Wege zu einer neuen islamischen Methodik in der Hermeneutik

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Wege zu einer neuen islamischen Methodik
in der Hermeneutik
Nasr Hamid Abu Zaid
„Erneuerung beginnt mit der wissenschaftlichen Vernichtung veralteter Vorstellungen“
Amin al-Khuli
Es ist mir eine große Ehre, dass sich der IBN RUSHD Fund bei der Vergabe seines Preises
dieses Jahr für mich entschieden hat. Er verleiht mir auf diese Weise eine Auszeichnung, die
in zweierlei Hinsicht von größter Bedeutung ist:
Erstens ehrt mich die Verknüpfung meines Namens mit dem Namen des großen Philosophen
Ibn Rushd (Averroes), Philosoph des Ostens sowie des Westens, der durch sein Denken das
düstere Mittelalter durchbrochen und erleuchtet hat – ich habe meinerseits die Ehre, seit
mehreren Jahren Inhaber eines akademischen Lehrstuhls an der University of Humanistics zu
Utrecht (Niederlande) zu sein, der seinen Namen trägt.
Zweitens ist diese Auszeichnung auch deshalb für mich von großer Bedeutung weil es die vor
zehn Jahren ausgeübte Schandtat gegen die Werte der Freiheit des Denkens, der
wissenschaftlichen Forschung und des Glaubens in der arabischen und islamischen Welt
auslöscht.
Heute, vor diesem freien Forum des IBN RUSHD Fund für Freies Denken, möchte ich Sie an
einigen meiner wissenschaftlichen Fragestellungen, mit denen ich mich befasse, teilhaben
lassen. Es sind aktuelle Fragen, die uns alle beschäftigen. Es sind jedoch keine Fragen, die aus
dem historischen Moment geboren sind, in dem wir uns gegenwärtig befinden, sondern
Fragen, mit denen sich schon die Pioniere der modernen Renaissance der arabischen und
islamischen Welt seit Beginn des 19. Jahrhunderts beschäftigt haben. Es sind die gleichen
Fragen, die in der Ausschreibung dieses Preises in bemerkenswerter Deutlichkeit formuliert
sind:
„Ist islamisches Denken mit der Moderne vereinbar? Erlauben die islamischen
Grundsätze einem arabischen Muslim, in einer modernen arabischen Gesellschaft zu
leben, die von einem zivilen Staat geprägt ist? In einem Staat, in dem die Bürger die
Achse der Gesellschaft bilden und in dem Meinungsfreiheit und Gleichheit elementare
Werte sind? Widerspricht der Islam einer Gesellschaft, die von einer demokratisch
gewählten Führung regiert wird und in der alle Bürger gleichberechtigt sind,
unabhängig von Hautfarbe, Rasse oder Konfession?“
Dies sind Fragen, die aus dem Versuch heraus entstanden sind, mit dem anders denkenden
Westeuropäer positiv und effektiv kommunizieren zu wollen, der in unserem Bewusstsein
zum einen als Militärmacht nach Hegemonie bestrebt war und zum anderen seine Stärke aus
der Wissenschaft, der Vernunft und der Moderne zog. Dieser Kontext, in dem der Raum für
die Reaktionen unserer Vorfahren vorgegeben war, ist kein unproblematischer Kontext. Der
1
Andersdenkende stellt sich sowohl als Quelle der Herausforderung als auch als Quelle der
Inspiration dar.
In diesem Zusammenhang der Widersprüchlichkeiten muss man den islamischen Diskurs
Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts sehen. Es ist der Diskurs, der
insbesondere von Gamal ad-Din al-Afghani (1839-1897) und Muhammad Abduh (1849-1905)
vertreten wurde. Es sollte uns nicht überraschen, dass in diesem Diskurs Politik und Ideologie
miteinander vermischt waren und man sich geistig sowohl im positiven wie auch im negativen
Sinne mit den zwingenden Herausforderungen Europas auseinandergesetzt hat. Wir sollten
uns hier darauf konzentrieren, wie man in diesem Diskurs mit allen Mitteln versucht hat, den
Weg für einen Aufschwung zu ebnen, beginnend mit dem Geständnis, dass sich die
islamische Welt in Rückständigkeit und Stagnation befindet.
Das Scheitern der „Osmanischen Reformgesetze“ (Tanzimat) und die erfolglosen
Bemühungen einer „ politischen Reform“ forciert durch staatliche Gewalt oder europäischem
Druck war eine der wichtigsten Lektionen, mit der man sich in diesem Diskurs des
Aufschwungs auseinander setzen musste. Man befasste sich mit den Fragen: Wo beginnt die
Reform? Wer bestimmt ihre Prämissen, Merkmale und Grundprinzipien? Beginnt die Reform
politisch, kulturell oder intellektuell? Welche Rolle nimmt dabei die Religion im
Allgemeinen, und welche nimmt der Islam im Speziellen im Reformvorhaben ein?
Man kann den Diskurs al-Afghanis als Modernisierungsdiskurs bezeichnen sowohl von
seinem umfassenden reformistischen Ansatz her als auch von seiner Fähigkeit, einen Dialog
mit Andersdenkende zu führen, selbst wenn der Gedanke eines Wettstreits vorherrschend war.
Er ist es auch deshalb, weil es ein Diskurs ist, in dem man bestrebt war, die Werte von
Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu stärken und das Volk aufzuwecken, damit es seinen
Ruhm wiedererlangt und sein Schicksal in die eigene Hand nimmt. Was seine Methode
anbetrifft, mit der er das Volk zum Aufwecken bewegen wollte - es war eine Methode der
Rückkehr zu den Wurzeln und „reinen Grundsätzen“ -, so kann man sie als salafitischen
Diskurs bezeichnen, einen Diskurs also, der sich am Vorbild der Alten orientierte. Jedoch
besteht ein großer Unterschied zwischen einer salafitischen Bewegung des Aufweckens, der
Erneuerung und des Fortschritts und einer salafitischen Bewegung der Nachahmung der
Vorahnen, dem blinden Folgen in ihre Fußstapfen Schritt für Schritt.
Der Reformdiskurs von Scheich Muhammad Abduh unterschied sich in seinem Ansatz nicht
wesentlich, nur in wenigen Details, vom Diskurs al-Afghanis. Wir wissen von dem großen
Einfluss, den al-Afghani auf Abduh hatte. Es war der größte Einfluss, den al-Afghani auf
irgendeine Person während seines Aufenthaltes in Ägypten hatte. Abduh gelang es, die
allgemeinen Hypothesen al-Afghanis zu einem allumfassenden, kulturellen und geistigen
Arbeitsplan umzusetzen.
Der Versuch al-Afghanis, den igtihad (Koraninterpretation nach eigenem Ermessen) im
islamischen Denken wieder zu aktivieren, brachte erst durch Abduh Früchte, ob es die
Gleichheit zwischen Muslime und Nichtmuslime oder die zwischen Mann und Frau betraf.
