philoSOCIETY © Briana Hunter | Dreamstime.com com philoSOCIETY P otenz ist Macht. Dabei stellen sich gleich unsere Haare auf. Wir denken an Machtmissbrauch, politisch, zwischenmenschlich und/oder wirtschaftlich. Oder wir landen sofort beim Thema der Zeugungskraft des Mannes: vielsagend grinsend, etwas beschämt oder verzweifelt: schon wieder. Möglicherweise denken wir auch an die Mathematik, wo die Potenz das Produkt gleicher Faktoren ist oder an die Homöopathie im Sinne des Verdünnungsgrades eines Heilmittels. Wir wollen uns dem Thema aber philosophisch nähern. Potenz bedeutet etymologisch Kraft, Macht, Wirksamkeit, Leistungsfähigkeit und Stärke. Es wird von der lateinischen potentia (Vermögen, Kraft, Macht, Gewalt) abgeleitet. Das Adjektiv potent bedeutet stark, einflussreich, zahlungskräftig und leistungsfähig. Potentaten sind Machthaber und Herrscher. Wie positiv oder negativ wir alle diese Begriffe prägen, hängt von uns selbst ab, von unseren Erfahrungen und Einstellungen. Allen diesen „Mächten“ liegt das lateinische Verb posse (können) zugrunde: ich kann, ich weiß etwas zu machen. Das ist die philosophische Quintessenz. Dieses Machen-können verleiht Kraft und Wirksamkeit. Wir können natürlich auf den verschiedensten Ebenen können oder nicht können: handwerklich, beruflich, sozial-menschlich, künstlerisch, ethisch, philosophisch, spirituell ... Was hindert uns zu können? Die anderen, die Umstände, die Gene? Aber meistens sind wir es selbst: unsere Bequemlichkeit, unsere Faulheit im Denken und im Suchen von (kreativen) Lösungen, unsere Ängste und Zweifel, unser Gefühl der Ohnmacht ... Aus dem Gefühl der Machtlosigkeit entstehen Krankheiten, nicht nur Burnout-Syndrome, und wirkliche Unfähigkeit. Allein die Entscheidung, sich einer Herausforderung zu stellen und darin zu bestehen, birgt schon einen Teil der Lösung in sich. Aber wenn wir immer klein beigeben, wenn wir uns den Schwierigkeiten nicht stellen, wenn wir Angst haben zu scheitern und deshalb nichts tun, wird unser Handlungsspielraum mit der Zeit immer kleiner und kleiner. Wir werden dann so unfähig, wie wir uns zuvor er/gedacht hatten. Die wichtigste Macht ist daher die Macht über uns selbst, mit uns und unseren inneren Stolpersteinen umgehen zu können. Dann brauchen und suchen wir auch nicht die Macht über andere. Äußere Fertigkeiten und Kompetenzen kann man sich leicht aneignen, vor allem, wenn man mit sich selbst im Reinen ist. Wer etwas wirklich will, der erreicht das auch. Das zeigen uns zahllose Beispiele in der Geschichte und Gegenwart, so verrückt und unmöglich die Ideen vielleicht anfangs auch schienen. Potenziale sind Möglichkeiten Die Potenz ist also unsere Macht oder Fähigkeit, unsere Potenziale oder Möglichkeiten zu verwirklichen. Lateinisch potentialis bedeutet mächtig, wirksam, möglich. Das Adjektiv potenziell heißt möglich, denkbar, der Möglichkeit Potenz und Potenziale Warum wir Macht anstreben sollen. Eine philosophische Aussöhnung mit dem vielfach negativ besetzten Begriff der Macht. 8 Abenteuer Philosophie / Nr. 1 44 © Zerbor | Dreamstime.com Von Mag. Barbara Fripertinger Eine Eiche: aus einer Eichel gewachsen Nr. 1 44 / Abenteuer Philosophie 9 philoSOCIETY philoSOCIETY liches, Wissenschaftliches, Religiöses ... Aber all diese – äußeren – Dinge können wir im egoistischen Sinne auf Kosten von anderen, genauso aber auch förderlich für uns alle entwickeln. Sinnvoll ist es daher, innere Potenziale zu suchen, die allen unseren äußeren Handlungen Qualität und eine positive Richtung verleihen, damit wir uns nicht zum Egoisten oder gar zur Bestie entwickeln. Genau dies war und ist immer das Bestreben der Schulen der Philosophie im klassischen Sinne entlang der Geschichte bis in unsere Gegenwart. Wir können uns also an