Ethikunterricht in Österreich

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Anton A. Bucher
Ethikunterricht in Österreich
Kurzzusammenfassung des wissenschaftlichen
Evaluationsberichts der Schulversuche
"Ethikunterricht"
Im Herbst 1997 begann, von der Presse rege beachtet, an acht
Schulstandorten der Schulversuch Ethikunterricht (EU).
Mittlerweile ist dieser an 76 Schulstandorten genehmigt und
vielerorts nicht mehr wegzudenken, sodass die Zeit reif ist für
eine kritische Evaluation" aber auch dafür, über seine weitere
Zukunft zu reflektieren und politische Entscheidungen zu
treffen.
Der folgende Text ist eine massiv gekürzte Fassung des 326
Seiten umfassenden Berichts "Ethikunterricht in Österreich"
und präsentiert die wichtigsten Ergebnisse der vom
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur
beauftragten und 1999/2000 durchgeführten Evaluation.
Aufgrund des begrenzten Umfangs können die Schulversuche
nur grobmaschig skizziert werden, für differenzierte
Detailinformationen wird auf den Gesamtbericht verwiesen,
auf den mit Seitenzahlen hingewiesen wird.
Nichtsdestoweniger sollen die Skizzen behilflich sein, um
bezüglich der bisher gemachten Erfahrungen sowie der
Zukunft des Faches zu einem ersten Urteil zu gelangen. Die
Zusammenfassung gliedert sich in folgende Punkte:
1. Zur historischen Genese der Schulversuche F-U und zur
argumentativen Begründung von deren Notwendigkeit
2. Die in der (alten) Bundesrepublik gesammelten
Erfahrungen mit EU 3. Was von EU realistischerweise zu
erwarten ist 4. Die Lehrpläne
5. Der Bedarf an Ethik: Schüler/innen/stromanalyse 6. FU im
Urteil der Schüler/innen
7. Der Einfluss von FU auf soziomoralische Einstellungen der
Schülerinnen 8. EU aus der Perspektive der Unterrichtenden,
teils der Direktionen
9. EU hat sich bewährt - abschließende Empfehlungen an die
politischen Entscheidungs- träger
1. Zur historischen Genese der Schulversuche EU und zur
argumentativen Begründung von deren Notwendigkeit
• EU wurde in Österreich bereits in den siebziger Jahren
andiskutiert, nachdem 1972/73 die Bundesländer Bayern und
Rheinland-Pfalz, um der Abmeldungswelle vom
Religionsunterricht (RU) Herr zu werden, das Ersatzfach
"Ethik" eingerichtet hatten (S. 7 ff.).
• Aufgrund der hohen Akzeptanz des RUs, in der Bevölkerung
ebenso wie bei Politiker/innen, sowie wegen der im Vergleich
zu Deutschland signifikant niedrigeren Abmeldungsquoten
vom RU unterblieb hierzulande die Einrichtung von EU (S. 1
0).
• Intensiviert wurde die Diskussion um EU in den neunziger
Jahren aus folgenden Gründen: - Obschon sich von allen
katholischen Schüler/innen insgesamt nur' um die 5 % vom
RU abmeldeten (so 1998/99), nahmen die Abmeldungszahlen
an diversen Schulstandorten, insbesondere an BORGS,
beunruhigende Ausmaße an (bis über 50 %) (S. 2 3 ff.).
Aufgrund der Kirchenaustritte (seit 1995 durchschnittlich
mehr als 35'000 pro Jahr) steigt die Quote der Mitbürger/innen
ohne religiöses Bekenntnis (1998: 17%); allerdings ist in der
Population der Schüler/innen die entsprechende Quote
geringer (1 998/99: 3.4 %) (S. 14).
In der öffentlichen Diskussion ist der Ruf nach Werterziehung,
auch und gerade durch die Schule, in den letzten Jahren lauter
geworden; die allgemeine Klage über die ethische
Orientierungslosigkeit der Jugendlichen erhöhte die
Akzeptanz von EU, wie ihn mehr als die Hälfte von
repräsentativ befragten Österreicherinnen befürwortet (S. 17,
28).
• In der sogenannten Schlägler Erklärung (Kathpress vom
18.6.1993) akzeptieren auch die katholischen Schulamtsleiter
Ethikunterricht als Ersatzfach für alle Schüler/innen, die an
keinem RU teilnehmen (1 9f.).
