Die Neurowissenschaft von Lernen und Gedächtnis 2 2.1 Ein Schnellrundgang durch das Gehirn Gehirn und Nervensystem Die Erforschung von Gehirn und Verhalten 2.2 Vom Gehirn zum Verhalten Leitungsbahnen im zentralen Nervensystem Beobachtung von Hirnsystemen in Aktion 2.3 Lernen und synaptische Plastizität Das Neuron Messung und Manipulation neuronaler Aktivität Synaptische Plastizität Fazit Gluck.indd 45 29.07.2010 10:33:08 2 46 Die Neurowissenschaft von Lernen und Gedächtnis Stellen Sie sich vor, Sie sind Arzt und haben Nachtschicht in der Notaufnahme. Die meisten Patienten werden mit Knochenbrüchen oder schlimmen Erkältungen eingeliefert, doch eine junge Frau wird in Begleitung ihrer aufgeregten Mutter bewusstlos hereingebracht. Die Krankenschwester nimmt die Anamnese auf und erfährt, dass die junge Frau, Jennifer, eine Kohlenmonoxidvergiftung (CO) erlitt, die von einem fehlerhaft arbeitenden Gasheizofen herrührt. Jennifers Mutter fand sie bewusstlos, konnte sie nicht aufwecken und rief den Notruf an. Jennifer wurde vom herbeigerufenen Notarzt sofort mit Sauerstoff versorgt. In dieser Situation geben Sie die Anweisung, Jennifer unverzüglich auf die Intensivstation des Krankenhauses zu verlegen. Der nächste Patient ist Sean, ein 65 Jahre alter Mann, der den ganzen Nachmittag über an schrecklichen Kopfschmerzen litt und später an Taubheitsgefühlen in Armen und Beinen. Seine Frau ging davon aus, dass er einen Herzinfarkt hatte und brachte ihn ins Krankenhaus. Sean hatte jedoch keinen Herzinfarkt, sondern einen Schlaganfall – dabei ist die Blutversorgung von Teilen des Gehirns unterbrochen. Als diensthabender Notarzt ordnen Sie bei ihm sofort eine MRT (Magnetresonanztomographie) an, um Ort, Art und Ausmaß der Schädigung bestimmen zu können und zu entscheiden, ob der Patient zur medikamentösen Behandlung auf die Spezialstation für Schlaganfallpatienten oder aber zur neurochirurgischen Versorgung einer Hirnblutung verlegt werden muss. Jennifer und Sean überleben die Nacht, doch die Folgen ihrer Hirnschädigungen sind noch nicht absehbar. Am nächsten Tag ist Jennifer benommen und verwirrt, sie spricht unzusammenhängend und versteht nichts vom dem, was man ihr sagt. Sean hingegen ist wach und kann eine vernünftige Unterhaltung führen, aber seine Bewegungen sind unkoordiniert und er kann ohne Hilfe nicht laufen, da er sein Gleichgewicht nicht halten kann. Beide Patienten sind froh, am Leben zu sein, haben jedoch Schädigungen des Gehirns davongetragen. Aufgrund der unterschiedlichen Symptome der beiden Fälle kann man davon ausgehen, dass unterschiedliche Hirngebiete betroffen sind. Bei Jennifers Schädigung handelt es sich wahrscheinlich um Hirngebiete, in denen die für Sprachproduktion und Sprachverstehen nötige Information gespeichert ist; in Seans Fall sind es wahrscheinlich motorische Hirngebiete, die für die Speicherung bzw. den Abruf koordinierter Bewegungsabläufe zuständig sind. Die Hirnforschung zeigt uns, welche Funktionen unterschiedliche Hirnregionen haben und was für Gluck.indd 46 Jennifer und Sean getan werden kann. Obwohl wir noch unermesslich viel zu erforschen haben, um die Funktionsweise des Gehirns wirklich zu verstehen, so wissen wir heute mehr als jemals zuvor über Aufbau und Funktion des Gehirns und den Einfluss von Lernvorgängen, durch die sich das Gehirn verändert. Mit neuen Beobachtungsmethoden kann man gesunden menschlichen Gehirnen dabei zusehen, wie neue Gedächtnisinhalte gebildet und abgerufen werden. Und mit neuen Methoden der tierexperimentellen Forschung lassen sich die Veränderungen im Gehirn während des Lernens messen und manipulieren. 2.1 Ein Schnellrundgang durch das Gehirn Wenn die alten Ägypter einen Körper mumifizierten, so entfernten sie zuerst die in ihren Augen wichtigsten Organe und konservierten diese anschließend in speziellen luftdichten Gefäßen. Vom Herzen, das sie als das wichtigste Organ betrachteten, nahmen sie an, dass es das Wesen einer Person ausmache. Das Gehirn warfen sie weg, da es für sie nur geringe Bedeutung hatte. (Paradoxerweise stammen die ältesten bekannten Berichte über die Auswirkungen von Hirnschäden auf das Verhalten von ägyptischen Ärzten). Viele Jahrhunderte später vermutete Aristoteles, einer der am stärksten an der Empirie orientierten Philosophen in der Geschichte, dass das Gehirn vor allem zur Kühlung des Blutes diene. Bis heute hält die Debatte darüber an, was das Wesen einer Person ausmacht. In den Neurowissenschaften – der Wissenschaft von Gehirn und Nervensystem – geht die große Mehrheit der Forscher davon aus, dass das Gehirn der Sitz des Lernens und des Gedächtnisses ist. Es gibt bisher keine einzige Untersuchung, die diese Hypothese endgültig bestätigt, aber viele