Susann Sontag Katrin Sontag Wenn das Leben auf den Magen schlägt Ganzheitliche Selbsthilfe für einen gesunden Stoffwechsel Besuchen Sie uns im Internet: www.droemer-knaur.de Alle Titel aus dem Bereich MensSana finden Sie im Internet unter www.knaur-mens-sana.de Originalausgabe Februar 2010 Copyright © 2010 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Redaktion: Erdmute Otto Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: FinePic®, München Satz: Adobe InDesign im Verlag Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-426-87458-5 2 4 5 3 1 Inhalt Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ernährungsberatung ist Lebensberatung . . . . . . . . . . . . . 9 Rhythmus des Frühlings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Neubeginn und Wachstum 14 Pole der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Stillstand 16 • Orientierungslosigkeit 23 Pole der Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Bewegung und Neuanfang 29 • Einfachheit und Natürlichkeit 35 Frühlingsrezepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Sprossen 40 • Dinkelpfannkuchen 42 • Frühlingsfüllungen für Dinkelpfannkuchen 43 • Saucen für gefüllte Dinkelpfannkuchen 45 • Leichtes Garen mit dem Wok 46 Rhythmus des Sommers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Ausdruck und Fülle 49 Pole der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Wut 51 • Unklarheit 58 Pole der Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Einmaligkeit 64 • Klarheit 69 Sommerliche Rezepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sauerampfersuppe 76 • Fleisch in Aspik 77 • Gemüse in Aspik 78 • Salat aus gekochtem Gemüse 79 • Maiskolben, Paprika, Zucchini gegrillt 80 • Nudelsalat ohne Mayonnaise 80 • Rote Grütze 81 76 Rhythmus des Herbstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Fülle und Rückzug 83 Pole der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Verlust und Trauer 84 • Mangel 92 Pole der Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die innere Stimme hören 100 • Nähren und Entspannen 107 Herbstliche Genüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Huhn im Römertopf 115 • Gulasch im Römertopf 116 • Pastinakencremesuppe mit Kräutern 117 • Kürbisauflauf 118 • Süßreis mit Kastanien 119 Rhythmus des Winters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Kälte, Dunkelheit, Stille 120 Pole der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Kälte 122 • Angst 128 Pole der Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Achtsamkeit 135 • Selbstbewusstsein 143 Winterküche – Suppenküche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Kraftbrühen 150 • Congee 150 • Wurzelgemüseeintopf 154 • Fleischeintopf mit Wild 155 • Apfelauflauf 156 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Was ist Heilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Anhang Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfreiche Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Service . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 162 186 188 190 191 Zu diesem Buch ie halten ein Buch in den Händen, das aus dem Alltag meiner Ernährungsberatungspraxis für Ihren Alltag geschrieben wurde. In meiner Praxis habe ich mit einem breiten Spektrum von Patienten zu tun. Einige von ihnen leiden seit Jahrzehnten an schweren Magen-Darm-Krankheiten wie Colitis. Ich habe jedoch auch Klienten, die vorsorglich Informationen über eine gesunde Ernährung und Lebensweise suchen. Alle meine Patienten oder Klienten bekommen speziell für sie angefertigtes Material mit nach Hause: ein »persönliches Ernährungsprofil«. Meine Tochter erklärte sich bereit, die zahlreichen Unterlagen, die ich über die Jahre für meine Klienten zusammengestellt hatte, zu sortieren und daraus mit mir gemeinsam dieses Buch zu entwickeln. Uns war