Texte zur Ethik-Grundkurs MSS 12/Hr Loch - Johannes

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Ethik (1):
Ethische Dilemmata
1. Fall: Herr K. will sein Auto, einen 6 Jahre alten Passat Kombi, verkaufen. Bei der letzten
Inspektion (zwei Monate vorher) teilte ihm die Autowerkstatt mit, dass Reparaturen in der Höhe
von 1500,- € bald notwendig sein werden. Nach der Gebrauchtwagenliste ist sein Auto noch
8500,- € wert. Er setzt sein Auto für- 9500,- € in die Zeitung. Daraufhin meldet sich ein Käufer,
der nach einer Probefahrt Herrn K. 8200,- € bietet.
Wie verhält sich nun Herr K.? Soll er die Information der Autowerkstatt verheimlichen?
2. Fall: Nadine F. (25) liegt mehrere Monate im Koma. Große Teile des Gehirns sind zerstört, und
es besteht keine Aussicht auf Genesung. Nur ein Atmungsgerät und intravenöse Ernährung halten
die Frau am Leben. Die Eltern besuchen sie täglich, und sie leiden offensichtlich unter der großen
Nervenbelastung. Von all dem weiß die Ärztin, als sie eines Tages bemerkt, daß sich der Stöpsel
des Atmungsgerätes gelöst hat. Wenn sie ihn nicht wieder einsetzt, wird Nadine sterben. Wie soll
sich die Ärztin verhalten? Nach welchen Maßstäben soll sie sich richten?
Aufgabe: Diskutiert die beiden dargestellten Fallbeispiele mit eurem Tischnachbarn und entwickelt
(schriftlich!) eine begründete Position!
Ethik (2): Ethische Argumentationsformen (1) - Hinführung
Fallbeispiel: Gerd und Gertrud sind Schüler einer 13. Klasse. Gertrud hat sich heftig in Gerd
verliebt; er mag sie zwar, ist sich aber nicht sicher, wie sehr er sie mag. Schließlich ist da
auch noch Gerlinde und ....
Eines Abends bringt Gerd Gertrud nach einer Fete nach Hause. Ihre Eltern sind verreist ,
und Gertrud gibt Gerd eindeutig zu verstehen, dass sie gerne die Nacht mir ihm
verbringen möchte. (Anm.: Die Geschlechter-Rollen dieser Szene sind natürlich
prinzipiell vertauschbar!)
(Mögliche) Position: Gerd kommt zum Schluss, dass es ethisch nicht vertretbar ist, auf das
Angebot von Gertrud einzugehen.
Begründung:
1. Das Wesen (die Natur) der
Sexualität liegt einerseits in der
Fortpflanzung, andererseits ist
Sexualität Ausdruck personaler
Liebe. Sexualität ohne Liebe
widerspricht
daher
dem
göttlichen Schöpfungswillen .
2. Als Konsequenzen einer
„erfüllten Nacht“ könnten sich
für Gerd vielfältige Nachteile
ergeben,
die
den
(zu
erwartenden)
Lustgewinn
nivellieren (z.B. könnte Gertrud
schwanger werden, oder gar
AIDS-infiziert
sein!).
Die
Kosten wären also u.U. größer
als der (kurzfristige) Nutzen .
3. Gerd möchte sicherlich auch
nicht im umgekehrten Fall (also
wenn er verliebt wäre, Gertrud
hingegen nicht), dass Gertrud
dann
mit
ihm
schläft.
Schließlich will er ja auch nicht
benutzt werden. Insofern sieht
er es als seine Pflicht an, seine
„Triebe“ in Schach zu halten.
Kriterien:
Kriterien:
Kriterien:
Typ:
Typ:
Typ:
Aufgabe: Bestimme die entscheidenden Kriterien, nach denen sich Gerd bei den einzelnen
Begründungsmöglichkeiten richtet! Überlegt, welcher Personentyp bei der jeweiligen
Begründungsvariante vorstellbar ist!
Ethik (3): Die klassische Naturrechtsethik - das Denkmodell (A. K. Ruf)
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Das Modell geht von der Vorstellung aus, dass das Eigentliche der Dinge (ihr Wesen = lat.
essentia, ihre Idee) nicht ohne weiteres erkennbar ist. Es steckt vielmehr hinter der flüchtigen
Erscheinungsweise der Einzeldinge und muss durch einen metaphysischen Erkenntnisweg
gesucht werden. Der menschliche Verstand ist grundsätzlich dazu fähig, er kann durch die
Fassade der augenscheinlichen Oberfläche zu diesem Wesen vorstoßen und die eigentliche
Natur der Dinge kennen lernen. Diese wurde von einer Kraft in sie hineingelegt, die als der
Urgrund der Dinge und als deren letztes Ziel angesehen werden kann (Gott). Da alle Dinge
aus dem einen Urgrund hervorgegangen sind, lässt sich eine innere, sinnhafte Ordnung
entdecken. Der Erkenntnisgrund dafür sind die Naturtendenzen (inclinationes naturales). Sie
sind Chiffren, die den letzten - wesentlichen- Sinn der Dinge entdecken lassen; da das Sollen
dem Sein zu folgen hat, muss jede Sollensordnung auf ihnen aufgebaut werden.
Die Wesenserkenntnis führt zur Kenntnis der naturhaft innewohnenden Sinnziele der
geschaffenen Dinge. Da sie vom Schöpfer in die Schöpfung hineingelegt worden sind,
müssen sie als von Gott gewollt und deshalb für den Menschen nicht verfügbar angesehen
werden. Aus den Seinsstrukturen folgen somit absolut verbindliche Sollenssätze. Der oberste
Satz kann so formuliert werden: Das Handeln hat entsprechend den Sinnzielen zu erfolgen,
die Gott in die geschaffenen Dinge hineingelegt hat. Unsittliches Handeln = unnatürliches
Handeln = ein Handeln, das den Naturzielen widerspricht. Um über diesen allgemeinen - und
für die Ethik wenig brauchbaren - Satz hinauszukommen und konkretere Sollenssätze zu
finden, müssen die Naturtendenzen untersucht werden.
Hier liegt nun die Gefahr nahe, diese vom jeweiligen Erkenntnisstand der
Naturwissenschaften zu interpretieren und daraus dann ethische Schlussfolgerungen zu
ziehen. Ein Beispiel: Die menschliche Sexualität ist von Natur aus auf Zeugung neuen
Lebens hin angelegt, denn der Naturablauf zeigt, dass überall dort, wo er seiner inneren
Tendenz nach ablaufen kann und nicht durch Eingriffe von außen gehindert wird, es zur
Zeugung neuen Lebens kommt. Deshalb kann dann als oberster und absolut verbindlicher weil in der Natur begründet - Satz der Sexualmoral gelten: Die Sexualität darf nur ihrem
Naturziel entsprechend zur Zeugung verwendet werden.
Dieser Satz ist nicht aus der metaphysischen Betrachtung der Menschennatur abgeleitet,
sondern aus einer zeitbedingten Kenntnis über die menschliche Sexualität. Eine neue
Erkenntnis über den Sinn der Sexualität (dass sie z.B. „von Natur aus“ auch der
Partnerbindung dient und diese anzielt) hat in einem System der Ethik nicht mehr Platz, das
eine zeitbedingte Interpretation der Naturziele als endgültige und nicht mehr überholbare
Wesenserkenntnis ansieht.
Aus: A. K. Ruf: Grundkurs Moraltheologie. 1975, S. 122f.
Aufgabe: Unterstreiche im Text die Schlüsselbegriffe (höchstens 12) und erstelle mit diesen Begriffen ein Schaubild zur
Naturrechtslehre!
Ethik (3): Naturrechtsethik – konkret: Die inclinationes naturales
Auf welche Ziele und Fähigkeiten ist der Mensch kraft seiner Natur hingeordnet?
Kraft seiner Natur ist der Mensch darauf hingeordnet, dass er
1. sein Leben erhält und schützt,
2. menschliches Leben weiterzuleiten vermag,
3. als Einzel- und Gemeinschaftswesen sich geistig-sittlich bewährt und vervollkommnet.
(…)
I: Die Stufe der Selbsterhaltung
(…) Unter diese erste Stufe fallen als natürliche Rechte bzw. Pflichten:
1. der Schutz des Lebens, des eigenen wie des fremden (Recht der Notwehr);
2. das Verbot des Mordes in jeder Form und aus beliebigen Gründen (Selbstmord, beabsichtigte Tötung eines
Unschuldigen, „gezielte" Abtreibung, Sterbehilfe);
3. Wahrung der körperlichen Unversehrtheit: Verbot der Selbstverstümmelung, der Unfruchtbarmachung, der
Misshandlung, des Terrors, der Freiheitsberaubung, der unnützen Lebensgefährdung;
4. der Anspruch auf den notwendigen Lebensunterhalt: das Recht zu arbeiten, um leben zu können; Recht auf
persönliches Eigentum zwecks Erwerb und Sicherheit des Lebensunterhaltes;
5. Wertung und Schutz der Arbeitskraft: die menschliche Arbeit als persönliche Leistung, keine käufliche
Ware; Verbot der Ausnutzung, untragbarer Arbeitsbedingungen.