Beobachtungen im Verlauf mehrerer Jahrhunderte haben die Wissenschaftler überzeugt: Die Hirnaktivität steuert nicht nur das Verhalten, sondern auch die Veränderungen des Verhaltens im Zusammenhang mit Lernen und Gedächtnis. Man könnte meinen, dass sich die Lern- und Gedächtnisforschung hauptsächlich mit Fragen zur Untersuchung der Hirnfunktionen in Zusammenhang mit diesen Prozessen befasse. Doch wie Sie im ersten Kapitel gelesen haben, konzentrierten sich die meisten Bemühungen der frühen Lern- und Gedächtnisforschung eher auf Verhalten als auf Hirnfunktionen. Dies lag jedoch nicht daran, dass man sich in der Lern- und Gedächtnisforschung der Rolle des Gehirns nicht bewusst 29.07.2010 10:33:08 2.1 Ein Schnellrundgang durch das Gehirn war. Ziel der Pawlow’schen Verhaltensexperimente war ein besseres Verständnis der Funktionsweise des Gehirns. Die ersten Untersuchungen von John Watson, dem Begründer des Behaviorismus, waren Studien zu Zusammenhängen zwischen Entwicklungsveränderungen neuronaler Strukturen und Entwicklungsveränderungen von Lernfähigkeiten. B. F. Skinner, von manchen als „Schutzpatron“ der Lernforschung betrachtet, begann seine Karriere als Physiologe. Warum also setzten diese Forscher ihren Schwerpunkt auf das Verhalten und nicht auf die Hirnfunktionen? Die einfache Antwort heißt Komplexität. Gehirne gehören zu den komplexesten Strukturen, die in der Natur vorkommen. Die Untersuchung der Komplexität neuronaler Funktionen, die für einen scheinbar einfachen Lernvorgang notwendig ist – etwa den einer Ratte, die lernt, sich in einem Labyrinth zurechtzufinden – schien vor gerade einmal 50 Jahren die Möglichkeiten der Wissenschaft zu übersteigen. Seit neue Technologien in der Forschung eingesetzt werden, ist die Untersuchung der Komplexität von Hirnfunktionen leichter zu handhaben. Die Messung von Hirnfunktionen, deren Untersuchung noch vor 50 Jahren als unmöglich galt, gehört heute zum Alltag in Laboratorien und Kliniken auf der ganzen Welt. Diese neuen Technologien haben die Zahl der Studien, die die neuronalen Mechanismen des Lernens und Gedächtnisses untersuchen, drastisch ansteigen lassen. Gehirn und Nervensystem Wenn wir über unsere Lern- und Gedächtnisfähigkeiten – oder über andere kognitive Leistungen – nachdenken, so betrachten wir gewöhnlich das Gehirn als das Organ, das diese Fähigkeiten steuert. Doch die Steuerung wird nicht allein vom Gehirn übernommen. Denken Sie an einen U-Boot-Kapitän, der ein UBoot von San Diego nach Hawaii navigiert. Bei jedem Wegabschnitt erhält er äußerst wichtige Informationen über die Außenwelt, einschließlich der Daten aus der Satellitenortung, die dazu dienen, die momentane Position des Bootes auf einer Karte zu lokalisieren. Zudem dienen Radar- und Sonarortung der Identifizierung von weiteren Objekten in der näheren Umgebung. Der Kapitän erhält darüber hinaus Informationen über die Vorgänge im Inneren des U-Bootes anhand von Treibstoff- und Sauerstoffanzeigen usw. Auf der Grundlage all dieser eingehenden Informationen (Input) erteilt der Kapitän Befehle: Wenn ein Objekt sich im Wasser vor ihnen befindet, gibt er den Befehl, den Kurs zu ändern und dieses Objekt zu umfahren; Gluck.indd 47 2 47 ist der Sauerstoff knapp, dann wird der Befehl zum Auftauchen gegeben, bevor die Mannschaft erstickt usw. Ohne Informations-Input könnte der Kapitän keine sinnvollen Entscheidungen treffen. Gleichzeitig würde ohne ein Output-System – Steuerung, Ballast und Motoren – keine der Entscheidungen ausgeführt. Die erfolgreiche Steuerung eines U-Bootes erfordert sowohl Input-Systeme, die Informationen über die Außenwelt und Daten über den Zustand im Inneren des Bootes liefern, einen Kapitän, der diese Informationen sinnvoll integriert und Entscheidungen über die Vorgehensweisen trifft, und ein Output-System, damit diese Entscheidungen ausgeführt werden können. So ist auch das Gehirn nur ein – wenn auch ein sehr bedeutsamer – Bestandteil eines größeren Systems, das als Nervensystem bezeichnet wird. Das Nervensystem besteht aus Gewebe, das auf die Übermittlung und die Verarbeitung von Informationen spezialisiert ist. Es besteht aus Nervenzellen, die als Neuronen bezeichnet werden. Die Neuronen nehmen die Informationen auf, die von den sensorischen Systemen (Sehsinn, Geschmacks- und Geruchssinn, Tastsinn und Gehör) und aus dem gesamten Körper (z. B. Informationen über Hunger- oder Müdigkeitsstatus) einlaufen, sie verarbeiten diese Informationen und antworten darauf, wodurch als Gesamtreaktion die Koordinierung von Körperreaktionen (wie z. B. Muskelbewegungen und die Aktivität innerer Organe) zustande kommt. Im vorangegangenen Kapitel haben Sie beispielsweise gelesen, wie die Pawlow’schen Hunde nach