontane oder organisierte Formen der Remanenz bietet <...> eine bestimmte Art für eine Gesellschaft, einer dokumentarischen Masse, von der sie sich nicht trennt, Gesetz und Ausarbeitung zu geben." Wirkliche Archive Mit der Ausbildung neuer Medien wird der Begriff des Archivs auch auf nicht-schriftliche Speichersysteme ausgedehnt: Das Schriftarchiv erscheint neben Ton-, Bild- und Filmarchiven.9 Vieles, das bislang nicht geschrieben werden konnte, ist in diesen neuen Codes notierbar (Vilém Flusser); das Reale selbst zeichnet sich als Archiv auf. Solange Bilder und Töne als Gedächtnis ausschließlich alphanumerisch, also im Regime der Schrift adressierbar (weil verschlagwortet) werden, ist der metaphorische Archivgebrauch noch angemessen: „Warum bleiben Schrift und alphanumerischer Code bis zum Filmmedium hinein in Benjamins Denken priviligierte Garanten einer geretteten Wirklichkeit?“ <Reisch 1992: 126> Anders sieht es aus, wenn das Medium ins Spiel kommt, mit dem diese Aufzählung endet: der digitale Computer. Er macht Schluß mit dem logozentrischen Privileg der Lettern, indem das Medium selbst adressierbar wird - Melodien können nach Melodien suchen, Bildmotive nach Bildmotiven, unter Ausschaltung der Sprache. Vielleicht gibt es das Gedächtnis im emphatischen Sinne längst nicht mehr, sondern schlicht die radikale Latenz von Daten in Speichern. Andererseits gibt es ganz gewiß noch die Institution administrativer Archive, die dann nicht ohne weiteres mit ihren mentalitätsgeschichtlichen Metamorphosen verwechselt werden dürfen10: „In Halbwachs´ Ausführungen erscheint <...> das Archiv nicht. Wollte man es dennoch einführen, so wäre es nicht die Geschichte schlechthin und <...> auch nicht das kollektive Gedächtnis.“11 Jeder Medienverbund ist gemäß seiner Einbindungen in Machtdiskurse differenziert. Staatsarchive etwa (staatstragend) stehen - im Unterschied zu Bibliothek und Museum - auf Seiten von Rechtsverbindlichkeiten, die - im Unterschied zum kulturellen Imaginären - auch Abbild der symbolischen Logistik der Administration unserer Wirklichkeiten sind. Gerade das 19. Jahrhundert, bekannt als jenes, das den Diskurs der Historie insitutionalisierte, das Jahrhundert des Historismus, hat unter diesem Decknamen Vergangenheit in Form von Großunternehmen verwaltet, mithin also als Gedächtnis kybernetisch administriert. Das Editionsprojekt der Quellen deutscher Geschichte im Mittelalter, die Monumenta Germaniae Historica, das Unternehmen eines Bilder, Objekte und Texte umfassenden General-Repertoriums deutscher Kulturgeschichtsgüter am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, das System der Preußischen Staatsarchive und am Ende der Zentralspeicher Deutsche Bücherei in Leipzig ab 1916 - all das ist Informationskanalisierungs- und Speicherpraxis als Dementi von Geschichte als Erzählform, sich Vergangenheit vorzustellen. Nicht 9 Heiko Reisch, Das Archiv und die Erfahrung: Walter Benjamins Essay im medientheretischen Kontext, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1992, 19 10 Siehe etwa: Jacques Derrida, Mal d'Archive. Une Impression Freudienne, Paris 1995 11 Axel Jürgen Behne, Geschichte aufbewahren. Zur Theorie der Archivgeschichte und zur mittelalterlichen Archivpraxis in Deutschland und Italien, in: Peter Rück (Hg.), Mabillons Spur, 1990, 277-297 (283) 4 erzählt wurde hier Vergangenheit, sonern gezählt: In Form von Verzifferungen der Artefakte, Objektnumerierung, Signaturen, Verweisen. Nun liegt allerdings unser Wissen über die Speichertechniken des 19. Jahrhunderts selbst als Speicher vor. Gleichrangig zur Vergangenheit als Erzählung sind ihre parerga (Gérard Génette: Paratexte) in Form von alphanumerischen Chiffren, Signaturen, Indices. Und schon löst sich jene Beobachterdifferenz auf, die notwendig ist, um Wisen über Vergangenheit überhaupt von Wissen über Gegenwart scheiden zu können.12 Das Archiv als Gesetz dessen, was gesagt werden kann, ist ganz konkret präfiguriert als Netz von Archiven, die wirklich existieren. Das erfordert "writing in the medium" (Hayden White): "Software heißt der Inbegriff solcher Texte, die im Unterschied zu allen bisherigen Schriften der Geschichte das, was sie schreiben, auch tun."13 In der Tat spricht eine solche Fragestellung nicht nur über das Phänomen Archive, sondern wird auch mit den Tools generiert, über