Übersehene neue Arten in Nord- und Ostsee

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Übersehene neue Arten in Nord- und Ostsee
Wenn eine Tierart gefunden wird, die in ihren Merkmalen mit keiner der bekannten Arten
übereinstimmt, muss diese Art neu beschrieben werden. Sie bekommt einen
wissenschaftlichen Namen, der aus einem Gattungs- und einem Artnamen (Binomen) besteht.
Diese Arbeit wird meist von Taxonomen realisiert, die entsprechende Regeln zur Benennung
von Arten (Internationale Regeln für die Zoologische Nomenklatur) kennen und befolgen
müssen.
Schon im 19. Jahrhundert wurde erkennbar, dass es Normen für die Bezeichnung von
Tierformen geben muss, die für alle Länder und Sprachen gelten sollen. Nach einigen nicht
sehr erfolgreichen Versuchen wurde von Franz Eilhard Schulze (1840-1921) auf dem 3.
Internationalen Zoologen-Kongress im Jahre 1895 in Leiden ein Antrag zur Erarbeitung
allgemeingültiger Regeln gestellt. F.E. Schulze studierte an der Universität Rostock Medizin,
wurde 1863 dort promoviert, und gründete 1871 als Ordinarius für Zoologie und
Vergleichende Anatomie das Zoologische Institut an der Universität Rostock. Es sollten aber
noch zehn Jahre vergehen, bis ein offizieller Text in französischer, englischer und deutscher
Sprache erarbeitet und in Kraft gesetzt wurde. Seit dem 1. Januar 2000 gilt die vierte Ausgabe
als verbindlich für alle Zoologen weltweit. In diesen Regeln wird unter anderem festgelegt,
dass von neu beschriebenen Arten Belegexemplare, sogenannte Typen, in öffentlich
zugänglichen Sammlungen hinterlegt werden müssen. Dieses Typenmaterial bildet die Basis
für die Beschreibung der Art und dient als wichtigstes Vergleichsmaterial für nachfolgende
taxonomische Untersuchungen. Der Wert wissenschaftlicher Sammlungen wird oft an der
Anzahl der Typen in diesen Sammlungen bestimmt, denn das Typenmaterial ist für jede Art
einzigartig! Auch für die Beschreibung der Arten gibt es allgemeingültige Vorschriften, deren
Einhaltung von den Spezialisten jeder Tiergruppe kontrolliert wird. In der Summe tragen
diese Vorschriften und Empfehlungen dazu bei, ein Maximum an Universalität und
Kontinuität wissenschaftlicher Tiernamen weltweit zu gewährleisten. Es ist leicht
verständlich, dass eine Stabilität im zoologischen System notwendig ist, wenn man bedenkt,
dass bis heute etwa 1.5 Millionen Tierarten wissenschaftlich beschrieben worden sind, man
aber heute mit einer Gesamtartenzahl von 15 bis 30 Millionen rechnet. Im Jahre 2008 wurden
allein 14.563 Arten neu beschrieben, darunter 9.794 Insektenarten, aber auch 41 Säugetiere
und sieben Vögel (Stand 2010; http://species.asu.edu/SOS).
In der Vergangenheit, als allgemein verbindliche Regeln für die Benennung von Tieren noch
nicht existierten, waren die Erstbeschreibungen meist sehr kurz. Oft bestanden sie nur aus
wenigen Sätzen oder Wortgruppen, und die Tiere, die die Grundlage für diese
Beschreibungen bildeten, wurden nicht gesondert aufbewahrt. Das führte in der Folge nicht
selten zu Konfusionen, die zum Teil bis heute andauern.
Angesichts der herausragenden taxonomischen und faunistischen Aktivitäten deutscher und
skandinavischer Zoologen in der Vergangenheit mag es überraschen, dass viele der in der
Nord- und Ostsee lebenden Arten ursprünglich nicht aus diesen Meeresgebieten beschrieben
worden sind. In sehr vielen Fällen wurden die Tiere z. B. zuerst im Mittelmeer oder in
arktischen Meeren gefunden und von dort beschrieben. Später fand man diese Tiere dann in
den anderen Meeresgebieten, unter anderem auch in der Nord- und Ostsee.
