Shinran und die Mächte der Natur Festvortrag zum Pāramitā-Fest 2011 von Marc Nottelmann-Feil Vor acht Tagen ereignete sich das Tōhoku-Kantō-Erdbeben, dessen hilflose Zeugen wir durch die Medien geworden sind. Wie gelähmt sitzen wir noch heute Tag für Tag vor den Bildschirmen, und nehmen Bilder auf, deren Bedeutung wir gar nicht verarbeiten können. Wir sehen tausendfaches Leiden, aber es fällt uns schwer, einen Begriff davon zu bekommen. Unmittelbar vor der Küste von Miyagi hat ein Erdbeben der Stärke 9 einen Tsunami von ungeahnter Dimension ausgelöst. Mehrere Küstenstädte sind fast vollkommen zerstört worden. Gegenwärtig hören wir von siebentausend identifizierten Toten, aber die Zahl wird wohl auf über fünfzehntausend steigen. Mit fast noch größerem Schrecken hat die Weltgemeinschaft zur Kenntnis genommen, dass es im Reaktor Fukushima in allen sechs Blöcken zu schwersten Zwischenfällen gekommen ist. Während in Tōkyō der Strom rationiert wird, kämpfen die Techniker unter Einsatz ihres Lebens darum, dass es in Fukushima nicht zu einem Supergau kommt. Käme es dazu, so wäre sofort der Großraum Tōkyō betroffen. Aber auch Städte wie Seoul oder Peking liegen, wie wir aus der Erfahrung mit Tschernobyl wissen, durchaus in der Reichweite einer radioaktiven Wolke. Eine Camcorderaufnahme zeigt die Ankunft des Tsunami in der Stadt Kama’ishi. Man sieht einen Lautsprecher, aus dem die Tsunami-Warnung tönt. Menschen ziehen sich in den verbleibenden zwei oder drei Minuten auf eine Anhöhe zurück. Der Mann hinter dem Camcorder will das Naturschauspiel filmen und hält auf die Küstenlinie zu. Plötzlich sieht man in der Ferne einen weißen Streifen. Eine Kinderstimme ruft staunend: „Die Welle kommt!“ Der Camcordermann dokumentiert das Geschehen und sagt immer wieder „Sugoi desu! Wahnsinn!“ Die Welle erreicht die Küste. Eine mächtige, vielleicht vier oder fünf Meter hohe Hafenmauer soll die Stadt vor dem Meer schützen. Langsam schwappt die Welle über den Rand der Mauer, die nun aussieht wie eine riesige Kaskade, von der Wasser gemächlich in niederes Becken strömt. „Sugoi desu! Sugoi desu!“ Mehrere Sekunden lang bleiben die Fischkutter im Hafen noch an der Hafenmauer hängen, dann schwappen sie darüber. Ein Sturzbach ergießt sich auf die Hauptstraße der Stadt. Der Camcordermann versucht fassungslos zu beschreiben, was er sieht. Er gibt Ort und Uhrzeit an. „…Sugoi desu!“ Die Hauptstraße wird in wenigen Sekunden vom Bach zum Strom. Die ersten Häuser setzen sich in Bewegung. Die berühmten japanischen Häuser, die noch kurz zuvor alle den verheerenden Erdstößen standgehalten hatten, wirken auf einmal wie aus Stroh gebaut. Die Strömung reißt sie mit. Die ganze Stadt versinkt im schwarzen Morast, der sich immer weiter vorschiebt. Das einzige, was von den zusammenstürzenden Häusern übrig bleibt, ist eine rötliche Ziegelstaubwolke, die alles verhüllt. Kein Wort mehr. Der Camcordermann und alle Menschen um ihn sind vollkommen verstummt. Man hört nur ein entsetzliches Gurgeln. Lose Balken werden vom Wasser weitergeschoben, viele Straßenzüge lösen sich auf. Die letzten Kameraeinstellungen zeigen ein Mädchen, das stumm vor sich hinweint. Es klammert sich an seine Mutter. Menschen stehen auf einer Aussichtsplattform und starren auf eine untergegangene Stadt. 