Froer - Evangelische Akademie Tutzing

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Peter Frör
Pfarrer im Klinikum Großhadern
81366 München
Kurzreferat
Welche Bedeutung haben religiöse Prägungen der Beteiligten (bzw. deren
Fehlen) bei ethischen Beratungen und Entscheidungen?
Tagung der Evang. Akademie Tutzing:
Ethik und Organisation im Krankenhaus
24.-25. 09.2003
1. Der Kontext Klinikum
Der Ort, von dem ich berichte, ist das Klinikum der Ludwig-Maximilian-Universität München,
Standort Großhadern.
Dort bin ich seit fast genau 18 Jahren Krankenhauspfarrer. Was ich Ihnen vortragen kann, ist
entstanden aus der Beobachtung, daß ich an einem Ort arbeite, an dem in höchst intensiver Weise
ständig weitreichende ethische Entscheidungen getroffen werden müssen und werden, die alle
Grenzbereiche des Menschlichen betreffen, die den Anfang des Lebens, das Gefährdetsein durch
Krankheit und nicht zuletzt das Sterben umfassen.
An diesem Ort ist die Frage, nach welchen Gesichtspunkten und Wertmaßstäben Entscheidungen
getroffen werden, eine permanente Realität und ein ständiges Diskussionsthema , und das alles
erklärtermaßen in einem ganz und gar säkularen Kontext, wenn man unter säkular versteht, daß
der Zusammenhang ein weltlicher, also nicht religiöser, gar kirchlicher Zusammenhang ist.
Säkular aber eben auch in der Hinsicht, daß keine religiöse Prägung oder weltanschauliche
Grundüberzeugung von vorneherein als unmöglich betrachtet wird. Eher erlebe ich ein Gewirr
verschiedenster Überzeugungen, die sich einmal decken und dann wieder in krassem Widerstreit
stehen. Sie werden immer wieder in der ganzen Spannung durch die gemeinsame Aufgabe, hier in
ein und demselben Krankenhaus tätig zu sein, zusammengehalten.
2. Ethische Entscheidungsfindung
Ethik kommt in der Welt des Klinikums in einem Gewirr von Entscheidungsfindungen in
unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichen "Unter-Welten" zum Tragen. Ich nenne ein paar
Beispiele:
In der Krankenpflegeschule sind junge Menschen unterschiedlichster Prägung und ethischer
Grundeinstellung versammelt. Alle bereiten sich auf den Beruf als Krankenschwester oder
Krankenpfleger vor. Wir Seelsorger begegnen ihnen bei den Ethikseminartagen in ihrem
Unterricht. Dort werden Grundfragen der Einstellung zu ihrem Beruf und zu den Menschen
verhandelt.
Der Pflegedienstdirektor gibt die Devise aus, daß von jetzt an in der Pflege am Klinikum nicht
mehr die optimale Pflege, sondern die sichere Pflege Standard ist, weil alles darüber hinaus nicht
mehr zu bezahlen ist, und bringt dadurch das Pflegepersonal auf den Stationen in ein
gewissensmäßiges Dilemma
Die medizinischen Entscheidungen trifft eine Ärzteschaft, die streng hierarchisch organisiert ist:
Die einen sind besonders an Forschung und Lehre interessiert ist, die meisten sind noch in der
Aus- und Weiterbildung. Indikatoren für die Entscheidungsfindung sind nicht religiöse, sondern
medizinische Parameter. Eine Mitwirkung anderer Berufsgruppen ist nicht vorgesehen. Wenn sie
dennoch stattfindet, dann informell.
Die anderen Berufsgruppen wie die psychosozialen Dienste (z.B. Sozialberatung oder
Psychoonkologischer Dienst) haben ihre eigene Prägung berufsethischer Kompetenz und
Zielsetzung. Weniger die persönliche Einstellung, sondern die Zugehörigkeit zu der Berufsgruppe
prägt das Entscheidungsverhalten.
Die medizinische Fakultät der LMU unterhält eine Ethikkommission, deren Aufgabe es ist,
Forschungsvorhaben am Menschen zu beurteilen und zu genehmigen. Hier müssen nach genauen
und strengen Standards alle derartigen Forschungsvorhaben vorgestellt werden. Hier geht es vor
allem um Personenschutz, Datenschutz, und ein den Regeln entsprechendes Forschungsdesign.