• Im Herbst 1997 wurde, an vorerst acht Schulstandorten in V,
T und W, erstmals EU er- teilt. Dessen Notwendigkeit wurde
in den Anträgen zum Schulversuch primär damit be- gründet,
dass für zusehends weniger Schüler/innen gewährleistet ist,
jene religiös-sittliche Bildung zu erhalten, die im
Zielparagraphen 2 des SchOG vorgeschrieben ist. Begründet
wurde EU primär aus pädagogischer Verantwortung und
weniger aus schulorganisatorischen und pragmatischen
Gründen.
• Neuralgische Punkte zu Beginn der Schulversuche (28 ff.): EU als Ersatz- oder Alternativfach?
- EU als Freigegenstand oder verpflichtend?
- EU zwischen der Skylla der Indoktrination und der
Charybdis des Wertrelativismus? • Entsprechend kontrovers
waren (und sind) die Positionen der Parteien (26 ff.).
2. Die in der (alten) Bundesrepublik gesammelten
Erfahrungen mit EU
• Die Einrichtung des FU reduzierte in allen alten
Bundesländern die Abmeldungen vom RU massiv und
stabilisierte diesen nachhaltig.
• Zum EU meldeten sich überwiegend kirchendistanzierte
Schülerinnen an, die zugleich mit dem bisherigen RU
unzufrieden waren.
• Aufgrund der fortschreitenden Entkirchlichung
(Schüler/innen ohne religiöses Bekenntnis) ist in den letzten
Jahren der Bedarf an Ethik stetig gestiegen, in Rheinland Pfalz
bspw. von 0.47% aller Schüler/innen im Jahr 1973 auf 8.4 %
im Jahr 1998 (S. 41).
• Als problematisch wurde und wird empfunden, dass nicht
zeitgleich mit der Implementierung von EU ein geregeltes
Lehramtsstudium eingerichtet wurde. Die Zusatzausbildungen
an Weiterbildungsinstituten genügen den Standards nur zum
Teil (S. 48 ff.).
• Problematisiert wurde der Status von EU als "Ersatzfach",
worauf die Kirchen gedrängt hatten; faktisch führte dies auch
dazu, dass EU nicht angeboten wurde, wenn RU entfiel; aber
auch zu Klagen konfessionsloser Eltern, die nicht
nachvollziehen wollten und konnten, dass EU für ihre
Schüler/innen, die keiner Religion angehören, "Ersatz" sein
soll.
• Damit befasste Gerichte (bis zur höchsten Instanz)
verpflichteten solche Schüler/innen zwar zur Teilnahme am
EU. Aber im maßgeblichen Urteil des deutschen
Bundesverwaltungsgerichts vom 17.6.1998 wird EU nicht
mehr als "Ersatzfach", sondern als gleichwertiges
"Komplementärfach" bezeichnet (S. 47, 297).
• Anders präsentiert sich die Situation in den meisten neuen
Bundesländern, wo EU und RU als alternative
Pflichtgegenstände (mit Anmeldungspflicht) geführt werden.
3. Was von EU realistischerweise zu erwarten ist
• Die Evaluationsforschung ethischer Curricula, speziell im
angelsächsischen Raum durch- geführt, zeigte
übereinstimmend, dass diese ethisch relevante Kenntnisse
signifikant erhöhen, zu gut einem Drittel auch soziomoralische
Einstellungen (bspw. Rassismus) bleibend verbessern, aber
deutlich seltener zu praktischen Konsequenzen in der privaten
Lebensgestaltung führen (S. 86 ff.)
• Die Studie von Leschinsky zu LER (Lebensgestaltung Ethik - Religionen) im Bundesland Brandenburg zeigte, dass
die Inhalte dieses Faches, das mit dem in Österreich
angebotenen EU vergleichbar ist, Schüler/innen umso mehr
ansprechen, je stärker sie entsprechend sozialisiert wurden (S.
35 ff.). EU kann eine entfallene moralische
Primärsozialisation (speziell in der Familie) nur begrenzt
kompensieren, wenn überhaupt. Dies gilt auch für den RU.
• Realistisch ist es, vom EU zu erwarten, die Kompetenzen in
ethischer Reflexion zu erhöhen, relevantes Sachwissen zu
vermitteln und Diskurs einzuüben; ob daraus auch im
außerschulischen Alltag das richtige Handeln folgt, bleibt der
Freiheit der Schüler/innen an- heimgestellt.
4. Die Lehrpläne
• In Österreich sind neun verschiedene Lehrpläne in Gebrauch
(Überblick S. 62-85). Am weitesten verbreitet ist der in
Salzburg entwickelte, der - mit geringfügigen Modifikationen
- auch an den oberösterreichischen Schulstandorten, in
Dornbirn sowie in Wien (HBLA Strassergasse) übernommen
wurde.