die sie schreibt (also geschrieben wird). Das Thema ist also immer auch medienarchäologische Selbstaffektion. Die Unmöglichkeit, das Archiv gleichzeitig zu denken und zu schreiben, dokumentiert Foucault, der in seiner Archäologie des Wissens das Archiv theoretisch behauptet, es in seiner Histoire de la folie aber nicht schreibt, sondern auf das Modell Geschichte zurückfällt. Das Archiv ist gerade im Verborgenen am Werk, analog zu Foucaults Machttheorie, deren Paranoia er hier selbst unterliegt. II. JENSEITS DER VERSCHLAGWORTUNG: KULTURGESCHICHTLICHE APRIORIS, ARCHIVISCHE APORIEN UND DIGITALE ALTERNATIVEN BILDORIENTIERTER SPEICHERVERFAHREN An der Schwelle zur massenhaften digitalen Bildverarbeitung, die medial den linguistic turn als Paradigma und Gegenstand der Kulturwissenschaften ablöst, stellt sich die Herausforderung und Option einer neuen Gedächtnisästhetik: die visuell vektorisierte Archivierung von Bildern jenseits der Verschlagwortung. Dies macht zwei Neubestimmung notwendig, die des Archivs und (in dieser Perspektive) die des Bildes. Bildarchivierung meint das Gedächtnis der Bilder als Subjekt (Bildgedächtnis etwa im Sinne Aby Warburgs) und Objekt des Archivs zugleich: Speichertechniken, welche das Bildgedächtnis als Dispositiv installieren, als Gestell zur mechanischen, dann kybernetischen Verfügung stellen. Zur Debatte steht mithin die Schnittstelle von Bildverständnis und Techniken der Bildarchivierung; die archivische Praxis der Verschlagwortung von Bildern ist auf ihre kulturellen Kopplungen etwa an die protestantische Bilderfeindlichkeit hin zu untersuchen (sola scriptura), „five centuries of habituation to words“ <Davies 1990: 144>. Erst eine Neufassung des Bildbegriffs selbst macht neue Formen der Bildarchivierung denk-, also konstruierbar. Ausgangspunkt ist dabei das Archiv: „Zum einen entscheidet sich am Archiv, welche Bilder überhaupt adressierbar sind, gespeichert werden und damit in die Formation sowohl des Wissens als auch der Geschichte eintreten. Zum anderen steht das Archiv auch für die Sorge unserer Wissenschaften um die Historie. Was bedeutet für Wissenschaften, die sich mehr und mehr der Historie widmen, die Frage wie sich ihre Untersuchungsgegenstände in Archive eintragen? <...> Welcher Bildbegriff ist in der Lage, eine Historie der Bilder an ihre Technologien anzuschließen? Welche Art der Historie wird in einem Archiv oder einer Datenbank einer bestimmten technischen Struktur ausgelöst?“14 12 Dazu Dirk Baecker, Anfang und Ende in der Geschichtsschreibung, in: Bernhard Dotzler (Hg.), TechnoPathologien, München 1992 13 Friedrich Kittler, Der Kopf schrumpft. Herren und Knechte im Cyberspace, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 9. September 1995 5 Diskursanalyse heißt, Wissenschaft auf ihre (Rede-)Praktiken hin zu untersuchen; sowohl Foucault wie Derrida aber meinten mit „Archiv“ das Textarchiv, nicht Bilder. Bilder sortieren Die längste Zeit waren Bilder nur alphanumerisch registriert als Gedächtnis adressierbar; gegenwärtig liegen die digitalen Bilder im Netz zumeist als dumb files vor, als nicht zu bearbeitende, für Suchprozesse damit zunzugängliche Daten. In Kopplung der Bildarchivierungsproblematik an die Fragestellung von G. E. Lessings kunstsemiotischem Traktat Laocoon oder die Grenzen von Malerei und Poesie (1766) gilt die Frage: Verhält sich das Sortieren von Bildern zum Archiv anders als das Sortieren von Texten? Traditionell diskrete Wissensspeicher werden in einen Medienverbund überführt, der nicht mehr zwischen Handschrift, Bruchdruck, Bild und Ton trennt; in den USA laufen die Arbeiten zur Installation einer nationalen Digitalbibliothek, die archivische Sammlungen, Texte und Bilder, Musik, Bewegtbilder und andere Dokumententypen umfaßt. Dieser Verbund aber verlangt nach anderen Such- und Kontrolltechniken als der klassische Textspeicher. Die Anschaulichkeit des Archivs steht hier selbst zur Disposition. Der Unterschied der vorliegenden Fragestellung zu verwandten Forschungen über die Logik von Bildosortierung liegt im Fluchtpunkt des Archivs und der bildgerechten Archivierbarkeit von Bildern als Kriterium der Sortierungsproblematik. Haberäcker <1989: 366> benennt dieses Kriterium als informatische Notwendigkeit: Die Bestimmung eines zu analysierenden Musters erfolgt anhand eines Vergleichs gegen die Datenbank. "Sortieren heißt, eine begrenzte Menge von Elementen in eine durch eine Relation definierte Reihenfolge zu bringen. Bilder sind dieser Operation erst zugänglich, seit sie zu Zahlen oder Zahlenfolgen geworden sind. Zuvor waren Ordnungen von Bildern immer Ordnungen, die entweder alphanumerischen Codes aufgepfropft oder in technischen Geräten standardisiert wurden <...