einem Glockenton speichelten, nachdem sie gelernt hatten, dass der Ton ihnen Futter signalisierte. Der Schall-Input gelangte in die Ohren des Hundes und von dort übertrugen Neuronen die Informationen zu seinem Gehirn, das die Informationen verarbeitete und eine Antwort auslöste, durch die die Speicheldrüse zur Speichelproduktion stimuliert wurde. Oder wenn Sie das Gesicht eines Freundes sehen, dann wird visuelle Information von Ihren Augen durch Ihr Nervensystem zum Gehirn weitergeleitet und von dort aus zurück zu den Gesichtsmuskeln, die Ihr Begrüßungslächeln hervorrufen. Das Gehirn ist der Kapitän des Nervensystems, aber es kann nicht ohne seine In- und Output-Systeme funktionieren. Bei Wirbeltieren lässt sich das Nervensystem in zwei Teile gliedern: in das zentrale und in das periphere Nervensystem. Wie der Name schon sagt, liegt das zentrale Nervensystem (ZNS) dort, wo der weitaus größte Teil von Lern- und Gedächtnisvorgängen stattfindet: Das ZNS setzt sich aus dem Gehirn und dem Rückenmark zusammen (Abb. 2.1). Das periphere Nervensystem (PNS) besteht aus Nervenfasern, die Informa- 29.07.2010 10:33:08 2 48 Die Neurowissenschaft von Lernen und Gedächtnis tionen von sensorischen Rezeptoren (z. B. visuelle Rezeptoren im Auge oder Tastrezeptoren in der Haut) ins ZNS und dann Befehle vom ZNS wieder zurück zu den Muskeln und Organen übermitteln. Die meisten dieser Verbindungen verlaufen über das Rückenmark, doch einige wenige – wie z. B. die von den Lichtrezeptoren in den Augen oder die Muskelfasern, die die Augenbewegungen steuern – wandern direkt zum Gehirn. Alle Wirbeltiere haben ein ZNS und ein PNS, aber es gibt bedeutende Unterschiede zwischen den Nervensystemen der einzelnen Spezies. Beginnen wir mit dem Wirbeltier, das Ihnen wahrscheinlich am nächsten ist: der Mensch. Das menschliche Gehirn Bei den meisten Wirbeltieren sind der obere Teil und die Seiten des Gehirns von Gewebe bedeckt, das als Großhirnrinde – cerebraler Cortex oder lateinisch Cortex cerebri, abgekürzt Cortex (lateinisch für Rinde, Schale) – bezeichnet wird. Die Großhirnrinde ist mit Abstand die flächenmäßig größte Struktur des menschlichen Gehirns (Abb. 2.2a). Würde man den Cortex flach ausbreiten, so würde er die Größe der Titelseite einer Tageszeitung ausmachen, wäre aber nur ungefähr zwei Millimeter dick. Die Großhirnrinde passt deshalb in unseren Schädel, weil sie stark gefaltet ist, vergleichbar einem zusammengeknüllten Blatt Papier. Bei Menschen, wie bei allen Wirbeltieren, besteht das Gehirn aus zwei Hälften oder Hemisphären, die annähernd symmetrisch sind. Hirnforscher sprechen von der Großhirnrinde in der „linken Hemisphäre“ oder in der „rechten Hemisphäre“. In jeder Hemisphäre ist der Cortex weiter aufgeteilt in einen Stirn- oder Frontallappen an der Stirnseite des Kopfes, den Scheitel- oder Parietallappen am Scheitel des Kopfes, den Schläfen- oder Temporallappen an den Seiten des Kopfes und den Hinterhaupt- oder Occipitallappen im hinteren Bereich des Kopfes (Abb. 2.2b). Merken Sie sich diese vier Begriffe: frontal – Stirn, parietal – Scheitel, temporal – Schläfen und occipital – Hinterhaupt. Der Cortex ist verantwortlich für eine breite Vielfalt von Wahrnehmungen und kognitiven Fähigkeiten. Die Frontallappen helfen dabei, Handlungen zu planen und auszuführen; die Occipitallappen erlauben es, die Welt zu betrachten und zu erkennen; die Parietallappen ermöglichen es, den Unterschied zwischen Seide und Sandpapier zu fühlen; und die Temporallappen Zentrales Nervensystem (ZNS) besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark. Peripheres Nervensystem (PNS) besteht aus motorischen und sensorischen Neuronen, die das Gehirn und das Rückenmark mit dem Rest des Körpers verbinden. Abb. 2.1 Nervensysteme. Jedes Wirbeltier hat ein zentrales Nervensystem (ZNS) und ein peripheres Nervensystem (PNS). Das ZNS besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark. Das PNS besteht aus motorischen und sensorischen Neuronen, die Informationen zwischen dem ZNS und dem Rest des Körpers übertragen: (1) Sensorische Rezeptoren in der Haut, in den Augen, Ohren usw. leiten sensorische Informationen zum ZNS; (2) motorische Fasern übertragen motorische Befehle vom ZNS zu den Muskeln; und (3) PNSFasern übermitteln Befehle vom ZNS zur Funktionsregulation von Organen und Drüsen. Gluck.indd 48 Sensorische Organe (Haut, Augen, Ohren etc.) Muskeln Körperorgane 29.07.2010 10:33:08 2.1 Ein Schnellrundgang durch das Gehirn 2 49 Parietallappen Frontallappen Occipitallappen Temporallappen Cerebellum Hirnstamm a b Abb. 2.2 Die sichtbare Oberfläche des menschlichen Gehirns. a Ein Foto des menschlichen Gehirns. (© Visuals Unlimited, Ltd.). b In jeder Hemisphäre ist der Cortex