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DER GILDEN-DIENST Nr.22-2015 – 1.6.2015
Victoria
One Girl, One City, One Night, One Take
Von Sebastian Schipper
(Senator, Kinostart 11.Juni 2015)
Eine Nacht in Berlin. Vier junge Kerle. Einer hat Geburtstag, also feiern sie. Sie heißen
Sonne, Boxer, Blinker und Fuß, jedenfalls nennen sie sich so.
Es ist schon sehr spät in der Nacht, aber sie feiern immer noch. Da treffen sie auf
Victoria, ein spanisches Mädchen, seit drei Monaten in Berlin. Sie tollen mit ihr herum,
benehmen sich völlig in Ordnung, wenn auch angesäuselt.
Boxer war vor kurzem noch im Knast, und deswegen schuldet er einem gewissen Andi
etwas, der ihn damals beschützte. Es muss sein, und zwar jetzt. Also fahren sie hin,
Victoria ist als Fahrerin mit dabei.
Allerdings konnten sie nicht ahnen, dass Boxer Andi 10 000 Euro schuldet und dass sie,
um an das Geld zu kommen, einen Banküberfall begehen müssen. Es klappt auch,
jedenfalls sieht es so aus. Denn mit der Flucht klappt es weniger, sowohl Andi und seine
Männer als auch die Polizei sind hinter ihnen her.
Das Hauptmerkmal besteht darin, dass Regisseur Sebastian Schipper und sein
Kameramann Sturla Brandth Grovlen (Silberner Bär in Berlin) den 140-Minuten-Film in
einer einzigen Einstellung drehten, eine beachtliche künstlerische und technische
Leistung. Doch damit nicht genug. Auch die dichte Story fesselt bis zum Schluss.
Dann die Schauspieler. Sie wirken auf derart natürliche Weise, dass man mit ihnen
mitfühlt und mitlebt. Frederick Lau, den man im Kino leider nicht oft zu Gesicht
bekommt, spielt toll. Den Vogel schießt aber ohne Zweifel Laia Costa ab. Ihre Victoria ist
ganz einfach ein darstellerisches Ereignis. Hoffentlich wird man sie jetzt oft sehen und
erleben können.
Ein menschliches, ein spannendes und ein filmtechnisch sogar einzigartiges Drama.
Filmkunsttheatern und Programmkinos zu empfehlen.
Das dunkle Gen
Von Miriam Jakobs und Gerhard Schick
(RealFiction, Kinostart 11.Juni 2015)
Frank Schauder ist gleichzeitig Arzt und Patient (major depression). Das ergibt die
Dimension dieses Films.
Zuerst zum Patienten. Frank Schauder ist wahrscheinlich erblich belastet. Er befürchtet,
dass auch sein Sohn betroffen sein könnte. Von seiner Frau Bettina ist er getrennt. Er
musste seine Berufstätigkeit unterbrechen. Wollte sterben. Persönliche Beziehungen
lösten sich auf. Er fühlte sich schuldig und „zerstört“.
Zeitweise ist er derart deprimiert, dass ihm die Tränen kommen. Vor allem, wenn er vor
dem sinnigerweise in einer alten Kirche aufgebauten Supercomputer steht, der zwar
enorm viel berechnen kann – aber eben nicht alles, nicht Gott, nicht den Kosmos, nicht
alle Funktionen des menschlichen Gehirns. Da nimmt der Film ehrfürchtige und religiöse
Züge an.
Dann zum Arzt. Natürlich will Schauder seine Krankheit ergründen. Es gibt die Genetik.
Man kann Gehirnregionen und Gehirnzellen, Botenstoffe, Chromosomen, Mutationen,
Nervenimpulse oder Abweichungen untersuchen. Natürlich auch die entsprechenden
Medikamente und ihre Wirkungen. Man kann unter Millionen Zellen die DNA jedes
einzelnen herausfinden. Man kann Unsichtbares sichtbar machen.
Es besteht heute bereits die Möglichkeit, ein Genom derart zu zerlegen, dass daraus
geschlossen werden kann, welchen Krankheiten und welchen Lebensgefahren der
betreffende Mensch ausgesetzt ist. Es gibt in diesem Film Passagen aus amerikanischen
Labors, die damit herumexperimentieren, in den menschlichen Körper Zellen zu
verpflanzen, damit dieser nicht mehr altert, sondern sich sogar verjüngt.
Natürlich ist vieles davon auch Manipulation, Spekulation, Improvisation. Aber erfahren
kann man in diesem Dokumentationsfilm eine Menge. Eine höchst interessante
Angelegenheit.
Das gilt sogar für die formale Seite. Die Macher haben sich da etwas einfallen lassen.
Animationen, Wetter- und Phantasiebilder verstärken das Gesagte. Sogar Musik kann
aus einer DNA entstehen. Ziemlich außergewöhnlich die Komponistin, die hier auftritt.
Wer über Humangenetik, Hirnmorphologie oder Neurodiversität etwas lernen will, der
ist beim „dunklen Gen“ goldrichtig.
