Francis WURTZ Fraktionsvorsitzender der GUE/NGL im

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Francis WURTZ
Fraktionsvorsitzender der GUE/NGL im Europäischen Parlament
Rede zur Eröffnung der Veranstaltung
100 Jahre Internationaler Sozialistenkongress
Stuttgart, Liederhalle, 21. September 2007
Meine Damen und Herren,
liebe Freunde, liebe Genossinnen und Genossen!
Ein Jahrhundert! Das ist so lange her und doch so nah! Bewegt und demütig haben wir soeben
die großen Momente des Sozialistenkongresses in Stuttgart wieder aufleben lassen und einige
Persönlichkeiten erlebt, die seinen Verlauf wesentlich beeinflusst haben. Auf Initiative der
Delegation "Die Linke." hat sich die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/ Nordische
Grüne Linke dieser wunderbaren Veranstaltung angeschlossen. Natürlich, um an dieses
wichtige Kapitel in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung zu erinnern, aber vor
allem, um zu unterstreichen, dass es in mancher Hinsicht von höchster Aktualität ist.
Ja, sicherlich, unsere soziale, politische und geistige Welt hat mit der der sozialistischen
Avantgarde von 1907 wenig zu tun. Und trotzdem, wie sie sind wir - unter radikal neuen
Bedingungen - mit Problemen von Krieg und Frieden konfrontiert. Wie sie lehnen wir die Art
und Weise, wie unsere Staaten die Beziehungen mit der übrigen Welt, insbesondere den
Völkern des Südens, gestalten, ab. Wie sie fühlen wir - und ich zitiere eine Passage aus der
Resolution, die vor 100 Jahren angenommen wurde, - die Pflicht, die Volksmassen
aufzurütteln und "dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu
beschleunigen".
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Krieg oder Frieden? Diese zivilisatorische Fragestellung ist erneut, betrachtet man die Kette
der Ereignisse der letzten 15 Jahre, das Herzstück unseres Alltags. Vom Golfkrieg bis zur
Bombardierung Belgrads, von der irakischen Hölle bis zum afghanischen Abenteuer, von der
palästinensischen Tragödie bis zur Bedrohung Irans, wir erleben die Rückkehr dieser Form
von Barbarei, dass Kriege banalisiert werden. Ein permanenter Krieg im Namen der
Menschenrechte, der Demokratie und des Kampfes gegen den Terrorismus, oder gar ... der
Werte des Westens!
Mit der unverantwortlichen Zustimmung unserer politischen Eliten beabsichtigt der
gefährlichste Präsident in der Geschichte der USA mit der verrückten Idee eines
vermeintlichen Antiraketenschildes auf europäischem Boden das Wettrüsten wieder
anzuzünden - jüngster Schachzug in einer endlosen Kette von Schritten zur Verlagerung
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amerikanischer Militärpräsenz via NATO nach Mittel- und Osteuropa, bis an die Grenzen
Russlands.
Unsere Mitbürger für ein kraftvolles "NEIN" zu Krieg, zu Militarismus und zur
apokalyptischen Strategie des amerikanischen Präsidenten zu mobilisieren, ist heute erneut
eine vorrangige Aufgabe der Erben von Jean Jaurés, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.
Und weil wir am Vorabend der Annahme des EU-Reformvertrages durch den Europäischen
Rat sind, fordern wir gemeinsam:
 die Streichung des Artikels in diesem Text, der die Treue gegenüber der NATO quasi
bindend macht,
 die Streichung des Artikels, der die Mitgliedstaaten zur Erhöhung der
Militärausgaben drängt,
 die Streichung des Artikels, der militärische "Missionen" zum "Schutz der Werte der
Union" und ihrer "Interessen" ermöglicht!
Und darüber hinaus fordern wir in diesem Zusammenhang die Revision der Europäischen
Sicherheitsstrategie, derzufolge die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eine
mächtige Kraft "für das Gute in der Welt" sein können! Die internationalen Beziehungen zu
entmilitarisieren, den eitlen Anspruch der Großmacht zu brechen, die Weltprobleme mit
militärischer Gewalt zu regeln, die 1200 Milliarden Dollar, die jährlich für auf den Tod
ausgerichtete Militärausgaben bereitgestellt werden, - deren Steigerungsrate der letzten 10
Jahre bei 37% lag - für Projekte des Lebens zu nutzen, das sind im Jahr 2007, 100 Jahre nach
dem Sozialistenkongress, die Ambitionen der Frauen und Männer der Linken.
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Ich habe bereits die Aktualität eines anderen Kampfes hervorgehoben, der schon damals in
Stuttgart hinsichtlich der kolonialen Frage thematisiert wurde und heute eine neue Dimension
erreicht hat: die Beziehungen Europas zu den Ländern des Südens. Nichts stellt die
Sackgasse, in der die Europäische Union ohne eine grundsätzliche Neuorientierung ihrer
Beziehungen mit Afrika und den Mittelmeeranrainerstaaten steckt, deutlicher dar als ihre
Unfähigkeit, das Problem der Migranten zu lösen - trotz der Mauern, der Stacheldrähte, der
"schnellen Grenzeingreiftruppen" und der Chartermaschinen.
