Shinran und die Mächte der Natur Festvortrag zum Pāramitā

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Shinran und die Mächte der Natur
Festvortrag zum Pāramitā-Fest 2011 von Marc Nottelmann-Feil
Vor acht Tagen ereignete sich das Tōhoku-Kantō-Erdbeben, dessen hilflose Zeugen wir
durch die Medien geworden sind. Wie gelähmt sitzen wir noch heute Tag für Tag vor den
Bildschirmen, und nehmen Bilder auf, deren Bedeutung wir gar nicht verarbeiten können.
Wir sehen tausendfaches Leiden, aber es fällt uns schwer, einen Begriff davon zu
bekommen.
Unmittelbar vor der Küste von Miyagi hat ein Erdbeben der Stärke 9 einen Tsunami von
ungeahnter Dimension ausgelöst. Mehrere Küstenstädte sind fast vollkommen zerstört
worden. Gegenwärtig hören wir von siebentausend identifizierten Toten, aber die Zahl
wird wohl auf über fünfzehntausend steigen. Mit fast noch größerem Schrecken hat die
Weltgemeinschaft zur Kenntnis genommen, dass es im Reaktor Fukushima in allen sechs
Blöcken zu schwersten Zwischenfällen gekommen ist. Während in Tōkyō der Strom
rationiert wird, kämpfen die Techniker unter Einsatz ihres Lebens darum, dass es in
Fukushima nicht zu einem Supergau kommt. Käme es dazu, so wäre sofort der Großraum
Tōkyō betroffen. Aber auch Städte wie Seoul oder Peking liegen, wie wir aus der
Erfahrung mit Tschernobyl wissen, durchaus in der Reichweite einer radioaktiven Wolke.
Eine Camcorderaufnahme zeigt die Ankunft des Tsunami in der Stadt Kama’ishi. Man
sieht einen Lautsprecher, aus dem die Tsunami-Warnung tönt. Menschen ziehen sich in
den verbleibenden zwei oder drei Minuten auf eine Anhöhe zurück. Der Mann hinter dem
Camcorder will das Naturschauspiel filmen und hält auf die Küstenlinie zu. Plötzlich
sieht man in der Ferne einen weißen Streifen. Eine Kinderstimme ruft staunend: „Die
Welle kommt!“ Der Camcordermann dokumentiert das Geschehen und sagt immer
wieder „Sugoi desu! Wahnsinn!“ Die Welle erreicht die Küste. Eine mächtige, vielleicht
vier oder fünf Meter hohe Hafenmauer soll die Stadt vor dem Meer schützen. Langsam
schwappt die Welle über den Rand der Mauer, die nun aussieht wie eine riesige Kaskade,
von der Wasser gemächlich in niederes Becken strömt. „Sugoi desu! Sugoi
desu!“ Mehrere Sekunden lang bleiben die Fischkutter im Hafen noch an der Hafenmauer
hängen, dann schwappen sie darüber. Ein Sturzbach ergießt sich auf die Hauptstraße der
Stadt. Der Camcordermann versucht fassungslos zu beschreiben, was er sieht. Er gibt Ort
und Uhrzeit an. „…Sugoi desu!“ Die Hauptstraße wird in wenigen Sekunden vom Bach
zum Strom. Die ersten Häuser setzen sich in Bewegung. Die berühmten japanischen
Häuser, die noch kurz zuvor alle den verheerenden Erdstößen standgehalten hatten,
wirken auf einmal wie aus Stroh gebaut. Die Strömung reißt sie mit. Die ganze Stadt
versinkt im schwarzen Morast, der sich immer weiter vorschiebt. Das einzige, was von
den zusammenstürzenden Häusern übrig bleibt, ist eine rötliche Ziegelstaubwolke, die
alles verhüllt. Kein Wort mehr. Der Camcordermann und alle Menschen um ihn sind
vollkommen verstummt. Man hört nur ein entsetzliches Gurgeln. Lose Balken werden
vom Wasser weitergeschoben, viele Straßenzüge lösen sich auf. Die letzten
Kameraeinstellungen zeigen ein Mädchen, das stumm vor sich hinweint. Es klammert
sich an seine Mutter. Menschen stehen auf einer Aussichtsplattform und starren auf eine
untergegangene Stadt.