1 Wer diese Aufnahmen sieht, sieht indirekt das Sterben, er wird Zeuge von Leiden, wie man sie nicht mehr nicht in Worte fassen kann. Wie soll man auf dieses Leiden reagieren? Wie soll man mit diesem schrecklichen Ereignis umgehen? Eine erste Antwort könnte lauten: durch Hilfe, wo man helfen kann. Aber dies ist die eine Sache. Was soll man tun, wo man nicht mehr helfen kann, wo sich das Leiden sich in die Seele hineinfrisst, wo Trost notwendig ist? In diesem Falle zeigt das Leiden seine religiöse Dimension. Es ist ein unabänderliches Leiden geworden, das nur im Nembutsu, in der Anrufung des Buddha gut aufgehoben ist. Dies war der Sinn unserer Tempelandacht. In meinem Vortrag möchte die Gedanken in eine etwas andere Richtung lenken. Es ist eine Frage, die mir in der ganzen letzten Woche im Kopf herumkreiste. Sie scheint den konkreten Problemen der Katastrophenopfer etwas fern zu sein und trotzdem trifft sie genau ins Herz der Sache. Die Frage lautet schlicht: wie kam es dazu? Warum lehnt sich die Natur auf einmal in dieser Weise gegen den Menschen auf? Oder in der traditionellen Sprache des Buddhismus formuliert: Warum haben sich die Drachen und Gottheiten, die das Meer und die Winde erfüllen, so sehr gegen Japan verschworen, dass nun alles auf einmal zusammenkommt? Der Gründer der Jōdo Shinshū, Shinran Shōnin, dessen 750ten Todestag dieses Jahr in Kyōto feierlich begangen werden soll, hat sich in seinen letzten Lebensjahren sehr viele Gedanken gemacht, die – wenn man sie entmythologisiert und in der Sprache unserer Zeit formuliert, auf die Frage hinauslaufen, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur eigentlich aussehen soll. Seine Gedanken, die freilich aus einer ganz anderen, uns fernen Epoche stammen, möchte ich Ihnen in meinem Vortrag vorstellen und mit der gegenwärtigen Situation in Zusammenhang setzen. Aber damit dies auf leicht verständliche Weise geschehen kann, muss ich ein bisschen weiter ausholen. Oberflächlich betrachtet, ist Shinrans Lehre bzw. sein Verständnis vom Buddhismus von allen buddhistischen Lehren die einfachste: Wir Menschen sind begrenzt, aber Buddha bedeutet das unendliche, höchste Mitgefühl. Darum rät Shinran, dass der Mensch sich ganz auf den Buddha verlassen soll. Dies geschieht, da der Mensch vom Buddha gar nicht viel weiß, in der abstraktesten Form, nämlich durch die Anrufung Seines Namens „Ich nehme Zuflucht zum Unendlichen Buddha“ „Ich wende mein Leben zurück zum Buddha des Unermesslichen Lebens“ Auf Japanisch: „Namo Amida Butsu!“ „Kimyō muryōjū nyorai!“ Der Mensch, der dies aus ganzem Herzen ruft, findet Rettung. Dieses Nembutsu – das Gedenken an den Buddha in Form einer Anrufung Seines Namens – ist Shinrans ganze Lehre, es ist die Quintessenz aller seiner Worte. Shinran lehrt keine Meditationen, sein Ziel ist eine ganz einfache, aus dem Herzen kommende Frömmigkeit, die sich im Alltag bewährt. In der arbeitenden Bevölkerung auf dem Lande hatte Shinran mit seiner Lehre großen Erfolg. Die Bauern hatten nie Zeit und Kraft, sich in die verschiedenen Meditationen des Buddhismus zu vertiefen, aber vor dem Altar das Nembutsu zu sprechen und im Verlauf der Jahre ein herzensfrommer Mensch zu werden, dafür reichte es allemal. Bis heute ist die Jōdo Shinshū die anhängerreichste religiöse Strömung in Japan, sie hat die japanische Volksfrömmigkeit zutiefst geprägt. 2 Bis zum Zeitalter Shinrans, der sogenannten Kamakura-Zeit, war der Buddhismus in Japan fast ausschließlich eine Religion der Elite. In den Zentren der Macht, wo der Adel und die aufkommende Kriegerschicht buddhistische Klöster förderten, florierte der Buddhismus, aber auf dem Land wussten die Leute nur wenig davon. Die Bauern verehrten die althergebrachten shintōistischen Gottheiten. Es gab auf dem Land damals nur wenige buddhistische Tempel, hingegen viele shintōistische Schreine, an denen auch Feste stattfanden, in denen man die Gottheiten um gute Ernte, Schutz