>: die Bruno'schen Algorithmen, um Worte in mnemonische Bilder zu verwandeln, oder der Eastman Rollfilm, der Bilder in Standardformat auf Zelluloid aneinanderreiht. <...> Es lassen sich Bildarchive denken und programmieren, die nicht mehr dem Namen des Malers, den Daten der Aufnahme oder einer beliebigen Form von alphanumerischen Zeichen unterliegen, sondern Bilder als Bilder (-daten) und nicht als etwas anderes adressieren." <Heidenreich 1996> Damit folgt die (An)Ordnung der Bilder nicht mehr als schlagworthafter Zugriff analog zur bibliothekarischen Volltextrecherche der Suprematie der Schrift, die kulturgeschichtlich die längste Zeit sich angeschickt hat, alle andere Medien zu simulieren (rhetorisch etwa in der kunstwissenschaftlich relevanten Form der Bildbeschreibung als ekphrasis). Die Beantwortung der Frage nach der Zukunft des Bildgedächtnisses unter den Bedingungen digitaler Archivierbarkeit ist nicht möglich ohne den Rückgriff auf das kulturgeschichtliche Reservoir, d. h. die Präfigurationen von Bildspeichermodi durch kulturell eingeschliffene Praktiken. Darf ein digital kodiertes Bild überhaupt „Bild“ genannt werden?15 Der kalte archäologische Blick des Rechners auf Bilder ist solchen Debatten gegenüber indifferent; die Grundlagen der digitalen Bildpräsenz, also der Anschreibbarkeit von Bildern (Bilddateien) in ihren Elementen, lassen sich diskret beschreiben: „Image files contain basically a bit map; that is a long string of bytes <...> each of which describes an individual pixel of the image. Besides this bit map, <...> two more items <sc. are> required to interpret an image correctly: its hight and its width <...>. This information about an image is usually described as part of the physical characteristics of an image, together with information on how many bits per pixel 14 Diskussionsbeitrag (Typoskript) Stefan Heidenreichs zur November 1996-Sitzung der Arbeitsgruppe Bilder/Archive, Humboldt-Universität Berlin, Fakultät für Kulturwissenschaften (Leitung F. A. Kittler / H. Bredekamp). 15 Arno Günzel / Rudolf Gschwind, Was bleibt, ist das Umkopieren. Ein digitales Langzeitarchiv für Fotosammlungen, in: Sonderdruck mit Beiträgen der Tagung Ein Bild sagt mehr als 1000 Bits (9. Februar 1996, Schule für Gestaltung in Bern), Rundbrief Fotografie, N.F. 11/12/13, 27-30 (28) 6 are actually used, whether a compression algorithm has been applied, which one it has been and which 256 colours to select out of the millions which can be displayed <...>.16 Diese Wahrnehmung des Bildes erlaubt keinen semantischen Ansatz mehr: „It is currently impossible <...> to semantically describe an image to the computer and have it retrieve it.“17 Ahnlichkeitsbasierte Bildersuche steht damit vor einer Schwierigkeit, die im Textgedächtnis (text-string matching) nicht vorkommt. Das Umdenken des Archivs von Speicher in Richtung Signalübertragung eröffnet hier neue Wege, was einen Forschungsansatz von Seiten der Nachrichtentheorie nahelegt. Daß Bildarchivierung vielleicht nicht ausschließlich aus der Perspektive der Informatik, sondern vielmehr in Verbindung mit Kulturwissenschaften anzugehen ist, liegt an der Schnittstelle automatisierter und menschlicher Bildwahrnehmung. Die von Menschen empfundene Bildähnlichkeit differiert von der Ästhetik des Computers, dem ein Bild dem anderen meßbar nahestehen muß, um rechenbar zu sein: „Classical matched filtering fails at this problem since patterns, particularly textures, can differ in every pixel and still be perceptually similar.“ <Picard / Kabir 1994> Solange es um die Definition von Bildähnlichkeit geht, ist das menschliche Gedächtnis mit dem des Computers schlicht inkompatibel - es sei denn, Komplexität wird auf wenige triviale Kriterien reduziert. Gerade so aber ist es denkbar, das Bildgedächtnis von der Sprache zu befreien. Solange der Zugriff auf Bilddatenbanken nach dem Vorbild der Bibliothek modelliert ist, herrscht die Suprematie des Musters Schrift - eine Schrift aber, die zwischen Buchstabe und Zahl nicht mehr trennt (Kombinatorik der Signatur): „<...