in vier Hauptareale gegliedert: in Frontallappen, Parietallappen, Occipitallappen und Temporallappen. Unterhalb des Cortex liegen das Cerebellum und der Hirnstamm. Der Hirnstamm verbindet das Gehirn mit dem Rückenmark. schaffen die Voraussetzungen, dass man hören und sich daran erinnern kann, was man getan hat. Das Kleinhirn oder Cerebellum befindet sich hinter und etwas unterhalb des Cortex (Abb. 2.2b). Es trägt zu koordinierten Bewegungen bei und ist somit vor allem bei Lernprozessen besonders wichtig, die motorische Reaktionen einschließen. An der Basis des Gehirns befindet sich der treffend als Hirnstamm bezeichnete Übergang zum Rückenmark (Abb. 2.2b). Der Hirnstamm ist maßgeblich an der Steuerung automatisch ablaufender Funktionen wie der Atmung und der Regulierung der Körpertemperatur beteiligt. Andere Hirnstrukturen, die unter dem Cortex liegen, sind auf Fotos wie in Abbildung 2.2a nicht sichtbar. In den folgenden Kapiteln werden Sie noch vieles über diese subcortikalen Strukturen erfahren. In diesem Kapitel stellen wir Ihnen zunächst einige dieser Strukturen vor, die für Lernen und Gedächtnis besonders bedeutsam sind (Abb. 2.3). Nahe der Hirnmitte liegt der Thalamus, eine nach dem griechischen Wort für Kammer benannte Struktur, die sensorische Informationen (z. B. über Bilder, Töne oder Tasteindrücke) vom peripheren Nervensystem erhält und diese Informationen im Gehirn weiterleitet. Sie können sich den Thalamus als eine Schnittstelle vorstellen, durch die fast alle sensorischen Informationen im Gehirn einlaufen. In der Nähe des Thalamus befinden sich die Basalganglien, eine nach dem griechischen Wort ganglion für Knoten bezeichnete Ansammlung von Strukturen, die für die Planung und Ausführung gelernter Bewegungen von Bedeutung sind, beispielsweise beim Ballwerfen oder beim Gluck.indd 49 Basalganglien cerebraler Cortex Thalamus Hippocampus Amygdala Abb. 2.3 Subcortikale Strukturen beim Menschen. Einige Strukturen, die unter dem Cortex liegen, sind für das Lernen und das Gedächtnis von großer Bedeutung, wie der Thalamus, die Basalganglien, der Hippocampus und die Amygdala. Fassen an die eigene Nase. Der Hippocampus (der der Ähnlichkeit mit einem Seepferdchen seinen lateinischen Namen verdankt) liegt etwas weiter entfernt, im Temporallappen. Der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle für das Erlernen neuer Informationen über Fakten (z. B. wie die Hauptstadt von Frankreich heißt) oder für die Erinnerung autobiographischer Ereignisse (Was haben Sie im vergangenen Sommer getan?). Da Sie zwei Temporallappen haben – in jeder Hemisphäre 29.07.2010 10:33:12 2 50 Die Neurowissenschaft von Lernen und Gedächtnis einen – haben Sie auch zwei Hippocampi. An der Spitze des Hippocampus befindet sich eine Struktur, die als Amygdala (nach dem griechischen Wort für Mandel) bezeichnet wird. Diese kleine Hirnregion spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Erinnerungen emotional zu bereichern. Wenn Sie sich an den glücklichsten – oder traurigsten – Tag Ihres Lebens erinnern, dann ist das vermutlich so, weil zu jener Zeit Ihre Amygdala besonders aktiv war und somit Ihre Erinnerungen um starke Emotionen ergänzt wurden. Wissenschaftler beginnen gerade erst im Detail zu verstehen, was in diesen Hirnarealen vor sich geht und wie diese Prozesse mit Lernen und Gedächtnis in Beziehung stehen. Es wird in diesem Zusammenhang immer deutlicher, dass das Gehirn nicht als ein Einzel-Organ wie beispielsweise die Leber oder die Niere betrachtet werden kann. Es ist vielmehr eine Ansammlung von „Experten“: Jeder dieser Experten leistet seinen eigenen spezifischen Beitrag zu dem, was wir denken und tun. Vergleichende Hirnanatomie Unser Wissen über die neuronalen Grundlagen von Lernen und Gedächtnis beruht stark auf Untersuchungen an Tieren, da viele Eigenschaften eines Ratten-, Affen- oder sogar eines Insektenhirns – trotz der enormen Unterschiede zwischen den Nervensystemen der einzelnen Spezies – dem menschlichen Gehirn hinreichend ähnlich sind. Die Erforschung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Gehirnen von Mensch und Tier wird als vergleichende Hirnanatomie bezeichnet. Vergleichende anatomische Studien bieten die Grundlage, um zu verstehen, wie Struktur und Funktion des Gehirns mit Lern- und Gedächtnisfähigkeiten in Zusammenhang stehen. Cortex Cerebellum Fisch Cerebellum Cortex Cerebellum Cortex Frosch Vogel Die Gehirne von Wirbeltierarten ähneln sich darin, dass sie alle einen Cortex, ein Cerebellum und einen Hirnstamm besitzen; alle Wirbeltiergehirne sind außerdem in zwei Hemisphären organisiert. Abbildung 2.4 zeigt die Gehirne von typischen Wirbeltierarten. Im Allgemeinen haben größere Tiere auch größere