Abduh begründete dieses Gleichheitsprinzip, indem er sich auf die Fundamente der rationalen
2
Interpretation der Hauptquellen – Koran und Hadith - berief. Während al-Afghani zum Thema
„soziale Gerechtigkeit“ weit ausholte und – laut Ahmad Amin1 – ausführlich über „den
Sozialismus im Islam und den Vergleich zwischen dem islamischen Sozialismus und dem
Sozialismus des Westens“ kontemplierte, gelang es Abduh, den Begriff „soziale
Gerechtigkeit“ auf exegetischer Ebene in fundierter Weise in seine Interpretationen
einzuführen, wie ich es in meinen Schriften zum großen Teil dargelegt habe.
Wie al-Afghani musste Abduh den Islam gegen westliche Kritiker verteidigen. Seine
Apologien gegen den Politiker und Historiker Gabriel Hanotaux (1853-1944), der behauptet
hat, dass der Islam Grund für die Rückschrittlichkeit der Muslime sei, können in seinem
bedeutenden Buch „Der Islam zwischen Wissenschaft und Zivilisation“2 nachgelesen werden.
Was wir von al-Afghani und seiner Reformbewegung gesagt haben, gilt auch hier für Abduhs
Diskurs. Es ist ein Modernisierungdiskurs in seinen Zielen und Bestrebungen, er ist salafitisch
in seinen Methoden und Strategien. Die Unterscheidung zwischen einer fortschrittlichen
salafitischen Bewegung und einer traditionellen salafitischen Bewegung trifft insofern auch
auf Abduh zu.
Die friedliche Koexistenz von Fortschrittsgedanken und Salfiyya, die den religiösen
Reformdiskurs begleitete, währte nicht lang, aus Gründen, für deren Ausführung hier nicht
genügend Zeit ist. Ich will aber einen der Gründe für das Scheitern der Koexistenz nennen,
den meines Erachtens wichtigsten Grund, nämlich das zwiespältige Verhältnis mit Europa. Es
ist ein Verhältnis, das den Reformdiskurs zwang, mal eine Haltung des Wettstreits, in den
meisten Fällen aber eine rechtfertigende Haltung einzunehmen. Angetrieben von dem starken
Verlangen, den Islam vor seinen westlichen Kritikern zu verteidigen, sah man sich im
religiösen Reformdiskurs gezwungen, zwischen dem Islam mit seinen Wertvorstellungen,
noblen Prinzipien auf der einen Seite und den rückschrittlichen Muslimen auf der anderen
Seite zu unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung begann man, die Vergangenheit zu
glorifizieren, die man deutlich abgrenzte von der verächtlichen, demütigenden Gegenwart.
Auf diese Weise wurde eine Grundvorstellung von einer rationalen, zivilisatorischen
Vergangenheit als maßgebliche Instanz geschaffen, mit anderen Worten: Es wurde die
Vergangenheit als Utopie konstruiert, in die man zurückkehren könnte und die durch
Nachahmung heute wiederherstellbar sei.
Selbstverständlich steht der Wesenszug des Reformkurses – freiheitlich und fortschrittlich zu
sein in Fragen zu politischen, geistigen und sprachlichen Reformen, in seiner Bejahung der
Prämissen von Gleichberechtigung, Freiheit, Gerechtigkeit und in seinem Bestreben, sich von
Traditionen und Aberglaube usw. zu befreien –, steht dieser Wesenszug in Zusammenhang
mit der Überzeugung der Reformer von der Bedeutsamkeit der Werte der europäischen
Zivilisation, jener Werte, die Europa zu Fortschritt und Macht verholfen haben, kurz gesagt,
steht der Reformkurs in Zusammenhang mit der Überzeugung, dass es wichtig sei, von
„Europa“ dem Lehrer, nicht dem Aggressor und Besatzer, zu profitieren und zu lernen.
1
Min zu’ama’ al-islah von Ahmad Amin, Teil 2, S, 7-8.
in der arabischen Übersetzung des Buches siehe Abduhs Reaktionen darauf, erschienen bei al-Hai’a al-misriyya
al-amma li-l-kitab, Kairo, S. 15-93.
2
3
Die Zeit reicht hier nicht aus, auf die Faktoren und Umstände einzugehen, die zur allgemeinen
Rückständigkeit führten, einer Rückständigkeit, die sich in der Dominanz der
traditionalistischen Salafiyya-Bewegung ausdrückte, jener Bewegung, der es gelang, die
Progressivität des reformistischen salafitischen Diskurses zu vermindern. Wichtig ist aber,
darauf hinzuweisen, dass eines der Gründe für den Niedergang und die allgemeine
Verschlechterung auf allen Ebenen und in allen Bereichen in der Abwesenheit einer
wissenschaftlichen Debatte über Fragen des religiösen Denkens liegt, sei es aus historischer
oder gegenwartsbezogener Sicht.
Versuche einer Erneuerung des religiösen Diskurses hat es seit Beginn der modernen
arabischen Aufklärung bis heute immer gegeben. Trotz ihrer bekannten Errungenschaften
haben sich die Reformer in ihren Bemühungen jedoch niemals der kritischen Betrachtung der
Grundsätze gewidmet, die seit dem 3. Jahrhundert der Higra nicht mehr zur Diskussion offen
stand. Seit dem 3. Jahrhundert der Higra (der Herrschaft des Abbasiden-Kalifen alMutawakkil), wurde über eins der wichtigsten Probleme des religiösen Diskurses, wenn es
nicht gar das wichtigste Problem der scholastischen Theologie überhaupt ist, nicht mehr offen
gestritten, nämlich über das Problem, wie das „Wort Gottes“ und dessen Beziehung zum
„Wesen Gottes“ zu verstehen sei. Diese Problematik ging in die Geschichte als das Problem
von der „Erschaffung des Koran – khalq al-qur’an“ ein. Die in diesem Zusammenhang
ausgelöste Krise hatte zur Folge, dass alle, die sich auch nur im geringsten an der Diskussion
beteiligten, verfolgt wurden. Unter dem Kalifen al-Mutawakkil wurde die Angelegenheit
durch einen politischen Beschluss beendet, aufgrund dessen festgelegt wurde, welche die
richtigen Glaubensgrundsätze sind, und wie sie sich von den falschen unterscheiden. Auf
diese Weise wurde der Glaube von der Erschaffung des Koran, wie er von den Mutaziliten
verfochten wurde, für ungültig erklärt; Es wurde sogar als Ketzerei und Häresie betrachtet.
Der Glaube an den Koran als etwas zeitlos Ewiges wurde zum einzig wahren Dogma erklärt.