> lexicographers, librarians, and scholars sort words, how accountants, scientists, and engineers sort numbers, and how computers sort either or both.“18 Einen am Medium Sprache, aber nicht der Verschlagwortung orientierten Begriff der Bildspeicherung impliziert Hartmut Winkler anhand der von Ferdinand de Saussure getroffenen Unterscheidung zwischen der manifesten syntagmatischen Kette und den `latenten´ paradigmatischen `Assoziationen´19: „Jeder Begriff steht im Schnittpunkt einer Vielzahl von paradigmatischen Achsen; wobei Saussure Assoziationen nach Wortklang, nach semantischer Ähnlichkeit, morphologischen Gesetzmäßigkeiten usw. als völlig gleichrangig ansieht; all diese Achsen lokalisieren das Element im System der Sprache und bilden das Set von Alternativen, aus dem die Elemente für die manifeste syntagmatische Kette ausgewählt werden.“ <Winkler 1994: § 4> Eine im Sinne Lacans „blöde“ Signifikantenverkettung (alphabêtise) sieht den Analphabetismus der Bilder als Chance (was die Kunst der Moderne längst begriffen hatte). Sorting pictures heißt hier „the absence of picture alphabets and syntax“ <Davies et al. 1990: 57>. Digital gespeicherte Bilder sind aus Zahlen aufgebaut; für einzelne Bildelemente aber gilt (im Sinne der pattern recognition) „there is an absence of standardization“ <59>; „the same digital numbers may describe quite different objects“ <61>. Programme der Künstlichen Intelligenz sind bislang dort erfolgreich, wo die verarbeitete Information linear, also verbal oder numerisch vorliegt <Davies 1990: 110>; sie kapituliert vor Bild(ähnlichkeits)sortierung. „A more radical approach is to try to invent new types of memory, including 16 Manfred Thaller, The Archive on the Top of your Desk?, in: Jurih Fikfak / Gerhard Jaritz (Hg.), Image Processing in History: Towards Open Systems, Max-Planck-Institut für Geschichte in Kommission bei Scripta Mercaturae Verlag, St. Katharinen 1993, 34f 17 R. W. Picard / T. Kabir, Finding Similar Patterns in Large Image Databases: M.I.T. Media Laboratory Perceptual Computing Section Technical Report No. 205, veröffentlicht in: IEEE ICASSP, Minneapolis, MN, Vol. V., 161-164, April 1993 18 Ducan Davies, Diana Bathurst u. Robin Bathurst, The Telling Image. The Changing Ballance between Pictures and Words in a Technological Age, Oxford (Clandendon) 1990, 53 19 Ferdinand de Saussure, Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967 (*1916) 7 chemical types of the kind which might emerge from biological evolution (say, inlarge molecules)“, die mithin selbst eine Bild-Architektur repräsentieren <Davies 1990: 111>. Aufklärungsbilder Die automatisierte Archiving technischer Zeichnungen und entwurfbasierter Routinen für numerisch kontrollierte Maschinen stellen für die Informatik nach wie vor einen „syntactical Tower of Babel“ dar; “At a more mundane level, university libraries are beginning to acquire video-tapes, and to wonder how to arrange them on the shlelves, and how to make up for the complete absence of indexes pictorial or alphanumeric - within the tapes. The British Library is one of the agencies with the diffcult task of indexing satellite-based remote-sensing data, of which there is a large and growing un-indexed collection.“ <Davies et al. 1990: 66> Am Beispiel der alliierten Erkennung des Konzentrationslagers Auschwitz ist automatisierte Bildarchivierung ihre Geschichte(ohn)mächtigkeit bewiesen. Was Erkenntnis im logischen Sinne heißt, wenn sie an Apparate gekoppelt ist, verraten die Luftaufklärungsphotos seit April 1944: Erfassung ohne Deutung.Raul Hilberg20 verweist auf die Auswertungsberichte des Mediterranean Allied Photo Reconnaissance Wing; die Fotos aus dem Zeitraum von April 1944 bis Januar 1945 wurden nach mehr als dreißig Jahren von den CIA-Angehörigen Dino Brugioni und Robert Poirier unter Zuhilfenahme der modernsten Geräte und Techniken erneut untersucht.21 Die Medien von Aufklärung heißen hier Foto, Film und Computer, das bessere Gedächtnis. Der Impuls zu dieser CIA-Aufklärung der Vergangenheit war kein symbolischer, sondern ein imaginärer: Die CIA-Mitarbeiter waren angeregt vom Erfolg der Fernsehserie Holocaust und gaben erst daraufhin die Koordinaten aller