1
Wer diese Aufnahmen sieht, sieht indirekt das Sterben, er wird Zeuge von Leiden, wie
man sie nicht mehr nicht in Worte fassen kann. Wie soll man auf dieses Leiden
reagieren? Wie soll man mit diesem schrecklichen Ereignis umgehen? Eine erste Antwort
könnte lauten: durch Hilfe, wo man helfen kann. Aber dies ist die eine Sache. Was soll
man tun, wo man nicht mehr helfen kann, wo sich das Leiden sich in die Seele
hineinfrisst, wo Trost notwendig ist? In diesem Falle zeigt das Leiden seine religiöse
Dimension. Es ist ein unabänderliches Leiden geworden, das nur im Nembutsu, in der
Anrufung des Buddha gut aufgehoben ist. Dies war der Sinn unserer Tempelandacht.
In meinem Vortrag möchte die Gedanken in eine etwas andere Richtung lenken. Es ist
eine Frage, die mir in der ganzen letzten Woche im Kopf herumkreiste. Sie scheint den
konkreten Problemen der Katastrophenopfer etwas fern zu sein und trotzdem trifft sie
genau ins Herz der Sache. Die Frage lautet schlicht: wie kam es dazu? Warum lehnt sich
die Natur auf einmal in dieser Weise gegen den Menschen auf? Oder in der traditionellen
Sprache des Buddhismus formuliert: Warum haben sich die Drachen und Gottheiten, die
das Meer und die Winde erfüllen, so sehr gegen Japan verschworen, dass nun alles auf
einmal zusammenkommt? Der Gründer der Jōdo Shinshū, Shinran Shōnin, dessen 750ten
Todestag dieses Jahr in Kyōto feierlich begangen werden soll, hat sich in seinen letzten
Lebensjahren sehr viele Gedanken gemacht, die – wenn man sie entmythologisiert und in
der Sprache unserer Zeit formuliert, auf die Frage hinauslaufen, wie das Verhältnis
zwischen Mensch und Natur eigentlich aussehen soll. Seine Gedanken, die freilich aus
einer ganz anderen, uns fernen Epoche stammen, möchte ich Ihnen in meinem Vortrag
vorstellen und mit der gegenwärtigen Situation in Zusammenhang setzen. Aber damit
dies auf leicht verständliche Weise geschehen kann, muss ich ein bisschen weiter
ausholen.
Oberflächlich betrachtet, ist Shinrans Lehre bzw. sein Verständnis vom Buddhismus von
allen buddhistischen Lehren die einfachste: Wir Menschen sind begrenzt, aber Buddha
bedeutet das unendliche, höchste Mitgefühl. Darum rät Shinran, dass der Mensch sich
ganz auf den Buddha verlassen soll. Dies geschieht, da der Mensch vom Buddha gar
nicht viel weiß, in der abstraktesten Form, nämlich durch die Anrufung Seines Namens
„Ich nehme Zuflucht zum Unendlichen Buddha“ „Ich wende mein Leben zurück zum
Buddha des Unermesslichen Lebens“ Auf Japanisch: „Namo Amida Butsu!“ „Kimyō
muryōjū nyorai!“ Der Mensch, der dies aus ganzem Herzen ruft, findet Rettung.
Dieses Nembutsu – das Gedenken an den Buddha in Form einer Anrufung Seines
Namens – ist Shinrans ganze Lehre, es ist die Quintessenz aller seiner Worte. Shinran
lehrt keine Meditationen, sein Ziel ist eine ganz einfache, aus dem Herzen kommende
Frömmigkeit, die sich im Alltag bewährt. In der arbeitenden Bevölkerung auf dem Lande
hatte Shinran mit seiner Lehre großen Erfolg. Die Bauern hatten nie Zeit und Kraft, sich
in die verschiedenen Meditationen des Buddhismus zu vertiefen, aber vor dem Altar das
Nembutsu zu sprechen und im Verlauf der Jahre ein herzensfrommer Mensch zu werden,
dafür reichte es allemal. Bis heute ist die Jōdo Shinshū die anhängerreichste religiöse
Strömung in Japan, sie hat die japanische Volksfrömmigkeit zutiefst geprägt.
2
Bis zum Zeitalter Shinrans, der sogenannten Kamakura-Zeit, war der Buddhismus in
Japan fast ausschließlich eine Religion der Elite. In den Zentren der Macht, wo der Adel
und die aufkommende Kriegerschicht buddhistische Klöster förderten, florierte der
Buddhismus, aber auf dem Land wussten die Leute nur wenig davon. Die Bauern
verehrten die althergebrachten shintōistischen Gottheiten. Es gab auf dem Land damals
nur wenige buddhistische Tempel, hingegen viele shintōistische Schreine, an denen auch
Feste stattfanden, in denen man die Gottheiten um gute Ernte, Schutz vor Bränden und
Katastrophen usw. bat.