Zweifellos ist mit diesem gefährlichen, politischen Beschluss der Anfang für die so genannte
„Schließung des Kapitels des igtihad“ gesetzt, weil jegliche geistige Diskussion über
Religions- und Glaubensangelegenheiten im Keime erstickt ist.
Muhammad Abduh hat in seiner Abhandlung Risalat at-tauhid (Die Botschaft von der Einheit
Gottes) versucht, die Diskussion über das Problem der Offenbarung und über das Wort Gottes
zu eröffnen – es war der einzige Versuch in der Gegenwart, eine moderne islamische
Theologie zu schaffen. In der ersten Ausgabe seiner Abhandlung verfocht er noch den
Standpunkt der Mutaziliten, so wie er zuvor ihre Meinung zum Problem der „göttlichen
Gerechtigkeit und der Entstehung von Handlungen“ teilte. In der zweiten Ausgabe jedoch hat
er seinen Standpunkt widerrufen – es ist aber auch möglich, dass sein Gefährte und Schüler
Rashid Rida es für ihn geändert hat. Nun ist er zum Standpunkt der Ash’ariten
übergewechselt, die bei der Definition des „Wort Gottes“ zwischen seiner Eigenschaft als
ewig zeitloses „Wort Gottes“ auf der einen Seite, und dem mit menschlicher Stimme
rezitierten Koran auf der anderen Seite unterscheiden, nur dieser und kein anderer ist der
„geschaffene“ Koran.
4
Seit dieser Unentschlossenheit im
Standpunkt Muhammad Abduhs bzw. seit der
Interpretation Rashid Ridas zu Abduhs Aussagen kreisten alle nachfolgenden Versuche einer
Erneuerung in den Bahnen der ash’aritischen Theologie. Nach und nach wich die ash’aritische
Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen des „Wort Gottes“ zugunsten des hanbalitischen
Standpunktes. Dieser beharrt auf nur einer Eigenschaft des Wort Gottes, nämlich darauf, dass
das Wort Gottes zeitlos, ewig und ein Attribut seines zeitlosen ewigen Wesens ist.
Vor diesem Hintergrund möchte ich auf einige mutige Bemühungen von Personen hinweisen,
die auf unterschiedliche Weise versucht haben, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen,
wenngleich sie auch nicht der seit dem 3. Jahrhundert unterdrückten und verhinderten Frage
nach dem „Wort Gottes“ nachgegangen sind.
Im Laufe der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und Aufteilung des Erbes des Kranken
Mannes [am Bosporos] unter den gierigen Europäern stand ein großer Teil der islamischen
Welt unter kolonialer Herrschaft. Dies führte allmählich zum Scheitern der Reformbewegung,
da sie sich auf zwei widersprüchliche Positionen stützte: Einerseits hatte man sich für die
Moderne in der Gegenwart entschieden, getrieben von der Begeisterung für deren
Wertvorstellungen. Andererseits hatte man zur Bedingung gemacht, dass diese Moderne auf
den Grundlagen der Tradition basieren müsste. Mit dem Scheitern dieser Formel war das
Fundament für die Macht der Traditionalisten endgültig und unwiderruflich gelegt.
Gleichzeitig aber wurden einige Werte der Moderne ebenso unwiderruflich gesät. Aus diesem
Grund ist festzustellen, dass die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts von den Anfängen
unterschwellig angestauter Spannungen zwischen den beiden ideologischen Lagern geprägt
waren. Diese Spannungen führten zur Geburt zweier Strömungen, die bis zum heutigen Tage
unaufhörlich zusammenstoßen. Es sind die liberale reformistische Strömung und die
salafitisch-traditionelle Strömung.
Qasim Amin (1863-1908) wäre als Vertreter der liberalen Strömung einzuordnen. Nicht nur
privat sondern auch beruflich - er hat es als Jurist zum Kanzler im Berufungsgericht gebracht
-, engagierte er sich für die Aufklärung. Er widmete sich insbesondere der Befreiung der Frau
von den Fesseln veralteter Traditionen, die sich gegen ihre Ausbildung richteten, sie ins Haus
sperrten und sie zur Leibeigenen des Mannes machten, anstelle zum ebenbürtigen Partner, der
dem Manne in Rechten und Pflichten gleich stand.3
Obwohl Qasim Amin ein Zeitgenosse von al-Afghani und Abduh war, geht er in seinem
Bestreben nach einer islamisch geprägten Zivilisation nicht von einer Symbiose zwischen
Fortschritt in der Zielsetzung und „Salafiyya“ in der Methodik aus. In seiner Behandlung von
Fragen der Ehe, Scheidung, Ausbildung, Gleichberechtigung, Rechte und Pflichten u.Ä. stützt
3
Qasim Amin war nicht der erste, der Bücher speziell zu diesem Thema (Frauenemanzipation) aus liberaler
Sicht schrieb. Aber er war der berühmteste und wirkungsvollste, bis er schließlich zum „Befreier der Frau“
gekürt wurde. Ihm vorangegangen war der Algerier Muhammad ibn Mustafa ibn al-Khawga, dessen Buch alIktirath fi huquq al-inath (Beachtung der Sorge um die Rechte der Frau) 1895 erschienen war, also vier Jahre vor
Qasim Amins Befreiung der Frau und fünf Jahre vor Erscheinen seines 2. Buches Die neue Frau. Muhammad
ibn Mustafa ibn al-Khawgas Buch wurde deshalb 1999 neu vom Hohen Rat für Kultur im Rahmen der
Jubiläumsfeier in Erinnerung an die Erstausgabe von Qasim Amins Buch Befreiung der Frau mit einer
Einleitung von Muhammad Hafiz Diyab aufgelegt.
5
er sich nicht selektiv auf das Kulturerbe als Instanz, wie es Abduh getan hat. Vielmehr geht er
rational heran, ohne dabei das kulturelle Erbe zu verachten oder gering zu schätzen, er
betrachtet es aber auch nicht als absolute maßgebliche Instanz. Mit anderen Worten lässt sich
sagen, dass die Fortschrittlichkeit von Qasim Amin nicht salafitischer Prägung ist, so wie wir
es bei den ersten Reformern beobachtet haben.
Während Qasim Amin mit Ausnahme einiger Bemerkungen und verbalen Angriffen keinerlei
Verfolgung widerfuhr, verlor Mansur Fahmi sein Recht auf Ausübung seines Berufs als
Folge von massiver Kritik der Traditionalisten an seiner 1913 erschienenen Arbeit Die
Stellung der Frau im Islam (La Condition de la Femme dans la Tradition de l’Islam“), für die
er den Doktorgrad in Philosophie an der Universität Sorbonne erworben hat.