II. Die Stufe der Lebensmitteilung
(…) Unter diese zweite Stufe fallen als natürliche Rechte bzw. Pflichten:
1. Das Recht auf die Ehe (freie Gattenwahl) und die eheliche Fruchtbarkeit;
2. das Unrecht des vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehrs;
3. das Recht der Familie auf Unterhalt, freie Entwicklung und den Schutz der Gemeinschaft; das Recht auf Heimat und
Bodenständigkeit;
4. die Sorge für die körperliche und geistig-sittliche Erziehung der Kinder;
5. das „Elternrecht“: die Befugnis der Eltern als der Ersterziehungsberechtigten, das Erziehungsideal ihrer Kinder zu
bestimmen und dessen Durchführung zu fordern wie zu überwachen;
6. die Kindespflicht der Ehrfurcht und des Gehorsams, der Unterstützung der Eltern in Krankheit, Armut und Alter.
III: Die Stufe des Geistig-Sittlichen
(…) Drei Bereiche sind bei dieser Stufe zu unterscheiden:
1. Recht und Pflicht der je persönlichen Vervollkommnung.
2. Recht und Pflicht Der Gotthingabe und Gottesverehrung.
3. Recht und Pflicht des sozialen Lebens. (…) Im einzelnen sind hier folgende Dinge zu nennen:
a) ein Verhalten, das Menschen im Verkehr untereinander geziemt: Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit in Wort
und Tat („was nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem andern zu");
b) Teilnahme an den gemeinsam vollzogenen Entscheidungen (Wahlrecht, gemeinsame Beschlussfassung);
c) Gehorsam gegen die rechtmäßige Autorität und deren gerechte Gesetze;
d) Anwendung der Gesetze und Beteiligung an den Früchten wie Lasten, beides ohne „Ansehen der Person";
e) Vereinigungsfreiheit zu allen ehrenhaften Zwecken (wirtschaftliche, gesellige, kulturelle usw.), nur begrenzt durch
echte Notwendigkeit des allgemeinen Wohles;
f) Beschaffung, Verteilung und Gebrauch der Wirtschaftsgüter gemäss den Notwendigkeiten eines geordneten
Gemeinschaftslebens;
g) Freizügigkeit der Arbeit und des Berufslebens (Wahl von Arbeitsart und Arbeitsplatz).
Aus: Herders Sozialkatechismus. Bd. 1. 1952, S. 191-197
Ethik (4): Anwendung - Die Präimplantationsdiagnostik (PID)
Aufgaben:
1) Beurteile die PID
a) aus naturrechtlicher Sicht,
b) aus der Sicht eines Paares, das zu den genetischen „Risikogruppen“
gehört und einen Kinderwunsch hat.
2) Nimm abschließend selbst Stellung zur PID!
Ethik (5): Würdigung und Kritik der Naturrechtsethik
1. ___________________________________________________________________________
Ein Grund dafür, daß der Naturrechtsgedanke in die christliche Theologie Eingang finden konnte,
ist darin zu sehen, daß Natur und Übernatur innerhalb der christlichen Glaubensüberzeugung in
einer engen Wechselbeziehung stehen. Die einseitige Begrenzung auf die faktische Natur als den
Erkenntnisgrund für den Willen Gottes - dem Über-Natürlichen - führte allerdings zu einer
Verzeichnung, die nur korrigiert werden kann, wenn die Bedeutung des Natürlichen nicht so
überbetont wird, daß die übernatürlichen - in der Offenbarung enthaltenen - Aussagen über Sinn
und Ziel des Menschen überflüssig werden.
2. ___________________________________________________________________________
Das Naturrechtssystem, wie es seit der Spätscholastik tradiert wird, hat zwei Wurzeln: die
philosophische, abstrakte Aussage über das Wesen des Menschen und die, an den
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Aussage über die wesenhafte
Zielgerichtetheit. Der rein philosophische Kern enthält für die Ethik wenig. (...) Wenn sich die
Ethik auf diesem Ansatz entfaltet, dann ist sie darauf angewiesen, sich bei der Suche nach den
konkreten Verhaltensnormen auf die Ausdeutung der Sinnziele (inclinationes naturales) zu stützen.
Damt bindet sie sich sehr an vorläufige Erkenntnisse aus dem Bereich der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis.
3. ___________________________________________________________________________
Der Gedanke, dass etwas alle Menschen Verbindendes die Grundlage des menschlichen sittlichen
Handelns
sein muss, war
der
Ausgangspunkt
für
die
Entfaltung
des
Naturrechtsgedankens. Er ist heute noch so aktuell wie früher. (...) Gerade das Selbstverständnis des
Christentums als einer universalen, auf alle Menschen bezogenen Lehre verpflichtet die Ethik dazu,
sich nicht mit Verhaltensforderungen zu begnügen, die nur in einem engen (kulturellen und
zeitgeschichtlichen) Raum verständlich und nachvollziehbar sind.
4. __________________________________________________________________________
Eine Grundidee der Naturrechtsvorstellung kann darin gesehen werden, daß der Mensch sich, um
richtig zu handeln, nicht daran orientieren soll, was alle tun, sondern an Maßstäben, die ihm voraus
liegen und die in seiner Idee - in dem, was er sein soll - begründet sind. Diese Ideale können als
Leitlinien für das ethisch richtige Verhaften angesehen werden.
5.____________________________________________________________________________
Das traditionelle Naturrechtsdenken führte dazu, das Wesen des Menschen und der Dinge aus dem
heraus zu erklären, was man faktisch von ihnen in Erfahrung bringen konnte. Zur Deutung der
inclinationes naturales wurde davon ausgegangen, was man von den Naturdingen jeweils wusste.
Für die christliche Ethik muss aber nicht die aus dem Faktischen erkennbare Zielstrebigkeit,
sondern die aus dem Willen Gottes erkennbare Zielausrichtung maßgebend sein; nur so entgeht sie
der Gefahr, Gottes Willen mit dem gleich zu setzen, was an einem bestimmten Zeitpunkt der
Erkenntnis als Sinnziel erkannt wird.
Die starre Haltung der Kirche in einzelnen Fragen neuerer wissenschaftlicher Erkenntnis erklärt
sich auch daraus, daß sie sich ein Naturrechtsdenken zu eigen gemacht hatte, das keinen Platz
mehr für neuere Erkenntnisse aus diesem Bereich zuließ.
6. ___________________________________________________________________________
Die Begründung eines Naturrechts aus den Wesensstrukturen der Dinge führt zur Ausprägung eines
Systems allgemeinverbindlicher Reichtsätze, die - im Hinblick auf ihre praktische Verwertbarkeit soweit ausgedehnt werden, daß sie alle nur denkbaren Entscheidungssituationen umfassen
(Kasuistik). Die jeweilige Entscheidung wird dann als ein Fall des Allgemeinen betrachtet, der im
Prinzip schon beantwortet ist. Die scheinbare Eindeutigkeit der Normforderungen beruht auf einer
Methode, die im Ansatz der Naturrechtslehre begründet ist: Diese abstrahiert vom Konkreten zum
Allgemeinen, und es scheint logisch zu sein, dieses - als allgemein und deshalb dem konkreten
Einzelnen Vorausliegend - nun wieder, durch Deduktion, auf die Einzelsituation anzuwenden.
Dabei wird dann meist übersehen, dass konkrete Entscheidungssituationen
nicht in einem
philosophischen Sinn als Einzelfälle betrachtet werden dürfen, die alle in einem Gemeinsamen
übereinkommen.
aus: A. K. Ruf Grundkurs Moraltheologie. 1975, S. 129f.
Aufgabe: Formuliere Überschriften für die einzelnen positiven bzw. negativen Kritikpunkte!
Ethik (6): Naturrecht und Rechtspositivismus
Urteilsbegründung im ersten „Mauerschützenprozeß" (1992, Auszug)
1. Die Schußwaffenregelung im Grenzgesetz der ehem. DDR war nicht, weil sie
nicht dem rechtsstaatlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprach.
2. Die Durchsetzung des Ausreiseverbots mittels Schußwaffengebrauchs verletzt
den Kernbereich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in den
nach allg. Rechtsüberzeugung kein Gesetz und keine andere obrigkeitliche
Maßnahme eingreifen darf.
3. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum bei den Grenzsoldaten scheidet
regelmäßig aus, da die tödlichen Schüsse an der Grenze in eklatantem
Widerspruch zu den allg. anerkannten Grundsätzen von Recht und Gerechtigkeit
standen,
so
daß
dies
trotz
Indoktrination
bei
entsprechender
Gewissensanspannung auch für die Soldaten erkennbar gewesen wäre.
LG Berlin, Urteil v. 20. 1.' 1992 -- (523) 2 Js 4£3;9Q (9/J1).
Noch Fragen?
Zeicnnung'.
aUlle
A?c~e75
Ethik (7): Naturrecht und Rechtspositivismus – ein Überblick
Naturrechtslehre
Rechtspositivismus
Es gibt ein übergeordnetes, immer
geltendes Naturrecht, das den positivierten
Normen vorgelagert ist.
Das Recht ergibt sich aus den positivierten
Normen, unabhängig von deren Inhalt.
Die klassische Naturrechtslehre setzt den
Rechtsinhalt absolut.
Der klassische Rechtspositivismus setzt die
Rechtsform absolut.
"Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker
sind als jede rechtliche Setzung, so dass
ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der
Geltung bar ist. Man nennt diese
Grundsätze das Naturrecht oder das
Vernunftrecht. Gewiss sind sie im einzelnen
von manchen Zweifeln umgeben, aber die
Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen
festen Bestandteil herausgearbeitet und in
den sogenannten Erklärungen der
Menschen- und Bürgerrechte mit
weitreichender Übereinstimmung
gesammelt"
Über die Inhalte des Rechts befindet die
Politik.
[Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie,
1950]
"Wir müssen auch das niederträchtigste
Gesetzesrecht, sofern es nur formell
korrekt erzeugt ist, als verbindlich
anerkennen."
[Karl Bergbohm, Jurisprudenz und
Rechtsphilosophie, 1892]
"Es gilt unumstößlich die Wahrheit, dass die
Rechtsmacht jeden beliebigen Rechtsinhalt
setzen kann."
[Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1927]
Der Richter hat die Befugnis, seinem
vernünftigen Ermessen den Vorrang vor
dem geschriebenen Gesetz zu geben.
Der Richter ist streng an die vom Staat
erlassenen Gesetze gebunden.
Gefahr: Rechtsunsicherheit, Willkür
Gefahr: "Ungerechte" Gesetze eines
Diktators werden buchstabengetreu
angewendet.
Ethik (8): Naturrecht – Rechtspositivismus (Schaubild)
Ethik (9): Die Pflichtethik Immanuel Kants (1724-1804)
„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer
derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung
für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.
(…) Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt,
oder ausrichtet, (…) sondern allein durch das Wollen, d.i.
an sich, gut.“
(I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt 1974, 18f.)
Ethik (9): Kants Pflichtethik : Der kategorische Imperativ
KANT wendet sich in seiner grundlegenden ethischen Schrift, der "Kritik der praktischen
Vernunft" (1788, kurz: KpV) gegen eine der bestimmenden philosophischen Strömungen
seiner Zeit, den Empirismus. Die empiristische Ethik geht davon aus, dass der Mensch
ausschließlich als sinnlich-empirisches Wesen zu fassen ist. Menschliche Praxis ist darum
vollständig durch die sinnliche Lust-Unlust-Motivation (hedonistisch) bestimmt. KANT
geht es nun darum, aufzuzeigen, dass es eine von der Lust-Unlust-Motivation prinzipiell
verschiedene Motivation aus reiner Vernunft geben kann. Das ist die Ausgangsfrage der
KpV:
"Hier ist also die erste Frage: ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich
allein zulange, ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein
könne." (KpV A 30)
Wie ist nun eine derartige Vernunftmotivation zu denken?
1. Sie darf nichts Empirisches in Aussicht stellen, keinen Lustgewinn verheißen und nicht durch
persönlichen Vorteil motivieren. Als reine Verpflichtung muß sie den Charakter eines unbedingten,
also kategorischen Imperativs haben:
"Alle Imperative nun gebieten entweder hypothetisch 1) , oder kategorisch. Jene stellen die
praktische Notwendigkeit einr möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will
(oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen, vor. Der kategorische Imperativ würde der
sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als
objektiv-notwendig vorstellte." (GMS BA 39)
2. Da dieser kategorische Imperativ keine material-empirischen Inhalte enthalten darf, muss er
formal motivieren. Nicht der subjektive Vorteil, sondern die objektive Notwendigkeit und
Allgemeingültigkeit charakterisiert die Motivation aus reiner Vernunft. Gegenstand dieser
Motivation ist das Universelle. Aus diesen Voraussetzungen folgen Gehalt und Form des einzig
möglichen kategorischen Imperativs, der in der Ethik KANTS als "Moralprinzip" und
"Sittengesetz" fungiert:
"Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne." (KpV A 54)
Der eigentliche Kern der moralischen Motivation ist offensichtlich die Vernunftform der
Universalisierbarkeit. Damit. ist die formale Bewandtnis des kategorischen Pflichtcharakters des
Moralischen erklärt. KANT nennt das Bewußtsein des Kategorischen Imperativs als Moralprinzip
ein "Faktum der Vernunft, weil es sich für sich selbst uns aufdringt" (KpV A 56).
aus: R. Loch: Ethik. Materialsammlung für die Oberstufe. Koblenz 1996
1) Hypothetische Imperative sind "Wenn-dann-Sätze", wie z.B. "wenn ich Vater und Mutter ehre, dann erbe ich später
ihr Vermögen".
Ethik (9.1): AB zur Herleitung des kategorischen Imperativs
Aufgabe: Ordnet die im Text genannten, gegensätzlichen Begriffe („Antithesen
der Motivation“) den beiden Positionen (Empirismus, Pflichtethik) zu!
ANTITHESEN DER MOTIVATION
Empirismus
Pflichtethik
Kern der moralischen Motivation:
Ethik (10): Kant - Die zwei Formen der Maximenüberprüfung
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Man muss wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz
werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt. Einige der
Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als
allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne,
es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht
anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit
eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen
würde. [...]
Ein anderer sieht sich durch Not gedrungen, Geld zu borgen. Er weiß wohl, daß er nicht
wird bezahlen können, sieht aber auch, daß ihm nichts geliehen werden wird, wenn er
nicht festiglich verspricht, es zu einer bestimmten Zeit zu bezahlen. [...] Da sehe ich nun
sogleich, daß sie niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst
zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse. Denn die
Allgemeinheit des Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen
könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz es nicht zu halten, würde das Versprechen und
den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen [...].
Ein dritter sieht in sich ein Talent, welches unvermittelst einiger Kultur ihn zu einem in
allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber in bequemen
Umständen, und zieht vor, lieber dem Vergnügen nachzuhängen [...]. Da sieht er nun, daß
zwar eine Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetz immer noch bestehen könne
[...]; allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde [...].
Quelle: I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ;1785j, Frankfurt 1974, S3-5S
Aufgaben:
1) Kant unterscheidet hier zwei Formen der Maximenüberprüfung, eine schwache und
eine starke Form. Erarbeite aus dem Text diese beiden Formen der
Maximenüberprüfung!
2) Wende diese beiden Formen der Maximenüberprüfung auf folgende ethischen
Fragestellungen an:
2.1) Darf man in öffentlichen Einrichtungen (z.B. Kneipen, Cafes) rauchen?
2.2) Darf man mit dem Flugzeug eine Urlaubsreise machen?
2.3) Darf man bei Komapatienten aktive Sterbehilfe leisten?
Ethik (10): Anwendung der Kantischen Ethik
Ist es moralisch vertretbar in Urlaub zu fliegen?
Beispiel:
Anne und Marius, beide 21 Jahre alt und Studenten, wollen in den
Semesterferien für 10 Tage nach Mallorca fliegen.
Sie haben eine Pauschalreise gebucht, ein echtes Schnäppchen!
Für das Pärchen ist es der zweite Urlaub in diesem Jahr.
Ethik (11): Die Herleitung der Selbstzweckformel des
Kategorischen Imperativs
Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht, haben
dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen
daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon
als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf,
5 auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist). Dies
sind also nicht bloß subjektive Zwecke, deren Existenz als Wirkung unserer Handlung für uns
einen Wert hat: sondern objektive Zwecke, d.i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist,
und zwar einen solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem sie bloß
als Mittel zu Diensten stehen sollten, weil ohne dieses überall gar nichts von absolutem Werte
10 würde angetroffen werden; wenn aber aller Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für
die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden.
Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip und in Ansehung des menschlichen
Willens einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein, das aus der
Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist,
15 ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz
dienen kann. Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich
selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor, sofern ist es also ein
subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere
vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich
20 gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten praktischen
Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische Imperativ
wird also folgender sein: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der
Person eines Jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.
Aus: I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akademieausgabe IV. 1968, S. 428f.