Ziele von strategischer Bedeutung, die in der Nähe von Konzentrationslagern gelegen haben (also auch die der IG-Farben-Werke Monowitz) in den Computer des Bildarchivs ihres intelligence service.22 Erst unter den retrieval-Bedingungen des elektronischen Archivs kam das spezifische Gedächtnis der Bilder zum Zug. Solche Archäologie bedarf also der Fiktion als Impuls, im Doppelsinn des Spielfilms und der nicht mehr analog eingelesenen Bilder. Fiktion und Dokument: Klassische Gegenstände der Literaturwissenschaft. In Momenten wie 1944 aber heißt pattern recognition nicht Buchstabenlektüre, sondern Bilderkennung (vielleicht auch in Zukunft). Eine dazu bestimmte Zeitschrift: Evidence in Camera deutet die Verlagerung des Bildgedächtnis auf die Ebene der Maschination an. Was die Auschwitz-Flüchtlinge Vrba und Wetzler ihrerzeit bezeugten „ist in den Luftbildern eingeschrieben und kann diesen abgelesen werden." <Kommentartext Farocki, 13 u. 15> Das von Steven Spielberg initiierte Projekt Survivors of the Shoah Visual History sucht Erinnerungsbilder zu sammeln und der Öffentlichkeit online zugänglich zu machen: „Jedes der <...> Interviews wird mit einer Beta-SP-Videokamera, also fernsehtauglich, aufgenommen. Die Videobänder werden nach Los Angeles geschickt, zum Standort des Projektes, wo von den Videobändern mehrere Kopien gezogen werden: Eine VHS-Version wird dem Interviewten zusgestandt, eine weitere dient der Katalogisierungm, eine Betacam-Kopie der Sicherung. Außerdem wird das Interview für ein digitales Videobibliothekssystem mit Computerzugang gespeichert. Das Survivors of the Shoah Visual History-Projekt macht sich den technologischen Durchbruch der Datenspeicherung zunutze: Zehntausende Stunden von gefiltmen Erinnerungen können digital archiviert und für Benutzer mit Hilfe eines Supercomputers zugänglich gemacht werden.“ Die Technik der Inventarisation aber unterwirft die Gesichter der Gefilmten erneut dem alphanumerischen Code: 20 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt/M. 1990, 3 Bände, Bd. 3, 1205, Anm. 225 Vgl. ihren Bericht, `The Holocaust Revisited: Analysis of the Auschwitz-Birkenau Extermination Complex', ST-79/10 001, Februar 1979, der durch den National Technical Information Service vertrieben wird (NTISUB/E/280-002) 22 Siehe Harun Farockis Film Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1988); englische Version des Kommentars in: Discourse. Theoretical Studies in Media and Culture 15, Heft 3 (Spring 1993), 78-92. Siehe auch: Harun Farocki, "Die Wirklichkeit hätte zu beginnen", in: Ausstellungskatalog Fotovision. Projekt Fotografie nach 150 Jahren, Hannover (Sprengel-Museum) 1988, 119-125 21 8 „Alle Interviews werden gesichtet, und Katalogisierer erstellen einen Index mit Personen- und Ortsnamen, Aussagen und 12.000 Key-words. <...> Die Indices sind mit den digitalisierten Aufnahmen verbunden, und die Benutzer werden interaktiv Pasagen der Videoaufnahmen, Bilder und Information nach eigenem Gutdünken abrufen können..“ 23 Lesetechniken: Scanning Digitale Bildarchivierung löst den kunstgeschichtlich induzierten Bildbegriff unter der Hand auf; diese Ästhetik wird zu einer Untermenge generalisierter Wissenschaften bildgebender Verfahren: "Die Verwendung von Bildern, die nur noch unspezifische digitale Datensätze sind, nimmt heute stetig zu. <...> Gewiß handelt es sich im Hinblick auf digitale Daten, die als Erscheinungsbilder auf Interfaces generiert werden, nicht mehr um das, was, genau besehen, `Bild' heissen kann. <...> Das Marburger Bildarchiv, die Bildplatte, digitalisierbare IconclassSysteme und die künstlich auf Nichtmanipulierbarkeit verpflichteten CD-`Read Only Memories' indizieren deutlich die Probleme einer technologisch veralteten Autorschaft <...>."24 Das galt bereits für die Experimente der Physiologie bei Hermann von Helmholtz: "Das Bild wird zum Endzustand eines Dispersions- und Abtastungsprozesses." <ebd.