Unter strengen wissenschaftlichen Kriterien wird darauf geachtet, daß alles mit rechten Dingen
zugeht.
Am Klinikum gibt es keine institutionalisierte Ethik-Beratung, wenn man von den verschiedenen
Ethik-Kommissionen absieht, die bei bestimmten Indikationen vorgeschrieben sind (so z.B. wenn
eine Leber-Lebend-Spende zu Diskussion steht).
Wir Mitarbeiter/-innen der Seelsorge sind auf den Stationen präsent, für die wir verantwortlich
sind. Wir besuchen Patient/-innen, sprechen mit ihnen und ihren Angehörigen. Es gibt einen
stetigen informellen Austausch mit allen anderen auf der Station Tätigen. Manchmal werden wir
in Entscheidungsprozesse einbezogen, oft nicht. Es steht uns frei, jederzeit unsere Meinung
einzubringen.
3. Zur Frage der Bedeutung von religiösen Prägungen bei der Entscheidungsfindung
Ich bin auf einen Satz gestoßen, der uns hier weiterhelfen kann. Der amerikanische Physiker,
Psychotherapeut und Gruppentheoretiker Arnold Mindell, der einer unser Lehrer geworden ist bei
der Erforschung außergewöhnlicher Bewußtseinszustände bei Menschen auf der Intensivstation
und im Koma, sagt in seiner Feldtheorie: "Wir fühlen uns durch unsere Glaubenssysteme und
Visionen gedrängt, gewisse Dinge zu tun, und wir spüren, daß diese uns in Gruppen
zusammenbringen und so Gruppenidentität schaffen." (A. Mindell, Der Weg durch den Sturm,
S.28f)
Hier wird selbstverständlich vorausgesetzt, daß es die Glaubenssysteme und Visionen sind, die
das Handeln bestimmen, ja noch mehr, die überhaupt eine Gruppe zusammenbringen,
Gruppenidentität schaffen und so überhaupt ein gemeinsames Tun ermöglichen.
Allerdings verstehen wir sofort auch, daß es sich bei den hier genannten Glaubenssystemen und
Visionen nicht um religiöse oder gar kirchliche und konfessionelle handelt, sondern um tief unter
dem Offensichtlichen liegende Prägungen.
Es ist gut, sich heute daran zu erinnern, daß die Glaubenssysteme und Visionen, die sich in den
uns bekannten Kirchen und Religionen erhalten haben und dort immer noch lebendig sind, und
die uns heute vielerorts als erstarrte Traditionen erscheinen, auch einmal solche lebendigen
Prozesse waren, die ethische Entscheidungen ganzer Gesellschaften für Jahrhunderte bestimmt
haben.
Die Geschichte der ethischen Entscheidungsfindung ist dann aber in unserem Land und im
ganzen westlichen Kulturkreis im Gefolge von Reformation, Aufklärung und einem die Moderne
prägenden Auseinanderdriften unterschiedlicher ethischer Welten besonders in der Medizin die
Geschichte der Emanzipation von kirchlich-religiösen Vorgaben geworden. Dieser Prozeß spielt
sich heute noch im Großen ab, genau so wie im einzelnen Entscheidungsträger. Der Ministrant,
der über seine Begegnung mit seiner Kirche und seinem Glauben zum Medizinstudium gefunden
hat, weil er sich den Menschen zuwenden will mit seinen Fähigkeiten, kann sich diesem Prozeß
nicht entziehen, will er in der Welt der Medizin bestehen. Eine spannungsvolle Frage wird für ihn
bleiben, wenn er alle seine Examen bestanden hat und die Karriere winkt, wiesehr und wie offen
er von seiner Herkunft und Prägung nicht nur in seinem persönlichen Leben sondern in seinem
beruflichen Alltag Gebrauch machen wird.
In der Tiefe jedoch kommen die Wertvorstellungen und langfristig angelegten Prägungen zum
Tragen. Die Geschichte der Emanzipation ist zu kurz, als daß nicht die Spuren ihrer Vorschichte
immer wieder durchschienen. In der Ambivalenz von Emanzipation von gesetzten Vorgaben und
Vergewisserung des eigenen Grundes - so glaube ich zu sehen - fallen die ethischen
Entscheidungen. Nicht umsonst hat das Wort Gewissen das Wort Wissen in sich: Wissen um das,
was richtig und gut ist, Wissen um das, wo ich herkomme. Je angstfreier der Raum, je
vertrauensvoller eine Arbeitsbeziehung, um so leichter ist es, daß solche Prägungen in den Blick
und ins Gespräch kommen können.