Aber das, was Mansur Fahmi an beruflichen Einschneidungen zu erdulden hatte, ist nicht zu
messen mit dem, was andere nach ihm erleiden mussten. Der ungerechte Vorwurf der
Religionsfeindlichkeit war nicht nur gegen modern eingestellte Liberale gerichtet, sondern
auch mit ähnlicher Härte und Entschiedenheit gegen neue Gelehrte der Azhar Universität, die
über die Mauern der Tradition und des bestehenden Konsensus in Rechtsfragen sprangen und
zweifellos von den freiheitlichen Gedanken von Afghani und Abduh beeinflusst waren.
Einer dieser Gelehrte der Azhar war Muhammad Abu Zaid, Autor zahlreicher Bücher. Sein
koranexegetisches Buch al-Hidaya wa-l-irfan (Göttliche Führung und Erkenntnis) wurde
unmittelbar nach seinem Erscheinen konfisziert.4 Das Vergehen, wofür er 1917 durch ein
Gericht verurteilt wurde, war, dass er geschrieben hatte: „Explizit ist Adam weder Prophet
noch Gesandter, seine Prophetie und seine Botschaft sind rein hypothetisch.“ Dies genügte,
dass einige Leute ihn vor Gericht anzeigten und baten, ihn mit dem Vorwurf der Apostasie
von seiner Frau zu trennen. Das Gericht für Personenstandsangelegenheiten in Damanhur kam
der Klage nach und entschied die Annullierung der Ehe. Das Berufungsgericht in Alexandrien
aber legte Widerspruch ein und hob am 01.12.1918 das Urteil gegen Muhammad Abu Zaid
auf.5
In der Zeit zwischen zweier gerichtlicher Verfahren, derer sich Abu Zaid unterziehen musste,
wurde ein anderer Gelehrte der Azhar vor Gericht gebracht: Ali Abd ar-Raziq (1888-1966).
Grund war sein 1925 erschienendes Buch al-Islam wa usul al-hukm (Der Islam und die
Grundprinzipien des Regierens), mit dem er sich nach Abschaffung des Kalifats durch die
Kemalisten in der Türkei der allgemeinen politischen Debatte anschloss, die in der gesamten
islamischen Welt geführt wurde. Das Gericht entschied nicht nur die Kündigung seiner
Stellung am islamischen Gericht – er war Richter am Gerichtshof der Stadt al-Mansura –
4
Muhammad Abu Zaids Publikationen sind: az-Zawag wa-t-talaq fil-lislam, Kairo 1927, Mukhtasar min zad almi’ad, Kairo o. J., al-Hidaya wa-l-irfan fi tafsir al-qur’an bi-l-qur’an, Kairo 1930.
5
nähere Details zum Verfahren von M. Abu Zaid siehe Artikel von M. Rachid Reda „Ilhad fi-l-qur’an“, und
„dinun gadidun baina l-batiniyya wa-l-islam“, in der Zeitschrift al-Madar (Kairo), Bd. 21, Heft 1, S. 49-56 und
Bd. 31, Heft 9, S. 673-697, Bd. 10, Heft 10, S. 753-770.
6
sondern es entzog ihm auch die Zulassung zur Berechtigung des Lehrens.6 Ich möchte hier
nicht im Einzelnen auf dieses Buch eingehen, es wurde von mir in zahlreichen Studien
untersucht.
Bereits ein Jahr später erlebte ein weiterer Gelehrte der Azhar, Taha Hussain (1889-1979), die
gleiche Krise, der vom Traditionalismus der Azhar und ihrer Abblockung des offenen
Denkens und der freien Meinungsäußerung zur neuen Universität gewechselt war, der
Ägyptischen Universität (heute Universität Kairo), wo ihm unbegrenzte Möglichkeiten für
neue Erkenntnisse und Wissenschaften eröffnet waren. Kaum hatte er dorthin gewechselt,
wurde er auch schon als Stipendiat nach Frankreich gesandt, um dort sein Studium
fortzusetzen. Er kehrte 1919 mit einem Doktortitel in Soziologie zurück. Das Studium in
Frankreich gab ihm – wie zuvor auch Mansur Fahmi – Einblick in die wissenschaftliche
Methodik seines Faches, welche er bald nicht nur bei seinen literaturwissenschaftlichen
Forschungen anwandte, sondern auch bei seinen Studien zur islamischen Geschichte. Taha
Hussains Verbrechen war, dass er – im Sinne von Descartes - den Skeptizismus als
wissenschaftlichen Ansatz einführen wollte. In seinen Vorlesungen zur vorislamischen
Dichtung verknüpfte er Descartes Ansatz des Zweifelns mit den Errungenschaften der
Prophetentradition in der Evaluierung der Überlieferungen.
Die gleichen Anschuldigungen, Gerichtsverfahren und das Konfiszieren von Büchern
wiederholten sich nach Taha Hussain in vielen anderen Fällen, nicht nur in Ägypten, auch in
anderen Ländern der arabischen Welt. Ähnlich erging es z. B. at-Tahir Haddad (1899-1935)
nach Erscheinen seines Buches Imra’atuna fi ash-shari’a wa-l-mugtama (Unsere Frauen im
islamischen Recht und in der Gesellschaft) im Jahre 1929.7 Das Buch erregte viel Aufsehen,
seine Gegner schrieben polemische Schriften gegen ihn und verfluchten und beschimpften ihn
von den Kanzeln der Moscheen. Die vielleicht bekannteste Antwort auf sein Buch ist alHidadu ala imra’at al-Haddad (Trauer um die Frau von Haddad). Der Titel [Ein Wortspiel
mit dem Namen Haddad, aus dem sich Trauer ableiten lässt] sagt schon aus, auf welchem
Niveau die Beschimpfungen und Flüche sich bewegten und auf was sie abzielten. Dies wirkte
sich auf seine psychische Verfassung dermaßen aus, dass er jung und unglücklich starb.
Erwähnenswert sei hier, dass Haddads Ideen – die Ursache seines Leidensweges - Inspiration
für eine sozial ausgerichtete Zeitschrift in Tunesien war, die 1957 erschien und einen Gewinn
von niemals wieder erreichtem Ausmaß für die tunesische Frau brachte.8
Ich möchte hier auch das Buch von Muhammad Ahmad Khalafallah erwähnen, al-Fann alqasasi li-l-quran al-karim (Die Erzählkunst im Heiligen Koran), ursprünglich als Doktorarbeit
vorgelegt, die die Kairoer Universität aber 1948 ablehnte und Khalafallah
zu
6
Einzelheiten zu diesem Gerichtsverfahren ist nachzulesen bei Muhammad Amara al-Islam wa-usul al-hukm
von Ali Abd ar-Raziq: Eine dokumentierte Untersuchung, al-Mu’assasat al-arabiyya li-d-dirasat wa-n-nashr,
Beirut 1988, S. 57-111.
7
siehe meine Ausführungen und Kommentare in meinem Buch Dawa’ir al-khauf, qira’a fi khitab al-mar’a, alMarkaz ath-thaqafi al-arabi, Beirut 2000², S. 65-72.