Buddhismus und Shintōismus haben sich in Japan zu fast allen Zeiten nicht wie zwei
getrennte Religionen zueinander verhalten, sondern eher wie ein Kontinuum. Schon sehr
früh vertrat man einen Synkretismus (本地垂迹 honji suijaku), d.h. man identifizierte die
shintoistischen Gottheiten mit irgendwelchen Buddhas oder Bodhisattvas. Darum gab es
für die Buddhisten gar keinen Anlass, den Shintōismus aus seiner Position zu verdrängen,
denn die shintōistischen Gottheiten waren ja eigentlich auch Buddhas und Bodhisattvas,
nur sozusagen incognito. Dementsprechend versuchte der Buddhismus den Shintōismus
in sein eigenes Ritual zu integrieren. Die einfachen Bauern und Handwerker sollten ruhig
an ihren shintoistischen Feiern festhalten. Die Adligen aber ließen für viel Geld, doch
möglicherweise zu den selben rein weltlichen Zwecken, an buddhistischen Tempeln
aufwendige Zeremonien veranstalten. Sie erkauften sich damit das Privileg, die Gottheit
in ihrer „eigentlichen“ Form zu verehren.
Shinran hat diese Form des Buddhismus, die für jeden weltlichen Zweck eine Zeremonie
im Angebot hat, sehr scharf abgelehnt. Er hielt Mönche, die solche Zeremonien
veranstalteten, schlichtweg für dekadent. Denn die Aufgabe des Buddhismus ist für
Shinran (und darin ist er sicherlich ganz in Übereinstimmung mit der Tradition!) die
Erlösung des Menschen aus dieser samsarischen Welt und nicht etwa ein vergängliches
Glück in Samsara.
Hier aber entsteht das Problem: Shinran war einer der ersten, der den Bauern auf dem
Lande den Buddhismus predigte. Seine Erlösungslehre, die besagt, dass man sich
unmittelbar an den Buddha Amida wenden solle, war für diese einfachen Leute attraktiv.
Die Anrufung des Buddha Amida befreite sie in ihrer Todesstunde von der Angst, eine
schlechte Wiedergeburt, geschweige denn das Dahinvegetieren in einer unreinen
Schattenwelt antreten zu müssen.
Aber was sagt die Nembutsu-Lehre zu den ganz alltäglichen Problemen der Bauern? Der
Shintōismus gibt ihnen eine handfeste Hilfe: Wenn die Zeit der Reisaussaat gekommen
ist, dann bittet man die Götter um reiche Ernte in einem Fest. Im Herbst zur Zeit der
Stürme, bittet man um Sicherheit für Haus und Hof usw. Was tut ein NembutsuAnhänger in diesem Falle? Ist das Nembutsu – wenn ich einmal ein katholisch klingendes
Wort gebrauchen darf - auch eine Form der „Fürbitte“1? Dies ist die Frage nach dem
weltlichen Nutzen des Nembutsu (j. genze riyaku).
1
神への執り成し
3
Shinrans Hauptwerk, das Kyōgyōshinshō, ist im Wesentlichen eine Sammlung von
Zitaten aus alten indischen Sūtren und deren Kommentaren. Es besteht aus sechs Bänden.
Die ersten vier Bände beschäftigen sich mit der Reinen-Land-Lehre (kyō), der Übung
(gyō), dem Vertrauen (shin) und der Verwirklichung (shō). Sie geben der Schrift ihren
populären Titel „Kyōgyōshinshō“. Im fünften Band und der ersten Hälfte des sechsten
Bandes beschäftigt sich Shinran mit verschiedenen, aus seiner Sicht noch unreifen
Formen des Buddhismus bzw. den Phasen seiner eigenen spirituellen Entwicklung. In der
zweiten Hälfte des sechsten Band setzt er sich mit den anderen, damals in Japan
bekannten geistigen Strömungen, nämlich dem Shintōismus, Daoismus und
Konfuzianismus, auseinander. Aufschluss über unser Thema dürfen wir uns also von
diesem Schlussteil des Kyōgyōshinshō erwarten. Shinran zitiert hier zwei Sūtren, die so
unbekannt sind, dass ich offen gestanden, von ihnen noch nie gehört hatte: es sind das
Mondbahn-Sūtra (j. Gatsuzōkyō 月蔵経) und das Sonnenbahn-Sūtra (j. Nichizōkyō) aus
den „Sūtren der Großen Versammlung“ (j. Daishūkyō 大集経). Die Hauptfrage wie an
allen anderen Stellen des Kyōgyōshinshō lautet: Was bezweckt Shinran, wenn er uns
diese Zitate mitteilt?