vor Bränden und Katastrophen usw. bat. Buddhismus und Shintōismus haben sich in Japan zu fast allen Zeiten nicht wie zwei getrennte Religionen zueinander verhalten, sondern eher wie ein Kontinuum. Schon sehr früh vertrat man einen Synkretismus (本地垂迹 honji suijaku), d.h. man identifizierte die shintoistischen Gottheiten mit irgendwelchen Buddhas oder Bodhisattvas. Darum gab es für die Buddhisten gar keinen Anlass, den Shintōismus aus seiner Position zu verdrängen, denn die shintōistischen Gottheiten waren ja eigentlich auch Buddhas und Bodhisattvas, nur sozusagen incognito. Dementsprechend versuchte der Buddhismus den Shintōismus in sein eigenes Ritual zu integrieren. Die einfachen Bauern und Handwerker sollten ruhig an ihren shintoistischen Feiern festhalten. Die Adligen aber ließen für viel Geld, doch möglicherweise zu den selben rein weltlichen Zwecken, an buddhistischen Tempeln aufwendige Zeremonien veranstalten. Sie erkauften sich damit das Privileg, die Gottheit in ihrer „eigentlichen“ Form zu verehren. Shinran hat diese Form des Buddhismus, die für jeden weltlichen Zweck eine Zeremonie im Angebot hat, sehr scharf abgelehnt. Er hielt Mönche, die solche Zeremonien veranstalteten, schlichtweg für dekadent. Denn die Aufgabe des Buddhismus ist für Shinran (und darin ist er sicherlich ganz in Übereinstimmung mit der Tradition!) die Erlösung des Menschen aus dieser samsarischen Welt und nicht etwa ein vergängliches Glück in Samsara. Hier aber entsteht das Problem: Shinran war einer der ersten, der den Bauern auf dem Lande den Buddhismus predigte. Seine Erlösungslehre, die besagt, dass man sich unmittelbar an den Buddha Amida wenden solle, war für diese einfachen Leute attraktiv. Die Anrufung des Buddha Amida befreite sie in ihrer Todesstunde von der Angst, eine schlechte Wiedergeburt, geschweige denn das Dahinvegetieren in einer unreinen Schattenwelt antreten zu müssen. Aber was sagt die Nembutsu-Lehre zu den ganz alltäglichen Problemen der Bauern? Der Shintōismus gibt ihnen eine handfeste Hilfe: Wenn die Zeit der Reisaussaat gekommen ist, dann bittet man die Götter um reiche Ernte in einem Fest. Im Herbst zur Zeit der Stürme, bittet man um Sicherheit für Haus und Hof usw. Was tut ein NembutsuAnhänger in diesem Falle? Ist das Nembutsu – wenn ich einmal ein katholisch klingendes Wort gebrauchen darf - auch eine Form der „Fürbitte“1? Dies ist die Frage nach dem weltlichen Nutzen des Nembutsu (j. genze riyaku). 1 神への執り成し 3 Shinrans Hauptwerk, das Kyōgyōshinshō, ist im Wesentlichen eine Sammlung von Zitaten aus alten indischen Sūtren und deren Kommentaren. Es besteht aus sechs Bänden. Die ersten vier Bände beschäftigen sich mit der Reinen-Land-Lehre (kyō), der Übung (gyō), dem Vertrauen (shin) und der Verwirklichung (shō). Sie geben der Schrift ihren populären Titel „Kyōgyōshinshō“. Im fünften Band und der ersten Hälfte des sechsten Bandes beschäftigt sich Shinran mit verschiedenen, aus seiner Sicht noch unreifen Formen des Buddhismus bzw. den Phasen seiner eigenen spirituellen Entwicklung. In der zweiten Hälfte des sechsten Band setzt er sich mit den anderen, damals in Japan bekannten geistigen Strömungen, nämlich dem Shintōismus, Daoismus und Konfuzianismus, auseinander. Aufschluss über unser Thema dürfen wir uns also von diesem Schlussteil des Kyōgyōshinshō erwarten. Shinran zitiert hier zwei Sūtren, die so unbekannt sind, dass ich offen gestanden, von ihnen noch nie gehört hatte: es sind das Mondbahn-Sūtra (j. Gatsuzōkyō 月蔵経) und das Sonnenbahn-Sūtra (j. Nichizōkyō) aus den „Sūtren der Großen Versammlung“ (j. Daishūkyō 大集経). Die Hauptfrage wie