Gehirne. Oft wird der Eindruck vermittelt, dass größere Gehirne mit einer höheren Intelligenz einhergehen; menschliche Gehirne sind größer als Froschhirne und Menschen scheinen den Fröschen intellektuell überlegen zu sein. Jedoch sind Elefantenhirne größer als menschliche Gehirne, doch Elefanten sind – obwohl sie ziemlich klug sind – wahrscheinlich nicht merklich intelligenter als Menschen (zumindest können sie nicht lesen und schreiben, sie bauen weder Städte noch lernen sie rechnen). So wie Vögel mit größeren Flügeln nicht unbedingt besser als kleinere Vögel fliegen, so sind Tiere mit größeren Gehirnen nicht unbedingt schlauer als andere Tiere. Insgesamt ist die Beziehung zwischen der Größe des Gehirns und dessen funktioneller Leistung erst in Ansätzen geklärt. Neben dem Gesamtvolumen des Gehirns unterscheiden sich die Arten auch in dem Verhältnis von Cortex zu anderen Strukturen. Bei uns Menschen nimmt der Cortex einen viel größeren Prozentsatz des gesamten Hirnvolumens ein als beispielsweise bei Fröschen. Während der große menschliche Cortex stark gefaltet sein muss, um in unseren Schädel zu passen, liegt der Froschcortex auch ohne Falten durchaus bequem in dessen Schädel. Die relative Größe des menschlichen Cortex ist verblüffend, da der cerebrale Cortex mit Funktionen wie Sprache und komplexem Denken in Zusammenhang gebracht wird – also dem, was wahrscheinlich menschliche Kognition von derjenigen von Tieren wirklich unterscheidet. Und Cortex Cerebellum Mensch Cortex Cerebellum Elefant Abb. 2.4 Vergleichende Hirnanatomie unterschiedlicher Wirbeltierarten. Alle Gehirne von Wirbeltieren haben zwei Hemisphären; alle haben erkennbar einen Cortex, ein Cerebellum und einen Hirnstamm. Die Arten unterscheiden sich jedoch im relativen Volumen dieser Hirnbereiche. Bei Säugern (wie z. B. dem Menschen) und bei Vögeln ist der Cortex viel größer als das Cerebellum; bei Fischen und Amphibien (wie dem Frosch) haben der Cortex und das Cerebellum eher eine ähnliche Größe. Gluck.indd 50 29.07.2010 10:33:16 2.1 Ein Schnellrundgang durch das Gehirn tatsächlich sind Tiere mit relativ großem Cortex wie Schimpansen, Delfine und, ja, auch Elefanten diejenigen, denen wir auch die höchstentwickelten Fähigkeiten für abstraktes Denken, Problemlösen und andere höhere kognitive Funktionen zuschreiben. Selbst innerhalb einer Art können verschiedene Individuen variierende Volumina und Unterschiede in der Architektur des Gehirns aufweisen. So sind Gehirne von Männern im Durchschnitt signifikant größer als die von Frauen. Dies geht allerdings mit auf Unterschiede in den Körpermaßen zurück: Männer sind im Durchschnitt nicht intelligenter als Frauen, aber größer und schwerer. Andererseits ist bei Frauen das Volumen des Hippocampus im Durchschnitt größer als bei Männern. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Frauen neue Informationen besser merken können als Männer. Aber es könnte auf leichte Unterschiede in der Art und Weise, wie Frauen und Männer neue Informationen verarbeiten, hindeuten. (Sie werden mehr über mögliche Geschlechtsunterschiede in Kapitel 12 lesen.) Lernen ohne Gehirn Nur Wirbeltiere haben sowohl ein ZNS als auch ein PNS. Einige wirbellose Tiere – wie z. B. der Oktopus (Krake) und die Biene – haben erkennbar ein Gehirn, doch sind diese Gehirne ganz anders organisiert als die Wirbeltiergehirne. Beim Oktopus ist ein Großteil seines „Gehirns“ auf seinen gesamten Körper, vor allem in seinen Fangarmen verteilt. Ein Oktopus hat bemerkenswerte Fähigkeiten: Er kann lernen, den richtigen Weg durch ein Labyrinth zu finden, einen Behälter zu öffnen und an das sich darin befindende Futter heranzukommen, und es gibt sogar Hinweise darauf, dass Kraken auch durch Beobachtung des Verhaltens anderer Artgenossen lernen können. In einer Untersuchung wurden einige Kraken (die zu „Vorführern“ bestimmt wurden) darauf dressiert, nach einem roten Ball zu greifen, wenn ihnen ein weißer und ein roter Ball präsentiert wurden. Nicht dressierte Kraken (die „Beobachter“) konnten die Vorführer-Kraken in einem Nachbaraquarium dabei beobachten. Als den Beobachter-Kraken später die beiden Bälle gezeigt wurden, griffen auch sie sofort nach dem roten Ball – genauso wie sie es bei den Vorführern gesehen hatten (Fiorito et al. 1998). Lernen durch Beobachtung wurde einst nur den Menschen und den „höheren“ Tieren wie Delfinen und Schimpansen zugestanden. Heute wissen wir, dass ein Oktopus, ein Lebewesen mit einem dezentralisierten Gehirn, ebenso lernen kann. Andere wirbellose Tiere wie Würmer und Quallen besitzen überhaupt keine erkennbaren Gehirne, Gluck.indd 51 2 51 aber sie sind mit Neuronen ausgestattet, die auf bemerkenswerte Weise den Neuronen der Wirbeltiere