Aber menschlich ebenso bedeutsam ist das hier geschilderte Schicksal des Frank
Schauder.
Filmkunsttheatern und Programmkinos zu empfehlen.
Beyond Punishment
Von Hubertus Siegert
(Piffl, Kinostart 11.Juni 2015)
Tötung, Schuld, mögliche Vergebung, Angst, unbeantwortete Fragen, das alles wird in
diesem preisgekrönten Dokumentarfilm hinterfragt.
Norwegen. Stian hat aus Eifersucht die 16jährige Ingrid-Elisabeth getötet – weil sie, so
sagt er, ihn außergewöhnlich provoziert habe. Nach norwegischem Jugendstrafrecht
bekam er dafür sechs Jahre Haft. Die sind verbüßt, vorbei.
Vorüber ist jedoch nicht die Angst von Eric, dem Vater des Opfers, vor einem Rückfall.
Vorüber ist dagegen Stians Möglichkeit, mit der Familie der Getöteten zu sprechen, um
Vergebung zu bitten, zu sagen, dass er, wenn er könnte, sein Leben für das des Mädchens
geben würde.
Eric lehnt nach langer Überlegung schließlich ab. Zu groß ist noch immer der Schmerz
über den Verlust seines Kindes.
New York, Bronx. Lisa und Leola sind seit elf Jahren allein. Darryl, Leolas Bruder, wurde
nach einem Streit von einem gewissen Sean aus Wut erschossen. Sean streitet alles ab,
obwohl die Indizien gegen ihn sprechen. Lisa kann nicht vergeben, wünscht den Killer in
die Hölle. Ihre Tochter Leola kämpft unter Tränen mit sich. Sie weiß, dass sie schon
allein aufgrund ihrer Frömmigkeit vergeben sollte, sagt sich jedoch, dann wäre Sean fein
heraus – und ihr Bruder der doppelte Verlierer. Wann sie dieses Dilemma überwunden
haben wird, weiß sie nicht.
Patrick ist der Sohn des seinerzeit von der RAF ermordeten hohen
Außenministeriumsbeamten Gero von Braunmühl. Er möchte seit vielen Jahren die
genauen Beweggründe, die Vorgänge und die nachherige Entwicklung herausfinden.
Einen direkten Mörder findet er nicht mehr – dafür aber das RAF-Gründungsmitglied
Manfred, der selbst einen Polizisten auf dem Gewissen hat. Ein langes Gespräch bleibt
zunächst ohne Fortschritt. Aber Manfred will Patrick weiterhelfen.
Die in den drei Ländern geltenden unterschiedlichen Strafverfolgungssysteme, der
Ablauf und die Psychologie der Tötungsmomente, die Schwere der Schuld, das Leid der
Opfer und ihrer Angehörigen, die in weiter Ferne liegende aber mögliche Vergebung,
zusammen mit vielen in solchen Fällen offen bleibenden Fragen. . .
. . . das alles wird hier –unter Verwendung eines Spannung erzeugenden Schnitts- in
vielen Befragungen, Gesprächen und Schilderungen geduldig und ausführlich seziert.
Eine Welt von Gefühlen, Schmerzen, Erkenntnissen, krassen Verfahrensunterschieden
sowie vergangenen und künftigen Fragen tut sich auf, die diesen Dokumentarfilm reich
macht – auch wenn vieles zwangsläufig offen bleibt und er den Zuschauer bis zu einem
gewissen Grade bedrückt zurücklässt.
Ein menschlicher wie juristischer Dokumentarfilm von Rang.
Filmkunsttheatern und Programmkinos zu empfehlen.
Rico, Oskar und das Herzgebreche
Von
(Fox, Kinostart 11.Juni 2015)
Auf Oskars Vater ist offenbar kein Verlass, also wohnt der Junge bei Rico und seiner
Mutter, Tanja Doretti. Jeden Dienstag ist „Bingo“, und da fällt dem gescheiten Oskar, der
ein wenig schlauer zu sein scheint als Rico und nicht selten mit wissenschaftlichen
Formeln um sich wirft, sofort auf, dass mit falschen Zahlen gespielt wird. Rasch stellt
sich heraus, dass Ricos Mutter, die sich im Nachtclub „Mausefalle“ als Kellnerin etwas
dazu verdienen muss, von einer gewissen Frau Wandbeck und ihrem Sohn Boris
erpresst wird. Die Wandbeck lässt gestohlenes Gut durch Tanja Doretti per Computer
verkaufen.
Vor allem für Oskar ist das etwas, das gar nicht geht, was sofort abgestellt werden muss.
Mit Hilfe einer ganzen Reihe erwachsener Freunde beschaffen sie sich u.a. während des
nächtlichen Barbetriebes in der „Mausefalle“ den Schlüssel für jene Scheune, in der das
Diebesgut gelagert ist. Das lässt sich nur „inkognito“ und nicht ohne erhebliches Risiko
bewerkstelligen, geht jedoch nach gehörigen Turbulenzen gut aus.