• Dieser Lehrplan differenziert vier Leitthemen: Entwicklung
von Ich-Identität (1) und Sozialität (2), Mit- und Umwelt
(ökologische Ethik) (3), das Ethos der Weltreligionen (4).
• Alle Lehrpläne begründen die Notwendigkeit von EU mit § 2
SchOG. Mehrheitlich bestimmen sie das Ziel von EU in der
vernunftverpflichteten Förderung ethischer Reflexion, aber
auch in der Erarbeitung von Kenntnissen über die anderen
Religionen, um Toleranz und Wertschätzung zu fördern, sowie
in der Einübung diskursiver und sozialer Fähigkeiten.
• Mehrheitlich orientieren sich die Lehrpläne an den nicht
pluralisierbaren Grund- und Menschenrechten, auf denen
unsere Demokratie fundiert ist. Diesbezüglich sind - anders als
gelegentlich unterstellt - die Lehrpläne nicht relativistisch.
Hinsichtlich kontroverser ethischer Fragen mahnen sie die
Unterrichtenden jedoch zur Neutralität bzw. dazu an,
Schüler/innen zum eigenständigen Urteil zu befähigen, das
sich dem Diskurs aussetzen muss (S. 293). Zurückhaltung
wird auch bei der Behandlung der Weltreligionen gefordert;
über diese soll im Sinne von Religionskunde primär informiert
werden, was auch im RU so geschieht.
5. Der Bedarf an Ethik: Schüler/innen/stromanalyse
Aus verständlichen Gründen hat sich mit der steigenden
Anzahl Schulstandorte mit EU die faktische Anzahl
Ethikschüler/innen in den letzten vier Jahren
verfünfzehnfacht; bezogen auf die Gesamtschülerinnenzahl
der betroffenen Klassen ist die Quote der EU-Schüler/innen
jedoch leicht rückläufig, pendelt sich jedoch bei ca. 20 % ein.
• Die 3021 Ethikschüler/innen in diesem Schuljahr (2000/01)
bilden 242 Ethikgruppen (M 12.5 Schüler/innen) und
beanspruchen 395 Werteinheiten, d.h. 153 Klassen
frequentieren 2 Wochenstunden Ethik, 89 Klassen hingegen
nur eine (aufgrund Anwendung von § 7 Re- IUG).
• Mehrheitlich gehören die Ethikschüler/innen der
katholischen Kirche an (1999/00: 58.5 %), sodann sind sie
ohne religiöses Bekenntnis (1 6 %, Tendenz leicht steigend),
islamisch (1 0.5 %), religiösen Sondergruppen (9 %':
überwiegend evangelikal, Zeugen Jehowas), der evangelischen
Kirche (6 %).
• Entgegen der im Vorfeld geäußerten Befürchtung, EU
trockne den RU aus, reduzierte - wie Jahrzehnte zuvor in
der Bundesrepublik - das Ersatzfach die Abmeldungen
vom RU, an den Schulstandorten im Schnitt um 20 %.
Religionslehrerinnen empfinden EU insofern als
erleichternd, als er nicht im entferntesten eine so massive
Konkurrenz ist wie zwei Freistunden.
6. EU im Urteil der Schüler/innen
Im Schuljahr 1999/00 wurden die Ethikschüler/innen in
Österreich repräsentativ befragt (954 auswertbare
Fragebögen). Dabei interessierte:
- Aus welchen Motiven wählten sie EU? - Wie zufrieden sind
sie mit EU?
- Welche Lerneffekte attestieren sie dem EU? - Erfüllte der
EU ihre Erwartungen?
- Wie ist es um die Fortsetzung der Teilnahmebereitschaft am
EU bestellt?
- Wovon hängen diese Einschätzungen des EU ab? Seinem
Binnengeschehen? Klassengröße? Stundenplan etc.?
• Die Abmeldemotive wurden offen und mit geschlossenen
Items erfragt, beide Methoden der Datenerhebung führten zu
identischen und infolgedessen validen Ergebnissen (S. 165 ff.).