Zunächst müssen wir uns Shinran als einen in seiner Zeit – dem Hochmittelalter – wohl
ziemlich ‚rational’ denkenden Menschen vorstellen. Es lag ihm vollkommen fern, vom
Buddhismus die konkrete Lösung weltlicher Probleme zu erwarten: der Buddhismus hatte
für ihn weder etwas mit der Förderung des Erntesegens, noch mit der Bestimmung
glücklicher oder unglücklicher Vorzeichen unmittelbar etwas zu tun. Diese Bedinge
gehörten für ihn, wenn ich einmal ein modernes Vokabular gebrauchen darf, in den
Bereich weltlicher Wissenschaft und Technik. In jedem Zeitalter gibt es ja einen common
sense, eine grobe Vorstellung davon, was man im allgemeinen als „vernünftig“ und was
man als „unvernünftig“ ansieht. Zur Zeit Shinrans wurde das Vernünftigste, was man
über die natürlichen Vorgänge aussagen konnte, in einer gewissen Form der Astrologie
und Geomantik zusammengefasst, die man als Onmyōdō (Yin-yang-Weg 2 陰 陽 道 )
bezeichnet. Die Onmyōdō-Meister beobachten den Sternhimmel, insbesondere die 28
Konstellationen der Mondbahn und die Planeten, sie achteten auf Veränderungen und
schlossen daraus auf günstige oder ungünstige Tage, heranziehende Katastrophen usw.
Im Alltag achtete man darauf, keine Hochzeit auf einen ungünstigen Tag zu legen, oder
wenn der Onmyōdō-Meister Anzeichen für eine Katastrophe sah, hatte der Hof die
Pflicht, Zeremonien durchzuführen, die die Götter wieder besänftigten. Viele auch schon
sehr nützliche Erkenntnisse, zum Beispiel Wissen um den Kalender, steckten in diesem,
aus heutiger Sicht als Vor-Wissenschaft zu bezeichnenden Sammelsurium. Im
Hochmittelalter war es darum das Rationalste, Bauern, die ihren Ernteerfolg befördern
wollten, auf die Erkenntnisse der Onmyōdō-Meister zu verweisen.
Aus diesem Grunde, so denke ich jedenfalls, suchte Shinran im riesigen buddhistischen
Kanon nach Schriften, die sich genau mit diesem Thema (den 28 Konstellationen usw.)
beschäftigten, und stieß dabei auf diese ganz ausgefallenen Sūtren.3
Der Name verweist auf chinesischen Hintergrund, aber Onmyōdō bezog sich auch auf indische Astrologie,
die man als sukuyōdō 宿曜道 bezeichnet.
3
Um diese Forschung betreiben zu können, musste Shinran in die Hauptstadt ziehen, wo es große
Bibliotheken und Experten für Onmyōdō gab.
2
4
In einer Passage aus dem Sonnenbahn-sūtra, die Shinran zitiert, erklärt eine hohe Gottheit
mit dem Namen Kharos.t.ī (das ist auch der Name des heiligen indischen Alphabets) vor
den versammelten anderen Gottheiten folgendes:
„ [Du] Mond und ihr anderen [göttlichen Wesen], ihr habt jeweils eine Sphäre, die ihr
regiert. Ihr solltet die vier Arten der fühlenden Wesen retten! (…) Um allen fühlenden
Wesen „Sicherheit und Freude“ (anraku –Das ist auch ein Name des Reinen Landes) zu
bringen, habe ich die Konstellationen der Sterne gesetzt. Ein jeder hat seinen Abschnitt
und seine Zeit, bis auf die Sekunde (muhūrta) [genau]. (…) Je nach dem Ort, nämlich der
Himmelsrichtung eines Landes, vollbringt ihr Eure Werke einer Ordnung entsprechend,
ihr [schafft] Wachstum und Gedeihen.“4
Die Gestirne, als Gottheiten vorgestellt, bringen also z. B. den lebensspendenden Monsun
zur rechten Zeit und in der rechten Menge entsprechend einer Ordnung, die der Gott
Kharos.t.i festgesetzt hat. Wahrscheinlich muss man sich die Sterne als die obersten
