Nr.11-2017 – 13.3.2017 Der Himmel wird warten Von Marie-Castille Mention-Schaar (Neue Visionen, Kinostart 23. März 2017) Die Anwerbung sehr junger Menschen durch „Rattenfänger“ des IS gehört zu den schweren aktuellen Problemen unserer Zeit. Dieser Film handelt davon. Und es ist ein überzeugender Film. Umso besser. Da ist zunächst einmal Sonia. Sie ist, wenn der Film startet, bereits völlig radikalisiert. Sie trägt den Hidschab; sie nimmt die muslimischen Waschungen vor; sie betet soundso oft am Tag; sie will nach Syrien reisen; sie will als Märtyrerin sterben, um 70 Menschen, einschließlich ihrer Familie, zu retten; sie verachtet alles Westliche; sie hat Kontakt zu Terroristen, die einen Anschlag planen. Die Polizei taucht auf, sie hat von all dem Wind bekommen. Sonia wird verurteilt werden, darf zunächst zuhause bleiben. Aber kein Kontakt mit außen mehr, kein Telefon. Für ihre Eltern und die kleine Schwester ist das die Hölle. Es spielen sich dramatische Szenen ab. Sonia muss es, wird es langsam und mit Hilfe ihrer Familie schaffen, endlich wieder in ein normales Leben eingliedert zu werden. Und da ist Melanie. Eine sehr junge Schülerin, die sich mit ihrer Mutter bestens versteht, die nette Freundinnen hat, die sich um Soziales kümmert und die schön Cello spielt. Aber sie fällt per Smartphone in die Hände eines Verführers, der ihr ein Kompliment nach dem anderen macht; der ihr normales jugendliches Leben ablehnt; der ihr verheißungsvolles, verlockendes Propagandamaterial zeigt; der sie für sich will; der vorgibt, sie heiraten zu wollen. Melanie wird langsam aber sicher zum Islam „bekehrt“. Endstation Syrien. Die Eltern, die Berater (hier die bekannte, erstklassige, menschliche und erfolgreiche Dounia Bouzar) haben es schwer, so radikal, so „intelligent“, so verführerisch gehen die Dschihadisten vor. Man kann der Regisseurin dieses Films nur ein Kompliment machen. Es ist zwar, wie sie selbst sagt, eine fiktive Geschichte – aber sehr, sehr nahe an der Realität. Drehbuch und Inszenierung sind außerdem ganz einfach packend. Sandrine Bonnaire und Clotilde Courau spielen die Mütter, Naomi Amarger die Melanie, Noémie Merlant die Sonia. Wie vor allem letztere ihre Not darstellerisch zum Ausdruck bringt, ist geradezu erschütternd. Filmkunsttheatern und Programmkinos zu empfehlen. Bauer unser Von Robert Schabus (MFA, Kinostart 23. März 2017) Jahrhunderte lang war der Bauernstand für die Ernährung der Menschheit wie für die Wahrung gesellschaftlicher Werte von höchster Bedeutung. Betrachtet man die Entwicklung der letzten 10, 20 Jahre, kann man von einer Wahrung der Werte wirklich nicht mehr reden. Wo liegen die Gründe? In der Aufgabe der früher praktizierten regionalen Landwirtschaft; in der Globalisierung und dem damit verbundenen weltweiten Warenverkehr; in der Übermacht der industriellen Großkonzerne und des Big Business; in den Preiskämpfen der Handelsketten; in der unlauteren Werbung; im Preisverfall; in der vom Lobbyismus verseuchten Politik – wenn etwa, wie in dem Film dargestellt, eine Futtermittelfirma die Einsetzung einer Universitätsprofessur ermöglicht; in der Verschuldung der Bauernhöfe; in einem noch nie da gewesenen Marktradikalismus. Die Folgen: „Milch ist billiger als Mineralwasser“. In den letzten 20 Jahren mussten als Folge eines brutalen Neoliberalismus zum Beispiel in Österreich 55 000 Milchviehbetriebe schließen, d.h. alle 3 ½ Stunden ein Betrieb. Die Dörfer leeren sich. Technisierte, industrialisierte