gleichen. Allerdings haben diese Tiere nur vergleichsweise wenige Neuronen, die zudem nicht als zentrale Struktur organisiert sind. Mikroskopisch kleine Würmer, sogenannte Fadenwürmer oder Nematoden (darunter auch die Spezies, die Schweine infiziert und bei Menschen, die diese Schweine essen, Trichinose verursacht) haben 302 individuelle Neuronen – im Vergleich dazu besitzen Kraken einige hundert Millionen und wir Menschen ungefähr 100 Milliarden. Die Neuronen der Fadenwürmer sind in einem „Nervennetz“ organisiert. Ein solches Nervennetz ist dem PNS eines Wirbeltieres ähnlich, aber es existiert keine zentrale Verarbeitungsstruktur, die dem ZNS gleichen würde. Dennoch sind diese kleinen Organismen zu überraschend differenzierten Lernleistungen imstande. Fadenwürmer können lernen, Duftund Geschmacksquellen aufzusuchen, die Futter signalisieren, und sich von Reizen abzuwenden, die anzeigen, dass kein Futter vorhanden ist (Rankin 2004). Gar nicht schlecht für ein „hirnloses“ Lebewesen. Untersuchungen an wirbellosen Tieren sind deshalb so fruchtbar, weil die Nervensysteme dieser Tiere vergleichsweise einfach organisiert sind. Zum Beispiel hat ein Fadenwurm eine so geringe Anzahl an Neuronen, dass sich die Gesamtheit aller Verbindungen seines Nervensystems auf eine Weise darstellen lässt, wie es bei einem menschlichen Gehirn oder selbst bei einem Rattenhirn nicht möglich wäre. Wir verdanken den Untersuchungen zu Lern- und Erinnerungsprozessen wirbelloser Tiere viele wichtige Erkenntnisse über das menschliche Gehirn und über Lernprozesse beim Menschen. Der Oktopus ist ein wirbelloses Tier mit einem Gehirn, das sich stark vom Gehirn der Säugetiere und anderen Wirbeltieren unterscheidet; dennoch ist er ein „schlauer“ Lerner. (© Mauro Fermariello/Photo Researchers). 29.07.2010 10:33:18 2 52 Die Neurowissenschaft von Lernen und Gedächtnis Die Erforschung von Gehirn und Verhalten Erinnern Sie sich an Jennifer und Sean, die, wie am Beginn dieses Kapitels beschrieben, mit Hirnschädigungen in die Notaufnahme eingeliefert wurden? Jennifer hatte eine Kohlenmonoxidvergiftung durch einem schadhaften Ofen, aus dem das Gas entwich, erlitten. Das Kohlenmonoxid wirkt giftig, weil es die roten Blutkörperchen „besetzt“ und daran hindert, Sauerstoff zu binden, was eine verminderte Sauerstoffversorgung im Körper zur Folge hat. Als größter Sauerstoffkonsument im Körper ist das Gehirn besonders anfällig, wenn der Sauerstoffgehalt im Blut sinkt. Sean erlitt einen Schlaganfall, eine Blockade infolge eines verstopften Blutgefäßes in seinem Gehirn, die eine verminderte Durchblutung und damit einen Sauerstoff- und Nährstoffmangel in den Hirngebieten, die normalerweise von diesem Gefäß versorgt wurden, hervorrief. Die beiden Fälle stellen nur zwei von vielen Möglichkeiten dar, wie es zu Hirnschädigungen beim Menschen kommen kann. Weitere Ursachen können Kopfverletzungen oder chirurgische Eingriffe sein, bei denen Hirngewebe – etwa ein Hirntumor – entfernt werden muss. Hirnschädigungen treten auch in Zusammenhang mit Fehlernährung, sensorischer Deprivation, Chemotherapie, Bestrahlung oder Krankheiten wie der Alzheimer- oder der ParkinsonKrankheit auf – die Liste ließe sich immer weiter verlängern. In jedem Fall besteht der erste Schritt bei der Untersuchung der Auswirkungen einer Hirnschädigung auf Lernen und Gedächtnis darin, den Ort der Hirnschädigung genau zu bestimmen. Die dunklen Anfänge der Hirnforschung Die genaue Lokalisierung einer Hirnschädigung ist nicht so einfach wie die eines Knochenbruchs. In nahezu der gesamten Menschheitsgeschichte gab es kaum eine andere Möglichkeit, Hirnschädigungen aufzudecken, als den Schädel zu öffnen: Ärzte untersuchten bereits in der Antike Gehirne am geöffneten Schädel, oder sie entfernten Gehirngewebe des Patienten oder bei Toten auch das gesamte Gehirn. Diese chirurgischen Methoden und die Umstände dieser Forschung erscheinen uns heute als äußerst grausam, aber für die Entwicklung der Neurowissenschaften waren sie von entscheidender Bedeutung. Einen wichtigen Beitrag leistete z. B. der griechische Arzt Galen (129–199 n. Chr.), der als Chirurg römischer Gladiatoren tätig war. Er erkannte, dass die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeiten der Gladiatoren durch bestimmte Gluck.indd 52 Phrenologie-Karten ordnen viele Aspekte kognitiver Leistungen und der Persönlichkeit unterschiedlichen Hirnregionen zu. Eine Vergrößerung eines Hirngebietes wurde als eine besonders starke Ausprägung der korrespondierenden Funktionen angesehen, die als Wölbung des Schädels erkennbar war. (Aus F.E. Bilz (1842–1922): Das neue Naturheilverfahren). Kopfverletzungen beeinträchtigt wurden. Galen verwendete seine Beobachtungen als Argument