einem traditionellen 3-Stufenmodell von der Potenz zum Akt orientieren. © Dimjul | Dreamstime.com + © Lightboxx | Dreamstime.com nach wirkungsfähig. Die moderne Philosophie zieht daraus den logischen Schluss: Das Mögliche ist Potenzialität. Es ist ein unendlicher Fundus von dem, was noch nicht ist, aber sein kann. Wenn wir das Mögliche verwirklichen, ist es nicht mehr möglich – es ist real geworden. Aber auf diese Spitzfindigkeiten wollen wir uns hier nicht einlassen. Nehmen wir lieber das berühmte Beispiel einer Eichel. Sie ist die Nussfrucht der Eichen. Um aber zu verstehen, was eine Eichel wirklich ist, liegt ein wesentliches Kriterium in ihren Möglichkeiten. Aus ihr kann nämlich ein ganzer Eichenbaum wachsen. Das Gleiche können wir mit allen Samen und Eiern argumentieren. Interessanterweise sind also die Potenziale einer Sache oder eines Wesens ganz entscheidend dafür, um zu verstehen, womit oder mit wem wir es zu tun haben. Es gehört zur eigenen Identität und Wesensmäßigkeit. Was ist der Mensch? Wenn wir den Potenzialen also einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsstiftung beimessen, so ergibt sich die Frage, welche Potenziale trägt der Mensch? Was ist sein „Eichenbaum“, der sich in ihm verbirgt? Zugleich mit dieser Identitätsfrage klärt sich auch sein Ziel. Wer bin ich? Was soll ich tun? Doch bevor wir diese Fragen zu beantworten versuchen, noch ein philosophischer Einschub: Akt und Potenz Unzählige Philosophengenerationen haben sich mit diesem Thema beschäftigt. Es handelt sich um zwei philosophische Gegenbegriffe. Hier kommt zur Potenz als innere, noch nicht realisierte Möglichkeit noch der Akt hinzu (lateinisch actus: Treiben, Tätigkeit, Amt, Beruf; griechisch ἐνέργεια, energeia: das Prinzip der Bewegung, Veränderung), der eben genau die Potenzialität verwirklicht. Dieses Begriffspaar geht im Wesentlichen auf Aristoteles zurück und hielt sich entlang der Geschichte der Philosophie. Vor allem im Mittelalter war dieses Thema aktuell, sollte damit ja auch Gott und Schöpfung als reiner Akt definiert werden. Man unter- 10 Abenteuer Philosophie / Nr. 1 44 Der Weg zu den Potenzialen führt über selbsterrichtete Stufen scheidet auch die aktive Potenz von der passiven. Wenn ein Patzen Lehm zu einer kunstvollen Vase geformt wird, so wirkt der Handwerker aktiv (aktive Potenz des Künstlers) und der Lehm wird passiv zur Vase geformt (passive Potenz des Lehms der Formbarkeit). Je nach philosophischem Weltbild ist nun der Akt oder die Potenz wichtiger und „realer“. Die materialistischen Strömungen ziehen den Akt vor, idealistische Schulen sehen die Potenz im Zentrum der Betrachtung, die Möglichkeit der Bewegung und Verwandlung. Wir sehen also, dass auch der sexuelle Akt eine Potenz verwirklicht, allerdings nur auf einer von vielen möglichen Ebenen. So dient zum Beispiel die Sprache, unseren Bewusstseinsinhalten in Gedanken oder ausgesprochenen Worten „Form“ zu verleihen oder unsere Handlungen sind Akte, um diese Gedanken und Ideen zu verwirklichen. Wer bin ich? Was soll ich tun? Oder anders formuliert: Welche Potenzialität liegt im Menschen? Den Menschen können wir nicht auf seine Fähigkeit zur physischen Reproduktion beschränken. Er ist ein Gemeinschaftswesen, ein gestaltendes, symbolisierendes und religiöses Wesen. Wir tragen in uns das Potenzial zu einer Bestie als auch zu einem Heiligen, mit einer ungeheuer bunten Bandbreite dazwischen. Hier können wir sehr kreativ sein – alle möglichen menschlichen Ausdrucksformen aufzählen, ohne auch nur annähernd eine Vollständigkeit erreichen zu können. Berufe, Künste, Handwerk- Stufe der Moral Auf dieser Stufe sollen wir lernen, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden. Dass uns heute in der Gesellschaft vielfach Moral