> Hilfreich für eine Befreiung des Blicks auf Bilder von hermeneutischen Restriktionen ist in der Tat eine archäologische Ästhetik, die im kalten Blick des Scanners ihren technischen Ausdruck findet. Es geht dabei zunächst um die Befreiung des maschinellen Bildgedächtnisses vom Menschen, und dessen Wahrnehmung dann ihrerseits dementsprechend zu rekonfigurieren. Jenseits der Textbasiertheit werden Texte dabei selbst gleich Bildern einlesen - ein Bruch mit einer basalen Kulturtechnik des Abendlands. Nachdem die Indo-Europäische Sprachentwicklung die längste Zeit zwei- und dreidimensionale Bildwahrnehmung und daraus abgeleitete Abstraktionen in eindimensionale Scripte verwandelt hat, setzt zunächst auch der Computer in seinem Bedürfnis nach Datenstrings genau dort an: „So linear strings of information at present occupy a doubly-strong position in our culture because of the ease of printing, and because we invented computers to deal with numers by translating them into binary code, a process which could most readily be extended to words in the linear Indo-European language. By contrast, the raster scan that gives rise to the image in a cathode-ray-tube (whether pictures, words, or numbers) does not depend on linear syntax but on building up the appropriate pixels, or a mosaic of spots, to make symbols or a picture through a process of systematic ranking or weeping of a succession of parallel lines, one on the other, until the whole screen is covered.“ <Davies et al. 1990: 9f> Blindness and insight: Der Begriff des Sehens kann als Beschreibung für Operationen des Computers nur metaphorisch sein: „scanned images are effectively invisible to the computer, a fact deceptively easy to forget since those same images are readily visible to the human viewer.“ <Davies et al. 1990: 106> Jede eingescannte Datenmenge ist damit für den Computer nur noch metaphorisch ein Bild.25 Was erkannt wird, entscheidet nicht die Differenz von Text und Bild, sondern der Speicher 23 Albert Lichtblau, Cyberspatial Monuments of Memory, in: Gerfried Stocker / Christine Schöpf (Hrsg.), Memesis. The Future of Evolution Wien / New York (Springer) 1996, 234-236 (Katalog der Konferenz im Rahmen der Ars Electronica 1996 in ALinz) 24 Hans Ulrich Reck, Bildende Künste. Eine Mediengeschichte, in: Manfred Faßler / Wulf Halbach (Hrsg.), Mediengeschichte(n), UTB / Fink 1995, Abschnitt 5, über „die selektive Visualisierung der Welt und die Schematisierung des Bildes - Überlegungen zu einer Theorie des visuellen Samplings“. 25 Siehe Manfred Thaller, The Processing of Manuscripts, in: ders. (ed.), Images and Manuscripts in Historical Computing, St. Katharinen 1992, 41-71 9 „With encoded images, it is proper to speak of the displayed image as having been reconstructed from the encoded representation in storage. There are two kinds of such reconstructions, unique and approximate. <...> unique reconstruction achives absolute fidelity to the scanned image, but approximate reconstruction can achieve greater storage economy.“ <Kirsch / Kirsch 1990: 102> Ein solches speicherökonomisches Verfahren der Rekonstruktion von komprimierten Bildern aus dem digitalen memory beruht auf Fraktalen: „Liegt eine Übersetzung von Bildern in Text vor, so können alle konventionellen Operationen der Textverarbeitung zum Ausgang der Operation Sortieren werden. <...> Bilder können nach den Jahreszahlen ihrer Entstehung aufgereiht werden, sie können in der alphabetischen Reihenfolge der Künstler sortiert werden, oder nach ihren Motiven eingeteilt werden.“26 Demgegenüber gibt es eine zweite, Methode, Bilder in eine Art von Text zu verwandeln: „Diese Variante der Ekphrasis heißt schlicht und einfach Scanning oder Digitalisierung. Ein digitales Bild ist ein Feld von Symbolen.“ <ebd.> Digitale Faksimilierung - im Unterschied zur Fotografie - ist ein bildgebendes Verfahren (lat. fac simile als Imperativ). „Ein OCR-Programm seziert das Bitmuster in seine Textzeilen <...>. Es versucht schließlich, in dem Bitmap-Bild (`Klumpen´), dessen Bitmap-Form oder geometrische Struktur es gelernt hat, einen Buchstaben zu erkennen und schreibt <...> den entsprechenden ASCII-Wert in eine Datei. <...>. Ein gutes OCR-Programm isoliert jeden einzelnen Buchstaben durch ein Kästchen. Die Schwierigkeiten beginnen hier bereits beim Kerning (Unterschneiden), bei echte oder falschen Ligaturen, verschmolzenen Buchsaben und zerrissenen Lettern.“ <Limper 1993: 240> Dieser paläographischen Herausforderung begegnen OCR-Programme mit Mustererkennung, die im Unterschied zur Umrißerkennung (feature recognition) - auch griechische oder gotische Schrift zu überführen vermag <Limper 1993: 258>. Nahe an der Praxis von Paläographie heißt im Englischen to scan so viel wie „kritisch prüfen“ <Limper 1993: 75>; die Differenz dieses Sampling liegt in der Überführung qualitativer Zeichen in quantitative Einheiten, so nach der Scanner-Definition im Duden: „Gerät, das ein zu untersuchendes Objekt <...