Gottheiten vorstellen, die die göttlichen Winde und Meeresströme regieren. Als Wächter
über diesen Prozess hat der Gott Kharos.t.ī die vier Himmelskönige und ihre Diener
eingesetzt:
„Ferner habe ich aufgestellt die vier großen Himmelskönige in den vier Richtungen des
Berges Sumeru, auf jeder Seite einen.(…) In den vier Richtungen und
Zwischenrichtungen beschützen sie alle Küsten und befestigten Städte.“5
Diese Ordnung, von der Gott Kharos.t.ī vor den versammelten Gottheiten und natürlich
dem Buddha spricht, geschieht um der Rettung (j. kyūsai) der Wesen willen, denn es
wäre wohl unmöglich, den buddhistischen Weg zu gehen, wenn die Welt vollkommen
chaotisch wäre. Die Gottheiten selbst begrüßen diese Ordnung freudig, und sie
bekräftigen damit die Aufgabe, die Kharos.t.ī ihnen zugewiesen hat:
„Wir alle sind darüber beglückt, es gibt uns Frieden und Freude. Vortrefflich, o
tugendhafter Kharos.t.ī! Du gibst den fühlenden Wesen Frieden und Sicherheit (annon)“6
Beobachtet man Shinrans Auswahl der folgenden Texte genau, scheint seine Absicht auf
folgendes hinauszulaufen: Indem die Gottheiten sich bewusst sind, dass sie für die
Rettung der Wesen da sind, akzeptieren sie den Buddha und sie akzeptieren das Denken
an den Buddha bzw. die Anrufung seines Namens, das Nembutsu. Denn letztendlich ist
die Buddhaschaft ja die Rettung. Im Namen des Buddha ist ihr eigener Zweck angerufen.
Darum ist das Nembutsu für Shinran genauso gut oder sogar noch besser als jeder andere
Dienst, den man einer Gottheit darbringen könnte. In Shinrans „Japanischen Hymnen auf
是諸月等各有主儻。汝可救濟四種衆生。何者爲四。救地上人諸龍夜叉乃至蝎等。如斯之類。皆
悉救之。我以安樂諸衆生故。布置星宿。各有分部乃至摸呼羅時等。亦皆具説。隨其國土方面之
處。所作事業隨順増長.(635b19) Siehe T.13 Nr.397, 282a13
5
又復安置四天大王於須彌山四方面所。各置一王。635c19
四方四維皆悉擁護一切洲渚及諸城邑。亦置鬼神而守護之。635c25
6
(T.317, 282b10) 皆悉隨喜安樂我等。善哉大徳。安隱衆生。
4
5
das Reine Land“ stehen darum die berühmten Verse über den „gegenwärtigen Nutzen des
Nembutsu“:
„Wenn wir ‚Ich nehme Zuflucht zum Buddha Amida sagen’,
dann freuen sich die vier Großen Himmelskönige darüber und bewahren uns.
Alle schlechten Erdgeister können sich nicht nähern“ usw. usf.“7
Durch das Nembutsu ruft man den Göttern ihren Zweck zu, und darum kann man sich
sicher sein, dass man von ihnen größtmögliches Wohlwollen erfährt. Im Godenshō, einer
Shinran-Biographie, die Shinrans Urenkel Kakunyo verfasst hat, findet sich eine
Anekdote, die Shinrans Lehre, dass jeder der dem Buddha vertraut, vollkommen die
Achtung der Gottheiten genießt, bestätigt.8
Ein gewisser Heitarō erhält den öffentlichen Auftrag, eine Wallfahrt zum Schrein des
Gottes von Kumano zu unternehmen. Heitarō fragt Shinran, ob er als NembutsuAnhänger diese Wallfahrt tun dürfe, und Shinran bejaht. Er solle allerdings auf der
ganzen Reise das Nembutsu üben. Heitarō hält sich an den Rat seines Lehrers. Ganz auf
das Nembutsu konzentriert, vergisst er am Kumano-Schrein die shintōistischen
Reinigungszeremonien. Im Traum erscheint ihm darauf die Gottheit in Form eines
Shintō-Priesters und fragt, warum er ungereinigt der Gottheit entgegengetreten sei. Da
kommt Shinran ihm zur Hilfe und erwidert, sein Schüler übe das Nembutsu. Der ShintōPriester grüßt Shinran achtungsvoll mit seinem Szepter (shaku), und Heitarō erwacht.