Die Konsequenz daraus liegt offen, wird aber im Alltag m.E. viel zu wenig bedacht: Sie besteht
darin, daß der Grad der Verantwortung einer ethischen Entscheidung in dem Maß steigt, in dem
die dahinterliegende Glaubensüberzeugungen bewußt werden und bewußt einbezogen werden.
Das gilt auch, wenn die sichtbare Realität das genaue Gegenteil zu erweisen scheint, nämlich daß
eine ethische Entscheidung im medizinisch - universitären Raum umso unanfechtbarer erscheint,
je weniger sie weltanschaulich geprägt ist und je mehr sie möglichst objektiven
wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.
Über die damit gegebene Diskrepanz wäre zu diskutieren.
Ein derart offenes Herangehen könnte einen neuen und andersartigen Zugang zur christlichreligösen Tradition eröffnen, wie zu einem Schatz, der lange vergraben lag, aber immer noch da
ist und gehoben werden kann. Ich erinnere nur an die Geschichte vom Barmherzigen Samariter,
die zum Grundbestand christlicher Ethik gehört. Auch im säkularen Kontext ist heute bei uns
noch präsent und evident, daß man einen Menschen nicht einfach in seiner Not liegen lassen darf,
auch wenn das hundertfach geschieht, daß ein Mensch auch in seiner Verletztheit eine Würde und
einen Anspruch auf Hilfe hat. Barmherzigkeit als Grundhaltung steht auch heute noch einem Arzt
oder einer Ärztin gut an, weil dies einschließt, daß er oder sie um die Grenzen des Machbaren
weiß, die dadurch gegeben sind, daß der Mensch der Maßstab des Handelns ist und nicht ein
Vorhaben, ein Forschungsziel oder eine noch so wichtige Wichtigkeit.
Vgl. evtl. Lesung aus Römer 12, 9-16.
Ich zitiere noch einmal Arnold Mindell: "Wenn das Feld kongruent ist, ist das, was eine Gruppe
glaubt, identisch mit dem, was sie tut." (a.a.O. S. 30). Auf Deutsch heißt das: Glauben und Tun
stimmen überein. Eine Trennung beider, wie immer sie Gestalt gewonnen hat, tut nicht gut, weil
sie langfristig nicht überzeugt, mehr noch, weil sie langfristit zu nichts Gutem führt. Biblisch
heißt das Wort dazu: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." (Matth. 7,20). Das gilt nicht nur
für den Einzelnen, sondern auch für eine Berufs-Gruppe, für eine Organistation und letztlich für
das ganze Gesundheitswesen.
Zum Schluß möchte ich daran erinnern, daß Ethik in einem Krankenhaus viel mehr ist als
Medizin-Ethik. D.h. ich will darauf verweisen, daß die nicht instituationlisierten ethischen
Gegebenheiten die Kultur eines Krankenhauses viel mehr prägen als die institutionalisierten.
Gerade wo im Grenzbereich des Menschlichen gearbeitet, geforscht, gepflegt, besucht,
gesprochen, erlebt und entschieden wird, wo alle bis zum Äußersten gefordert sind, wo der
Bereich des Sicheren und Richtigen und damit Unanfechtbaren ständig verlassen und
überschritten werden muß, und zwar von allen, Patienten, Angehören und Mitarbeitenden, steht
der Zusammenhang von Glauben und Handeln auf dem Prüfstand.
Hier wird eine Wahrheit neu sichtbar und erlebbar, die die Mönche auf dem Heiligen Berg Athos
der Orthodoxie seit 1500 Jahren wissen, und der bis heute die Grundlage ihrer Spiritualität und
ihres geistlichen Kampfes bildet:
Wie du zu Gott stehst, das kann man unmittelbar daran sehen, wie du gerade in diesem
Augenblick mit deinem Bruder, deiner Schwester umgehst, und an sonst gar nichts.
Ich danke Ihnen.
Arbeitsgruppe:
Mit den Teilnehmenden der Frage nachgehen, wie es sich bei ihnen mit dem Zusammenhang von
Glauben und Tun verhält, wie ihre religiösen Prägungen ihre Entscheidungen beeinflussen oder
nicht.
Die Konsequenzen daraus für die ethische Entscheidungsfindung im jeweiligen konkreten
Kontext bedenken.
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