gegen die zur damaligen Zeit sehr einflussreiche Behauptung von Aristoteles, dass das Herz der Sitz geistiger Fähigkeiten sei. Galens Auffassung über die Funktionsweise des Gehirns, die auf seinen medizinischen Erfahrungen mit Gladiatoren und deren eingeschlagenen Schädeln beruhte, hat die nachfolgenden Studien über Lernen und Gedächtnis nachhaltig beeinflusst. Ende des 19. Jahrhunderts studierte der französische Arzt Paul Broca (1824–1880) einen Patienten, Monsieur Leborgne, der ganz normal lesen und schreiben konnte, aber bei der Aufforderung zu sprechen nur eine einzige Silbe herausbrachte, das französische Wort tan. Nach dem Tod von Leborgne untersuchte Broca dessen Gehirn und entdeckte, dass ein Teil des linken Frontallappens zerstört war. Daraus zog Broca den Schluss, dass der linke Frontallappen eine spezialisierte Region enthält, die das Zentrum der Sprachproduktion ist (Broca 1886 [1865]). Brocas Entdeckung war der Beginn eines neuen Forschungsansatzes, der Defizite körperlicher und geistiger Fähigkeiten in Zusammenhang mit Schädigungen spezifischer Hirnregionen untersuchte. 29.07.2010 10:33:19 2.1 Ein Schnellrundgang durch das Gehirn Etwa zur gleichen Zeit bahnte der deutsche Anatom und Physiologe Franz Joseph Gall (1758–1828) der Idee den Weg, dass unterschiedliche Bereiche des Cortex für unterschiedliche Fähigkeiten verantwortlich sind. Sogar unter gesunden Menschen, so schlussfolgerte er, haben Individuen unterschiedliche Begabungen, die sich in Unterschieden in der Form des Gehirns widerspiegeln: Menschen mit besonderem Talent zum Sprachenlernen müssten eine überdurchschnittlich große Hirnregion aufweisen, die mit Sprache assoziiert wird; Menschen, die empfänglich sind für Gewalt oder aggressives Verhalten, sollten einen vergrößerten „Aggressivitätsbereich“ besitzen. Gall nahm an, dass sich diese Unterschiede an der Schädelform widerspiegeln und eine besonders ausgeprägte Wölbung des Schädels einen Rückschluss auf vergrößerte Hirnbereiche und die damit verbundenen Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale des betreffenden Menschen ermöglicht. Gall und seine Kollegen nannten ihren systematischen Forschungsansatz, der darin bestand, sorgfältig die Größe und die Form vieler verschiedener Schädel zu vermessen, Phrenologie. Diese Abmessungen verglichen sie mit den individuellen Persönlichkeiten und Fähigkeiten (Gall und Spurzheim 1810). Als Ergebnis erhielten sie Schädel-Karten, die die vermutete Funktion des jeweils unter einer Schädelregion liegenden Hirnareals – etwa Sprachfähigkeiten, Aggressivität, Freundlichkeit, Entscheidungsfindung usw. – darstellten. Die Phrenologie beflügelte die öffentliche Phantasie und wurde schnell von Quacksalbern aufgegriffen, die Wege fanden, daraus Geld zu machen. Zu dieser Zeit wurden häufig Phrenologen eingestellt, die Stellenbewerber untersuchen sollten, so wie man heute in vielen Firmen Persönlichkeitstests einsetzt. Auch den Oberschichten gefiel die Idee der Phrenologen, Schädelformen zum Nachweis angeborener Unterlegenheit einsetzen zu können und damit die institutionalisierten Misshandlungen Krimineller und anderer sozial Unerwünschter zu rechtfertigen. Im 20. Jahrhundert wurde Gall in Deutschland auch für die Auswüchse der nationalsozialistischen Rassenlehre haftbar gemacht, als die Schädelform zur Beurteilung angeblich minderwertiger Rassen herangezogen und in den Konzentrationslagern geistig oder körperlich behinderte Menschen umgebracht wurden, um ihr Gehirn untersuchen zu können. Die Grundannahme der Phrenologie, der zufolge die Schädelform das darunterliegende Gehirn widerspiegelt – war schlichtweg falsch. Vorwölbungen des Schädels sind nicht Ausdruck vergrößerter Hirnregionen unter der Schädeldecke. Gall hatte keine Gluck.indd 53 2 53 Möglichkeiten, das Gehirn eines lebenden Menschen zu untersuchen; er konnte sich nur auf die Vermessung von Schädelformen stützen. Selbst Broca, der menschliche Gehirne direkt untersuchte, musste sich auf die Untersuchung der Gehirne verstorbener Patienten beschränken. Es dauerte noch etwa 200 Jahre, bevor die Technologie so weit entwickelt war, dass Wissenschaftler mit ethisch unbedenklichen Methoden in der Lage waren, in den Schädel gesunder, lebender Personen zu schauen. Bildgebende Verfahren – der Blick in das lebende Gehirn Heutzutage stehen Ärzten und Wissenschaftlern verschiedene Methoden zur Verfügung, die die Untersuchung des Gehirns einer lebenden Person erlauben, ohne dass es geschädigt oder in seiner Funktion eingeschränkt wird. Dazu gehören moderne Techniken der Aufnahme anatomischer Strukturen des Gehirns, die als strukturelle Bildgebung oder bildgebende Verfahren bezeichnet werden. Die so gewonnenen Bilder des