Paul M. Martzak-Görike [email protected] Natur pur (?) Die dunkle Nacht vergeht, verschwimmt, verschwindet mit der Helligkeit der aufgehenden Sonne, und was vorher nur schemenhaft zu sehen war, bekommt nun markante Konturen, Ecken und Kanten, als ob das Licht die Materie erschafft und die Traumvorstellung zur Realität werden lässt. Der Morgen enthüllt Türme, Dächer, Mauern und Bauwerke, und vereinzelt erscheinen die grünen Flächen, Parks und Gärten, das glänzende, nasse Gras, die Bäume mit ihren majestetischen Baumkronen, Knospen öffnen sich und geben ihre bunten Blüten Preis. Die nächtliche Kühle wird verdrängt von der Wärme des schönen Tages, Vogelgesang erklingt und die Brunnen beginnen wieder eifrig zu plätschern, kündigen die Geräusche der erwachenden Stadt an. Wir existieren neben den Pflanzen, und die Harmonie würde problemlos funktionieren, doch wir verbauen unsere Freiräume, lassen nur in den Herzen der Ballungszentren die Grünflächen bestehen, verbauen die Natur, verbauen unsere Zukunft, mauern uns ein, aber das Leben findet seinen Weg. Die Straßen und Gassen, Gehsteige und Fahrbahnen, die wie verästelte kleine Flüsse durch die Stadt verbreitet sind, sind heute überzogen mit Trieben und verschlungenen Pflanzen, ein Teppich aus Ranken hat sich in der Nacht über dem Asphalt ausgebreitet und die Stadt in ein Meer aus exotischen Pflanzen getaucht. Die Menschen verlassen ihre Häuser wie Maulwürfe, blinzeln verlegen der sie erwartenden Gegend entgegen, sind leicht verschreckt, wollen lieber wieder in ihre Bauten zurück, aber sie haben alle Aufgaben zu erfüllen und darum müssen sie sich den seltsamen Verhältnissen stellen. Fest verankert wuchern die Gewächse um parkende Automobile herum, haben sie eingeschnürt und fahruntauglich gemacht, aber eigentlich verwandelt, verzaubert in wild wachsende Büsche, bis zur Unkenntlichkeit verschönert möchte man sagen. Die Flora hat sich ausgebreitet, die Außenwelt in Besitz genommen, überall wo sich ihr Gelegenheit bot, hat sie ihre grünen Fangarme ausgesandt, Straßenlaternen, Verkehrszeichen, Wartehäuschen und Litfaßsäulen haben Blätter und leuchtende Blüten bekommen, sind zu Blumenstöcken geworden. Um die in der Höhe zwischen Gebäuden gespannten Stromkabel schmiegen sich Weinranken und tragen bereits Früchte, saftige Trauben hängen über den Köpfen der Menschen und locken mit ihrem süßlichen Duft. Ein Urwald ist um uns herum entstanden. Der übliche Weg durch die Häuserschluchten wird heute zum Abenteuer, die schabenden Schritte auf festen Untergrund werden begleitet von Rascheln und Knacksen, die Füße tasten sich über weiche, nachgebende Flächen hinweg, sorgsam und bedacht, wie es sonst nie der Fall ist. Und auch die Luft ist frischer als sie gestern noch war, es riecht nicht mehr nach Großstadt, sondern nach Garten, der sanfte Wind verbreitet die Gerüche der Gräser und Blumen, versucht sie bis in die kleinsten Winkel und Ritzen zu tragen. Die Pflanzenwelt zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, weg von den Auslagen und Schriftzügen der Geschäfte, der Alltag steht heute still, denn jeder ist verwundert und überrascht, aber keiner wagt es, etwas gegen die neue Pracht zu unternehmen. Wer hätte gedacht, wie krank unsere Stadt gewirkt hat im Vergleich zu ihrem neuen, vor Kraft und Gesundheit strotzenden Pflanzenkleid? Die Neugier lockt immer weiter hinein in das Gewirr, die Innenstadt muss völlig zugewachsen sein, hier pulsierte immer schon das Leben, aber heute ist es neues Leben, der Insektenflug ist gerade dort am aktivsten, Bienen suchen Nektar und verteilen die Pollen eifrig zwischen den Blumen, landen auf flachen Blüten und kriechen hinein in Kelche. Schmetterlinge flattern zwischen den Blumen und Sträuchern umher, es scheint, als würde bei jedem Herzschlag ein neuer Falter aus seinem Kokon schlüpfen, es summt und zirpt. Die Wege sind überwuchert, es wächst bereits vereinzelt die Fassaden empor, all die hässlich grauen Bauwerke verschwinden hinter Blätterwänden, sind üppig überwuchert. Die schönen Häuser wirken geheimnisvoll und lebendig, denn sie bleiben weitgehend