wichtig, einen »Ratgeber der neuen Generation« zu schreiben, der sich vor allem als »Impulsgeber« versteht und Eigenverantwortung, Selbstbewusstsein sowie Wahrnehmung ins Zentrum stellt. Anregungen sollen dazu dienen, dass jede Leserin und jeder Leser den eigenen, einmaligen Weg in die Selbstheilung und den Zugang zum individuellen Wissen über sich selbst finden kann. Der Fokus meiner Arbeit liegt auf der Selbstheilung, die für jeden Klienten anders aussieht. Daher werden Sie viele Impulse und individuelle Erfahrungen in diesem Buch vorfinden. Wir lassen Betroffene zu Wort kommen und skizzieren Beratungen nach, so dass Sie sich als Leser mit den geschilderten Erfahrungen verbinden, Ihre Selbstwahrnehmung schärfen und neue Wege für sich selbst entdecken können. S 7 Zudem bietet das Buch Ihnen sowohl konkrete Informationen als auch kleine Tests, zahlreiche Rezepte für eine heilende Ernährung, hilfreiche Adressen, Literaturempfehlungen – und Übungen zum selbst Ausprobieren. (Es ist leichter, diese Übungen mit Hilfe einer CD durchzuführen – mehr dazu finden Sie im Anhang.) Um den Lesefluss nicht zu unterbrechen, haben wir zahlreiche im Text vorkommende Begriffe in einem ausführlichen Glossar erklärt (ebenfalls im Anhang). Wir hoffen, dass Sie Freude beim Lesen haben, sich mit diesem Buch geborgen fühlen und inspiriert werden, für sich selbst neue Türen zu öffnen. Der Text funktioniert nicht nur von vorne nach hinten. Blättern Sie einfach, lassen Sie sich treiben, und erspüren Sie, an welchen Stellen Sie sich am wohlsten fühlen. 8 Ernährungsberatung ist Lebensberatung ch betrachte Ernährung nicht isoliert, sondern immer als eingebunden in den Lebensalltag meiner Patienten. Ernährungs- und Verdauungsprobleme haben ihre Wurzeln in einer Vielzahl von Faktoren, die im Folgenden beleuchtet werden. Bei fast allen meinen Patienten zeigt sich jedoch ein Grundthema: Das Gefühl für ihre persönliche Lebensbewegung ist ihnen verlorengegangen. Oft entdecken sie, dass sie versucht haben, gegen ihre eigene Lebensbewegung zu steuern, und dass auf diese Weise vermeintlich chronische Zustände und leidvolle körperliche und psychische Erfahrungen entstanden sind. Am Anfang der Beratungen stehen der Wunsch und die Sehnsucht des Klienten, diese ganz individuelle Lebensbewegung wieder aufzufinden. Ruft ein Patient mich an, um einen ersten Termin zu vereinbaren, so fällt häufig der Satz: »In meinem Leben muss sich etwas ändern!«, oder: »So kann es nicht weitergehen.« Hier wird die Bereitschaft signalisiert, sich wieder bewusst in die persönliche Lebensbewegung hineinzubegeben. Gelingt es, sich mit der eigenen Lebensbewegung vertrauensvoll zu verbinden, dann führt dies zu einer Lebensqualität, die Gesundheit, körperliche und geistige Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Erfüllung sowie neue Kraft mit sich bringt – und Zustände chronischer Erkrankung verändert. Krankheiten sind wie ein unvollständiges Puzzle. Solange viele Puzzleteile nicht bekannt und nicht an ihren Platz gebracht sind, wird es keine echte Heilung geben. Zwar können I 9 Symptome gelindert werden; gesundheitliche Stabilität kann mit Hilfe der Schulmedizin erreicht werden. Heilung jedoch ist etwas anderes: Körper, Geist und Seele bilden eine Einheit. Diese Einheit ähnelt einem dreibeinigen Schemel. Man sitzt bequemer, wenn alle drei Beine gleich lang sind. Ist eines der Beine zu kurz, wird das Ganze schnell zu einer Rutschbahn. Diese Rutschbahn führt zu zwei Bewegungen: Aus Angst herunterzurutschen beginnt man automatisch Widerstand zu leisten, denn man will den Halt nicht verlieren. So befindet man sich schnell in einer Zerreißprobe zwischen dem Rutschen und dem »krampfhaften Festhalten« an dem gewohnten Platz. Man versucht, sich gegen das Rutschen zu stemmen. Heilung bedeutet: loszulassen, zu vertrauen und auch das