an allen anderen Stellen des Kyōgyōshinshō lautet: Was bezweckt Shinran, wenn er uns diese Zitate mitteilt? Zunächst müssen wir uns Shinran als einen in seiner Zeit – dem Hochmittelalter – wohl ziemlich ‚rational’ denkenden Menschen vorstellen. Es lag ihm vollkommen fern, vom Buddhismus die konkrete Lösung weltlicher Probleme zu erwarten: der Buddhismus hatte für ihn weder etwas mit der Förderung des Erntesegens, noch mit der Bestimmung glücklicher oder unglücklicher Vorzeichen unmittelbar etwas zu tun. Diese Bedinge gehörten für ihn, wenn ich einmal ein modernes Vokabular gebrauchen darf, in den Bereich weltlicher Wissenschaft und Technik. In jedem Zeitalter gibt es ja einen common sense, eine grobe Vorstellung davon, was man im allgemeinen als „vernünftig“ und was man als „unvernünftig“ ansieht. Zur Zeit Shinrans wurde das Vernünftigste, was man über die natürlichen Vorgänge aussagen konnte, in einer gewissen Form der Astrologie und Geomantik zusammengefasst, die man als Onmyōdō (Yin-yang-Weg 2 陰 陽 道 ) bezeichnet. Die Onmyōdō-Meister beobachten den Sternhimmel, insbesondere die 28 Konstellationen der Mondbahn und die Planeten, sie achteten auf Veränderungen und schlossen daraus auf günstige oder ungünstige Tage, heranziehende Katastrophen usw. Im Alltag achtete man darauf, keine Hochzeit auf einen ungünstigen Tag zu legen, oder wenn der Onmyōdō-Meister Anzeichen für eine Katastrophe sah, hatte der Hof die Pflicht, Zeremonien durchzuführen, die die Götter wieder besänftigten. Viele auch schon sehr nützliche Erkenntnisse, zum Beispiel Wissen um den Kalender, steckten in diesem, aus heutiger Sicht als Vor-Wissenschaft zu bezeichnenden Sammelsurium. Im Hochmittelalter war es darum das Rationalste, Bauern, die ihren Ernteerfolg befördern wollten, auf die Erkenntnisse der Onmyōdō-Meister zu verweisen. Aus diesem Grunde, so denke ich jedenfalls, suchte Shinran im riesigen buddhistischen Kanon nach Schriften, die sich genau mit diesem Thema (den 28 Konstellationen usw.) beschäftigten, und stieß dabei auf diese ganz ausgefallenen Sūtren.3 Der Name verweist auf chinesischen Hintergrund, aber Onmyōdō bezog sich auch auf indische Astrologie, die man als sukuyōdō 宿曜道 bezeichnet. 3 Um diese Forschung betreiben zu können, musste Shinran in die Hauptstadt ziehen, wo es große Bibliotheken und Experten für Onmyōdō gab. 2 4 In einer Passage aus dem Sonnenbahn-sūtra, die Shinran zitiert, erklärt eine hohe Gottheit mit dem Namen Kharos.t.ī (das ist auch der Name des heiligen indischen Alphabets) vor den versammelten anderen Gottheiten folgendes: „ [Du] Mond und ihr anderen [göttlichen Wesen], ihr habt jeweils eine Sphäre, die ihr regiert. Ihr solltet die vier Arten der fühlenden Wesen retten! (…) Um allen fühlenden Wesen „Sicherheit und Freude“ (anraku –Das ist auch ein Name des Reinen Landes) zu bringen, habe ich die Konstellationen der Sterne gesetzt. Ein jeder hat seinen Abschnitt und seine Zeit, bis auf die Sekunde (muhūrta) [genau]. (…) Je nach dem Ort, nämlich der Himmelsrichtung eines Landes, vollbringt ihr Eure Werke einer Ordnung entsprechend, ihr [schafft] Wachstum und Gedeihen.“4 Die Gestirne, als Gottheiten vorgestellt, bringen also z. B. den lebensspendenden Monsun zur rechten Zeit und in der rechten Menge entsprechend einer Ordnung, die der Gott Kharos.t.i festgesetzt hat. Wahrscheinlich muss man sich die Sterne als die obersten Gottheiten vorstellen, die die göttlichen Winde und Meeresströme regieren. Als Wächter über diesen Prozess hat der Gott Kharos.t.ī die vier Himmelskönige und ihre Diener eingesetzt: „Ferner habe ich aufgestellt die vier großen Himmelskönige in den vier Richtungen des Berges Sumeru, auf jeder Seite einen.