Gehirns können sowohl die Größe und die Struktur von Hirnarealen als auch Läsionen des Gehirns – durch Verletzung oder Krankheit geschädigte Gebiete – darstellen. Ein bekanntes bildgebendes Verfahren ist die Computertomographie (CT). CT-Bilder werden aus Serien von räumlichen Röntgenaufnahmen zusammengesetzt. Falls Sie jemals durch eine Sicherheitsschleuse auf einem Flughafen gegangen sind und eine Röntgenaufnahme Ihres Gepäcks betrachtet haben, so haben Sie gesehen, wie Röntgenstrahlen Objekte durchleuchten und ihre innere Struktur abbilden. Das Problem ist jedoch die schemenhafte, relativ flache zweidimensionale Darstellung. In diesen Röntgenbildern kann man einen Kamm und eine Zahnbürste, die oben im Koffer aufeinander liegen, erkennen, aber es ist unmöglich festzustellen, welches Objekt oben und welches unten liegt. Wenn Ärzte den Körper röntgen, so kann das daraus resultierende Bild die Anwesenheit eines Befundes wie einen gebrochenen Knochen oder einen Tumor anzeigen, es erlaubt aber keine präzise räumliche Ortung. Die CT bietet eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, indem viele Röntgenbilder aus verschiedensten Winkeln aufgenommen werden. Diese Einzelaufnahmen werden vom Computer zu einem räumlichen Bild zusammengeführt, von dem dann wiederum mathematisch Schnittbilder generiert werden, die wie „Scheiben“ oder Schnitte des Körpers erscheinen. Die Ärzte können dann mithilfe ganzer Schnittserien die anatomischen Strukturen in allen 29.07.2010 10:33:22 2 54 Die Neurowissenschaft von Lernen und Gedächtnis drei Raumdimensionen genau lokalisieren. Ein CTBild kann die Lage einer Anomalie wie beispielsweise einen Tumor in ihrer räumlichen Ausdehnung viel exakter darstellen als ein herkömmliches Röntgenbild. Leider wird weiches Gewebe wie die Hirnsubstanz sehr viel undeutlicher abgebildet als Knochen oder Tumoren. Deshalb werden CTs, obwohl sie neue Perspektiven der Hirnforschung eröffnet haben, immer seltener in der Hirnforschung eingesetzt. Heutzutage hat vor allem die Magnetresonanztomographie (MRT) die CT weitgehend verdrängt. Die MRT ist ein Verfahren, das starke magnetische Wechselfelder nutzt, um ein Bild der inneren Strukturen aufzunehmen. Normalerweise ist das Aufnahmegerät eine riesige Röhre mit ringförmig angeordneten Magneten; der Patient wird auf einer Pritsche liegend in diese Röhre hineingeschoben, und das Magnetfeld regt Atome im Hirngewebe (oder im Gewebe eines anderen untersuchten Körperteils) zu einer magnetischen (Kernspin-)Resonanz an. Dabei werden einige Atomkerne aus ihrem energetischen Grundzustand angeregt, wie ein kleiner rotierender Magnet winzige elektrische Ströme in einer Messspule erzeugt, um etwas später wieder in ihren nicht angeregten Grundzustand zurückzufallen. Unterschiedliche Hirnregionen benötigen unterschiedlich viel Zeit, um zum Ausgangszustand zurückzukehren, in Abhängigkeit von der Dichte der Atome in dieser Region. Je nach Drehsinn oder Spin dieser rotierenden atomaren Magnete entstehen unterschiedliche Gruppen angeregter Atome, deren Signale ein Computer verrechnet und wie beim CT als Schnittbilder des Gehirns darstellt. Zum Beispiel zeigt ein Schnittbild senkrecht durch die Mitte des Gehirns den Cor- tex, das Cerebellum und den Hirnstamm im Profil des Patienten (Abb. 2.5a). Ein horizontaler Schnitt in Höhe der Augäpfel macht andere Strukturen wie das rechte und linke Cerebellum sichtbar (Abb. 2.5b). Hirnläsionen zeigen sich auf einem MRT-Bild als Flecken auf den Strukturen und lassen so die Areale Bei der Magnetresonanztomographie (MRT) des Kopfes liegt der Patient in einer Röhre, die leistungsstarke Magneten, die ein mit Radiofrequenzen schwankendes Wechselfeld erzeugen, enthält. Ein Computer, der die aus diesem Gerät erhaltenen Daten verarbeitet, stellt die Dichten der zur Kernresonanz angeregten Atome in unterschiedlichen Hirnregionen dar und erzeugt so ein Bild mit hoher Auflösung. (©Chuck Swartzell/Visual Unlimited). Augen Cortex Hirnstamm Cerebellum Nase Ohr Ohr Hirnstamm linkes Cerebellum Mund a Rückenmark rechtes Cerebellum b Abb. 2.5 MRT-Bilder. Diese MRT-Bilder zeigen jeweils einen Querschnitt durch die Mitte des Kopfes und unterschiedliche Ansichten von Cortex und Cerebellum. a In der vertikalen Darstellung sind auch der Hirnstamm, der obere Abschnitt des Rückenmarks sowie Nase und Mund sichtbar. (© Custom Medical Stock Photography). b Der horizontale Schnitt in Höhe der Augen lässt die Augäpfel (am oberen Ende der Aufnahme) und nur einen kleinen Cortexbereich erkennen, aber das tiefer liegende Cerebellum wird in beiden Hemisphären erfasst. (©Scott Camazine/Photo Researchers, Inc.). Gluck.indd 54 29.07.2010 10:33:22 http://www.springer.com/978-3-8274-2102-9