8
Ich habe diese Zeitschrift (als juristisches Dokument) in der vorangegangenen Fußnote im erwähntem Buch
besprochen, S. 281-309.
7
Verwaltungsarbeiten innerhalb der Universität degradierte.9 Ebenso erging es Khalid
Muhammad Khalid mit seinem Buch Min huna nabda’ (Von hier beginnen wir) aus dem
Jahre 1950.10 Auf Entscheidung des Generalstaatsanwalts, der sich auf den Bericht des
Leiters der Fetwa-Kommission der Azhar von Anfang Mai 1950 stützte, wurde das Buch
konfisziert. Der Generalstaatsanwalt – derselbe, der Taha Hussain noch frei sprach –
verurteilte den Autor und sein Buch in einer Weise, die nicht minder hart, rückschrittlich und
extrem war wie der Bericht der Azhar selbst.
All diese Gerichtsverfahren und Bücherverbote sind Ausdruck der allgemeinen Unruhe und
aufgeladenen Atmosphäre zwischen den zwei Lagern, der liberalen und der salafitischen
Geistesströmung. Es ist ein Wettkampf zwischen Moderne und Konservatismus, zwischen
dem Streben nach Fortschritt und Entwicklung, dem Bemühen um Stabilität und Tradition.
Vor diesem Hintergrund ragt Amin al-Khuli heraus (1895-1966), Begründer der Theorie der
„literarischen Interpretation des Heiligen Korans“, insbesondere Begründer der Schule der
literarischen Koraninterpretation an der Universität Kairo. Er besaß die Fähigkeit, die
Problematik der Offenbarung versus historischer Überlieferung auf eine absolut realistischhistorischen Ebene anzugehen. Die literaturwissenschaftliche Interpretation des Koran von alKhuli unterscheidet zwischen zwei Dimensionen: die realistische und die idealistische
Dimension. Al-Khuli erklärt dies in einfacher, verständlicher Sprache. Er zeigt, dass es
theoretisch ein Spannungsverhältnis gibt zwischen der Offenbarung als vom Himmel gesandte
ideale Botschaft und der Geschichte in ihrer gesellschaftlichen und menschlichen Dimension,
also dem Raum, in dem die Offenbarung stattgefunden hat. Aus dieser historischen
Dimension kommt die realistische Dimension der Offenbarung hervor, ohne dabei die ideale
Dimension zu verstecken oder zu verbergen. Ebenso wenig verdeckt das Ideal der
Offenbarung die historische Dimension. Das Problem liegt in der Methodik der Interpretation
und Deutung: Wie können wir eine Methode finden, die beide Dimensionen berücksichtigt
und den wahren Kern der Bedeutung aus der Symbiose der scheinbar nicht zu vereinbarenden
Dimensionen ableitet? Die einzige Antwort darauf ist die literarische Interpretation des
Koran.
Die Ergebnisse, zu denen al-Khuli mit seiner literarischen Interpretation des Koran kam,
zeigen nicht nur, wie kompetent diese Methode ist, sondern zeigen auch al-Khulis Fähigkeit,
Bedeutungsschichten zu entdecken, die den Koran wirklich gültig für alle Orte und Zeiten
macht, nicht nur in dem, was er explizit sagt und mitteilt, sondern auch was er indirekt
andeutet und auf was er hinweist.
Der Koran ist einerseits Ausdruck einer historischen Realität der Araber, ihrer kulturellen
Wahrnehmung und Lebensweise des 7. Jahrhunderts. Er deutet und weist aber auch auf
9
Näheres dazu in Amin al-Khulis Vorwort zur zweiten und dritten Ausgabe von al-Fann al-qassasi fi-l-quran
al-karim. Al-Khuli war Abd ar-Raziqs Doktorvater , siehe Maktabat an-nahda al-misriyye (4. Ausgabe).
10
siehe Sonderheft von al-Ahali, der Zeitung der linken Sozial-Demokratischen Unionspartei, mit Zitaten aus
dem Gerichtsverfahren und dem gesamten Text des Buches, al-Ahali, 4. Mai 1996.
8
entfernte Ziele, die dem Ideal nahe sind. Man könnte die Versuche, den Koran für die
verschiedenen doktrinären Glaubenslehren auszunutzen – einschließlich der sogenannten
„naturwissenschaftlichen Exegese“ , die al-Khuli heftig kritisiert – beschreiben als Versuche,
das Ideal auf dem Boden des konkretem Realismus zu bringen. Umgekehrt werden bei diesen
Ansätzen wiederum realistische Passagen im Koran idealisiert. Kurz gesagt, bei
Interpretationen orthodoxer Glaubenslehren bzw. ideologisch geprägten Schulen, welche sie
auch immer seien, wird das Verhältnis zerstört, der Aufbau wird vernichtet, die Bedeutung
und Zeichen verfälscht.
Leider hat sich niemand gefunden, der die solide Methodik al-Khulis anwendet und
weiterentwickelt, insbesondere nachdem seinem Schüler Muhammad Ahmad Khalafalla das
widerfahren war, was ich anfangs geschildert habe. Weil sich keiner fand, der den Ansatz alKhulis weiterentwickelte - einer Methode, die jede Art von ideologischer Interpretation, möge
sie noch so gutwillig sein, ablehnt -, so waren Mahmud Muhammad Taha im Sudan,
Muhammad Shahrur in Syrien, Gamal al-Banna und Khalil Abd al-Karim in Ägypten nicht
imstande, sich von den Ideologien zu befreien, die jedes Mittel zum Zweck rechtfertigen.
Von all diesen Versuchen einer moderneren Sichtweise der Exegese bildet Hassan Hanafi
eine Ausnahme. Er spricht wiederholt und ausführlich von der Offenbarung als dialektisches
Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, von einer Auseinandersetzung
zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Hoheitlichen und dem Wahrnehmbaren....etc.
Auch der pakistanische Denker Fadl ar-Rahman bildet eine Ausnahme. Er hebt die positive
Rolle des Propheten Muhammad im Offenbarungsprozess hervor, indem er betont, dass der
Prophet nicht nur Briefträger ist. Beide Gelehrten – Hanafi und ar-Rahman – gingen jedoch
über diese flüchtigen Anmerkungen nicht hinaus. Hanafi befasste sich – und befasst sich
immer noch – mehr mit der Erneuerung der Traditionswissenschaften. Seine
Errungenschaften in diesem Bereich ergänzen sich mit denen von Muhammad Abid al-Gabiri
und Tayyib at-Tizini und anderer Philosophen. Was ar-Rahman betrifft, so hat er sich auch
mit der Frage der Erneuerung befasst und in der praktischen Anwendung große Leistungen
vollbracht. Die Kernfrage aber, die Frage nach dem „Wort Gottes“, beließ er unbeantwortet.