Aufgabe: Erarbeite mit Hilfe des Schaubildes die Kantische Herleitung der
„Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs“!
Ethik (11): Arbeitsblatt zur Selbstzweckformel des Kategorischen
Imperativs
vernunftlos
von absolutem Wert
oberstes praktisches Prinzip
und zugleich
allgemeingültig
Ethik (12): Pflicht und Neigung
Friedrich Schiller
„Gerne dien ich den
Freunden, doch tu ich es
leider mit Neigung. Und so
wurmt es mir oft, dass ich
nicht tugendhaft bin. Da hilft
kein anderer Rat, du musst
suchen, sie zu verachten, und
mit Unmut dann tun, was die
Pflicht dir gebietet.“
Ethik (12): Kant – Neigung und Pflicht
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Wohltätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem gibt es manche so
teilnehmend gestimmte Seelen, dass sie, auch ohne einen anderen Beweggrund der
Eitelkeit, oder des Eigennutzes, ein inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich
zu verbreiten, und die sich an der Zufriedenheit anderer, so fern sie ihr Werk ist,
ergötzen können. Aber ich behaupte, dass in solchem Fall dergleichen Handlungen,
so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen
Wert habe, sondern mit anderen Neigungen zu gleichen Paaren gehe, z.E. der
Neigung nach Ehre, die, wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der Tat
gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwert ist, Lob und Aufmunterung, aber
nicht Hochschätzung verdient; denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich
solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun. Gesetzt also, das
Gemüt jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle
Teilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, andern
Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner
eigenen genug beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt,
risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus, und täte die
Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren
echten moralischen Wert. Noch mehr: wenn die Natur diesem oder jenem überhupt
wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er (übrigens ein ehrlicher Mann) von
Temperament kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht, weil
er, selbst gegen seine eigene mit der besonderen Gabe der Geduld und aushaltenden
Stärke versehen, dergleichen bei jedem anderen auch voraussetzt, oder gar fordert;
wenn die Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich nicht ihr schlechtestes
Produkt sein würde) nicht eigentlich zum Menschenfreund gebildet hätte, würde er
denn nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit höhern Wert zu
geben, als der eines gutartigen Temperaments? Allerdings! Gerade da hebt der Wert
des Charakters an, der moralisch und ohne Vergleichung der höchste ist, nämlich
dass er wohltue, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht... Pflicht ist die
Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. (...) Eine Handlung aus
Pflicht (soll) den Einfluss der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens
ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne,
als, objektiv, das Gesetz, und, subjektiv, reine Achtung für dieses praktische Gesetz.
Aus: Immanuel Kant: Der kategorische Imperativ. In: Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten. Hrsg. von Theodor Valentiner. Stuttgart 1988. S. 40ff.
Aufgaben:
a) Welche beiden Formen von Handlungen unterscheidet Kant? Erläutere Sie!
b) Welchen Wert weist Kant diesen beiden Handlungsvarianten zu?
Ethik (12): Anwendung der Kantischen Ethik
Anna K., 19 Jahre alt, leidet an einem
schweren Nierenleiden. Da sie mit
dieser Krankheit jedoch nicht alleine
ist
und
ein
Mangel
an
Spenderorganen besteht, steht sie auf
der Warteliste für Organe erst an
Platz 2038. Ihr Vater ist verzweifelt und setzt eine Anzeige in die
Zeitung:
NIERE GESUCHT!
WER IST BEREIT
SEINE NIERE ZU
VERKAUFEN?
GROßZÜGIGE
BEZAHLUNG!!!
Beurteile den Fall aus der Sicht der Pflichtethik Kants!
Ethik (13): J. Bentham – Das utilitaristische Kalkül
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Das Prinzip der Nützlichkeit ist die Grundlage des vorliegenden Werkes; es wird daher
zweckmäßig sein, mit einer ausdrücklichen und bestimmten Erklärung dessen zu beginnen,
was mit ihm gemeint ist. Unter dem Prinzip der Nützlichkeit ist jenes Prinzip zu verstehen, das
schlechthin jede Handlung in dem Maß billigt oder missbilligt, wie ihr die Tendenz
innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interessen in Frage steht, zu vermehren
oder zu vermindern, oder – das gleiche mit anderen Worten gesagt – dieses Glück zu
befördern oder zu verhindern. Ich sagte: schlechthin jede Handlung, also nicht nur jede
Handlung einer Privatperson, sondern auch jede Maßnahme der Regierung.[...]
Man kann also von einer Handlung sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit oder –
der Kürze halber – der Nützlichkeit (das heißt in bezug auf die Gemeinschaft insgesamt),
wenn die ihr innewohnende Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren, größer ist
als irgendeine andere ihr innewohnende Tendenz, es zu vermindern. [...]
Wenn man also die allgemeine Tendenz einer Handlung, durch die die Interessen einer
Gemeinschaft betroffen sind, genau bestimmen will, verfahre man folgendermaßen. Man
beginne mit einer der Personen, deren Interessen am unmittelbarsten durch eine derartige
Handlung betroffen zu sein scheint, und bestimme:
a) den Wert jeder erkennbaren Freude, die von der Handlung in erster Linie
hervorgebracht zu sein scheint
b) den Wert jeden Leids, das von ihr in erster Linie hervorgebracht zu sein scheint
c) den Wert jeder Freude, die von ihr in zweiter Linie hervorgebracht zu sein scheint.
Dies begründet die Folgenträchtigkeit der ersten Freude und die Unreinheit des ersten
Leids
d) den Wert jeden Leids, das von ihr in zweiter Linie anscheinend hervorgebracht wird.
Dies begründet die Folgenträchtigkeit des ersten Leids und die Unreinheit der ersten
Freude.
e) Man addiere die Werte aller Freuden auf der einen und die aller Leiden auf der
anderen Seite. Wenn die Seite der Freude überwiegt, ist die Tendenz der Handlung
im Hinblick auf die Interessen dieser einzelnen Person insgesamt gut, überwiegt die
Seite des Leids, ist ihre Tendenz insgesamt schlecht.
Man bestimme die Anzahl der Personen, deren Interessen anscheinend betroffen sind, und
wiederhole das oben genannte Verfahren im Hinblick auf jede von ihnen. Man addiere die
Zahlen, die den Grad der guten Tendenzen ausdrücken, die die Handlung hat – und zwar in
Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt gut ist; das gleiche tue man in
Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt schlecht ist. Man ziehe die
Bilanz, befindet sich das Übergewicht auf der Seite der Freude, so ergibt sich daraus für die
betroffene Gesamtzahl oder Gemeinschaft von Individuen eine allgemein gute Tendenz der
Handlung; befindet es sich auf der Seite des Leids, ergibt sich daraus für die gleiche
Gemeinschaft eine allgemein schlechte Tendenz.
40
Bentham, Jeremy: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung. Original:
Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. London 1789.
Übersetzt von Annemarie Pieper nach dem Text der kritischen Ausgabe von H. L. A. Hart. London
1970. Zitiert nach: Höffe, O. Hrsg.: Einführung in die utilitaristische Ethik. Tübingen 1992. S. 5557; S. 80-81.
Aufgabe (in PA):
1. Welche Faktoren spielen bei der moralischen Bewertung einer Handlung eine Rolle?
2. Wann kann man eine Handlung als gut bewerten? Formuliere einen passenden Imperativ: Handle so, dass deine
Handlung ...3. Wendet das utilitaristische Kalkül auf den Problemfall der Organversteigerung an!
Ethik (14): Die 4 Prinzipien des Utilitarismus nach O. Höffe
Nach O. Höffe stellt sich die utilitaristische Grundposition als die Kombination von vier Prinzipien
dar. Diese Prinzipienkombination soll die Möglichkeit bieten, Handlungen und Normen auf
empirisch-rationaler Basis moralisch zu beurteilen.
(I) Konsequenzprinzip. Die moralische Beurteilung von Handlungen erfolgt ausschließlich auf
Grund der zu erwartenden Handlungsfolgen, Konsequenzen oder Auswirkungen. Es gibt also keine
Handlungen die in sich, also auf Grund gewisser ihnen immanenter Eigenschaften und unabhängig
von ihren Folgen moralisch richtig oder falsch sind, sondern das moralische Urteil über Handlungen
bezieht sich genau auf das, was die Handlungen bewirkt. Man nennt dieses Prinzip auch
Teleologieprinzip (von gr. telos = Zweck-, Ziel) und unterscheidet teleologische Positionen von
deontologischen (von gr. dei = man soll, man muss)'.
(2) Utilitätsprinzip. Nach welchen Kriterien sind die Handlungsfolgen zu beurteilen? Der Utilitarist
antwortet: Kriterium ist der Nutzen, die Utilität der Handlungskonsequenzen für die
Verwirklichung des in sich Guten.