Rutschen zuzulassen, um letztendlich wirklich sicher und bequem an einem neuen Platz (mit drei gleich langen Beinen) im eigenen Leben zu sitzen. Über Jahrtausende haben die Menschen Heilweisen entwickelt, in deren Zentrum dieses »bequeme Sitzen«, diese Ganzheitlichkeit stand. Mir wurde die volle Bedeutung von Ganzheitlichkeit erst bewusst, als ich selbst während einer Zeit großer Belastung schwer erkrankte. Der Zenit der Krankheit war erreicht, als ich in Indien lebte und unfreiwilliger Wirt für einen dort verbreiteten Parasiten wurde. Innerhalb weniger Wochen sank mein Gewicht von 68 auf 56 kg, und ich war körperlich ziemlich am Ende. Zunächst wurde eine tropische Sprue diagnostiziert und mit starken Medikamenten behandelt. Meinen betreuenden Ärzten gelang es zwar, mich einigermaßen stabil zu halten, aber einen Weg aus der Krankheit heraus konnten sie mir nicht aufzeigen. Es wurde mir immer klarer, dass es bei diesem Prozess nicht um »die Krankheit« ging, sondern dass es sich um mich drehte. Und es gab zwei Kernfragen, die mich zunehmend beschäftigten: 10 1. Wie nehme ich meine Krankheit wahr? 2. Wie lebe ich? Wenn man mit einer Diagnose wie »Sprue« oder »Diabetes« nach Hause geht, ist oftmals bloße Angst die Folge. Viele meiner Patienten fühlen sich an ihre Diagnose »ausgeliefert« und haben gleichzeitig selber meist eine andere Wahrnehmung der Situation (erste Kernfrage). Diese Selbstwahrnehmung der Krankheit hat häufig mit der medizinischen Diagnose nur wenig zu tun. So fühlt sich der Betroffene müde oder vergiftet, er fühlt sich vom Leben an den Rand gedrängt oder verzweiflungsvoll unentschlossen, er fühlt sich überfordert und lustlos, ihn nervt sein Alltag, oder er weiß nicht, wo er die Kraft für den nächsten Tag hernehmen soll. Hinter diesen individuell unterschiedlichen Krankheitswahrnehmungen versteckt sich die zweite Kernfrage: »Wie lebe ich?« Diese Frage begann bei mir selbst und beginnt bei fast jedem meiner Klienten ein Eigenleben zu führen. »Was zeigt die eigene Krankheitswahrnehmung auf?« Seit der Zeit, in der ich selbst Heilung erlebte, habe ich in meiner Praxis viele Menschen begleitet und dabei jedes Mal das gesehen, was auch ich erfahren hatte: Es gibt einen individuellen Weg in die Krankheit hinein, und in diesem Weg verborgen liegt bereits der individuelle Weg aus der Krankheit heraus. Diese beiden Wege kann man sich wie zwei Pole vorstellen, die zusammen eine Einheit sind: der Pol der Krankheit und der Pol der Heilung. Keiner dieser Pole ist statisch. Es handelt sich nicht um quadratische Kästen, in die man das eine oder andere hineinsortiert. Es sind vielmehr zwei, die gemeinsam ein Ganzes bilden – eine Einheit wie ein runder Ball. Ein Ball, der natürlicherweise rollt. Unwohlsein oder Krankheit, die über einen langen Zeitraum das eigene Leben bestimmen und 11 »unabänderlich« scheinen, zeigen an, dass die inneren PolKräfte sich nicht mehr ausreichend bewegen und der »Lebensball« nicht mehr frei und entspannt rollt. Denn Leben heißt, dass beide Pole in einer ganzheitlichen, natürlichen Bewegung miteinander in Beziehung stehen. In einem freien Spiel von Krankheit und Heilung. Ebenso wie keine der Jahreszeiten alleine stehen kann, sondern alle Jahreszeiten sich zu einem Ganzen zusammenfügen, so bilden auch die Pole Krankheit und Heilung ein rundes Ganzes. In meiner Praxis helfe ich meinen Patienten, ein Bewusstsein für ihre Krankheit zu entwickeln. Ich begleite sie zum Pol ihrer Krankheit, und von dort gehen sie in kleinen, selbstbestimmten Schritten ihren einmaligen Weg zum Pol der Heilung. Diesen Weg zu gehen bedeutet, die eigene natürliche Lebensbewegung wiederzufinden und den eigenen Lebensball wieder ins Rollen zu bringen. Heilende Ernährung ist eingebettet in die Zyklen der Natur, und so haben wir die Jahreszeiten als die große natürliche