Warum ist die Frage nach dem „Wort Gottes“ wichtig? Eine Erneuerung des religiösen
Diskurses kann sich nicht erfolgreich durchsetzen, wenn der Umgang mit den grundlegenden
Texten – Koran und Sunna – immer noch derselbe ist, wie er einst aus den theologischen
Grundwissenschaften, die das islamische Denken seit dem 3. Jahrhundert d.H. prägten,
abgeleitet ist. Ohne diese seither unterdrückte, abwesende, verhinderte Frage zu stellen, bleibt
die Exegese ein Instrument zum Hineinlegen der Moderne in die Texte, nicht zum wahren
Verstehen der Texte.
Ich habe versucht, verschiedene Beispiele moderner Koranauslegungen anzuführen, wobei
deutlich wurde, welche Tücken und Gefahren entstehen, wenn man versucht, die
herkömmlichen Bedeutungen aus der Umklammerung modernistischer Deutungsmuster
hervorzuholen. Dies geschieht die ganze Zeit in regelmäßigen Abständen, weil wir alle vom
9
gleichen Begriff ausgehen, dem Begriff des Koran als ewig zeitloses „Wort Gottes“. Diese
Definition des Koran als ewig zeitloses „Wort Gottes“ ist verantwortlich für die Billigung der
Islamisierung des Wissens, der Islamisierung der Naturwissenschaft, sowie für die Billigung
von Gewalt, Mord und Anklagen im Namen Allahs wegen Unglaubens.
Wenn das „Wort Gottes“ die Eigenschaft der Ewigkeit und Zeitlosigkeit hat, dann ist die
arabische Sprache eine äußere Schale, die seine Bedeutung verhüllt, wie es al-Ghazali in
seinem Buch Gawahir al-quran (Die Kerninhalte des Koran) sagt. Da die Sprache eine Schale
ist, haben alle Wissenschaften wie Sprachwissenschaft, Rhetorik, Stilistik und Semantik die
Aufgabe, diese Schale zu entfernen, um die dahinter verborgenen Bedeutungen zu finden.
Dies betrifft also alle Wissenschaften, die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen.
Weil das „Wort Gottes“ – der Koran – Verkörperung seiner Zeitlosigkeit ist, umfasst es somit
auch die Moderne mit all ihren Werten, Begrifflichkeiten und Philosophien in gleichem
Maße, in dem durch den Koran Mord, Anklage wegen Unglaubens und Verbannung
gerechtfertigt werden. Wenn dem so ist, wenn also der Koran als ewig zeitloses „Wort
Gottes“ all diese Arten von Bedeutungen und Zeichen in sich trägt, das Neue und das Alte,
das Fundamentale und Liberale, das Gewalttätige und das Gegenteil ... etc, welche dieser
zahlreichen Bedeutungen siegen dann? Welche herrschen vor, um die anderen parallelen
Deutungen entgültig in den Kerker der Häresie, Apostasie, des Unglaubens, des
Fundamentalismus’, Extremismus’ und Terrorismus’ einzusperren? Die Bedeutungen, die
immer siegen und vorherrschen werden, sind die, die der Stärkere für sich in Anspruch
nimmt, der im Besitz von Macht und Herrschaft ist. Er mag fortschrittlich sein, dann wird er
die Vertreter nichtmoderner Deutungen besiegen. Er mag aber auch rückschrittlich sein, dann
wird er die Modernen besiegen. Der politische und gesellschaftliche Kampf wird zu einem
Kampf um Auslegungen.
Es scheint, dass wir über Religion streiten? Im Grunde aber benötigen unsere politischen
Systeme an erster Stelle eine Modernisierung. Wir brauchen Freiheit, denn sie ist die
Voraussetzung für den Denkprozess, der wiederum Instrument für Erneuerung und Änderung
ist. Wir brauchen Demokratie, deren Wesenszug die individuelle Freiheit ist. Sie darf nicht
nur aus der Wahl einer Partei und aus einer Gesichtsveränderung bestehen. In einer
demokratischen Atmosphäre werden die Freiheit des Einzelnen und sein Recht auf freie Wahl
bewahrt. In dieser Atmosphäre kann man von der Freiheit der Wissenschaften und
akademischen Lehre in allen Wissensbereichen sprechen, insbesondere im Bereich der
Religionswissenschaften. Es handelt sich in diesem Fall um akademische Institutionen, die
Religionen „wissenschaftlich untersuchen“, nicht nur „lehren“, wie es in der gesamten
islamischen Welt der Fall ist. Die wissenschaftliche Untersuchung der Religionen, ihre
Geschichte, ihre Struktur, ihre Theologie, die Methoden der Exegese, die Vorgehensweisen
bei der Auslegung, der Aufbau ihrer Institutionen, der Unterschied zwischen Glaube und
Dogma ... usw. - all dies ist grundsätzlich anders als bei den Institutionen, die Religion
„lehren“. Zugelassen wird dort nur das Unterrichten der aus der Sicht der Institution wahren
Dogmen, die von den falschen Dogmen nach Ansicht der Institution unterschieden werden.
Sobald aber diese anderen wissenschaftlichen Einrichtungen für das Studium der Religionen
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eingerichtet sind, ist es möglich, die vergleichende Religionswissenschaft zu gründen, eine
Fachrichtung, die bei den Institutionen, die Religion lehren, nicht existiert. In diesem Fall –
bei Vorhandensein der Voraussetzungen – kann die freie Diskussion eröffnet werden in allen
bisher unterdrückten, problembelasteten und verschwiegenen Fragen. So wird es möglich
sein, sogar das – um Arkouns Sprache zu gebrauchen –„Nicht-Gedachte“ als Thema zu
diskutieren.
In einer Atmosphäre, in der ein Mindestmaß an individueller Freiheit, Freiheit der
Wissenschaft und der freien Meinungsäußerung, vorhanden ist, können folgende Fragen
angeregt werden, Fragen, ohne die es - sollte man sie nicht offen diskutieren dürfen - keine
Chancen für eine Erneuerung des religiösen Diskurses geben wird. Es sei denn, man versteht
den Diskurs (khitab) als Predigt (khutba) und will das alte Denken lediglich in eine moderne
Sprache füllen. Dies ist hier und da immer wieder der Fall, wenn man über Erneuerung des
religiösen Diskurses spricht.
Die erste und wichtigste Frage lautet:
Was bedeutet, „der Koran ist das Wort Gottes“? Hier geht es nicht darum, ob das Wort Gottes
ewig zeitlos ist oder neu und erschaffen. Das war eine Frage, mit der man sich in den ersten
Jahrhunderten des Islam beschäftigt hat als Antwort auf die Behauptung der Christen, im
Koran sei Christus widersprüchlich dargestellt. Er sei einerseits das Wort Gottes und Teil
seiner Seele, andererseits ein normales menschliches Wesen. Die islamischen Gelehrten des
frühen Islam sahen es als ihre Aufgabe, den Islam vor dem Vergleich mit dem Christentum zu
schützen, indem sie den Begriff von der „Erschaffenheit des Wort Gottes“ prägten und ihn für
den Koran verwendeten. Meine Frage hat mit diesem geschilderten Problem nichts zu tun, ich
habe eine andere Absicht und der Kontext ist ein anderer. Der Kontext, in dem wir uns
befinden, ist der eines wissenschaftlichen Seminars und einer Suche nach dem objektiven
Verstehen.