(3) Hedonismusprinzip. Als empiristische Position kann der Utilitarismus das in sich Gute nur
hedonistisch bestimmen. Es besteht in der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und
Interessen, also in der Lust, der Freude, dem (hedonistisch verstandenen) Glück. Dabei bestimmt
jeder in seinem Lebensplans seine Präferenzen und damit das Profil seines hedonistischen Kalküls
für sich selbst.
(4) Sozialprinzip. Im Anschluss an die Positionen von HUME und SMITH lehnt der Utilitarismus
den egoistischen Hedonismus ab. Im moralischen Kalkül geht es nicht bloß um das Glück des
Handelnden selbst, sondern um das Glück aller von der Handlung Betroffenen, um das
"größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl" (BENTHAM) und letztlich um den sozialen
Nutzen aller Menschen überhaupt. (...) Es geht im Konsequenzenkalkül um die größtmögliche
soziale Nutzensumme bzw. um den größtmöglichen Durchschnittsnutzen.
'
Deontologische Positionen nehmen an, dass Handlungen in sich selbst, also auf Grund ihrer
immanenten Beschaffenheit und unabhängig von ihren Folgen moralisch oder unmoralisch sein können. So etwa
könnte ein Deontologe behaupten, ein Mord oder eine Vergewaltigung seinen auf jeden Fall und in sich
unmoralisch.
aus: A. Anzenbacher: Einführung in die Ethik. 1992, S. 32f.
Aufgabe: Fülle die folgende Tabelle aus:
Frage
Wie werden
Handlungen
beurteilt?
Kriterium
Prinzip
Nutzen
Sozialprinzip
Ethik (15): Der Präferenzutilitarismus von Peter Singer (geb. 1946)
„Das Leben eines Menschen ist nicht mehr wert
als das eines nichtmenschlichen Lebewesens
auf einem ähnlichen Stand der Rationalität, des
Selbstbewusstseins etc., d.h. dass das Leben
eines Neugeborenen (oder eines geistig
Schwerstbehinderten, R.L.) weniger Wert hat als
das eines Schweines, eines Hundes oder eines
Schimpansen.“
P. Singer: Praktische Ethik. 1984, S. 168f.
Ethik (15): Der Präferenzutilitarismus von Peter Singer
SINGER führt in seinen Utilitarismus ein "Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen" ein, das
als Gleichheits- bzw. als Gerechtigkeitsprinzip fungiert:
Das Wesentliche am Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen besteht darin, dass
wir unseren moralischen Überlegungen gleiches Gewicht geben hinsichtlich der
ähnlichen Interessen derer, die von unseren Handlungen betroffen sind. Dies bedeutet:
Wenn X und Y von einer möglichen Handlung betroffen wären und X dabei mehr zu
5
verlieren als Y zu gewinnen hätte, ist es besser, die Handlung nicht zu tun. Akzeptieren
wir das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen, so können wir nicht sagen, es sei
besser, die Handlung zu tun, weil uns, trotz der beschriebenen Fakten, Y mehr angehe
als X. Worauf das Prinzip in Wirklichkeit hinausläuft, ist folgendes: Interesse ist
Interesse, wessen Interesse es auch immer sein mag. (...) Diese andere Version des
10
Utilitarismus beurteilt Handlungen nicht nach ihrer Tendenz zur Maximierung von Lust
und Minimierung von Leid, sondern nach dem Grad, in dem sie mit den Präferenzen der
von der Handlung oder ihren Konsequenzen betroffenen Wesen übereinstimmt. (...)
Nach dem Präferenzutilitarismus ist eine Handlung, die der Präferenz irgendeines
Wesens entgegensteht, ohne dass diese Präferenz durch entgegen gesetzte Präferenzen
15
ausgeglichen wird, falsch.
aus: P. Singer: Praktische Ethik. 1984, S. 32f, 112
Frage: Welches der vier Prinzipien des Utilitarismus (nach HÖFFE) modifiziert SINGER?
Ethik (16): Singers aktualistischer Personbegriff
Menschliches Leben
Hier ist die Frage angebracht, was wir mit Begriffen wie "menschliches Leben" und
"menschliches Wesen" meinen. (…) Der Ausdruck "menschliches Wesen" kann eine
genaue Bedeutung haben und zum Beispiel als Äquivalent zu "Mitglied der Spezies
5
Homo sapiens" verwendet werden. (…) Eine andere Verwendung des Begriffs
"menschlich" wurde von Joseph Fletcher vorgeschlagen, einem protestantischen
Theologen, der viel über moralische Probleme publiziert hat. Fletcher hat eine Liste
mit
"Indikatoren
des
Menschseins"
aufgestellt,
die
folgendes
umfaßt:
Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die
10
Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern,
Kommunikation und Neugier. (...) Für die erste, biologische Bedeutung, werde ich
den schwerfälligen, aber präzisen Begriff "Mitglied der Gattung Homo sapiens"
verwenden, für die zweite Bedeutung den Begriff "Person". (... ) John Locke definiert
eine Person als "ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft und Reflexion
15
besitzt und sich als sich selbst denken kann, als das selbe denkende Seiende in
verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten".
Nach der durch unser terminologisches Zwischenspiel erfolgten Klärung und der
akzeptierten Erörterung des vorhergehenden Kapitels können wir uns in diesem
Abschnitt sehr kuurz fassen. Daß es falsch ist, einem Wesen Schmerz zuzufiigen,
20
kann nicht von seiner Gattungszugehörigkeit abhängen, ebensowenig, daß es falsch
ist, es zu töten. Die biologischen Fakten, an die unsere Gattung gebunden ist, haben
keine moralische Bedeutung. Einem Leben bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil
das Lebewesen unserer Gattung angehört; würde uns in dieselbe Position bringen wie
die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören. {...) Für
25
Präferenz-Utilitaristen ist das Töten einer Person in der Regel schlimmer als das
Töten eines anderen Wesens, weil ein Wesen, das sich nicht als eine Wesenheit mit
einer Zukunft sehen kann, keine Präferenz hinsichtlich seiner eigenen zukünftigen
Existenz haben kann.
Bewusstes Leben
30
Es gibt viele Wesen, die bewußt und fähig sind, Lust und Schmerz zu erfahren, aber
nicht selbstbewußt und vernunftbegabt und somit keine Personen sind. Viele
nichtmenschliche Lebewesen gehören nahezu mit Sicherheit zu dieser Kategorie; das
gilt auch für Neugeborene und einige Geisteskranke. (…) Der offensichtlichste
Grund dafür das Leben eines Wesens, das Lust und Schmerz empfinden kann, als
35
einen Wert zu achten, ist die Lust, die es empfinden kann. Achten wir unsere eigenen
Lustgefühle als einen Wert - beim Essen, beim Sex, beim schnellen Laufen oder beim
Schwimmen an einem heißen Tag - , dann verlangt der universale Aspekt des
moralischen Urteils von uns, die positive Bewertung unserer eigenen Empfindungen
von Lust auf ähnliche Empfindungen all derer auszudehnen, die solche haben
40
können. (...) Je höher entwickelt das bewußte Leben eines Wesens, je größer der Grad
von Selbstbewusstsein und Rationalität, umso mehr würde man dieses Lebewesen
vorziehen, wenn man zwischen ihm und einem Wesen auf einer niedrigeren
Bewusstseinsstufe zu wählen hätte.
Nicht-bewußtes Leben
45
Die Ansicht, dass alles Leben an sich einen Wert habe, wird zumeist mit dem Namen
Albert Schweitzer in Verbindung gebracht. (...) Die Vorstellung einer Werthierarchie
läßt die Möglichkeit offen, dass jedes Unkraut, dessen Leben ich beim Jäten meines
Gemüsegartens zerstöre, einen gewissen Wert hat, einen Wert allerdings, über den
sich meine Bedürfnisse hinwegsetzen; aber hat das Leben eines Unkrauts überhaupt
50
einen Wert an sich? Angenommen, wir wenden den Test mit dem imaginären Leben
auf das Leben des Unkrauts an, das ich in meinem Garten jäten will. Ich muß mir
darin einbilden, ein Leben zu leben, das überhaupt keine bewußten Erlebnisse hat.
Ein solches Leben ist völlig leer; ich würde es nicht im mindesten bedauern, diese
subjektiv unfruchtbare Form von Existenz zu vernichten. Dieser Test legt daher den
55
Gedanken nahe, dass das Leben eines Wesens, das keine bewußten Erlebnisse hat,
über keinen Wert an sich verfügt.
Aus: P. Singer: Praktische Ethik. 1984, S. 101-128
Aufgabe: Fülle die Lücken in der folgenden Tabelle!