Großbetriebe entstehen; die Größe der Höfe hat sich seit 1970 verdreifacht (in einem Betrieb beispielsweise 1300 Mastschweine und daraus folgend eine jährliche Produktion von 3250 Schweinen, in einem anderen mit Legehühnern 56 000 Eier pro Tag). „Immer schneller, immer billiger, immer mehr“, heißt die Parole. Die Selbstmordrate bei Bauern ist bedenklich. Fällt etwa der Milchpreis, wird um des finanziellen Ausgleichs willen, mehr Milch produziert, was den Überschuss nur noch vergrößert. Die Liste der existenziellen Probleme ließe sich beliebig fortsetzen. Warum etwa werden hauptsächlich zu Futterzwecken jährlich Millionen Tonnen Soja importiert? Gottlob gibt es auch noch positive Fälle, wie etwa das Ehepaar Franz und Maria Vogt (Obersdorf, Niederösterreich), das Gemüse, Getreide und Wein produziert, Schafe züchtet und Schafprodukte verkauft, den Milchbauern Grünzweil (Bad Leonfelden, Oberösterreich), der nach biologischen Richtlinien arbeitet, oder den Landwirt Simon Vetter (Lustenau, Vorarlberg), der in seiner Region wöchentlich zwischen 500 und 700 Haushalte mit Gemüse versorgt. Insgesamt ist die Lage kritisch geworden. Dass in absehbarer Zeit Änderungen kommen müssen, ist unerlässlich. Alle Beteiligten sagen es, sind davon überzeugt. Man kann nur hoffen, dass die Veränderungen im Guten geschehen und nicht revolutionär. Dieser österreichische Film jedenfalls leistet insofern dazu einen Beitrag, als er die Augen öffnet. Filmkunsttheatern und Programmkinos zu empfehlen. Alles Gut Von Pia Lenz (Rise and Shine Cinema, Kinostart 23. März 2017) Die Flüchtlingskrise heißt so, weil es sich tatsächlich um eine echte schwere Krise handelt. Das Land ist, ob man es will oder nicht, gespalten. Die einen sagen, man müsse helfen, helfen, helfen, die anderen meinen, nicht alle Probleme der Welt könnten in Europa und vor allem nicht nur in Deutschland gelöst werden. Blickt man auf einzelne Schicksale, kann man nicht anders als helfen. Pia Lenz demonstriert das in diesem Dokumentarfilm. Es geht im Wesentlichen um zwei Familien und insbesondere um zwei Kinder, den Jungen Dajner, der mit seiner Mutter und seinem Bruder Mahmut aus Mazedonien nach Deutschland kam, dann um Ghofran, ein Mädchen aus Syrien, zu einer sechsköpfigen Familie gehörig, die der Vater nach einem Jahr in unser Land holen konnte. Wie steht es nun mit der Akzeptanz, mit der erforderlichen Integration? Dajners Mutter ist Roma und war als solche in ihrem Land oft Diskriminierungen (und Hunger) ausgesetzt. „Mazedonien nicht gut.“ Doch als Mazedonierin hat sie kein Bleiberecht. Sie befürchtet die Polizei und die Abschiebung, versteckt sich deshalb. Ob all dieser Sorgen wird sie psychisch krank, muss behandelt werden. Für eine Asylbewerberin ist damit ein Aufschub gesichert – aber für wie lange? Zu ihren Kindern sagt sie trotzdem: „Alles gut!“ Dajner scheint traumatisiert zu sein, ist oft aggressiv, tut sich in der überforderten Schule mit der Integration, vor allem mit der Sprache, äußerst schwer –es gibt Klassen mit 15 Kindern aus 13 Nationen-, wird aber von den Mitschülern doch akzeptiert. „Es gibt Flüchtlinge, die nett sind“, sagt eine Mitschülerin. Adel, 43, ist der bereits seit Monaten eine Wohnung suchende Vater von Ghofran. Man sieht das Mädchen lange Zeit nur mit einem traurigen Gesicht. Schwimmen zusammen mit Jungen, Rad fahrende Mädchen, sich immer wieder schminken – in Syrien unmöglich. Da ist das Kopftuch wichtiger. Sie will zurück