(…) In den vier Richtungen und Zwischenrichtungen beschützen sie alle Küsten und befestigten Städte.“5 Diese Ordnung, von der Gott Kharos.t.ī vor den versammelten Gottheiten und natürlich dem Buddha spricht, geschieht um der Rettung (j. kyūsai) der Wesen willen, denn es wäre wohl unmöglich, den buddhistischen Weg zu gehen, wenn die Welt vollkommen chaotisch wäre. Die Gottheiten selbst begrüßen diese Ordnung freudig, und sie bekräftigen damit die Aufgabe, die Kharos.t.ī ihnen zugewiesen hat: „Wir alle sind darüber beglückt, es gibt uns Frieden und Freude. Vortrefflich, o tugendhafter Kharos.t.ī! Du gibst den fühlenden Wesen Frieden und Sicherheit (annon)“6 Beobachtet man Shinrans Auswahl der folgenden Texte genau, scheint seine Absicht auf folgendes hinauszulaufen: Indem die Gottheiten sich bewusst sind, dass sie für die Rettung der Wesen da sind, akzeptieren sie den Buddha und sie akzeptieren das Denken an den Buddha bzw. die Anrufung seines Namens, das Nembutsu. Denn letztendlich ist die Buddhaschaft ja die Rettung. Im Namen des Buddha ist ihr eigener Zweck angerufen. Darum ist das Nembutsu für Shinran genauso gut oder sogar noch besser als jeder andere Dienst, den man einer Gottheit darbringen könnte. In Shinrans „Japanischen Hymnen auf 是諸月等各有主儻。汝可救濟四種衆生。何者爲四。救地上人諸龍夜叉乃至蝎等。如斯之類。皆 悉救之。我以安樂諸衆生故。布置星宿。各有分部乃至摸呼羅時等。亦皆具説。隨其國土方面之 處。所作事業隨順増長.(635b19) Siehe T.13 Nr.397, 282a13 5 又復安置四天大王於須彌山四方面所。各置一王。635c19 四方四維皆悉擁護一切洲渚及諸城邑。亦置鬼神而守護之。635c25 6 (T.317, 282b10) 皆悉隨喜安樂我等。善哉大徳。安隱衆生。 4 5 das Reine Land“ stehen darum die berühmten Verse über den „gegenwärtigen Nutzen des Nembutsu“: „Wenn wir ‚Ich nehme Zuflucht zum Buddha Amida sagen’, dann freuen sich die vier Großen Himmelskönige darüber und bewahren uns. Alle schlechten Erdgeister können sich nicht nähern“ usw. usf.“7 Durch das Nembutsu ruft man den Göttern ihren Zweck zu, und darum kann man sich sicher sein, dass man von ihnen größtmögliches Wohlwollen erfährt. Im Godenshō, einer Shinran-Biographie, die Shinrans Urenkel Kakunyo verfasst hat, findet sich eine Anekdote, die Shinrans Lehre, dass jeder der dem Buddha vertraut, vollkommen die Achtung der Gottheiten genießt, bestätigt.8 Ein gewisser Heitarō erhält den öffentlichen Auftrag, eine Wallfahrt zum Schrein des Gottes von Kumano zu unternehmen. Heitarō fragt Shinran, ob er als NembutsuAnhänger diese Wallfahrt tun dürfe, und Shinran bejaht. Er solle allerdings auf der ganzen Reise das Nembutsu üben. Heitarō hält sich an den Rat seines Lehrers. Ganz auf das Nembutsu konzentriert, vergisst er am Kumano-Schrein die shintōistischen Reinigungszeremonien. Im Traum erscheint ihm darauf die Gottheit in Form eines Shintō-Priesters und fragt, warum er ungereinigt der Gottheit entgegengetreten sei. Da kommt Shinran ihm zur Hilfe und erwidert, sein Schüler übe das Nembutsu. Der ShintōPriester grüßt Shinran achtungsvoll mit seinem Szepter (shaku), und Heitarō erwacht. Der Mensch, der an den Buddha denkt und ihn anruft, erwirbt sich sogleich das Wohlwollen und der Schutz der Gottheiten. Diese Aussage wirft Licht auf Shinrans Verständnis von guter irdischer Herrschaft. Für Shinran Shōnin war der Inbegriff des idealen Herrschers immer der Kronprinz Shōtoku, der etwa sechshundert Jahre vor ihm gelebt hat, und unter anderem Japans ältesten buddhistischen Tempel, den „Tempel der vier Himmelskönige“ (Shitennōji) in Ōsaka errichtete. Er wird auch auf unserem Tempelgelände in Form einer Statue verehrt. Links, auf der Herzseite, hält diese Statue ein buddhistisches Weihrauchgefäß. Dies soll