Ethik (16): AB zum Personbegriff Singers
Wesen
Kriterien/Indizien
Wert
Moralische
Verpflichtung
Ethik (17): Singer konkret - Spätabtreibungen
Im Dezember 1997 berichtete FOCUS über einen kleinen Jungen, der seine eigene Abtreibung überlebt hatte. Die
Mutter, die zu diesem Zeitpunkt bereits in der 25. Schwangerschaftswoche war, hatte die Abtreibung in Oldenburg
vornehmen lassen, weil der Junge einen genetischen Defekt (Down-Syndrom) hatte. Laut FOCUS sei das Kind, das
lebend zur Welt kam, 10 Stunden lang unversorgt "liegengelassen" worden. Erst als der Junge partout nicht sterben
wollte, hätten die Ärzte der Städtischen Kliniken Oldenburg eine intensive medizinische Versorgung eingeleitet.
Richtig bekannt wurde der Fall allerdings erst, nachdem die Eltern des Jungen die Städtischen Kliniken verklagten. Ihr
Vorwurf: Sie seien nicht über das "Risiko" aufgeklärt worden, dass ihr Kind überleben könnte. Auch der
Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe, CDU erstattete Strafanzeige. Tim, so heißt das "Oldenburger Baby", lebt seit
März 1998 in einer Pflegefamilie im Landkreis Cloppenburg. Seit seiner Abtreibung wurde er Presseberichten zufolge,
mindestens siebenmal operiert. Tim ist kein Einzelfall:
Laut
Dr.
Christian
Albring
(Fortbildungsleiter
zum
Schwangerschaftsabbruch der Ärztekammer Niedersachsen)
kommen 30% aller spätabgetriebenen Kinder lebend zur Welt.
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und
Geburtshilfe, Prof. Dr. Dietrich Berg, spricht von 100 Kindern
jährlich (!), die eine Abtreibung überleben.
In den
RUHRNACHRICHTEN berichtet Horst-Eberhard Hütt von zwei
weiteren Kindern, die ihre Abtreibung überlebt haben. Der eine
"Fall" hat sich Köln-Holweide, der andere in Hannover ereignet.
Der rechtliche Hintergrund:
Mit der letzten Neuregelung des § 218, am 29. Juni 1995, wurde die
"embryophatische" Indikation abgeschafft. Diese Indikation stellte eine
Abtreibung aus eugenischen Gründen, das heißt wegen einer vermuteten
Behinderung des Kindes, bis zur 22. Woche p.c. straffrei. Damit sollte, so die
offizielle Wortregelung, der Forderung von Behindertenverbänden und Kirchen
nachgekommen werden, behinderte Menschen nicht zu diskriminieren. In
Wirklichkeit ist die embryophatische Indikation in der erweiterten medizinischen Indikation "aufgegangen." Schon in
der Debatte vor der Novellierung des neuen Gesetzes stellte Heinz Lanfermann (FDP) fest: "Jede Spekulation, daß sich
in der Praxis für die betroffenen Frauen, für die betroffenen Eltern etwas ändern würde, scheint meiner Ansicht nach
falsch zu sein." Dem stimmte CDU Verhandlungsführer Reinhard Göhner mit dem Zwischenruf "Richtig!" zu.
(Plenarprotokoll 13/47 S. 3761 D)
Die "erweiterte" medizinische Indikation: In der neuen Fassung des § 218 a Absatz 2 StGB heißt
es jetzt: „Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene
Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter
Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach
ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer
schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der
Schwangeren abzuwenden und die Gefahr nicht auf andere, für sie zumutbare Weise abgewendet
werden kann." Was hat sich geändert?
•
Die Beratungspflicht, die sonst bei Abtreibungen gilt, fällt weg.
•
Gleiches gilt für den zeitlichen Abstand zwischen Beratung und Abtreibung (sonst 3
Tage).
•
Es gibt keine zeitliche Befristung für den Abbruch mehr: Eine Abtreibung kann bis zur
Geburt durchgeführt werden.
Ethik 19: Schwachpunkte der Ethik Singers
1. Das Potentialitätsargument
5
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15
a) Gegen das Argument, das ich im vorhergehenden Abschnitt angeboten habe, ließe sich
einwenden, dass es nur die tatsächlichen Eigenschaften des Fötus berücksichtige, nicht
jedoch seine potentiellen. Manche Gegner der Abtreibung werden zugeben, dass der Fötus
im Vergleich mit vielen Tieren hinsichtlich seiner vorhandenen Eigenschaften schlecht
abschneidet; seine Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens wird dann wichtig, wenn wir
ihn als potentielles reifes menschliches Wesen betrachten, und dann freilich übertriff der
Fötus jedes Huhn, Schwein oder Kalb bei weitem.
Es trifft natürlich zu, dass die potentielle Rationalität, das potentielle Selbstbewusstsein usw.
eines fötalen Homo sapiens weit über das hinausgeht, was eine Kuh oder ein Schwein
aufzuweisen haben; aber daraus folgt nicht, dass der Fötus einen größeren Anspruch auf
Leben hat. Im allgemeinen hat ein potentielles X nicht auch sämtliche Rechte von X. Prinz
Charles ist der potentielle König von England, aber er hat nicht die Rechte eines Königs.
Weshalb sollte eine potentielle Person die Rechte einer Person haben? (165)
b) Zugegeben, das ist alles spekulativ. Es ist offensichtlich schwierig festzustellen, wann ein
anderes Wesen selbstbewusst ist. Aber gesetzt, es ist falsch, eine Person zu töten, wenn wir
es vermeiden können, und es besteht ein echter Zweifel, ob ein Wesen; das man zu töten
gedenkt, eine Person ist, so sollten wir den Zweifel zugunsten dieses Lebewesens sprechen
lassen. Es gilt hier dieselbe Regel wie unter Jägern, welche besagt: Wenn man im Gebüsch
etwas sich bewegen sieht und nicht sicher ist, ob es ein Stück Wild oder ein Jäger ist, soll
man nicht schießen! Aus diesen Gründen muss das Töten von nichtmenschlichen Wesen zu
einem großen Teil verurteilt werden. (136)
a), b) aus: P. Singer: Praktische Ethik. 1984
Aufgabe: a) Versuche durch Vervollständigung des Schemas Singers Argumentation in a) zu
entkräften!
Person ----------------------------------- König v. England
----------------------------------- Prinz Charles
mehr Rechte
weniger Rechte
---------------------------------- Bürger v. England
b) Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem in b) von Singer genannten Prinzip „in dubio pro
reo“?
2. Die Schläfer-Aporie
a) Erläutere, warum ein schlafender, erwachsener Mensch keine Person im Singerschen Sinne
ist!
b) Wie kann nun Singer den schlafenden, erwachsenen Mensch personalisieren (2
Möglichkeiten)?
3. Das „Argument der schiefen Bahn“
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Die schiefe Bahn: von der Euthanasie zum Völkermord?
Bevor wir dieses Thema verlassen, müssen wir einen Einwand in Erwägung ziehen, der m der
Anti-Euthanasie-Literatur so gewichtig ist, dass er einen Abschnitt für sich beanspruchen darf.
(...) Wäre die Euthanasie der erste Schritt, der uns auf eine schiefe Bahn bringt. Die Erfahrung
des Nazismus wird oft als Illustration dessen verwendet, was aus der Freigabe der Euthanasie
folgen könnte. (...) Erörtert man die Lehren, die aus dem Nazismus zu ziehen sind, ist es vor
allem wichtig, einen offensichtlichen Trugschluss zu vermeiden. Die Nazis haben
fürchterliche Verbrechen begangen; aber das bedeutet nicht, dass alles, was die Nazis taten,
fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie
durchgeführt haben, ebenso wenig wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund
verdammen können. (...) Vielleicht könnte jemand, der sieht, dass gewisse Arten von
menschlichen Wesen unter bestimmten Umständen getötet werden, zu der Schlussfolgerung
gelangen, dass es nicht falsch ist, andere zu töten, die von der ersten Art nicht sehr
verschieden sind. Wird so die Grenze für akzeptables Töten allmählich zurück verschoben?
(...)
Wenn Akte der Euthanasie nur von einem Mitglied der ärztlichen Zunft und unter Mitwirkung
eines zweiten Arztes durchgeführt werden dürften, ist es unwahrscheinlich, dass sich die
Neigung zum Töten in der Allgemeinheit unkontrolliert verbreiten würde. (...) Es gibt
jedenfalls kaum historische Anhaltspunkte dafür, dass eine Einstellung, die das Töten einer
Kategorie menschlicher Wesen erlaubt, zu einem Zusammenbruch der Beschränkungen gegen
das Töten anderer Menschen führt.
Aus: P.Singer: Praktische Ethik. 1984, S. 209-213
Aufgabe: Erläutere, wie Singer das Problem der „schiefen Bahn“ in den Griff bekommen will
und bewerte die Singersche Einschätzung!