unberührt, es fehlte ihnen immer schon die Natur, nun Paul M. Martzak-Görike [email protected] ist sie da, ästhetisch begleitend, als verstünde die Natur unser Schönheitsempfinden besser, als wir es selbst jemals könnten. Der Fluss, der die Stadt teilt, in seinem breit gemauerten Becken stetig dahin strömt, ist zur Aulandschaft geworden. Die sich über ihn spannenden Brücken überziehen ganze Wälder aus Ufersträuchern, Schilfgewächsen und Weiden. Eine Idylle ist entstanden, anders kann man es nicht bezeichnen. Bemerkenswert, wie gut die Schlingpflanzen sich auf die schrillen Graffitibemalungen der Flussmauern eingestellt haben, die Ranken verzieren und kreuzen den gefärbten Stein nur diskret, lassen neue Kunstwerke entstehen, die einen starken Kontrast zu den verschiedenen Grüntönen des Blätterwerks unserer Pflanzenlandschaft darstellen. Wer hätte gedacht, wie fröhlich die Menschen, nachdem sie sich an das veränderte Bild gewöhnt haben, ihrer neuen grünen Stadt entgegentreten. Wie sehr sie all das Leben annehmen, auf das sie vergessen hatten, weil sie selbst zu leben vergaßen. Dieser Morgen hat die Menschen aus ihrem Traum aufgeweckt und sie in einer traumhaften Umgebung erwachen lassen. Auch ich habe mich in der Natur verloren, wandle zwischen Stauden und Sträuchern hindurch, dort wo es schattig ist wuchert das Moos, verziert versteckte Hauseingänge und Statuen, verbirgt auch all den Müll unter sich, die schmiedeeisernen Tore am Eingang eines Parks sind von Blättern fast gänzlich verhängt, denn die Flügel müssen nicht mehr verschlossen werden, bleiben geöffnet, die ganze Zeit. Die Mauern und Gitter sind beinahe gänzlich verschwunden, ragen nur noch vereinzelt unter Pflanzengeflecht hervor, als Mahnung, damit wir nicht vergessen, dass wir sie einst aufgestellt hatten. Ich erkenne den Park nicht wieder, beschnittene Gewächse haben sich gegen ihre Gärtner erhoben, blühen frei und ungezwungen, einst penibel gemähte Wiesen sind verwildert, das Gras ist durchzogen von zierlichen bunten Blumen, noch nie habe ich so ein bezauberndes Bild gesehen, kein Meister hat es bisher geschafft, ein ähnliches Paradies auf seiner Leinwand festzuhalten, nur die Realität wird diesmal der Realität gerecht. Müde von all den Reizen lege ich mich hinein in das Pflanzenbett, weich umschmiegen mich die Halme, beruhigend strahlt die Sonne vom Himmel, erwärmt die Haut, lässt mich die Augen schließen. Die Symphonie des Lebens, bestehend aus Tiergeräuschen und Bewegungen der Blätter und Blüten, umspielt mich, woher dieses Musizieren genau kommt, lässt sich nur erahnen. Alles strecke ich von mir, die Beine und die Hände; recke mich, lasse los, entspanne die Gelenke, entlaste meinen Körper, die Handflächen tasten, berühren die Natur um mich herum, spüren deutlich, wie alles weiter wächst, wie das Gras immer höher und höher mit den Blumen zusammenströmt, dabei bleibt es doch unverändert, nur ich bewege mich, versinke langsam, ohne Hast, im Boden, versinke unter der fruchtbare Erde, gebe mich diesem Traum vollkommen hin, gleite hinein in diese Zwischenwelt, Natur überall um mich herum, nimmt mich auf, ich werde zur Natur und verschwinde vor den Augen eines heimlichen, stillen Beobachters. Und dort, wo ich einst lag, blüht und lebt es, als wäre ich nie dort gewesen, unverändert und strotzend vor Leben. Später wird es Regen geben, dann nährt sich der Boden, neuer Saft wird durch die Äste, Halme, Ranken und Stängel fließen, wird die Pflanzen weiter wachsen lassen, bis sie zu einem schützenden Dach über der Stadt geworden sind, nicht um die Menschen zu verstecken, sonder um sie zu beschützen, und die Zeit wird dann komplett stillstehen, alles wird einfach nur leben, leben weil es zum Leben geboren ist. Und wenn sich die Dunkelheit über die Wildnis senkt, die Sonne untergegangen ist, dann werden die Blüten verschwinden, eingezogen sein in ihre Knospen, und die leuchtenden Blumen weichen den funkelnden Sternen und es verstummt alles, nur noch gelegentliche Rufe, und die Welt wird schlafen, alles wird dann schlafen, träumen und warten. Warten auf den neuen Tag, warten auf das Leben.