bedeuten, Shōtoku Taishi dachte in seinem Herzen immer an den Buddha. In der rechten Hand hält er die Statue eine Art Szepter (shaku), wie es die Shintōpriester benutzen, d.h. Shōtoku Taishi achtete auch die Gottheiten. Indem er an den Buddha dachte (nembutsu), errang er sich das Wohlwollen der Naturgottheiten. Auf diese Weise gelang es Shōtoku Taishi, seinem Land und seinem Volk „Frieden und Sicherheit“ (annon) zu geben, die ja das Ziel einer weltlichen Herrschaft sind. 7 8 南無阿弥陀仏をとなふれば 四天大王もろともに よるひるつねにまもりつつ よろづの悪鬼をちかづけず Godenshō IV, Nr.13 6 Kommen wir auf die gegenwärtige Situation zurück. Das gegenwärtige ShinranGedenkjahr steht unter dem Motto: „Möge auf der Welt „Friede und Sicherheit“ (annon) sein!“ Aber noch nie seit dem zweiten Weltkrieg war die japanische Nation so weit von „Frieden und Sicherheit“ entfernt wie heute. Die ganze Welt schaut mit Schrecken auf Japan und betet, dass dieses faszinierende und sympathische Land nicht zum zweiten Mal Opfer des atomaren Zeitalters wird. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Warum scheinen sich auf einmal alle Gottheiten der Natur gegen die Menschen verschworen zu haben? Wenn man die Gottheiten fragen würde, würden sie vielleicht antworten: „Nicht wir führen Krieg gegen Euch, sondern ihr habt uns den Krieg erklärt. Warum baut ihr Städte an einen Ort, den Kharos.t.i dafür nicht vorgesehen hat? Warum liegen in Japan etliche Flughäfen und unzählige Industrieanlagen in der Reichweite des Tsunami. Warum baut ihr sogar Atomkraftwerke an einen solchen Ort?“ Die Antwort darauf ist sehr einfach. Seit dem 19. Jahrhundert ist Japan – wie Deutschland auch – ein sehr stark bevölkertes Land. Beide Länder sind rohstoffarm und könnten ohne Industrie ihre Bevölkerung gar nicht ernähren. Dies zwingt zu immer waghalsigeren Kompromissen im Umgang mit der Natur. Im Grunde genommen ist Japan die Welt im Kleinen. Bald wird die Weltbevölkerung bei acht oder neun Milliarden Menschen liegen, und alle diese Menschen wollen einen Lebensstandard haben, wie ihn die Menschen in Japan und Deutschland tatsächlich genießen. Alle Rohstoffe auf der Welt werden dafür nicht ausreichen, und alle Energiesparmaßnahmen werden das nicht bewerkstelligen können. Darum macht man heute schon Tiefseebohrungen mit zum Teil ebenfalls katastrophalen Ergebnissen. Bald werden Bohrungen in der Arktis folgen, und auch die Erdgasförderung bedient sich immer riskanterer Methoden. Damit hängen wir alle zusammen. Nehmen Sie mich selbst zum Beispiel: Ich werde nächste Woche nach Korea reisen, um meine Schwiegereltern zu besuchen. Angenommen jeder der gegenwärtig fünf Milliarden Menschen würde eine solche Weltreise unternehmen, dann wären die Ölvorräte der Welt wahrscheinlich schon in diesem Jahr aufgebraucht. Trotzdem mache ich die Reise, denn das ist üblich und man kann es von mir erwarten: Ich muss ja nur das Flugticket bezahlen, sollten mir das die Schwiegereltern nicht wert sein? Ein anderes Beispiel: Wenn sich in Deutschland ein Naturfreund hundert Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt ein schönes Haus baut, und dann jeden Tag mit seinem Auto hin- und herfährt, dann bekommt er die Kosten vom Staat teilweise ersetzt. Es rechnet sich vielleicht sogar. Das Auto ist dann für ihn eine unverzichtbare Lebensnotwenigkeit geworden. Der Maßstab für das Handeln auf dieser Welt ist jedenfalls nicht das „Denken an den Buddha“ (das Nembutsu)- oder ich würde allgemeiner sagen: eine religiöse Grundhaltung - sondern das Geld. Geld drückt aber nur die Verpflichtungen des Menschen gegenüber anderen Menschen aus, und darin liegt die