Ethik (20): Skizze eines alternativen Personbegriffs
l. Theologisch: Ps 139,15f; Gen 1,27
2. Philosophisch-naturrechtlich:
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Im Begriff der "Person" sind drei Gesichtspunkte wesentlich:
1. Der erste Gesichtspunkt ist der der Subjektivität, des logos, der in der Tradition als
Geist oder Vernunft oder als selbstbewußtes Ich angesprochen wurde. (...)
2. Der zweite ist der der lebendigen Substanz, also des menschlichen bios, sofern
Menschen wesentlich Animalien sind. Im physisch-organischen Lebensprozeß erstrebt die
lebendige Substanz als Lebewesen in artspezifischer Weise ihren Naturzweck. ( ...)
3. Der dritte und für unser Thema entscheidende Gesichtspunkt betrifft das Verhältnis von
Logos und Bios von Personprinzip und Naturprinzip, von Subjekt und Substanz, sofern
eben menschliche Personen wesentlich beides sind: Vernunftwesen und Naturwesen. Die
Verschränkung beider bringt es mit sich, daß (wie die philosophische Anthropologie zu
zeigen suchte) der Mensch schon biologisch kein Tier ist bzw. (nach einem Wort Herders)
schon als Tier Sprache hat. (...)
Für die Bestimmung des Verhältnisses von Logos und Bias sind primär zwei Dinge zu
beachten:
a) Einerseits ist der Logas als vernünftig-freie Subjektivität nur wirklich, sofern er
leibhaftig da ist. Der artspezifisch-substantiale Bios ist die notwendige Bedingung für die
Wirklichkeit des menschlichen Geistes. Anders formuliert: Menschlicher Logos ist
wesentlich im menschlichen Bios inkarnierter Logos.
b) Andererseits gilt aber auch das Umgekehrte: Der menschliche Bios ist nur wirklich
vom Logos her und auf ihn hin. Das artspezifisch bestimmte, animalische Naturwesen
Mensch wäre als Spezies überhaupt nicht lebensfähig ohne diesen ihn beseeelenden
Logos. Die Evolution hätte dieses völlig unspezialisierte Mängelwesen Mensch niemals
hervorbringen können, wenn sie nicht zugleich diese Iogosartige; vernünftig-freie, kulturund technikfähige Bestimmung hervorgebracht hätte, durch die diese biologische
Mängelbewandtnis die Bedeutung menschlicher Weltoffenheit (M. Scheler) gewinnt.
In diesem Sinne gibt es den Logos nicht ohne den Bios und den Bios nicht ohne den
Logos. Personprinzip und Naturprinzip bedingen sich gegenseitig. Der Begriff des
Menschen besagt diese wesentliche Einheit von Bios und Logos, etwa im Sinne der
Aussage, die menschliche Natürlichkeit sei immer zugleich künstlich. Aus dieser
Einheitsbewandtnis aber scheint zu folgen, dass die leibhaftige Präsenz des menschlichen
Bios immer und wesentlich den menschlichen Logos und damit Personalität verkörpert,
ganz unabhängig davon, wie es sich mit den faktisch-aktuellen Vollzugsmöglichkeiten
dieses Logos verhalten mag, etwa inwieweit aktuell Präferenzen, Interessen oder Wünsche
erlebt werden können.
aus: A. Anzenbacher: Kritische Auseinandersetzung mit dem Personbegriff von Peter
Singer. Unveröffentlichtes Manuskript eines Studientages des Erbacher Hofes. Mainz
1994
Ethik 21: Das Gewissen bei Thomas v. Aquin
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THOMAS definiert conscientia ausgehend von der Etymologie des Wortes (lat. Con-scire =
mit-wissen, zugleich wissen, davon conscientia = Mitwissen, Bewußtsein) als Applikation
(Anwendung) eines Wissens aufeinen bestimmten Akt (applicatio scientiae ad aliquem
actum particularem).
Für die Präzisierung des Gewissensbegriffs ist es entscheidend, wie THOMAS dieses Wissen
bestimmt, diese scientia in der conscientia. Welches Wissen wird in der moralischen
Applikation des Gewissens auf den Akt appliziert? Nach THOMAS umfaßt dieses Wissen
drei Ebenen, die er mit den Namen synderesis, sapientia und scientia (im engeren Sinn)
bezeichnet.
(1) Synderesis (16,1). Sie ist das Wissen um die allgemeinsten moralisch praktischen
Prinzipien. Dieses Wissen kommt der praktischen Vernunft (ratio practica) natürlicherweise
zu, hat also (ähnlich wie das Sittengesetz bei KANT) apriorischen Charakter. THOMAS
spricht von einem natürlichen Habitus1. Insofern ist die Synderesis allgemeinmenschlich,
unveränderlich und unverlierbar. In seiner Applikation auf Akte fungiert dieses Wissen
wesentlich normativ: Es gebietet das Gute bzw. drängt dazu (inclinare ad bonum) und
verbietet das Böse bzw. "murrt" dagegen (remurmurare malo).
Welches diese allgemeinsten moralisch-praktischen Prinzipien sind, deren natürlicher
Habitus die Synderesis ist, listet THOMAS nicht auf. Offenbar denkt er dabei an zwei Dinge:
einerseits an das allgemeine moralische Wissen, daß das Gute Pflicht und das Böse verboten
ist, und andererseits an gewisse allgemeinste Gebote (z.B. "Nicht morden!", "Nicht lügen!",
„Mitmenschen in Not helfen!“)
(2) sapientia (= lat. Weisheit). Sie ist der erworbene Habitus jenes menschlichen Wissens ,
das sich auf die höchsten und letzten Gründe des Wirklichen bezieht. In diesem Kontext
meint THOMAS offenbar das, was wir heute die weltanschauliche Grundeinstellung eines
Menschen nennen können, die Einstellung also, die seine pratkisch-relevanten
Grundüberzeugungen und Grundwerteoptionen betrifft. Es geht also im Fall der sapientia
darum, wie ein Mensch Stellung bezieht zu den zentralen Fragen der Existenzerhellung, der
Weltorientierung und der Transzendenzproblematik. Hierher gehören vor allem die
religiösen und philosophischen Überzeugungen des Menschen.
(3) scientia (= lat. Wissen, Wissenschaft). Gemeint ist hier der erworbene Habitus
jenes empirischen Wissens, jener Kenntnis von Tatsachen, auf Grund dessen ein Mensch
befähigt ist, Praxisfelder, Handlungszusammenhänge und Situationen (mehr oder weniger
differenziert) zu kennen und zu beurteilen.
THOMAS verwendet hier scientia im engeren Sinne als eine der drei Ebenen, in welche sich
die scientia in der conscientia ausdifferenziert. In diesem engeren Sinne meint scientia
keineswegs notwendig wissenschaftliches Wissen, sondern einfach das je-gegebene
Tatsachenwissen, den faktischen Kenntnisstand, der einem Menschen zur Verfügung steht,
wenn er sich in einer konkreten Situation überlegt, was er tun bzw. wie er sich entscheiden
solle.
Das Gewissen appliziert also das apriorische sittliche Bewußtsein, d.h. den natürlichen
Habitus der Synderesis, differenziert durch die gegebenen weltanschaulichen Überzeugungen
Habitus meint eine zuständliche Eigenschaft im Sinne einer dauerhaften Fähigkeit oder
Disposition auf Tätigsein hin. So etwa hat der Violinist den Habitus desGeigenspietens. Ein Habitus
kann natürlich sein und kommt dann dem, der ihn besitzt, immer und wesentlich ("angeboren") zu.
Er kann aber auch erworben sein und hat dann den Charakter einer bestimmten (erlernten)
Fertigkeit. Bei THOMAS hat die synderesis den Charakter eines natürlichen, die Tugend aber den
eines erworbenen Habitus.
1
(sapientia) und konkretisiert durch die vorhandenen empirischen Kenntnisse (scientia) auf
die bestimmte Handlung (actus) in einer gebenen Situation.
aus: A. Anzenbacher: Einführung in die Ethik. 1992, S. 83f.
Aufgaben:
a) Fülle die folgende Tabelle aus:
Ebene des Gewissens
Bedeutung
Art des Habitus
b) Erläutere an einem selbstgewählten Beispiel einer Gewissensentscheidung die drei Ebenen des
Gewissens nach Thomas v. Aquin!
Ethik (20): Gewissen (4) - die Autonomie des Gewissens (Th.v. Aquin)
Fünfter Artikel: Ist der von der irrigen Vernunft abweichende Wille bös?
Abhandlung: Scheinbar ist der von der irrigen Vernunft abweichende Wille nicht bös. Die
Vernunft ist nämlich die Richtschnur des menschlichen Willens, insoweit sie vom ewigen
Gesetz herfließt, wie gesagt worden ist. Nun aber leitet sich die irrige Vernunft nicht vom
5
ewigen Gesetze ab. Also ist die irrige Vernunft nicht die Richtschnur des menschlichen
Willens. Es ist also nicht der Wille bös, wenn er von der irrigen Vernunft abweicht.