Lebensbewegung zur Grundlage für dieses Buch gewählt. Die Charaktere der vier Jahreszeiten veranschaulichen unterschiedliche Themen meiner Arbeit, verschiedene Aspekte einer heilenden Ernährung und Geschichten meiner Klienten. Jedes der vier Kapitel beginnt mit einer Einführung über die Bilder und Themen, mit denen ich diese Jahreszeit verbinde. Es folgen jeweils zwei Unterkapitel über Wege in die Krankheit und Wege in die Heilung: Pole der Krankheit regt an, über Phänomene nachzudenken, die der natürlichen Bewegung zuwiderlaufen können. Pole der Heilung zeigt Wege auf, sich mit der eigenen Natürlichkeit wieder zu verbinden. Vielleicht fühlen Sie sich an einigen Stellen an Konzepte der traditionellen chinesischen Medizin oder auch an Hildegard 12 von Bingen erinnert. Diese Lehren dienen als Impulsgeber, die Schwerpunkte liegen jedoch auf der praktisch erprobten Umsetzung in meiner Praxis, auf meinen eigenen Erfahrungen sowie den Erfahrungen meiner Klienten. Die wachsende Zahl von Selbsthilfegruppen und Internetforen Betroffener, aber auch meine Klienten bestätigen, dass der lebendige Austausch über Erfahrungen ein wichtiger Heilfaktor ist. So fließt in dieses Buch neben vielen anonymisierten Fallbeispielen meiner Klienten auch meine eigene Krankengeschichte mit ein, da ich nicht nur Beraterin bin, sondern auch selbst Betroffene. Zwei meiner Patienten danke ich besonders, denn sie schrieben ihre Geschichte für Sie auf. Das zentrale Anliegen dieses Buches ist: »Finde deine eigene Heilkraft«. Diese Heilkraft liegt in allem, was lebt. Sie liegt in jedem Menschen. Das Buch möchte Ihnen Mut machen, sich auf die Suche nach Ihrer Heilkraft zu begeben. Wo immer es einem Menschen gelingt, sich mit der eigenen Heilkraft zu verbinden, geschieht Heilung. Für diesen Weg zu sich selbst gibt es kein Patentrezept und keinen Rat, wie es ganz sicher gelingen kann. Es existieren aber viele Erfahrungen von Menschen, denen es gelungen ist. Und Sie werden im Laufe des Buches sehen, wie unterschiedlich die individuellen Wege in die Heilung waren. Wir alle, die wir an diesem Buch gearbeitet haben, wünschen Ihnen eine spannende und unterhaltsame Reise zu sich selbst. 13 Rhythmus des Frühlings G Neubeginn und Wachstum Lebenskraft ist beständige Bewegung und Neubeginn. n keiner Jahreszeit ist das Phänomen des Neubeginns und des Wachstums so sichtbar wie im Frühling. Es sprießt, wächst und blüht. Die Natur arbeitet auf Hochtouren. Kräfte sind am Wirken, die man nicht sehen kann, die aber plötzlich – anscheinend aus dem Nichts – neues Leben sichtbar werden lassen. Doch diese Lebenskräfte wirken das ganze Jahr über und bestimmen beständig die Bewegungen der Natur. Auch das menschliche Leben ist Teil des natürlichen Rhythmus von Neubeginn und Wachstum. Jeder Atemzug, unser Fühlen, unsere Wahrnehmung, Hunger, Müdigkeit, Anspannung und Entspannung und auch alle Ausscheidungsfunktionen schwingen in diesem Lebensrhythmus. Der Lebensrhythmus steht nie still. Lebendige Kraft, die man im Wechsel der Jahreszeiten andauernd erleben und wahrnehmen kann, kennt keinen festen, starren Zustand. Ein Blick aus dem Fenster genügt: Kein Tag sieht aus wie der andere. In gleicher Weise wie die Natur unterliegt das menschliche Leben dem Wandel: Man wächst auf, wird älter und stirbt. Die Gesundheit ist Teil dieser Bewegung, dieses Wandels. Daher ist auch hier nichts auf Dauer festgeschrieben, weder die Gesundheit noch die Krankheit. Ich erlebe z. B. immer wieder Patienten in meiner Praxis, die »gesund« gelebt haben und I 14 dann aus heiterem Himmel krank wurden, völlig entgegen der gedanklichen Logik, die gerne Gesetzmäßigkeiten sucht wie »gesunde Ernährung = dauerhafte Gesundheit«. Der Lebensrhythmus kennt weder den Zustand der Gesundheit noch den Zustand der Krankheit. Krankheit kann sich genauso verändern wie