Kriegserklärung des Menschen an die Natur. Wenn die Menschen an den Buddha denken würden, dann wären sie mitfühlend 7 gegenüber allen Wesen und würden die Welt, wenn sie dereinst sterben, nicht in einem chaotischen Zustand hinterlassen. Ganz ähnliche Gedanken gibt es auch im Christentum: wenn der Mensch an Gott denken würde, dann wüsste er um seine Verantwortung in der Welt. Der moderne Mensch ist hauptsächlich ein Verbraucher, an seine religiöse Herkunft erinnert er sich nur noch verschwommen. Oft versteht er die Religion gar nicht mehr und hält sie für ein langweiliges, überkommenes Brauchtum. Oft versteht er sich auch falsch und wird Fundamentalist. Das ist dann noch viel schlimmer. Bei alledem wird das große Potential, das die Religionen zur Lösung der Probleme unserer Zeit haben, beinahe schon übersehen. Ob Christentum, Buddhismus oder Islam: alle großen Religionen lehren doch, dass der Mensch über sein kleines, individuelles Schicksal, hinausschauen soll. Es geht im Leben nicht darum, viele schöne Dinge zu erleben, sondern es geht darum, den buddhistischen Dharma zu üben oder den Willen Gottes zu erfüllen. Von Menschen, die das tun, kann man viel erwarten. Aber Menschen, die im angenehmen Leben den Sinn ihrer Tage sehen, werden die Probleme dieser Welt kaum lösen, sondern im Gegenteil vermehren. Der Verlust der traditionellen Werte ist darum immer etwas Problematisches, selbst wenn er in Ländern geschieht, deren Wertesystem stark von unserem westlichen abweicht. Es ist jedenfalls naiv, sich darüber zu freuen, wenn in irgendeinem Land der Welt – sei es China, Indien oder Arabien – wieder einmal unsere Verbrauchermentalität entstanden ist. Ich habe Sie in meinem Vortrag mit Texten konfrontiert, die aus dem spätantiken Indien bzw. dem japanischen Hochmittelalter stammen. Bis ins hohe Mittelalter war es für die Menschen selbst verständlich, dass sie nur Teil einer göttlichen Ordnung sind. Kharos.t.ī hat diese Ordnung eingerichtet. Dahinter steckt eine tiefe Lehre: Nicht die Natur passt sich dem Menschen an, sondern der Mensch muss sich der Natur anpassen, sonst wird sie ihm feindlich. Darum ist es so verheerend, dass wir heute das Geld und menschliche Satzungen (Sachzwänge) zum Maßstab aller Dinge erheben, und die Ordnung der Natur oft übersehen. Dieser Ratschlag, der aus einer fernen Epoche zu uns dringt: „Achte die von den Göttern gesetzte Ordnung der Natur!“ hat aber auch seine Grenzen. Für die Menschen des Mittelalters war die Welt noch einfach. Die Welt in ihrer Ordnung war immer so und wird immer so sein. Die Position des Menschen zur Natur veränderte sich nie. Für uns moderne Menschen, die wir nun einmal sind, gibt es aber die Geschichte, es gibt den Fortschritt, der die Situation der Menschheit in ihrem Verhältnis zur Natur ständig verändert. Neue Technologien entstehen, neue Regionen werden erschlossen. In Japan kann man diesen Fortschritt ganz konkret an der Küstenlinie ablesen. Wo heute der Hauptbahnhof von Tōkyō liegt, war noch vor wenigen Jahrhunderten der Strand. Dieser Fortschritt ist ein Faktum, das man nicht ungeschehen machen kann. Es ist eine Schwärmerei, zum japanischen Fischerdorf der Heian-Zeit zurückkehren zu wollen! Schon bei Shinran merken Sie, wie die mittelalterliche Geborgenheit aufbricht und relativiert wird durch eine Reflektion auf höherer Ebene: Er sucht den Bezug des Menschen nicht bei den Naturgottheiten, sondern auf einer abstrakteren Ebene beim Buddha, d. h. dem höchsten Mitgefühl. Der höchste Maßstab auf der Welt ist nicht die 8 ewige Ordnung der Götter, sondern das Mitgefühl mit allen Wesen. Für Shinran wird damit schon eine viel größere Freiheit für den Menschen denkbar als sie eine bloße Naturreligion je geben könnte. Denn Mitgefühl mit allen Wesen begründet die Ordnung der Götter, nicht umgekehrt. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass Shinran innerhalb seines Zeitalters sehr rational dachte. Darin können wir, denke ich, von ihm lernen, denn jede Generation muss die Probleme vor dem Hintergrund der Rationalität ihrer eigenen Zeit lösen. Zur Rationalität unserer Zeit gehört die Risiko-Abschätzung. Gerade ein Katastrophenland wie Japan ist überall auf der Hut. Nach und nach entstehen Karten, die die Gefährdung jedes einzelnen Häuserblocks durch Erdrutsche, Überschwemmungen usw. aufzeichnen. Alle möglichen Szenarien von Dammbrüchen, Tunneleinstürzen und Massenpaniken in der U-Bahn werden durchdacht. Die Erdbebensicherheit der Gebäude hat sich in der letzten Woche eigentlich auf erstaunliche Weise bestätigt, denn man hört nur wenig von Verschütteten, obwohl es eine ganze Reihe von schwersten Erdbeben gegeben hat. Die Macht eines Tsunami ist aber offenkundig unterschätzt worden. Es hat sich als lebensgefährlich erwiesen, Holzhäuser in Küstennähe zu bauen. Man wird sie durch mehrstöckige Stahlträgerhäuser ersetzen, die der Katastrophe weit besser standgehalten haben. Bisher hat man in Japan von jeder Katastrophe etwas gelernt. Zur Risiko-Abschätzung gehört auch der Bereich der Kernenergie. Aber darüber möchte ich nicht sprechen. Wir alle kennen die Probleme viel zu genau, und es wird darüber in den kommenden Monaten nicht nur in Deutschland, sondern auch in Japan viel diskutiert werden. Ich möchte allmählich zum Schluss kommen: Shinran sagt, man solle das Nembutsu üben mit dem begleitenden Gedanken: „Möge Friede und Sicherheit auf der Welt sein!“ (Yo no naka annon nare) Die Anrufung des Buddhanamens schließt also ein, dass man sich selbst in einen friedlichen Zusammenhang zur Welt stellt. Dieser friedliche Zusammenhang bezieht sich sowohl auf die Menschen als auch auf die Gottheiten, er zielt auf den gesellschaftlichen Frieden, aber auch auf Frieden mit der Natur. Shinrans Denken ist nicht kausal, sondern teleologisch: Die Gottheiten der Natur sind zu dem Zwecke da, den Erlösungsweg aller Wesen zu ermöglichen. Darum darf sich ein Mensch, der den Namen des Buddha anruft, von den Gottheiten (d.h. von der Natur) bewahrt wissen.9 Worin besteht aus meiner Sicht Shinrans Aktualität? Hierzu muss man nur deutsche Fernsehdiskussionen verfolgen. Gestern Abend switchte ich, wie man so schön sagt, durch die Kanäle und hörte ich durch Zufall in einer Talkshow einen etwas in die Jahre gekommenen Fernsehpromi sagen: „Ich benutze eigentlich mein Geld, weil ich etwas davon haben will.“ Und ein anderer Fernsehpromi pflichtete ihm sofort bei: „Ja, das ist genau richtig. Wenn man einmal über fünfundsechzig ist, soll man sein Leben genießen!“ Das Publikum gab kräftigen Applaus. Welches Bild vom Leben haben wir? In einem Garten im südchinesischen Stil, der das Leben eines kaiserlichen Beamten darstellt, ist das Alter durch einen kleinen Pavillon mit Bank dargestellt. Es ist der höchste Ort und der einzige, von dem man den ganzen Garten 9 „Bewahrtwerden von den unsichtbaren Wesen“ (j. 瞑衆護持 myōhugoji) Vgl. Kyōgyōshinshō III, Nr.65. 9 überschauen kann. Was für ein großes Geschenk ist doch das Alter, für einen Menschen, der es erreichen kann, und was machen wir daraus? Welches Menschenbild haben wir? Und was werden zukünftige Generationen einmal von uns denken? Ich sage nichts weiter, sondern danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 10