Ich antworte: Da das Gewissen in gewisser Weise der Befehl der Vernunft ist, so kommt es
aufs nämliche hinaus zu fragen, ob der von der irrigen Vernunft abweichende Wille bös ist,
und zu fragen, ob das irrige Gewissen verpflichte. (...) Falls Vernunft oder Gewissen einem
10
Menschen sagt, er sei gehalten, was schlecht sich selber nach ist, laut einem Gebot zu tun,
oder, was sich selber nach gut ist, sei verboten, so sei die Vernunft oder das Gewissen irrig.
So kann auch das, was gut ist, das Berede von Bös, und was bös ist, das Berede von Gut
annehmen, wegen der Auffassung der Vernunft. Der Unzucht sich enthalten, ist z.B. ein
gewisses Gut: dennoch wird der Wille nur demnach in dies Gut hingetragen, als die Vernunft
15
es vorlegt.Wird es also als bös von einer irrigen Vernunft vorgelegt, so wird der Wille unter
dem berede von Bös hineingetragen: deswegen wird der Wille bös sein, weil er das Böse
will; freilich nicht das, was an sich bös ist, sondern was beischaftlicherweise bös ist, wegen
der Auffassung der Vernunft. Deshalb sagt der Philosoph (gemeint ist hier Aristoteles, R.L.)
7.Ethic. (9n): "Spricht man im "An-sich", so ist unenthaltsam, wer nicht der richtigen
20
Vernunft folgt: "in der Beischaft" aber, wer nicht auch der falschen Vernunft folgt ."
Deswegen ist schlechthin zu sagen: jeder von der Vernunft abweichende Wille, sei es der
richtigen, sei es der irrigen, ist immer bös.
aus: Thomas von Aquin: STh I.II. 19,5
Ethik (23): Das Gewissen aus kirchlicher Sicht
Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst
gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und
zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den
5
Ohren des Herzens tönt: Tu dieses, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das
von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist
und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte
und das Heiligtum des Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem
10
seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes
Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat. Durch die
Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im
Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen
moralischen Probleme, die im Leben der einzelnen wie im gesellschaftlichen
15
Zusammenleben entstehen. Je mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto
mehr lassen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen sich
nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten. Nicht selten jedoch geschieht
es, dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch
seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zu wenig
darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch
Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird.
aus: 2. Vatikanisches Konzil (1962-65): GS 16
Aufgaben (in Partnerarbeit):
1) Markiere wichtige Begriffe (höchstens 12) im Text!
2) Fülle mit Hilfe dieser Begriffe die Lücken im folgenden Schaubild!
AB zu Ethik (23): Das Gewissen aus kirchl. Sicht
Stimme
Gewissen =
Richtet sich
nach
beinhaltet
Soll sich durchsetzen
Rechte
Gewissen
Mensch verliert seine
Würde
Mensch verliert nicht seine
Würde
Ethik (24): Theologische Ethik und autonome Moral (A. Auer)
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3
Im Alten Testament enthält der Dekalog – es geht hier nur um den weltethischen Gehalt,
also um die Gebote der „Zweiten Tafel“ – nicht ein dem Bundesvolk spezifisches Ethos,
vielmehr steht die „Zweite Tafel“ ausgesprochen autonom entwickeltes Ethos dar. Dieses
reicht in seinen Ursprüngen in vorisraelitische sittliche und rechtliche Traditionen
zurück., in uraltes weltlich entstandenes Sippenethos. Schon in diesen Anfängen hat sich
die Rationalität der Wirklichkeit auf legitime Weise artikuliert, ebenso in den späteren
Weiterbildungen und im allmählichen Zusammenwachsen ursprünglich zerstreuter
Traditionen in der israelitischen Frühzeit. Die Gebote der „Zweiten Tafel“ wurden also
nicht vom Bundesvolk selbst aufgrund seines Heilsglaubens schöpferisch hervorgebracht
und auch nicht unmittelbar von Gott geoffenbart. Vielmehr hat das Bundesvolk diese
Gebote in seiner Geschichte vorgefunden und dann in den Bundesgedanken integriert:
Durch die Erfüllung dessen, was sich in einer langen geschichtlichen Tradition als
unabdingbare Voraussetzung einer geordneten und fruchtbaren Existenz erwiesen hatte,
sollte das Volk seine Treue zum Bundesgott bekunden. (...)
Aus dem Neuen Testament schienen lange Zeit wenigstens die hochethischen
Forderungen spezifisch jesuanisch und damit spezifisch christlich zu sein: die positive
Formulierung der „Goldenen Regel“, die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe im
einen Hauptgebot und die Feindesliebe, um nur die wichtigsten zu nennen. Inzwischen
wissen wir, dass alle diese Forderungen sich im einzelnen bis mindestens auf das 8.
Jahrhundert v.Chr. zurück aufweisen lassen, teilweise bei jüdischen, teilweise bei
heidnischen Schriftstellern. Jesus greift also auf die ethischen Einsichten früherer Zeiten
zurück. Freilich hat er diese Einsichten durch die Radikalität der Theozentrik, der
Konzentration, der Intensität, der Verinnerlichung und der Universalität weit hinter sich
gelassen. Doch ist das Proprium2 seiner Botschaft eben nicht in der Aufstellung neuer
sittlicher Weisungen, sondern im Aufweis eines neuen Sinnhorizontes zu sehen: „Gottes
Herrschaft“, „Heil“, „Gemeinschaft mit dem Vater“. Aus dem neuen Sinnhorizont ergibt
sich dann auch eine neue Motivation: Christliches Ethos ist Ethos der Nachfolge, ist
Aufbruch zu dem Reich, das in Jesus angebrochen ist.
- Auch Paulus hat, wo er um weltethische Weisungen angegangen wurde. Recht
unbefangen das Angebot vor allem der gängigen popularphilosophischen Ethik
aufgegriffen. (...)
Nach allem, was gesagt wurde, kann es nicht Aufgabe von Kirchen und Theologien sein,
aus dem christlichen Glaubenswissen heraus eine spezifisch christliche materiale3
Weltethik zu entwerfen. Kirchen und Theologien sind Repräsentanten der Transzendenz.
Die Entwicklung ethischer Konzeptionen und einzelner ethischer Weisungen fällt in die
originäre Kompetenz der menschlichen Vernunft. Kirchen und Theologien haben
vernünftige, pragmatisch hinlänglich bewährte und auch weiterhin als praktikabel
erscheinende sittliche Vorstellungen zu akzeptieren, in den christlichen Sinnhorizont
hinein zu integrieren und die christlichen Motivationen in jeweils angemessener Weise zu
interpretieren und zu urgieren. (...)
Es hat sich noch nicht klar herausgestellt, von welchen Instanzen heute sittliche Bildung
verantwortlich durchgeführt werden kann. Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir
seit längerer Zeit in einen Verstehenshorizont hineingewachsen sind, in dem die
Authentizität kirchlich-theologischer Kompetenz im Sinne des bisherigen Verständnisses
nicht mehr zu erweisen ist. Doch bleiben Kirchen und Theologien gegenüber autonom
entwickelten Ethiken drei unverzichtbare und unvertretbare authentische Funktionen.
Proprium: das Eigentliche
materiale: auf konkrete Inhalte bezogen
Die integrierende Funktion: Kirchen und Theologien müssen den transzendenten
Sinnhorizont der Welt und ihrer Geschichte in Erinnerung halten und die Integrierung
autonomer Sittlichkeit in diesen Sinnhorizont unentwegt zu vermitteln suchen. (...)
50 Die stimulierende Funktion: Kirchen und Theologien müssen den dynamisierenden
Effekt der Botschaft Jesu in die Entwicklung des sittlichen Bewusstseins einbringen. Die
christlichen Grundvorstellungen von der Würde und der Gleichheit aller Menschen vor
Gott haben in der Geschichte der Sklavenfrage, der Aufwertung der Frau, der politischen,
sozialen und wirtschaftlichen Partnerschaft und der menschlichen Grundrechte im
55 allgemeinen ihre vorwärtsdrängende Kraft bewiesen. (...)
Die kritisierende Funktion: Kirchen und Theologien müssen autonome ethische Entwürfe
mit dem Wort Gottes konfrontieren. Auch nach einer angemessenen Entmythologisierung
sind die Aussagen der Offenbarung über Sinn und Ziel menschlichen Lebens deutlich
genug, um als kritischer Maßstab an rein innerweltlich entwickelte ethische
60 Konzeptionen angelegt zu werden.
Aus: A. Auer: Moralerziehung im Religionsunterricht. 1975, S. 50ff.
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