Oskar wird weiter bei Rico wohnen, und der Liebeskummer von dessen Mutter mit
Simon, bei dem nicht eine „Tussi“ sondern nur seine Schwester übernachtete, löst sich
ebenfalls in Wohlgefallen auf.
Die in dem zugrunde liegenden Buch beschriebenen Einfälle sind in der Filmhandlung
gut ausgearbeitet, und auch das Milieu des Berliner Mietshauses oder etwa der
„Mausefalle“ stimmt. Dazu kommen die beiden Buben Anton Petzold (Rico) sowie Juri
Winkler (Oskar), die ihre Sache frisch, einnehmend und überaus natürlich machen.
Schließlich eine ganze Schar bekannter deutscher Darsteller, die das, auch wenn es
manchmal nach Klischee riecht, alles qualitativ noch anheben: Karoline Herfuth (als
Tanja Doretti), Ursela Monn (als Nachbarin) und Katharina Thalbach (als böse
Betrügerin Wandbeck), eine besser als die andere, besonders die Thalbach.
Dann Henry Hübchen (als alter Freund), Moritz Bleibtreu (als Boris Wandbeck), Roland
Zehrfeld (als Simon) oder Milan Peschel (als Sammler von Schmucksteinen).
Für Kinder.
Hirschen – Da machst was mit
Von George Inci
(Hirschen-Filmverleih, Kinostart 4.Juni 2015)
Ein problematischer Fall, wie er oft vorkommt. Das Drehbuch liegt seit langem vor,
Förderung wird verweigert, da gilt nur eines: Man muss Geld und Mittel sparen, muss
improvisieren, mehrere unterschiedliche Aufgaben übernehmen, zu Laien, Dilettanten,
Freunden und Idealisten Zuflucht nehmen. Oft leidet die Qualität darunter.
Das hier ist ein solcher Fall. Die Ausgangsidee ist gut. In einem Osttiroler Bergdorf
schließt die einzige Fabrik. Viele werden arbeitslos, manche verlassen den Ort. Er heißt
„Hirschen“, das Nachbardorf „Klauen“. Was nun? Die Daheimgebliebenen sind zunächst
ratlos.
Auf der Hauptstraße nahe dem Dorf kommt es zu einem Wildunfall – ausgerechnet mit
einem Hirsch. Das Tier ist tot, der Fahrer, der Geologe Gandhi, der in der Nähe die
Heißwasserquellen untersuchen wollte, schwer verletzt. Da sprießt bei den Dörflern
eine Idee. Wie wäre es, wenn man an der betreffenden Stelle künstlich Autounfälle
verursachen würde. Dann müssten die Verletzten in „Hirschen“ ausgeheilt werden, und
damit käme Geld ins Dorf. Der Metzger, der Mechaniker, der Arzt und ein weiterer
Bürger stellen sich zur Verfügung und arrangieren die Unfälle. Einen nach dem anderen.
Tote darf es unter keinen Umständen geben. Das Geschäft blüht. Verletzte gibt es genug.
Geld ebenfalls.
Das Dorf will noch auf einem zweiten Bein stehen. Ein wichtiges Umweltinstitut soll in
die benachbarte Ortschaft „Klauen“ kommen. Die Hirschener sorgen trotz
bürokratischer Hürden dafür, dass es nach „Hirschen“ kommt.
Zwei kleine Liebesgeschichten gibt es ebenfalls.
Und da tritt nun das erwähnte Problem auf den Plan. Wenn der Regisseur (George Inci)
und die Produzentin (Beatrice von Moreau) alles selbst erledigen und dazu noch spielen
müssen, für das Spiel der übrigen Darsteller und für die Stunts verantwortlich sind, sich
um die Musik, das Sounddesign oder die Produktionsleitung bemühen müssen, zudem
ständig noch eine „kreative Explosion“ und schöne Landschaftsbilder nötig sind (was
hier der Fall ist!), dann kann es sehr, sehr holprig werden.
Und das ist hier der Fall! Nicht zuletzt wegen der vielen Laiendarsteller.
Aber gemach. Ein Teil der Presse ist durchaus zufrieden: „eine ausgefuchste Komödie
vor uriger Landschaft . . . Es wäre zu wünschen, dass dieses Beispiel des intuitiven
Filmens Schule macht“ (film.at) – „‘Hirschen‘ ist ein Heimatfilm, der kein Heimatfilm ist –
eine ‚klamaukgewürzte‘ Sozialkomödie, ein Kinoerlebnis, von dem das Publikum einiges
mit nach Hause nehmen kann.“
Und was kann man mit nach Hause nehmen? Dazu der Regisseur: „Weißt du nicht mehr
weiter, bleib ganz ruhig. Die Antwort kommt zu dir, und dann weißt du am nächsten Tag,
was zu tun ist. Du musst . . . deine Kräfte neu orientieren. Dann stehst du auf, und das
Leben geht weiter. Das ist ‚Hirschen‘.“ (Oberländer Rundschau)
Das Urteil zu diesen Worten und zu dem Film muss jeder selbst finden.
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