Interesse und Neugier ist das stärkste- Motiv (um 70 %),
Desinteresse an Religion und Unzufriedenheit mit dem
bisherigen RU das zweitstärkste (55 %). Gut ein Viertel der
Schüler/innen fühlt sich zu EU zwangsverpflichtet, was
zumindest anfänglich zu Verweigerung führte, aber in mehr
als der Hälfte der Fälle der interessierten Mitarbeit wich. Die
Anmeldemotive differieren zwischen den verschiedenen
Religionszugehörigkeiten massiv. Zwangsverpflichtet fühlen
sich insbesondere Schüler/innen ohne religiöses Bekenntnis,
sodann muslimische Jugendliche sowie solche aus religiösen
Sondergruppen, speziell Zeugen Jehowas, nicht aber
katholische und evangelische Schüler/innen, die EU primär
aufgrund religiösen Desinteresses und schlechter Erfahrungen
im früheren RU wählten.
• Die Zufriedenheit mit dem EU ist beachtlich (S. 174 f):
Freilich ist die globale Benotung dieses Faches ein noch wenig
differenziertes Maß, zusätzlich zeigte sich, dass Schüler/innen
EU überwiegend als "locker" einschätzen (75 %), als
"modern" (64 %); 53 % sagen, er sei "wichtig", 28 % "nicht
wichtig", 19 % legten sich nicht fest. EU wird als signifikant
positiver beurteilt als der von 75 % der Ethikschüler/innen
früher besuchte RU (S. 175).
Die Lerneffekte im EU wurden offen und geschlossen erfragt
(S. 176 ff.). Den stärksten Effekt bescheinigen die
Schüler/innen dem EU bezüglich der Förderung in ethischer
Reflexion (1 81 ff.): Knapp zwei Drittel hätten "viel / sehr
viel" gelernt "zu ethischen Fragen eine eigene Meinung zu
entwickeln", bloß 7 %"nichts", 55 % attestieren dem Fach
"viel / sehr viel" gelernt zu haben, "andere Ansichten zu
ethischen Fragen zu tolerieren", und bloß 7 %"nichts".
"Manchmal habe ich von Sachen erfahren, von denen ich gar
nichts wusste, und habe gelernt
mir eine eigene Meinung zu bilden, aber auch die anderen
Meinungen und Sichtweisen zu sehen bzw. zu verstehen." (w,
16, V)
"Wir haben viel über Toleranz gelernt, und ich denke, dass ich
andere Menschen und Meinun- gen leichter akzeptieren kann."
(w, 16, W)
Dem gegenüber ist der subjektiv wahrgenommene Lerneffekt
im Bereich der Lebensgestaltung deutlich geringer. Aber
immerhin 63 % attestieren, zumindest "etwas" gelernt zu
haben im Hinblick auf das Gewissen sowie das moralisch
richtige Verhalten im Alltag (S. 182); knapp jede/r zweite
habe zumindest "etwas" Klarheit bezüglich der eigenen
Zukunft gewonnen. Dass der Lerneffekt im Bereich ethischer
Urteilsbildung höher eingeschätzt wurde als im Bereich der
Lebensgestaltung entspricht den in den Lehrplänen
verankerten Zielsetzungen, die primär ethische
Urteilskompetenz intendieren, und nur sekundär - im Sinne
von Anregungen - entsprechendes Verhalten im
außerschulischen Alltag.
Die Erwartungen an EU waren sehr unterschiedlich und
reichten von "keine, ich trauerte um meine Freistunden" bis zu
"dass es interessant wird, dass ich etwas für mein Leben lerne"
(S. 183 ff.). Am häufigsten erwarteten sich die Schüler/innen
Diskussionen, sodann ..andere Religionen" und "aktuelle
Themen". Mehrheitlich seien die Erwartungen erfüllt worden:
Als erfüllt gelten die Erwartungen zumal dann, wenn die
gewünschten Themen zur Sprache kamen bzw. die erhofften
Methoden zur Anwendung gelangten, was stark von der
Sensibilität und den Kompetenzen der Unterrichtenden
abhängt: "Unser Pro£ ergriff immer die aktuellsten Themen.
Gestaltete den Unterricht mit viel Humor und auch ernst,
wenn es nötig war. Ich glaube, es liegt viel am Lehrer." (w, 1
8, S)
Jeder achte sah sich in den Erwartungen nicht bestätigt, weil
FU sich vom früheren RU nicht unterschieden habe: "Weil wir
über den Islam und das Judentum lernen, da hätte ich ja gleich
in den RU gehen können. Die lernen dort das gleiche." Das
erklärt sich aus den zahlreichen Parallelen der Lehrpläne EU
und RU und verweist auf die Notwendigkeit, die Relation EU
- RU trennschärfer zu bestimmen.