fehlt, sehen wir an allen Ecken und Enden. Korruption ist (fast) überall. Daher ist Moral auch die erste Stufe zum Heben unserer Potenziale. Die Religionen oder auch der Ethikunterricht und philosophische Erörterungen können uns dabei helfen, entscheiden und unterscheiden müssen wir aber selbst. Ziel ist es daher, eine innere Charakterstärke zu entwickeln, die uns hilft, was wir vor uns selbst als gut und richtig erkannt haben, auch in die Tat umsetzen zu können. Selbst unserer inneren Bequemlichkeit, unserem Besitzenwollen als auch äußeren Widerständen und Verlockungen zum Trotz. Suchen wir Stabilität und Sicherheit nicht in äußeren Systemen, sondern in unserem Charakter. Das Gute ist das, was uns verändern lässt. Das Schlechte ist das, was uns an innerer Bewegung hindert. Platon hat das so wunderschön formuliert: Mit den Tugenden entwickeln wir das allgemeine Gute im Menschen. Und außerdem macht uns das glücklich. Egoismus führt immer zu Unzufriedenheit und Einsamkeit. sucht Wahrheit – aber sie macht uns nicht unbedingt zu glücklicheren und besseren Menschen. Was ist richtig und was ist falsch? Welche irrigen Vorstellungen, falschen Erwartungshaltungen habe ich von mir, meinem Leben und von den anderen? Welche Dogmen fesseln mich? Was lässt mich leiden? Das ist eine sehr schwierige Stufe, denn sie fordert von uns, aus dem Subjektiven auszutreten. Die Dinge sind so, wie sie sind, nicht wie ich sie mir vorstelle oder gerne hätte. Wichtig ist vor allem: es gibt viele verschiedene Niveaus der Wahrheit, viele Ausdrucksformen, aber einen Kern. Daher hat die Suche nach der Wahrheit auch nicht nur mit dem Verstand, sondern auch sehr viel mit dem Herzen zu tun. Übrigens: Die Wissenschaft hat entdeckt, dass unser Herz mit über 40.000 neuronalen Verschaltungen quasi ein eigenes Gehirn hat, das unabhängig vom Kopf denkt. Wenn wir nun einige Täuschungen in unserem Leben wegräumen, gelangen wir ein Stück mehr zu uns selbst. Stufe der Spiritualität Auf der dritten Stufe geht es nun um die Unterscheidung zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen. Mit Spiritualität ist hier ein Bewusstseinszustand gemeint, nicht der Glaube. Es ist eine tiefe, innere Erfahrung, dass wir eine untersterbliche Seele sind. Wir haben einen Körper, den wir zum Beispiel wie ein Auto benutzen können, aber unser eigentliches Wesen ist die Seele. Und das ist somit auch unser größtes Potenzial. Daher liegen unsere wirklichen Potenziale auch nicht in Utilities oder Skills unseres Autos. Spiritualität heißt auch Liebe. Nicht mich selbst oder nur einen Einzelnen zu lieben, sondern alle(s). Das ist natürlich ein hoher Ansatz. Er führt uns dazu, alle Konditionierungen abzulegen, wirkliche Freiheit von Zeit und Raum, von uns selbst, anderen und Umständen. Das ist die höchste Potenz. Die Welt besser hinterlassen Im Moment fühlen sich viele Menschen vom Leben und der Situation der Welt überfordert und verängstigt. Sie empfinden Ohnmacht gegenüber den jüngsten Entwicklungen, der Komplexität und Vernetzung der Probleme unserer Zeit. Wir drohen – im Sinne des Artikels – impotent zu werden. Aber im Sinne des Artikels verfügen wir auch über ein ungeahntes Potenzial an Fähigkeiten in uns. Auch die Welt trägt das Potenzial der Veränderung und Verbesserung in sich. Ein Philosoph ist ein Mensch, der die Welt besser hinterlässt, als er sie vorgefunden hat. Und so liegt es an uns Menschen, die eigenen Möglichkeiten zu nutzen, um aktiv unsere (Um)Welt zu gestalten, gemäß dem Besten, das in uns ist und in der Welt. ☐ Stufe der Philosophie Auf dieser zweiten Stufe geht es um die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Illusion. Das ist das eigentliche Thema der Philosophie. Auch die Wissenschaft Nr. 1 44 / Abenteuer Philosophie 11