> mit einem Licht- od. Elektronenstrahl punkt- bzw. zeilenweise abtastet [u. die erhaltenen Meßwerte weiterverarbeitet]“. <nach Limper 1993: 75> Damit wird ein Palimpsest nicht mehr als Text gelesen, sondern als Gemälde gesehen. Ironie der Hermeneutik: Nur diese Blindheit macht es möglich, überschriebene Texte wieder lesbar zu machen. Der Scanner kopiert die Textvorlage elektronisch und speichert sie als Bitmustergrafik - also zwischen Text und Bild - ab: „Diese vom Scannner von der Vorlage erzeugte Bitmustergrafik, die ja eigentlich einen Text enthält, wird vom Computer aber nicht als Text verstanden <...>. <...> ein OCR-Programm erkennt die Zeichen des Textes an den Bitmustern und macht aus der Faksimilegrafik eine echte Textdatei.“ <Limper 1993: 22f> Zwei differente Verfahren markieren die archäologische Ruptur von analoger (analog zum menschlichen Lesen) und digitaler Datenverarbeitung: „Einerseits die Bildscannung, bei der ein Schriftstück als Bild erfaßt und Punkt für Punkt abgebildet wird, andererseits das sogenannte OCR-Verfahren, wobei eine optische Zeichenerkennung Buchstaben und Ziffern als solche im logischen Sinne `erkennt´. Der Vorteil dieser zweiten Methode 26 Bilder sortieren. Vorschlag für ein visuell adressierbares Bildarchiv, Vortrag Stefan Heidenreichs am 13. November 1996 an der Kunsthochschule für Medien Köln, Typoskript, 3 10 besteht in der Möglichkeit, in derart gescannten Texten mit Hilfe von Volltext-Recherche nach einzelnen Wörtern suchen zu können.“ 27 Auch die mittelalterlichen Dokumente der Monumenta Germaniae historica werden, wenn als Lichtbild eingescannt, nicht mehr intrinsisch als Dokumente im Sinne der Hermeneutik gelesen, sondern als Monument im Sinne der Archäologie Foucaults und der histoire sérielle zugänglich, vergleichbar der "äußere Kritik" in der Diplomatik. Statt Lesen also: Scannen; Artefakte (Bilder, Fragmente) und Urkunden-Schrift lassen sich somit aus der hermeneutischen Vertrautheit (der Transkription) in eine archäologische Wahrnehmungsdistanz bringen (textbegleitend). Und gedruckte Texte erhalten qua Einscannen einen (graphischen eher denn dem hermeneutischen Regime der Lesbarkeit a priori unterworfenen) "archäologischen" Status. Anschaulichkeit des Archivs Die Anschreibbarkeit von Bildern und ihren Archiven wird gleichursprünglich (im Sinne der arché als Befehl): "Die Digitalisierung der Bilder wird nach denselben Algorithmen organisiert werden wie irgendein Archiv." <Reck 17> Archiv ist im Medium Computer das Gesetz dessen, was gerechnet werden kann: „In den Hintergrundspeichern eines Datenverarbeitungssystems <...> werden die digitalisierten Bilddaten in Dateien abgelegt, die vom Dateimnager des jeweiligen Betriebssystems verwaltet werden. <...>Bei rein bildpunktorientierten Verfahren <...> wird jeweils eine Bildzeile einglesen, während es bei anderen Verfahren durchau sinnvoll sein kann, das gesamte Bild in den Hauptspeicher einzulesen <...>. Hier wird die Programmierung bei Betriebssystemen mit virtuellem Speicherkonzept vereinfacht. <...> Bei diesen Speicherungstechniken wird die bei der Dgitalisierung anfallende Datenmenge unverändert übernommen.“ <Haberäcker 1989: 52f> Unschärfe bei der Speicherung digitalisierter Bilder ist allein an der Schnittstelle zum Menschen, nicht aber in der Ballistik erlaubt: „Läßt man geringe Informationsverluste zu, die den visuellen Eindruck der Bilder oft nicht beeinflussen, so kann <...> eine weitere Erhöhung der Speicherungsdichte erreicht werden.“ <Haberäcker 1989: 56> Der Bildbegriff fällt auf das Archiv zurück, sobald dessen Anschaulichkeit adressiert wird: Holzmann, Stadtarchivar in Hagen, fordert in seinem Vorschlag eines „Geschichtsamts“, neben der Aktenlogistik auch das Bedürfnis nach Anschaulichkeit zu erfüllen, d. h. eine bildartige Verknüpfung der Dokumente. Doch Visualisierung heißt heute gerade umgekehrt die Auflösung von visuellen Daten in digitale Prozesse; im Sinne von Robert Becks imaging science bedeutet dies: Unsichtbares sichtbar, d. h. mit menschlichen Augen erkennbar machen. Dagegen steht die militärisch-strategische Evidenz des Stealth-Bombers: des für gegnerischen Radar unsichtbaren amerikanischen Tarnkappenbombers F 117, der aufgrund seiner aerodynamischen Monstrosität nur noch computergesteuert fliegen kann, „ein Syntheseobjekt, das das Verschwinden seines eignen Bildes, die Zerstörung seiner Repräsentation vorwegnimmt.