Die meisten Ethikschülerinnen (72 %) gedenken ihre
Teilnahme fortzusetzen (S. 190 ff.), am häufigsten, weil der
EU gut sei: "Weil wir eine gute Gemeinschaft entwickelt
haben und der Ethikunterricht mich interessiert". Jede/r fünfte
merkte ausdrücklich an, EU sei besser als RU: "Viel besser als
Religion, man bekommt eine eigene, gute Meinung, lernt
argumentieren und diskutieren." (w, 15, S). 22 % gaben an,
die Teilnahme erzwungenermaßen fortzusetzen: "Es wäre
mein Wunsch als Bekenntnisloser, meine Freistunden wieder
zurückzubekommen. Liebes Ministerium: Die Idee Ethik
verdient den Preis: Hirn- los!!!" (w, 17, S). Vor die Wahl
gestellt, EU zu besuchen oder Freistunden zu haben, würden
knapp 60 % letztere vorziehen, was in anderen Fächern wohl
ebenso der Fall wäre, auch in Religion.
Die geschilderten Einstellungen zum EU hängen von
mehreren Faktoren ab, am stärksten vom Binnengeschehen
im Fach selber (1 98 ff.). EU wird umso wohlwollender
beurteilt:
- je häufiger wirklicher Diskurs gelingt (,jede Stunde" gut 30
%),
- je seltener die Disziplin gestört wird ("Im EU ist es
undisziplinierter als in anderen Fächern: jede Stunde 12 %,
nie: 39 %) bzw. je seltener EU als bloße Erholungsstunde
erlebt wird,
- je engagierter sich die Schüler/innen verhalten können,
- je seltener Ethiklehrer/innen ihre Meinungen aufzwingen
(,jede Stunde": 3 %, "nie: 84 %),
- je seltener geprüft und abgefragt wird (,jede Stunde" 2
%",nie" 42 Ethikunterricht ist insgesamt ein Fach,
- in dem sehr oft diskutiert wird und die Schülerinnen
überdurchschnittlich stark die Themenwahl mitbestimmen
können,
- in dem sich die Schüler/innen mehrheitlich wohl fühlen,

in dem nichtsdestoweniger auch oft " Beschrieben und
Unterlagen (Arbeitsblätter etc.) eingesetzt werden,
- in dem mittelmäßig Disziplinstörungen auftreten und
häufiger als in anderen Fächern spielerische und
projektorientierte Formen versucht werden,
- in dem die Unterrichtenden alles andere als doktrinär sind,
sondern vielmehr als offene und tolerante
Diskurspartner/innen erfahren werden.
Die Einstellung gegenüber EU hängt von weiteren Faktoren
ab: - Wird EU in Randstunden platziert (in Salzburg bspw. zu
50 %), mindert dies seine Akzeptanz stark, seine Effizienz
jedoch nur mittelmäßig (S. 211 ff.); massiv erhöht wird jedoch
die Bereitschaft, in den RU zurückzuwechseln, sofern dieser
stunden- planmäßig günstiger liegt. Mitunter kam vor, dass
Ethikschüler/innen am Vormittag eine Freistunde hatten (weil
die anderen im RU waren), dann von 14 00 bis 16 00 auf ihre
Ethikstunde warten mussten.
- Je kleiner die Klassengräße, desto höher die dem EU
zugeschriebene Akzeptanz und Effizienz (S. 214 f.).
- Die Beliebtheit der Themen wurde, weil die curricularen
Inhalte der Lehrpläne nicht identisch sind, offen erfragt (S.
225 ff.). Am häufigsten als Lieblingsthemen genannt wurden:
Weltreligionen, überwiegend Buddhismus, Islam, Judentum,
der Bereich Okkultismus - Satanismus - Sekten, Sexualität und
Partnerschaft, soziale Probleme (Minderheiten, Gewalt gegen
sie etc.), ethische Probleme, speziell Todesstrafe und
Abtreibung.
7. Der Einfluss von EU auf die soziomoralischen
Einstellungen der Schüler/innen
Von EU wird erwartet, zu mehr ethischer Reflexion zu
befähigen, aber auch problematische Einstellungen - etwa
Ausländerfeindlichkeit - zu verändern. Aus diesem Grunde
wurden den Ethikschüler/innen 40 sozialpsychologisch
validierte Items zur soziomoralischen Einstellung vorgelegt,
die faktorenanalytisch auf die vier Skalen "Traditionelle
Werte", "Ausländerfeindlichkeit ... Relativismus und
moralischer Pessimismus" sowie "Sittliche
Handlungsbereitschaft" reduziert wurden. Dabei zeigte sich:
• Das Ausmaß an ethischem Relativismus ist beunruhigend
hoch (übrigens auch bei Schüler/innen in Religion) (S. 241
ff.): Zwei Drittel bejahen das Item: "Eigentlich gibt es weder
richtig noch falsch; alles ist relativ", ebenso viele fühlen sich
hinsichtlich ethischer Orientierung verunsichert, und drei
Viertel sind davon überzeugt, die Menschheit werde, wenn sie
mit der Umwelt so weitertue, dieses Jahrhundert nicht
überleben.