Nach den wiederholten Dramen von Lampedusa, Ceuta und Melilla, auf den Kanaren… nun
die skandalöse Affäre um die 7 tunesischen Fischer, die in Italien dafür inhaftiert wurden,
dass sie in völliger Übereinstimmung mit dem internationalen Seerecht 44 Schiffbrüchigen
auf hoher See zur Hilfe gekommen sind.
Europa steht vor der Wahl: Entweder durch eine echte Partnerschaft für Entwicklung die
Hoffnung auf eine Zukunft dort wiederzuerwecken, wo sie bereits gestorben ist, oder in
immer inhumanere Praktiken gegen die "Verdammten dieser Erde" unserer Zeit abzugleiten.
Im "globalen Dorf", in dem wir heute leben, ist es einfach unmöglich, die Augen zu
verschließen vor den 900 Millionen Männern und Frauen, die in Elendsvierteln überleben, vor
den 800 Millionen unterernährten Menschen, vor der Milliarde Analphabeten. Die
Globalisierung, das ist auch die Verpflichtung, über die kleine Wohlstandsinsel hinaus zu
schauen.
Gesicherter Wohlstand ist übrigens eine Illusion, denn viele globale Probleme betreffen
immer mehr die Menschheit als Ganzes, auch wenn die Hauptverantwortlichen im Norden
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und die meisten Opfer im Süden leben. Im Jahre 2050 werden in Asien laut Schätzungen zwei
Milliarden Menschen von Wassermangel betroffen sein. In Südamerika könnte Mitte des
Jahrhunderts statt des tropischen Regenwaldes eine Savanne entstanden sein. Was Afrika
betrifft, so ist das der Kontinent, der am wenigsten zur Veränderung des Klimas beigetragen
hat und gleichzeitig derjenige, der durch die Erwärmung am verletzlichsten geworden ist.
Zur lebenswichtigen Mobilisierung beizutragen, um das Schlimmste rechtzeitig zu verhindern
und gleichzeitig allen Ländern zu ermöglichen, sich an die jetzt schon mehr oder weniger
unvermeidlichen Folgen des Klimawandels anzupassen, das ist noch eine zivilisatorische
Herausforderung für die Linke, die diesen Namen verdient, in enger Solidarität mit der
Kräften des Widerstandes und der Veränderung, die sich in den Ländern des Südens, vor
allem in Lateinamerika, vom Bolivien des Evo Morales bis nach Venezuela des Hugo
Chavez, erhebt.
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Auch die Notwendigkeit, die Völker von der "kapitalistischen Klassenherrschaft" zu befreien,
die die Teilnehmer des Sozialistenkongresses hervorhoben, kann man wohl kaum als obsolet
bezeichnen. Ein Entwicklungsweg, der so viel Ungerechtigkeit, so viel Unsicherheit, so viel
Verschwendung von menschlichen und natürlichen Ressourcen, Konflikte an allen Ecken der
Welt produziert, ist am Ende.
Was ist selbst in der Europäischen Union eine "offene Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb", die unseren Verträgen so wichtig ist, wert, die in ihrem reichsten Mitgliedsland
zu so entwürdigendem sozialem Rückschritt wie Hartz IV und Rente mit 67 führt? Ja, was
nützt sie, wenn es in ihrem Gefolge im Land der Aufklärung und des Victor Hugo 1,8
Millionen Beschäftigte gibt, die nicht lesen und schreiben können und das in einer Zeit der
Revolution der Informationstechnologie? Was ist sie wert, wenn sie in der Wiege von "New
Labour" mangels Lösungen für die Probleme von Armut und Lebensumfeld und der sozialen
Frage ein präzedenzloses Klima der Gewalt, insbesondere unter den Jugendlichen, erzeugt?
Was ist letztlich eine internationale Gouvernance wert, in der eine der wichtigsten Stimmen,
nämlich die des Präsidenten der Zentralbank der Zentralbanken, kurz bevor die Krise der in
bisher nicht bekanntem Ausmaß verflochtenen Finanzmärkte über den Planeten fegte, die
Zeit, in der wir leben als "goldenes Zeitalter", glaubte bezeichnen zu können?
Dieses Entwicklungsmodell ist überlebt. Die Alternative, die 1917 geboren wurde, starb mit
dem Fall der Mauer. Oder genauer gesagt, sie war allmählich im Geiste der Menschen
verloschen. Deswegen ist die Mauer ohne Schwertstreich gefallen. Uns obliegt es, ausgehend
von den widersprüchlichen Erfahrungen, eine neue Alternative zu entwickeln, in die die
positiven Erfahrungen einfließen und aus der konsequent alles verbannt wird, was sich nicht
bewährt hat.
Das ist, in wenigen Sätzen gesagt, nach meiner Überzeugung die Art und Weise wie wir, die
europäische Linke, ein Jahrhundert nach dem Sozialistenkongress uns in die Suche nach einer
neuen Zivilisation einreihen sollten, einer neuen Zivilisation, die den Erwartungen unserer
Zeitgenossen gerecht wird.
Ich danke Ihnen!
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