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Abb. 2: Titelseite der
„Fauna Groenlandica…“
von
Otto
Fabricius
(1780)
Abb. 1: Porträt von Otto Fabricius
(in der Kirche in Paamiut, SW
Grönland fotografiert)
Ein für die Erfassung und Beschreibung der europäischen Fauna bedeutender Zoologe war der
dänische Naturforscher Otto Fabricius (1744–1822, Abb. 1). Er arbeitete 6 Jahre als Missionar
im Frederikshaab (heute Paamiut) an der Südwestküste Grönlands. Während dieser Zeit
beschäftigte er sich intensiv mit der grönländischen Fauna. Die Ergebnisse seiner
Beobachtungen veröffentlichte er im Jahre 1780 in dem umfangreichen Buch „Fauna
Groenlandica…“ (Abb. 2). Insgesamt wurden in diesem Werk 473 Wirbeltiere (u. a. der
Homo groenlandus) und Wirbellose behandelt von denen etwa 130 als neue Arten
beschrieben wurden. Einige der in Grönland gesammelten Tiere schickte er seinem dänischen
Kollegen Otto Friedrich Müller (1730–1784), der diese ebenfalls für Neubeschreibungen
nutzte. Die Beschreibungen beider Zoologen waren - zeitgemäß - in der Regel sehr knapp,
und es wurde kein Material hinterlegt.
Unter den von Müller und Fabricius beschriebenen marinen Arten gibt es einige, die wegen
ihrer weiten Verbreitung und hohen Dichten von größter Bedeutung für die meeresbiologische
Forschung sind. Das trifft u.a. für den etwa 2 cm langen Meeresborstenwurm Spio filicornis
(Abb. 3) zu. Diese Art wird regelmäßig auch auf Sandböden in der Nord- und Ostsee
gefunden, ist aus dem Mittelmeer und vielen anderen Meeresgebieten bekannt. Taxonomische
Untersuchungen, die im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Rostock durchgeführt
worden waren, hatten aber gezeigt, dass die in Nord- und Ostsee vorkommenden Tiere
verschiedenen Arten zugerechnet werden müssen. Doch welche dieser beiden Arten war der
„richtige“ S. filicornis-Wurm, also die Art, die ursprünglich von Fabricius aus Grönland
beschrieben wurde? Um diese Frage zu klären, wurde eine Expedition nach Grönland
unternommen, die zum größten Teil aus Projektmitteln eines UBA-Projektes finanziert wurde
(FKZ 370725201). Es wurden Gebiete besucht, wo Otto Fabricius 240 Jahren zuvor
gesammelt hat. Die grönländischen Individuen wurden morphologisch und genetisch
untersucht, und mit denen aus Nord- und Ostsee verglichen. Das Ergebnis war einigermaßen
überraschend: Keine der beiden in deutschen Meeresgebieten vorkommenden Arten, die die
Meeresbiologen seit mehr als 200 Jahre unter dem Namen S. filicornis kannten, ist der
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grönländischen Art zuzuordnen. Außerdem sind die Tiere aus der Ostsee näher mit den
arktischen verwandt, als mit denen aus der Nordsee. Die Tiere aus der Nord- und Ostsee
wurden daraufhin neu beschrieben. Das Vorkommen von S. filicornis ist wahrscheinlich auf
die Arktis beschränkt. Das Typenmaterial befindet sich jetzt in der Zoologischen Sammlung
der Universität Rostock.
Neben S. filicornis wurden weitere von Fabricius
beschriebene Tiere gefunden, die auch in unseren
heimischen Gewässern vorkommen sollen. Zukünftige
Untersuchungen müssen zeigen, ob es sich dabei
tatsächlich um diese arktischen oder um andere, bislang
ebenfalls
unentdeckte
Arten
handelt.
Diese
Untersuchungen sind nicht nur von taxonomischer
Bedeutung, sondern auch wichtig für das Verständnis der
nacheiszeitlichen Besiedlung der Ostsee.
Abb. 3: Spio filicornis von der
Typenlokalität Iluilarssuk/Paamiut,
SW Grönland
Andreas Bick
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