• Erfreulich gering ist jedoch die Ausländerfeindlichkeit (S.
239ff.): Nur 20 % meinen, es gäbe weniger Probleme in
unserem Land, wenn weniger Ausländer hier wären, 17 %
halten Ausländer/innen für weniger vertrauenswürdig als
Österreicherinnen.
0 Verhalten ist auch die Zustimmung zu traditionellen
(Gehorsams-)Werten (S. 235 f.); beachtlich jedoch die sittliche
Handlungsbereitschaft: Knapp 60 % erklärten sich bereit, für
ein umweltgerecht hergestelltes Produkt mehr zu bezahlen (S.
243).
• Der Zusammenhang mit EU: Schülerinnen, die diesen
effizient finden und sich in ihm engagieren, artikulieren noch
weniger Ausländerfeindlichkeit, weniger Relativismus, dafür
jedoch mehr sittliche Handlungsbereitschaft (S. 246 ff.).
• Für die Effektivität von EU spricht ein längsschnittlicher
Vergleich der Ethikschüler/innen im Bundesland Salzburg,
deren soziomoralischen Einstellungen bereits im Sommer
1999, dann wieder im Sommer 2000 erhoben wurden (S.
249f.). Nach einem zusätzlichen Jahr EU verringerte sich das
Ausmaß an Ausländerfeindlichkeit markant, aber auch - zwar
nicht so stark - der
ethische Relativismus:
• Das hohe Ausmaß an ethischem Relativismus könnte zum
Argument verleiten, EU schaffe gerade nicht Gewissheit,
sondern Orientierungslosigkeit, er sei infolgedessen
dysfunktional. Davon abgesehen, dass auch Schüler/innen im
RU ein ebenso hohes Ausmaß an ethischem Relativismus
artikulieren (S. 251 f), das nicht zuletzt
entwicklungspsychologisch bedingt ist (Suche nach IchIdentität und tragfähigen Werten): EU kann - wenngleich
bescheiden - dieses relativistische Lebensgefühl in
wünschenswerter Weise verändern und sollte infolgedessen
gefördert werden.
8. EU aus der Perspektive der Unterrichtenden, teils der
Direktionen Mit mehr als sechzig Ethiklehrer/innen sowie
mit sieben Direktoren wurden ausführliche Interviews
über die bisher mit EU gemachten Erfahrungen geführt,
transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet.
• Warum EU? Mehrheitlich wurden die Schulversuche auf
Initiative von Religionslehrer/innen und Direktoren lanciert,
seltener von anderen Fachlehrerinnen. Dazu bewogen die an
etlichen Schulstandorten besorgniserregend angestiegenen
Abmeldungszahlen vom RU nur sekundär; ausschlaggebend
war vielmehr die Sorge um die ethische Bildung jener
Schüler/innen, die nicht (mehr) am RU teilnahmen. Die
Schulversuche stießen weder im Lehrer/innen/kollegium, noch
in den Schulgemeinschaftsausschüssen und in der Elternschaft
auf Widerstand. Ethikunterricht, bis vor wenigen Jahren in
Österreich kaum denk- bar, fand von Anfang an eine hohe
gesellschaftliche Akzeptanz und sachliche Plausibilität (S. 257
ff.).
• Entsprechend präsentieren sich die Motive der
Ethiklehrerinnen, sich der zeitaufwendigen Zusatzausbildung
zu unterziehen: Einerseits persönliches Interesse, andererseits
die Sorge um die ethische Bildung der Schüler/innen-, nur
ganz vereinzelt schienen extrinsische Motive (zweites
Standbein etc.) auf (S. 259 f.).
• Bewährt haben sich im EU vor allem handlungsorientierte,
kreative Formen sowie als lebensnah empfundene Inhalte;
aber auch Weltreligionen kamen gut an, sofern sie methodisch
gut aufgearbeitet waren (264 f.).