Gesundheit. Das ist meine Erfahrung und auch die vieler Klienten. Leben ist beständige Bewegung. Wir werden älter, wir lernen dazu, wir machen neue Erfahrungen, wir wandeln uns, und die Welt um uns herum wandelt sich. Den unveränderlichen Zustand gibt es nur in der Vorstellung, nicht jedoch in der Realität der Natur. Entsprechend diesen Frühlingsbildern beschäftige ich mich im folgenden Unterkapitel, Pole der Krankheit, mit zwei Phänomenen, die dem Frühling zuwiderlaufen: Stillstand und Orientierungslosigkeit. Orientierungslosigkeit entsteht oft durch zu viel unnatürliche Bewegung: zu viele unterschiedliche Nahrungsmittel, zu viele unterschiedliche Ratschläge, die befolgt werden, und mitunter auch zu viele ärztliche Befunde. Unter Pole der Heilung habe ich als Gegenpole zum Stillstand die Bewegung und den Neuanfang gewählt und als Gegenpole zur Orientierungslosigkeit die Einfachheit und die Natürlichkeit. Leben im eigenen Lebensrhythmus, die natürliche Akzeptanz von Wachstum und Neubeginn: Dies führt zu einer klaren, leichten und kreativen Zuversicht in Ihrem Alltag. 15 Pole der Krankheit Stillstand Gesellschaftliche Vorstellungen und eigene Ängste streben nach Sicherheit. Von der Sicherheit zum Stillstand ist es oft nur ein kleiner Schritt. Reizdarm (Verstopfung und Durchfall) – Gastritis – Einengung der eigenen Bewegung – Routinen – Ansprüche In einer Kaffeewerbung, die auf einem Schiff spielt, wird die elegante Dame von Welt, die gerade ihre Tasse Kaffee genießt, gefragt, was sie sich wünscht. Sie antwortet: »Ich möchte, dass alles so bleibt, wie es ist.« Die Werbung scheint das widerzuspiegeln, was ein gesellschaftliches Lebensgefühl, vielleicht ein menschliches Bedürfnis ist: das Streben nach einem gewissen Grad an »Sicherheit«. Diese sehnsüchtig erwünschte Sicherheit wird häufig um den Preis des Stillstands erworben. Moshé Feldenkrais meinte, sich für das Nicht-Handeln zu entscheiden sei keine wirkliche Wahl – Nicht-Handeln sei auch Nicht-Leben. Solange man atmet, bewegt man sich und handelt. Dem gegenüber steht ein gesellschaftliches und kulturelles Selbstverständnis, das uns glauben lässt, wir könnten uns für das Nicht-Handeln entscheiden, wir könnten stillstehen, wir könnten »chronisch« (womöglich für immer) krank sein oder »müssten es nur richtig machen« und wären dann »chronisch« gesund. So beinhaltet das Krankwerden oft neben dem Leiden auch noch den Makel einer Schuld: »Irgend16 etwas hat man wohl falsch gemacht, sonst wäre man nicht krank.« Während der Zeit meiner eigenen Krankheit und auch in der Anfangsphase von vielen Beratungen konnte ich immer wieder beobachten, dass es eine große Abneigung gegenüber innerer und äußerer Bewegung gab und dass das Gefühl für den eigenen Lebensrhythmus ein Stück weit verlorengegangen war. Alles, was neu, unbekannt oder im Voraus nicht kontrollierbar erschien, machte mir Angst – genauso wie die Krankheit selbst. Meine Familie z. B. empfand es zunehmend als schwierig, mit meinem Anspruch auf perfekte Sicherheit umzugehen. Einer meiner Patienten beschrieb seine Erfahrungen so: »Ich fühle mich wie ein Pingpongball, der hin- und hergespielt wird. Auf der einen Seite habe ich Angst und möchte alles kontrollieren. Auf der anderen Seite habe ich die Sehnsucht, mich einfach fallen zu lassen.