Von dieser Frage leiten sich viele weitere Fragen ab, z. B. die Frage nach dem Charakter der
Offenbarung und der Art und Weise, wie Offenbarung erfolgte, sowie die Frage, ob die
Kommunikation verbal über die Sprache oder nonverbal durch Eingebung und Inspiration
erfolgte. Der Koran selbst spricht von Eingebung als nonverbale Kommunikation. Dies ist das
Ergebnis vieler Forscher, ohne dabei jedoch die rote Tabugrenze der traditionellen Auslegung
des folgenden Koranverses zu überschreiten: „Und es steht keinem Menschen an, dass Gott
mit ihm spricht, es sei denn durch Eingebung oder hinter einem Vorhang, oder indem Er einen
Boten sendet, der ihm dann mit Seiner Erlaubnis eingibt, was Er will.“ (Koransure 42, Vers
51). Die traditionellen Auslegungen dieses Verses unterscheiden drei Arten der
Kommunikationsmittel, mit denen Gott mit dem Menschen in Verbindung tritt: Die erste Art
ist die Eingebung. Als Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie Gott zu Moses’ Mutter
sprach. Die zweite Art ist, wie Gott mit Moses hinter einem Vorhang, dem Vorhang des
Berges und des Feuers, sprach – diese Interpretation ist umstritten, die Mutaziliten
interpretieren es so, dass Gott Worte schuf, die Moses hören konnte. Damit versucht man die
göttliche Einheit – tauhid – zu schützen bzw. jede Art von Vergleich zwischen Gott und
Mensch zu vermeiden. Die dritte Art der Kommunikation zwischen Gott und den Menschen
ist die Offenbarung im Islam, vermittelt durch einen Boten, in diesem Fall Gabriel, der zu
11
Muhammad sprach. Die traditionelle Exegese betrachtet die Kommunikation zwischen
Gabriel und Muhammad als eine sprachliche Kommunikation, das heißt, Gabriel sprach zu
Muhammad in arabischer Sprache. Dies ist eine Interpretation, die der o.g. Koranvers nicht
beinhaltet. Dort heißt es ja, der Bote gibt dem Menschen ein, was Er will, was hieße, dass die
Kommunikation zwischen Gabriel und Muhammad nonverbal war in Form einer Eingebung.
Diese Auslegung ist meines Erachtens von vielen Überlieferungen, die auf den Propheten
zurückgeführt werden, bestätigt. In denen berichtet er, dass die Offenbarung ihm manchmal
wie das „Läuten der Glocken“, ein anderes Mal wie das „Summen der Bienen“ herabgesandt
wurde. Diese Beschreibung kann niemals auf eine verbale Kommunikation im normalen
Sinne deuten.
Aus dieser beschriebenen Problematik ergeben sich neue Themen zur Diskussion über die
Bedeutung der Prophezeiung und ihre Deutung. Was bedeutet die Tatsache, dass der Koran
nicht auf einmal von Gott an Muhammad herabgesandt wurde, sondern stückweise
entsprechend den Umständen und den gegebenen Begleiterscheinungen? Daraus erfolgt eine
weitere Frage: Besteht der Koran aus einem einzigen Text oder aus mehreren Texten, die alle
in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind? Wenn das so ist – daran besteht ja kein
Zweifel – warum wurden dann die koranischen Texte, als sie zu einem Buch
zusammengefasst wurden, nicht in chronologischer Reihenfolge, in der Reihenfolge ihrer
Offenbarung, geordnet, sondern in einer Anordnung, deren Bedeutung noch nicht untersucht
ist. Diese Frage soll nicht im geringsten am Koran als solchen zweifeln. Vielmehr soll sie die
Diskussion eröffnen, die dem „Sinn“ nach der derzeitigen „Anordnung“ nachgeht, sei es eine
tauqifi göttliche Anordnung, oder eine taufiqi menschlich gemachte Anordnung, wie es einige
nennen.
Die Frage nach der Anordnung der Verse leitet zur nächsten Frage über, der Frage nach dem
Prozess des Sammelns und Niederschreibens des Koran. Wie hat er begonnen? Wie hat der
Koran sich von der bloßen osmanischen Schrift entwickelt, die sich durch Fehlen der
diakritischen Punkte (Punktuation), der Vokale (Vokalisation, anhand derer die Syntax
deutlich wird), sowie durch Fehlen von Punkten, Kommas oder irgendeines Pause-Zeichens
kennzeichnet, bis er später zu einer klar lesbaren Schrift wurde? Und in welchem Verhältnis
steht diese letzte gereifte schriftliche Form mit den verschiedenen Lesarten, von denen es
unzählige gibt, bis Ibn Mugahid entschieden hat, dass es nur noch sieben von der Sunna
anerkannten Lesungen geben soll? Dies geschah lange nach der Vokalisierung des Koran.
Trotzdem zeigt die Geschichte der Lesarten, dass Ibn Mugahid und andere die Vielfalt der
Rezitationsarten nicht eingrenzen konnten. Drei Lesarten wurden den sieben hinzugefügt,
damit wurden es 10. Es folgten weitere neue, dann wurden es 14., sieben als verbindliche von
der Sunna vorgeschriebe Lesungen und sieben erlaubte. Nichtsdestotrotz veröffentlicht Ibn
Ginni das Buch al-Muhtasib fi tabyin wuguh al-qira’at ash-shadhdha (Untersuchung zur
Erläuterung der Eigenschaften nichtkanonischer Lesarten des Koran) und räumt den
ungewöhnlichen Lesarten einen Platz ein. Daraus ist zu schließen, dass es neben den 14
Lesarten noch zahlreiche andere gibt und dass dies durchaus wahrgenommen wird.
12
In diesem Zusammenhang sollte man auch nicht – weder aus wissenschaftlichen Gründen
noch aus Gründen des Glaubens – die aus verschiedenen Handschriften bestehenden Blätter
ignorieren, die man zufällig im Dachgeschoss einer Moschee in Sanaa im Jemen gefunden
hat, nachdem das Dach nach einem starken Regenfall 1972 herabgestürzt war. Die
Handschriften sind in der Higazi-Schrift geschrieben. Vielleicht sind sie die übriggebliebenen
Reste der Handschriften, die der 3. Kalif Uthman verbrennen ließ. Diese Handschriften
enthalten nichts anderes als den Koran, den wir kennen. Sie sind nur in einer Weise
niedergeschrieben, die andere Lesarten möglich machen, andere als die, die der Koran in der
jetzigen Form erlaubt.