Der Mensch, der an den Buddha denkt und ihn anruft, erwirbt sich sogleich das
Wohlwollen und der Schutz der Gottheiten. Diese Aussage wirft Licht auf Shinrans
Verständnis von guter irdischer Herrschaft. Für Shinran Shōnin war der Inbegriff des
idealen Herrschers immer der Kronprinz Shōtoku, der etwa sechshundert Jahre vor ihm
gelebt hat, und unter anderem Japans ältesten buddhistischen Tempel, den „Tempel der
vier Himmelskönige“ (Shitennōji) in Ōsaka errichtete. Er wird auch auf unserem
Tempelgelände in Form einer Statue verehrt. Links, auf der Herzseite, hält diese Statue
ein buddhistisches Weihrauchgefäß. Dies soll bedeuten, Shōtoku Taishi dachte in seinem
Herzen immer an den Buddha. In der rechten Hand hält er die Statue eine Art Szepter
(shaku), wie es die Shintōpriester benutzen, d.h. Shōtoku Taishi achtete auch die
Gottheiten. Indem er an den Buddha dachte (nembutsu), errang er sich das Wohlwollen
der Naturgottheiten. Auf diese Weise gelang es Shōtoku Taishi, seinem Land und seinem
Volk „Frieden und Sicherheit“ (annon) zu geben, die ja das Ziel einer weltlichen
Herrschaft sind.
7
8
南無阿弥陀仏をとなふれば
四天大王もろともに
よるひるつねにまもりつつ
よろづの悪鬼をちかづけず
Godenshō IV, Nr.13
6
Kommen wir auf die gegenwärtige Situation zurück. Das gegenwärtige ShinranGedenkjahr steht unter dem Motto: „Möge auf der Welt „Friede und Sicherheit“ (annon)
sein!“ Aber noch nie seit dem zweiten Weltkrieg war die japanische Nation so weit von
„Frieden und Sicherheit“ entfernt wie heute. Die ganze Welt schaut mit Schrecken auf
Japan und betet, dass dieses faszinierende und sympathische Land nicht zum zweiten Mal
Opfer des atomaren Zeitalters wird.
Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Warum scheinen sich auf einmal alle
Gottheiten der Natur gegen die Menschen verschworen zu haben? Wenn man die
Gottheiten fragen würde, würden sie vielleicht antworten: „Nicht wir führen Krieg gegen
Euch, sondern ihr habt uns den Krieg erklärt. Warum baut ihr Städte an einen Ort, den
Kharos.t.i dafür nicht vorgesehen hat? Warum liegen in Japan etliche Flughäfen und
unzählige Industrieanlagen in der Reichweite des Tsunami. Warum baut ihr sogar
Atomkraftwerke an einen solchen Ort?“
Die Antwort darauf ist sehr einfach. Seit dem 19. Jahrhundert ist Japan – wie
Deutschland auch – ein sehr stark bevölkertes Land. Beide Länder sind rohstoffarm und
könnten ohne Industrie ihre Bevölkerung gar nicht ernähren. Dies zwingt zu immer
waghalsigeren Kompromissen im Umgang mit der Natur.
Im Grunde genommen ist Japan die Welt im Kleinen. Bald wird die Weltbevölkerung bei
acht oder neun Milliarden Menschen liegen, und alle diese Menschen wollen einen
Lebensstandard haben, wie ihn die Menschen in Japan und Deutschland tatsächlich
genießen. Alle Rohstoffe auf der Welt werden dafür nicht ausreichen, und alle
Energiesparmaßnahmen werden das nicht bewerkstelligen können. Darum macht man
heute schon Tiefseebohrungen mit zum Teil ebenfalls katastrophalen Ergebnissen. Bald
werden Bohrungen in der Arktis folgen, und auch die Erdgasförderung bedient sich
immer riskanterer Methoden.
Damit hängen wir alle zusammen. Nehmen Sie mich selbst zum Beispiel: Ich werde
nächste Woche nach Korea reisen, um meine Schwiegereltern zu besuchen.
Angenommen jeder der gegenwärtig fünf Milliarden Menschen würde eine solche
Weltreise unternehmen, dann wären die Ölvorräte der Welt wahrscheinlich schon in
diesem Jahr aufgebraucht. Trotzdem mache ich die Reise, denn das ist üblich und man
kann es von mir erwarten: Ich muss ja nur das Flugticket bezahlen, sollten mir das die
Schwiegereltern nicht wert sein? Ein anderes Beispiel: Wenn sich in Deutschland ein
Naturfreund hundert Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt ein schönes Haus baut,
und dann jeden Tag mit seinem Auto hin- und herfährt, dann bekommt er die Kosten vom
Staat teilweise ersetzt. Es rechnet sich vielleicht sogar. Das Auto ist dann für ihn eine
unverzichtbare Lebensnotwenigkeit geworden.