• Die Rahmenbedingungen des EU sind an den einzelnen
Schulstandorten sehr unter- schiedlich. Zwei Drittel der
Lehrerinnen unterrichteten Ethik zeitgleich mit Religion, was
als besonders günstig eingestuft wurde; ein Drittel litt mitunter
massiv darunter, dass Ethikstunden an den Rand gelegt
wurden.
• Mit den Lehrplänen sind die Befragten überwiegend
zufrieden, insbesondere mit dem in Salzburg entwickelten;
weniger jedoch mit dem des Pl Innsbruck, weil dieser, eng an
den Bayerischen Lehrplan von 1972 angelehnt, zu früh zu
viele abstrakte philosophische Inhalte vorsieht.
• Neun von zehn Lehrerinnen registrierten in ihren Klassen
wünschenswerte Effekte des EU: Bessere
Kommunikationskultur, mehr Kohäsion und Gemeinschaft,
differenziertere Sichtweisen, Abbau von Stereotypen.
• Auch die Zusatzausbildung an den Pls (mehr als
dreihundert Stunden) wurde überwiegend gelobt, am stärksten
in Oberösterreich, am wenigsten in Wien, bevor dort ein neuer
Leiter die Verantwortung dafür übernahm.
• Die Direktionen beurteilen den Schulversuch überwiegend
positiv: Mehr Ruhe auf den Gängen, kein Problem mit
Beaufsichtigung etc.
• Neuerdings mehren sich jedoch Probleme-. Da bis zum
Vollausbau jedes Jahr mehr Werteinheiten benötigt
werden, gefährdet dies Freigegenstände und schürt den
Unmut anderer Fachlehrer/innen gegen EU, bspw. am
BORG Preis Allee in Salzburg, wo ein Antrag auf
Einstellung von EU gestellt, in der
Lehrer/innen/versammlung sowie im SGA jedoch (noch)
abgelehnt wurde.
9. EU hat sich bewährt - abschließende Empfehlungen an
die politischen Entscheidungsträger
Aufgrund der Evaluationsergebnisse ist den politischen
Entscheidungsträgem zu empfehlen, auf der Sekundarstufe 2
(fünfte bis achte Jahrgangsstufe Gymnasium) EU ins
Regelschulwesen zu überrühren, und zwar aus folgenden
Gründen:
Ein Ende der Entkirchlichung ist nicht abzusehen; die Quote
der Schüler/innen ohne religiöses Bekenntnis steigt
kontinuierlich weiter. Auch diese Schülerinnen sollten sich
explizit mit ethischen Fragen auseinandersetzen, sich dafür
relevantes Wissen, auch zum Ethos anderer Religionen,
aneignen, sofern § 2 SchOG flächendeckend Genüge getan
werden soll.
EU hat sich bewährt, weil er:
- bei der Mehrheit der Schüler/innen akzeptiert ist,
- in ihrer Sicht Lerneffekte zeitigt, die im Interesse des
demokratischen Staates liegen (mehr Toleranz,
differenziertere und eigenständige ethische Urteile),
- nachweislich das Ausmaß an ethischem Relativismus und
ausländerfeindlicher Stereotype reduziert und sittliche
Handlungsbereitschaft (geringfügig) erhöht,
- in der Sicht der Unterrichtenden wie der Schüler/innen die
Kommunikationskultur ver- bessert und den
Klassenzusammenhalt festigt,
- Kenntnisse vermittelt, die in anderen
Unterrichtsgegenständen nicht vorgesehen sind (bspw.
Weltethos), sodass das Anliegen des EU zwingend in einem
eigenständigen Unterrichtsgegenstand und nicht als
Unterrichtsprinzip zu verfolgen ist.
EU hat sich auch bewährt, weil sich Befürchtungen, die
gegen seine Einrichtung sprachen, nicht bewahrheiteten:
- Die Abmeldungszahlen vom RU sind nicht in die Höhe
geschnellt, sondern um 20 % zurückgegangen.
- Religionslehrerinnen empfinden EU nicht als existenziell
bedrohliche Konkurrenz, sondern als Entlastung, vor allem in
den zehn ersten Schultagen.
- EU, zurückgebunden an Lehrpläne, die sich an den nicht
pluralisierbaren und verbindlichen Grundwerten und
Menschenrechten orientieren, erhöht die ethische Unsicherheit
nicht, sondern reduziert sie empirisch signifikant.