zur Oma, zur Tante, nicht in Deutschland bleiben. Und doch heilt die Zeit Wunden. Langsam gewöhnt sie sich ein, findet Freundinnen, singt im Schulchor mit, möchte für immer hier bleiben. „Wir gehen zurück, aber nur zu Besuch“, sagt der Vater. Bei allen Problemen: Solchen Menschen muss geholfen werden. Pia Lenz hat einen wichtigen Film gedreht . . . . . . der von vielen gesehen werden sollte. Die Jones – Spione von nebenan Von Greg Mottola (Fox, Kinostart 23. März 2017) Die Gaffneys sind eine nette kleine, brave, leicht spießige amerikanische Vorstadt-, Mittelklasse- und Durchschnittsfamilie. Jeff ist Personalberater (mit merkwürdigen Versuchen an seinen „Kunden“), Karen ist Designerin (auch wenn sie gerade dabei ist, nur Urinale zu kreieren). Im Augenblick sind die Kinder im Sommerurlaub. Neue Nachbarn ziehen nebenan ein, Tim und Natalie. Sie sehen besonders gut aus, ihr Benehmen ist elegant und souverän, sie stellen sich den Gaffneys vor, biedern sich jedoch keineswegs an, machen einen wohlhabenden und erfolgreichen Eindruck. Tim berichtet, er sei Reiseschriftsteller (in seiner freien Zeit außerdem Glasbläser), Natalie sagt, sie sei Beraterin für die Social Media. Ist mit den Jones‘ alles in Ordnung? Offenbar nicht. Denn nach kurzer Zeit entdeckt die sich ein wenig umsehende und nachforschende Karen, dass Natalie und Tim Undercover- Agenten sind und dass Jeffs und ihre Wohnung mit einer Wanze ausgestattet wurde. Das ist natürlich ein Stich ins Wespennest. Jetzt kommt es zu Verfolgungsjagden, zu Schießereien, zu radikalen Zerstörungen, zu einer äußerst unangenehmen Begegnung mit einem Waffendealer und vielen anderen heiklen oder komischen Situationen. Mit bewundernswerten Darstellern – Zach Galifianakis als Jeff, Isla Fisher als Karen, Jon Hamm als Tim und Gal Gadot als Natalie- ist eine durchschnittliche Komödie entstanden, von manchen sogar als Hausfrauen-Spionage-Komödie abqualifiziert. Tatsächlich sind die amerikanischen Besprechungen sehr kritisch; man hätte, heißt es, den guten Schauspielern ein besseres Script bieten müssen. Doch Action und Situationskomik fehlen keineswegs. Und es wird vermutlich genügend Zuschauer geben, denen, was hier geboten wird, auch ganz gut gefällt. Lommbock Von Christian Zübert (Wild Bunch, Kinostart 23. März 2017) Es ist schon einige Jahre her, dass Kai und Stefan in ihrem Lokal „Lammbock“ eine Pizza vertrieben, die man nicht nur essen sondern anhand derer der man auch kiffen konnte. Stefan ist längst über alle Berge, in Dubai nämlich, wo er in Kürze die schöne Yasemin, Tochter eines einflussreichen Geschäftsmannes, heiraten will. Kai schlägt sich mit einem nicht allzu gut florierenden Asia-Lieferservice durch, das er „Lommbock“ taufte. Mit seiner Ehe steht es nicht gerade zum Besten, mit seinem Stiefsohn Jonathan ebenfalls nicht. Damit Stefan überhaupt heiraten kann, muss er kurz nach Würzburg zurückkommen, weil nur dort seine Geburtsurkunde ausgestellt werden kann. Da treffen er und Kai zusammen, und auch wenn im Prinzip sehr wenig Zeit ist – zu einem gemeinsamen Joint wird es ja wohl reichen. Und wie. Die beiden kiffen eine Nacht durch, und sofort wird Yasemin angerufen, um ihr mitzuteilen, dass Stefan wegen einer (vorgeschobenen) Krankheit Kais erst in 14 Tagen nach Dubai zurückkehren könne. Die alte Freundschaft ist also wieder aufgeblüht. Da macht Jonathan Schwierigkeiten. Hat der etwa Verbindung zu Salafisten? Nein, das gerade nicht, aber er handelt mit Drogen – und lässt sich gleich einmal Stoff für 10 000 Euro abnehmen. Kai und Stefan haben mit Hilfe des nur mit einer Cannabis-Wolke ansprechbaren Frank einiges zu tun, um das wieder zurechtzurücken. Stefan hat seine alte Liebe Jenny wieder getroffen. Der Sex ist jetzt nicht mehr weit. Soll er da wirklich wieder zu den Arabern zurückkehren? Er tut es zwar, aber nicht für lange. Dafür sorgen sowohl Jenny als auch Kai. Eine Gauner- und Kiffer-Komödie, einigermaßen originell ausgedacht. Der Autor und Regisseur Christian Zübert, heißt es, sei von den Fans immer wieder gebeten worden, dieses „Lammbock 2“ zu inszenieren. Und das Ergebnis wird den Fans sicherlich auch gefallen, denn Einfälle, Handlung, Dialoge und Dramatisierung sind soweit in Ordnung. Außerdem spielen beliebte Darsteller wie Moritz Bleibtreu als Kai, Lucas Gregorowitz als Stefan, Alexandra Neldel als Jenny, Melanie Winiger als Yasemin und Wotan Wilke Möhring als Frank. Vor allem für ein junges Publikum sowie „Lammbock“-Fans. Der Hund begraben – oder die Geschichte von einem Mann, der überflüssig wurde Von Sebastian Stern (Movienet, Kinostart 23. März 2017) Hans Waldmann hat Pech. An seiner Arbeitsstelle braucht man ihn nicht mehr; er wird freigestellt. Vielleicht wird es ihm leichter, wenn er es seiner Frau Yvonne sagen kann, aber die stellt im Moment die Wohnungseinrichtung um und hat keine Zeit. Mit der 15jährigen Tochter Laura ist es das Gleiche. Die ergatterte gerade ihren ersten Freund, den Fabi, und hat also andere Sorgen. Zu allem Unglück läuft der Familie jetzt auch noch ein Hund zu, und der bildet fortan den Mittelpunkt. Denn Yvonne verliebt sich sofort in den Kurt (nach Kurt Cobain) genannten Mischling, und Laura hat mit ihrem Kerl zu tun, der zum ersten Mal über Nacht bleiben darf. Hans ist aus dem Gleichgewicht. Die Teilnahme an einer esoterischen Versammlung bringt ihn auch nicht weiter – also lässt er sich von einer hübschen (und offenbar zu einer Affäre bereiten) Verkäuferin zum Kauf eines Autos überreden. Das kann er sich ohne weiteres leisten, denn er bekam ja eine Abfindung. Am nächsten Tag reißt Kurt aus und wird, wie es der Teufel haben will, von Hans totgefahren. Sein Grab bekommt der Hund im Wald. Der seelische Tiefpunkt von Hans rutscht noch etwas nach unten. Er trifft auf den schwer durchschaubaren Mike, der ihm gegen Bezahlung vorschlägt, er würde vor Yvonne die Schuld für den Tod des Hundes übernehmen. Doch zuerst bringt er das nicht übers Herz, und dann wirft er auch noch ein Auge auf die Frau von Hans. Die Lage wird immer verzwickter. Schließlich schleicht sich Mike davon. Dass er danach das gleiche Schicksal erleidet wie Kurt, das schlägt dem Fass den Boden aus. Hans und Yvonne aber haben daraus einiges gelernt. Yvonne wird ihrem Mann keinen Hund mehr vorziehen. Komik und Tragik lösen sich in dieser rabenschwarzen Komödie ständig ab. Die Moral mit einem gewissen Tiefgang: zu einem solchen Wahnwitz kann es kommen, wenn man nicht richtig miteinander kommuniziert. Das Absurde wird in diesem Film durchweg „todernst“ vorgetragen, das macht weitgehend den Reiz aus. Justus von Dohnanyi ist ein Meister dieser Ausdrucksform. Das passende darstellerische Gegenstück: der glänzende Georg Friedrich als Mike. Nicht zu vergessen Juliane Köhler als Yvonne Waldmann. Sebastian Stern inszenierte nicht nur, sondern er schrieb auch das Drehbuch. Insgesamt eine wirklich solide Arbeit. In Filmkunsttheatern und Programmkinos sehr gut möglich.