“28 Die Speicherung digitalisierter Bilder ist an den trans-digitalen Begriff der Anschaulichkeit, also die rhetorische Kategorie der enargeia gekoppelt; auch hier also tut sich eine kulturarchäologisch begründete Interferenz auf. Bilder, zu Datenmengen digitalisiert, verlangen nach Rückübersetzung in bildliche Reproduktion und Darstellung, da das Bild für den Menschen - im Unterschied zum Computer - auch eine Technik ist, durch visuelle Beurteilung Wissen erst handhabbar zu machen. 27 Michael Wettengel, Eletkronische Bürosysteme und Archiveirung, in: Verwaltung & mangement, März/April 1996, 102-107 28 Paul Virilio, Die Eroberung des Körpers, München / Wien (Hanser) 1994, 74 11 Gedächtnisfotografie Auch für das bildbasierte Bildgedächntis gilt es, den Begriff des Latenz dem des Archivs vorzuziehen: „Henri Bergson lehnt es ab, das Gedächtnis als Schublade oder als ein Register zu begreifen, in dem wir einige Bilder suchen, die dieser oder jener Erregung entsprechen. Die Bilder schreiben sich weder in das Gedächtnis ein, als ob man sie auf eine Platte eingraviert, noch ist das Gedächtnis ein Behälter, in dem wir Erinnerungen suchen. Bilder oder Erinnerungen werden immer durch die intellektuelle Arbeit selbst produziert, die zwischen dem `Aktuellen´ und dem `Möglichen´ liegt. Bergson <sc. in Matière et mémoire> begreift die Gegenwart als die dichteste Form der Vergangenheit. <...> Das Gedächtnis ist nach Bergson eine Akkumulation-Form von Zeit, um die Möglichkeit einer Auswahl einzuführen.“ <Reisch 1992: 163 f.> Zog Bergson das Paradigma der Bildsortierung der Metaphorik von Bildgedächtnis vor? Wahrnehmungen drücken sich mehr und mehr durch die Handlungskraft des Maschinellen aus: „Diskursrepräsenativ für die Zeit um die Jahrhundertwende betrachtet er das Gedächtnis als ein selbsttätiges, automatisches Fotoarchiv, das die Wirklichkeit analog speichert und abrufbar hält. Die Aufgabe von Wahrnehmung und Bewußtsein besteht innerhalb des Erinnerungsprozesses darin, aus den vorhandenen Bildern diejenigen auszusondern, die der gegenwärtigen Situation entsprechen.“ <ebd.> Wenn die Arbeit des Gedächtnisses als Feedbackoperation beschreibbar ist, bedarf sie keiner Organisation der gespeicherten Daten durch transzendentale Signifikate wie der Name der Geschichte mehr, es sei denn: im (staatlichen etwa) Interesse einer eindeutigen Registrierung. Doch „Während die Assoziationspsychologie die Einzelelemente als diskontinuierliche Vielheit räumlich anordnet, gibt es für Bergson das bindende Moment von Zeit und Bearbeitung.“ <Reisch 1992: 164> Womit das dynamische Element verhindert, daß Erinnerung schlicht auf Gedächtnisspeicher reduzierbar ist. Vielleicht werden Archive, einer Anregung der Kölner Medienkunstgruppe Knowbotic Research folgend, nicht mehr gelesen, sondern generiert. Angela Melitopoulos hat dafür im Anschluß an Bergson einen Begriff gefunden: Timescapes.29 Am Ende die Rückkehr zu Hegel, der Archiv und Krypta, arcanum und Depot zusammenliest: „Die Erinnerung ist für Hegel <...> keine hervorbringende Funktion des Geistes, sondern im Gegenteil eine verschlingende und versenkende, indem sie die Mannigfaltigkeit räumlich und zeitlich gesonderter Eindrucksinhalte in den nächtlichen Schacht, die einfache Tiefe unanschaulicher geistiger Aufbewahrung zusammenzieht. Die Weckung und Gestaltung dieser Tiefe, die ihren Gehalt wieder zu Tage fördert, überläßt Hegel dagegen dem Gedächtnis, das er von der Erinnerung scharf unterscheidet. Sein Sprachgebrauch ist hier recht ungewöhnlich, weil wir sonst doch eher umgekehrt das bloße Behalten des Erlebten als Gedächntisleistung, die Weckung und Reproduktion dieser Inhalte aber als Werk der Erinnerung zu bezeichnen pflegen.“ <Schmitz 1964: 40> Womit die Gedächtnisapparate keine Prothesen, sondern die Agenten der Erinnerung werden. Medienarchäologie gräbt sich in diesen nächtlichen Schacht. 29 In: Lab. Jahrbuch 1996/97 für Künste und Apparate, hrsg. von der Kunsthochschule für Medien Köln, Köln (König) 1997, 172-182 12