Der Status von EU war auch in der Bundesrepublik
umstritten, kontrovers ist er auch in Österreich. Der
hierzulande zu Beginn der Schulversuche gewählte Begriff
"Ersatzfach" ist insofern verständlich, als den
Bildungsverantwortlichen an einem Ersatz für die im RU
geleistete Werterziehung gelegen war. Problematisch am
Terminus "Ersatzfach" ist, je- doch:
- Er ist für Schüler/innen ohne religiöses Bekenntnis schwer
verständlich zu machen und dürfte über kurz oder lang Klagen
von Eltern ohne religiöses Bekenntnis nach sich ziehen, was in
der Bundesrepublik wiederholt geschehen ist.
- Ethik versteht sich nicht als Ersatz von Religion. RU selber
beansprucht einen Mehr- wert, der vom EU weder geleistet
werden kann noch will: umfassender Sinnzusammenhang,
Gottesbeziehung etc.; EU als "Ersatzfach" könnte auch als
Diskreditierung von RU gelesen werden.
- Problematisch wäre auch die Bezeichnung
"Alternativfach", weil dann frei zwischen EU und RU
gewählt werden können müsste, was Änderungen im RelUG
nach sich zöge.
- Am angemessensten ist - wie auch in Bayern gehandhabt die Bezeichnung "Pflichtfach für alle Schüler/innen, die
nicht an einem RU teilnehmen"; an den geltenden
rechtlichen Bestimmungen zum RU müsste kein Jota
geändert werden.
Von Anfang an gewährleistet sein müsste eine ordentliche,
universitäre Ausbildung, dies am sinnvollsten an einem
interfakultären Institut unter Beteilung von:
Philosophische Ethik,
Religionswissenschaft,
Moralpädagogik und -psychologie, Jugendsoziologie,
Naturwissenschaftliche Disziplinen, speziell Ökologie (weil
diese in nahezu allen Lehrplänen vorgesehen ist),
Didaktik und Methodik.
Installation einer Lehrplangruppe: Diese wäre dergestalt
zusammenzusetzen, dass auf die Erfahrungen mit allen in
Österreich vor Ort entwickelten und lokal erprobten
Lehrplänen zurückgegriffen werden kann. Zusätzlich zu
Praktiker/innen wären auch universitäre Expert/innen (Ethik,
Moralerziehung etc.) einzubinden. Die Lehrplangruppe hätte:
- verbindliche Ziele von EU festzulegen,
- diesen angemessene Inhalte zuzuordnen,
- die Bezeichnung des Faches zu reflektieren: Ethik? Ethik
und Religionskunde? (weil die religionswissenschaftlichen
Anteile ausgeprägt sind), Werte? etc.
Sollte EU ins Regelschulwesen überführt werden, wäre zu
prüfen:
- von welcher Mindestanzahl Schüler/innen an EU angeboten
werden muss (in Bayern bspw. 5 Schüler/innen pro
Jahrgangsstufe),
Ferner wäre darauf zu achten,
- dass EU und RU - wenn organisatorisch irgendwie möglich zeitgleich angeboten wer- den,
- dass EU ein eigenständiges Profil bekommt, nicht zuletzt
dadurch, dass der Unterricht ein entsprechendes
Leistungsniveau aufweist,
- dass ein Unterrichtsbuch erarbeitet wird, das an den Lehrplan
zurückgebunden sein muss, aber sich an "Leben lernen"
(Klett-Cotta) orientieren könnte.
Entwicklungspsychologische Studien zeigen, dass
insbesondere in der Adoleszenz soziomoralische Einstellungen
(noch) verändert werden können, nicht nur in Richtung
Rechtsextremismus, sondern auch in Richtung mehr Toleranz
und Empathie. Im Erwachsenenalter hingegen bleiben
soziomoralische Einstellungen weitgehend stabil. Der Staat
muss sich überlegen, wie er diese entwicklungspsychologisch
gegebene Chance nutzen will. Schüler/innen/statements wie
folgende sprechen für sich:
"Ich habe gelernt, wie schnell man sich ein Urteil bzw. ein
Vorurteil über andere bildet und dass man damit sehr
vorsichtig sein muss." (w, 1 8, V)
"Über Sterben und Tod nachzudenken, das hat mir sehr
geholfen, als ich mit dem Thema im Bekanntenkreis
konfrontiert wurde; auch das Abtreibungsthema (= eigene
Erfahrung)." (w, 17, T) "Der EU hat meinen Umgang mit
meinen Mitmenschen verändert, geformt (positiver!) und
bewusster gemacht." (w, 16, 0)
"Konfliktlösung, Kindererziehung, Umgang mit Drogen,
Vorurteile gegenüber anderen Religionen aufgehoben." (w,
15, S)
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