Ebenso wenig sollte man die Herausforderung eines deutschen Wissenschaftlers unbeachtet
lassen, der sein Buch im Jahr 2000 unter einem Pseudonym veröffentlicht hat.11 Seiner
Meinung nach sei der Koran hauptsächlich aus einer ursprünglich christlichen Schrift
entlehnt, in Ost-Aramäisch, also Syro-Aramäisch geschrieben. Viele der sprachlichen
Probleme und rätselhaften Sprachstile im Koran, die viele muslimische Exegeten und
europäische Übersetzer ratlos machen, hätten ihre erfolgreiche Lösung, wenn man die
altsyrische Sprache konsultieren würde.12
Sollte dieses Buch nicht übersetzungswürdig sein, damit wir muslimischen Wissenschaftler
und Forscher uns an der aktuellen Diskussion über unser heiliges Buch beteiligen können,
anstatt dass wir uns weiterhin vom Rest der Welt abschotten und in Isolation verweilen, in der
wir uns bis zum heutigen Zeitpunkt befinden? Seit wir gezögert haben, das Buch von Theodor
Nöldecke Geschichte des Koran Ende der 90er Jahre zu übersetzen, hat sich der Graben
zwischen uns und den Forschungen Anderer vergrößert. Als schließlich George Tamer
zusammen mit einer Reihe von kompetenten Übersetzern das Buch übersetzt hat, und das
Buch mit finanzieller Unterstützung einer deutschen Stiftung in Beirut erschien, wurde das
Buch mit der Begründung konfisziert, es würde zu konfessionellen Auseinandersetzungen
anstiften. Dies ist beschämend, wann immer so etwas geschieht. Insbesondere ist es eine
Schande, da es sich im 21. Jahrhundert abspielt.
Wir sollten uns den Herausforderungen stellen, statt die Köpfe in den Sand zu stecken und an
diesem feigen Verhalten festzuhalten, immer wenn es darum geht, die Religion mit anderen
Methoden als die, die wir über Jahrhunderte gewohnt sind, zu untersuchen. Wir müssen uns
entscheiden zwischen einer blinden Nachahmung, wie unsere Vorväter es auszuüben pflegten,
und einem selbstständigen Handeln in der Gegenwart, indem wir uns mit den Methoden des
Studierens vertraut machen und mit unseren Zeitgenossen diskutieren, unabhängig von der
Tatsache, dass sie sich von uns durch ihre Religionszugehörigkeit unterscheiden, wie es Ibn
Rushd sagen würde.
11
Sein Pseudonym lautet Christoph Luxenberg, und das Buch trägt den Titel Die syro-aramäische Lesart des
Koran: Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Qur’ansprache, Das Arabische Buch, Berlin 2000.
12
Rezensionen zu diesem Buch: Robert R. Phenix Jr. und Cornelia B. Horn an der University of St. Thomas,
Minnosota, USA, Department of Theology, erschienen in der Zeitschrift Hugoye: Journal of Syriac Studies, Bd.
6, Heft 1(Januar 2003).
13
Wenn die Glaubensschwäche uns nicht überwältigt, und wir die Diskussion um das Thema
und die Prüfung von Tatsachen zulassen, und wir nicht darauf bestehen, die Vernunft
auszuschalten, wohin mögen all diese Fragen dann führen? Diese Fragen werden mit
Sicherheit nicht den Koran abschaffen. Ebenso wenig werden sie die Religion vernichten und
den festen Glauben erschüttern. Sondern es werden uns neue Möglichkeiten des Verstehens
eröffnet, das die Offenbarung des Göttlichen in dem Menschen sieht und das „Wort Gottes“ in
der gewöhnlichen Sprache des Menschen wiederentdeckt. Die historische Untersuchung des
Koran kann uns den Kontext liefern, der uns mit der Zeit abhanden gekommen ist, damit wir
den Sinn der göttlichen Botschaft und ihre Bedeutung erkennen und zwischen den „historisch
bedingten“ und den „zeitlosen“ Bedeutungen unterscheiden können. Wir würden z. B.
entdecken, dass all die Bestrafungen für die Übertretung eines koranischen Verbotes (hudud)
wie Abhacken der Hand eines Diebes, Auspeitschung eines Ehebrechers, Auge um Auge,
Zahn um Zahn usw. all diese Strafen ihren Ursprung in der vorislamischen Zeit haben. Wir
würden erkennen, dass die „zeitlose“ Bedeutung darin liegt, dass das System der
Gerechtigkeit durch Bestrafung realisiert werden muss. Was die Umsetzung der Strafe
anbetrifft, so ist dies den historischen Umständen entsprechend, also je nach Zeitalter anders.
Wir erkennen damit, dass wir niemals die „historisch bedingte“ Bedeutung auf Kosten der
„zeitlosen“ bevorzugen dürfen. Ist einmal festgestellt, dass die Gerechtigkeit an sich das
Primäre ist, so verstehen wir folglich auch, dass der Befehl, zu töten – Polytheisten und
andere – die „historisch bedingte“ Bedeutung ist. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass die
Muslime bei ihren Eroberungen anderer Länder niemals Massentötungen von Polytheisten
veranlasst haben. Nicht einmal der Prophet hat zu seiner Zeit seine Gegner getötet, als er
Mekka eingenommen hat.
Wenn wir dies begriffen haben, werden wir die Historizität des koranischen Textes nicht als
etwas Zeitliches verstehen. Wir begreifen den Korantext als kulturelles Produkt in seiner
historischen Entstehung und gleichzeitig als Erzeuger einer neuen Kultur in der Geschichte.
Die Erzeugung einer Kultur durch den Text geschieht jedoch nur über die Rezeption des
Korantextes durch die Muslime, die wiederum von ihren eigenen Perspektiven und
Geisteshaltungen abhängig ist. Wenn wir dies verstehen, können wir schlussfolgern, dass
diese Kultur, die die Muslime selbst erzeugt haben, eine zeitlich gebundene Kultur ist, die wir
kritisch analysieren und verstehen können, unabhängig davon, ob sie sich in den islamischen
Gesetzeswissenschaften (fiqh), in der Koranexegese, in den Traditionswissenschaften
(hadith), der Philosophie, der scholastischen Theologie (ilm al-kalam), der islamischen
Mystik oder der Sprach- und Literaturwissenschaft niedergeschlagen hat.
Wenn dieser Zustand gegeben ist, haben wir unsere Kultur wieder in unserem Besitz. Wir
können darauf aufbauen, indem wir selbst anfangen, neue Fragen zu stellen, anstatt dass
unsere eigene Kultur uns zur Last wird, wie es im Moment der Fall ist.
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