Der Maßstab für das Handeln auf dieser Welt ist jedenfalls nicht das „Denken an den
Buddha“ (das Nembutsu)- oder ich würde allgemeiner sagen: eine religiöse Grundhaltung
- sondern das Geld. Geld drückt aber nur die Verpflichtungen des Menschen gegenüber
anderen Menschen aus, und darin liegt die Kriegserklärung des Menschen an die Natur.
Wenn die Menschen an den Buddha denken würden, dann wären sie mitfühlend
7
gegenüber allen Wesen und würden die Welt, wenn sie dereinst sterben, nicht in einem
chaotischen Zustand hinterlassen. Ganz ähnliche Gedanken gibt es auch im Christentum:
wenn der Mensch an Gott denken würde, dann wüsste er um seine Verantwortung in der
Welt.
Der moderne Mensch ist hauptsächlich ein Verbraucher, an seine religiöse Herkunft
erinnert er sich nur noch verschwommen. Oft versteht er die Religion gar nicht mehr und
hält sie für ein langweiliges, überkommenes Brauchtum. Oft versteht er sich auch falsch
und wird Fundamentalist. Das ist dann noch viel schlimmer. Bei alledem wird das große
Potential, das die Religionen zur Lösung der Probleme unserer Zeit haben, beinahe schon
übersehen. Ob Christentum, Buddhismus oder Islam: alle großen Religionen lehren doch,
dass der Mensch über sein kleines, individuelles Schicksal, hinausschauen soll. Es geht
im Leben nicht darum, viele schöne Dinge zu erleben, sondern es geht darum, den
buddhistischen Dharma zu üben oder den Willen Gottes zu erfüllen. Von Menschen, die
das tun, kann man viel erwarten. Aber Menschen, die im angenehmen Leben den Sinn
ihrer Tage sehen, werden die Probleme dieser Welt kaum lösen, sondern im Gegenteil
vermehren. Der Verlust der traditionellen Werte ist darum immer etwas Problematisches,
selbst wenn er in Ländern geschieht, deren Wertesystem stark von unserem westlichen
abweicht. Es ist jedenfalls naiv, sich darüber zu freuen, wenn in irgendeinem Land der
Welt – sei es China, Indien oder Arabien – wieder einmal unsere Verbrauchermentalität
entstanden ist.
Ich habe Sie in meinem Vortrag mit Texten konfrontiert, die aus dem spätantiken Indien
bzw. dem japanischen Hochmittelalter stammen. Bis ins hohe Mittelalter war es für die
Menschen selbst verständlich, dass sie nur Teil einer göttlichen Ordnung sind. Kharos.t.ī
hat diese Ordnung eingerichtet. Dahinter steckt eine tiefe Lehre: Nicht die Natur passt
sich dem Menschen an, sondern der Mensch muss sich der Natur anpassen, sonst wird sie
ihm feindlich. Darum ist es so verheerend, dass wir heute das Geld und menschliche
Satzungen (Sachzwänge) zum Maßstab aller Dinge erheben, und die Ordnung der Natur
oft übersehen.
Dieser Ratschlag, der aus einer fernen Epoche zu uns dringt: „Achte die von den Göttern
gesetzte Ordnung der Natur!“ hat aber auch seine Grenzen.
Für die Menschen des Mittelalters war die Welt noch einfach. Die Welt in ihrer Ordnung
war immer so und wird immer so sein. Die Position des Menschen zur Natur veränderte
sich nie. Für uns moderne Menschen, die wir nun einmal sind, gibt es aber die Geschichte,
es gibt den Fortschritt, der die Situation der Menschheit in ihrem Verhältnis zur Natur
ständig verändert. Neue Technologien entstehen, neue Regionen werden erschlossen. In
Japan kann man diesen Fortschritt ganz konkret an der Küstenlinie ablesen. Wo heute der
Hauptbahnhof von Tōkyō liegt, war noch vor wenigen Jahrhunderten der Strand. Dieser
Fortschritt ist ein Faktum, das man nicht ungeschehen machen kann. Es ist eine
Schwärmerei, zum japanischen Fischerdorf der Heian-Zeit zurückkehren zu wollen!