« Die Situation ist vielleicht vergleichbar mit dem Zustand, in den Sie nach der Verstauchung eines Knöchels kommen können: Der Schmerz, den Sie in Ihrem Knöchel fühlen, ist unangenehm, und Sie versuchen, ihn zu vermeiden. Sie beginnen zu humpeln. Dieses Humpeln geht auf Kosten ihrer flüssigen Gehbewegung und führt zur Überlastung in anderen Gelenken. Kurze Zeit später tritt an den durch das Humpeln überlasteten Stellen ein neuer Schmerz auf. Auch den versuchen Sie zu vermeiden, also gehen Sie mit einer neuen Schonhaltung. Ihre Bewegungsmöglichkeiten werden immer unnatürlicher und immer begrenzter. In dem Bestreben, ein möglichst ruhiges und glückliches Leben zu führen, werden oftmals seelische Schmerzpunkte wie Probleme, Ängste und Auseinandersetzungen vermieden. Dies führt dazu, dass man sich selbst und den eigenen Alltag immer stärker kontrolliert. Damit werden Lebensrhythmus und Bewegungsmöglichkeiten blockiert. Ein typischer Aus17 weg des Körpers aus dieser Blockade ist Unwohlsein und schließlich Krankheit. Auch der Darm reagiert, wenn wir unsere eigenen Bewegungsmöglichkeiten eingrenzen – wenn wir beispielsweise sehr strenge und einseitige Diäten einhalten (was sowohl ein bestimmtes Diät-Dogma als auch tägliches Fast Food bedeuten kann). Eingrenzung geschieht aber z. B. auch, wenn wir ängstlich vermeiden, auf eine fremde Toilette zu gehen. Oder wenn wir die Signale des Darmes ignorieren, der sich entleeren möchte. Zuweilen unterdrücken wir auch die Art und Weise, wie der Darm sich entleeren möchte. Auf lange Sicht führen solche Ernährungsformen und Verhaltensweisen zu einem gereizten Darm. Schmerzhafte, unangenehme Verstopfungen sind die Folge. Es kann aber auch das Szenario entstehen, dass Verstopfungen und Durchfälle sich abwechseln oder aus der Verstopfung ein lang anhaltender Durchfall wird. Leider werden Verstopfungen im Gegensatz zu Durchfällen oft nicht als Krankheit ernst genommen, und die Methode, sie mit einem der vielen im Fernsehen beworbenen Mittel zu beheben, ist keine gute Lösung. Wie oft der Darm sich entleeren möchte, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Sowohl drei Toilettengänge pro Tag als auch einer jeden dritten Tag sind als normal anzusehen, wenn das bei Ihnen persönlich »immer« so war. Martha, eine 65-jährige Klientin von mir, war in den letzten fünf Jahren von Arzt zu Arzt gewandert. Sie litt unter schmerzhaften Blähungen und mitunter wochenlangen Durchfällen, die sich mit schwerer Verstopfung abwechselten und genauso unklar, wie sie jeweils gekommen waren, auch wieder verschwanden. Keine ärztliche Diagnostik hatte einen brauchbaren Befund ergeben. Und so lautete die Diagnose: »Reizdarm«. 18 Im Laufe von mehreren Gesprächen in meiner Praxis, die sich ganzheitlich um Marthas Leben drehten und nicht nur um ihre Ernährung, konnte sie interessante Zusammenhänge erkennen. Sie stellte fest, dass das stundenlange »Ausweichen auf die Toilette« weniger einer falschen Ernährung zuzuschreiben war als einer inneren Anspannung, die ihre Hilflosigkeit gegenüber den Ansprüchen ihres Ehemannes ausdrückte. Das Ziel unserer gemeinsamen Arbeit war es herauszufinden, was sie eigentlich selbst wollte und brauchte. Wo lagen ihre eigenen Bedürfnisse? Und warum hatte sie in jahrzehntelanger Ehe-Routine ihre Wünsche, Bedürfnisse und Bewegungsmöglichkeiten immer mehr eingegrenzt? Langsam und zögernd gelang es ihr, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln und ihre Bedürfnisse auch ihrem Mann gegenüber zu äußern, ihm z. B. zu sagen: »Ich möchte heute nicht mit dir spazieren gehen. Ich möchte dieses Buch lesen.« In dem Umfang, wie sie ihre eigenen Bewegungsmöglichkeiten langsam wieder ausweitete, ihre Bedürfnisse wahrund ernst nahm, fand sie ihren eigenen natürlichen Lebensrhythmus. Die inneren Blockaden und die schwere Darmsymptomatik verschwanden im Laufe von einem Jahr vollständig. Viele Menschen leiden unter der Vorstellung, in ihren Beziehungen ihre Gefühle in kontrolliertem Stillstand halten zu müssen und innerhalb der Beziehung »funktionieren« zu müssen. Sie gehen quasi in eine »gefühlsmäßige Schonhaltung« und begrenzen so ihre persönlichen Bewegungsmöglichkeiten. Sie nehmen keine oder wenig Rücksicht auf das, was sie in sich selber wahrnehmen und was zunehmend zu brodeln beginnt. Magen und Darm aber sind authentisch und unbestechlich in ihrer Wahrnehmung. 19