Schon bei Shinran merken Sie, wie die mittelalterliche Geborgenheit aufbricht und
relativiert wird durch eine Reflektion auf höherer Ebene: Er sucht den Bezug des
Menschen nicht bei den Naturgottheiten, sondern auf einer abstrakteren Ebene beim
Buddha, d. h. dem höchsten Mitgefühl. Der höchste Maßstab auf der Welt ist nicht die
8
ewige Ordnung der Götter, sondern das Mitgefühl mit allen Wesen. Für Shinran wird
damit schon eine viel größere Freiheit für den Menschen denkbar als sie eine bloße
Naturreligion je geben könnte. Denn Mitgefühl mit allen Wesen begründet die Ordnung
der Götter, nicht umgekehrt.
Ich habe oben darauf hingewiesen, dass Shinran innerhalb seines Zeitalters sehr rational
dachte. Darin können wir, denke ich, von ihm lernen, denn jede Generation muss die
Probleme vor dem Hintergrund der Rationalität ihrer eigenen Zeit lösen.
Zur Rationalität unserer Zeit gehört die Risiko-Abschätzung. Gerade ein
Katastrophenland wie Japan ist überall auf der Hut. Nach und nach entstehen Karten, die
die Gefährdung jedes einzelnen Häuserblocks durch Erdrutsche, Überschwemmungen
usw. aufzeichnen. Alle möglichen Szenarien von Dammbrüchen, Tunneleinstürzen und
Massenpaniken in der U-Bahn werden durchdacht. Die Erdbebensicherheit der Gebäude
hat sich in der letzten Woche eigentlich auf erstaunliche Weise bestätigt, denn man hört
nur wenig von Verschütteten, obwohl es eine ganze Reihe von schwersten Erdbeben
gegeben hat. Die Macht eines Tsunami ist aber offenkundig unterschätzt worden. Es hat
sich als lebensgefährlich erwiesen, Holzhäuser in Küstennähe zu bauen. Man wird sie
durch mehrstöckige Stahlträgerhäuser ersetzen, die der Katastrophe weit besser
standgehalten haben. Bisher hat man in Japan von jeder Katastrophe etwas gelernt.
Zur Risiko-Abschätzung gehört auch der Bereich der Kernenergie. Aber darüber möchte
ich nicht sprechen. Wir alle kennen die Probleme viel zu genau, und es wird darüber in
den kommenden Monaten nicht nur in Deutschland, sondern auch in Japan viel diskutiert
werden.
Ich möchte allmählich zum Schluss kommen: Shinran sagt, man solle das Nembutsu üben
mit dem begleitenden Gedanken: „Möge Friede und Sicherheit auf der Welt sein!“ (Yo
no naka annon nare) Die Anrufung des Buddhanamens schließt also ein, dass man sich
selbst in einen friedlichen Zusammenhang zur Welt stellt. Dieser friedliche
Zusammenhang bezieht sich sowohl auf die Menschen als auch auf die Gottheiten, er
zielt auf den gesellschaftlichen Frieden, aber auch auf Frieden mit der Natur. Shinrans
Denken ist nicht kausal, sondern teleologisch: Die Gottheiten der Natur sind zu dem
Zwecke da, den Erlösungsweg aller Wesen zu ermöglichen. Darum darf sich ein Mensch,
der den Namen des Buddha anruft, von den Gottheiten (d.h. von der Natur) bewahrt
wissen.9
Worin besteht aus meiner Sicht Shinrans Aktualität? Hierzu muss man nur deutsche
Fernsehdiskussionen verfolgen. Gestern Abend switchte ich, wie man so schön sagt,
durch die Kanäle und hörte ich durch Zufall in einer Talkshow einen etwas in die Jahre
gekommenen Fernsehpromi sagen: „Ich benutze eigentlich mein Geld, weil ich etwas
davon haben will.“ Und ein anderer Fernsehpromi pflichtete ihm sofort bei: „Ja, das ist
genau richtig. Wenn man einmal über fünfundsechzig ist, soll man sein Leben
genießen!“ Das Publikum gab kräftigen Applaus.
Welches Bild vom Leben haben wir? In einem Garten im südchinesischen Stil, der das
Leben eines kaiserlichen Beamten darstellt, ist das Alter durch einen kleinen Pavillon mit
Bank dargestellt. Es ist der höchste Ort und der einzige, von dem man den ganzen Garten
9
„Bewahrtwerden von den unsichtbaren Wesen“ (j. 瞑衆護持
myōhugoji) Vgl. Kyōgyōshinshō III, Nr.65.
9
überschauen kann. Was für ein großes Geschenk ist doch das Alter, für einen Menschen,
der es erreichen kann, und was machen wir daraus? Welches Menschenbild haben wir?
Und was werden zukünftige Generationen einmal von uns denken?
Ich sage nichts weiter, sondern danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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