Tochter-Vater-Beziehungen in der Oper dargestellt am Beispiel von Richard Wagners Walküre und Richard Strauss‘ Elektra Masterarbeit zur Erlangung des Grades Master of Arts im interuniversitären Masterstudium Musikologie Karl-Franzens-Universität Graz vorgelegt von NADINE SCHARFETTER am Institut für Musikästhetik Universität für Musik und darstellende Kunst Graz Betreuerin: Priv.-Doz. Dr.phil. M.A. Christa Brüstle Graz, 2013 Kurzfassung Obwohl in unzähligen Opern Tochter-Vater-Konstellationen zu finden sind, wurden diese in musikwissenschaftlichen Studien bisher nur wenig thematisiert. Im Hinblick auf das 19. Jahrhundert beschränken sich Forschungen diesbezüglich meist auf die Werke Verdis. In der vorliegenden Arbeit werden die Tochter-Vater-Beziehungen in Richard Wagners Walküre und Richard Strauss‘ Elektra analysiert. Es wird erörtert, wie die Beziehungen zwischen Vätern und Töchtern dargestellt werden, und inwiefern diese Beziehungen die Verhältnisse zu anderen Figuren beeinflussen. Für die Erarbeitung der Fragestellungen werden zunächst die Textebene und die musikalische Ebene getrennt voneinander analysiert, um festzustellen, wie die Beziehungsverhältnisse jeweils dargestellt werden. Hierbei werden die textliche Umsetzung mittels Aussagen, Handlungen und Gesten sowie die musikalische Umsetzung mit Hilfe von Motiven und anderen kompositorischen Mitteln betrachtet. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, werden die beiden Analysen im Anschluss verglichen und zusammengeführt. Abstract So far, little attention has been paid to daughter-father relationships in musicological research, although it is often subject of operas. Regarding the 19th century, most studies are restricted to operas by Verdi. Therefore, the present paper analyses father-daughter relationships in Richard Wagner’s Valkyrie and Richard Strauss’s Elektra. The paper discusses the representation of relationships between fathers and daughters and to what extent they influence relationships to other characters. To work out the aims of this paper, in a first step, text level and musical level are analysed separately, to determine each representation of the relationships individually. For this purpose, textual realisation via statements, actions and gestures, as well as the musical realization by means of musical motifs and other compositional means are considered. In a second step, both analyses are finally compared and combined. 1 Inhaltsverzeichnis Kurzfassung ...................................................................................................................... 1 Abstract ............................................................................................................................. 1 1 Einleitung .................................................................................................................. 4 2 Richard Wagners Walküre ...................................................................................... 12 2.1 Entstehungsgeschichte ..................................................................................... 12 2.2 Analyse der Textebene ..................................................................................... 14 2.2.1 2.2.1.1 Wotan ................................................................................................ 14 2.2.1.2 Brünnhilde ......................................................................................... 19 2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde ............................. 26 2.2.2 Die Walküren .................................................................................... 37 2.2.2.2 Sieglinde ............................................................................................ 42 Fricka ........................................................................................................ 44 Analyse der musikalischen Ebene ................................................................... 47 2.3.1 Aspekte zur Einführung ............................................................................ 47 2.3.2 Musikalische Analyse ............................................................................... 50 2.4 3 Wotans andere Töchter – Brünnhildes Schwestern .................................. 37 2.2.2.1 2.2.3 2.3 Brünnhilde und Wotan ............................................................................. 14 Zwischenfazit ................................................................................................... 64 Richard Strauss‘ Elektra.......................................................................................... 66 3.1 Entstehungsgeschichte ..................................................................................... 66 3.2 Analyse der Textebene ..................................................................................... 68 3.2.1 Elektra....................................................................................................... 69 3.2.2 Chrysothemis ............................................................................................ 77 3.2.3 Agamemnon und seine Töchter ................................................................ 79 3.2.4 Die Beziehung beider Schwestern zueinander ......................................... 81 3.2.5 Die Beziehungen der Schwestern zu anderen Personen ........................... 85 2 3.3 3.2.5.1 Klytämnestra und ihre Töchter .......................................................... 85 3.2.5.2 Orest und seine Schwestern............................................................... 89 Analyse der musikalischen Ebene ................................................................... 91 3.3.1 Aspekte zur Einführung ............................................................................ 91 3.3.2 Musikalische Analyse ............................................................................... 93 3.4 Zwischenfazit ................................................................................................. 108 4 Fazit ....................................................................................................................... 110 5 Literarturverzeichnis ............................................................................................. 115 Verzeichnis der verwendeten Partituren ................................................................... 123 3 1 Einleitung Neben den realen Tochter-Vater-Beziehungen, wie auch immer diese tatsächlich ausgesehen haben mögen, findet man in der Kunst des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Werke, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Sucht man beispielsweise in der Oper nach Werken, welche die Beziehung zwischen Vater und Tochter thematisieren, stößt man unweigerlich auf Giuseppe Verdi. In Rigoletto führt die Liebe des Vaters zu seiner Tochter Gilda so weit, dass er sie im Haus verborgen hält, um sie zu schützen und die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Sein Besitzanspruch gegenüber Gilda führt am Ende sogar so weit, dass sich Gilda aus Liebe zum Herzog von Mantua in den Tod stürzt, um diesen zu retten. Getötet wird sie dabei von dem Mann, den Rigoletto beauftragt hatte, um den Herzog von Mantua zu töten, da dieser Gilda entehrt hat. Die titelgebende Tochterfigur Luisa Miller wird damit konfrontiert, sich zwischen dem Mann, den sie liebt, und ihrem Vater zu entscheiden. Schließlich muss sie ihre Liebe verleugnen, um ihren eingesperrten Vater vor dem Tode zu retten. Auch in Albert Lortzings Der Waffenschmied begegnet man einer TochterVater-Konstellation. Hier versagt der Waffenschmied seiner Tochter aus Trotz die Vermählung mit dem Mann, den sie liebt, und will sie stattdessen, nur um eine Wette zu gewinnen, mit einem anderen Mann verheiraten. Nach einer List lässt er sich am Ende schließlich doch erweichen. Obwohl es durchaus musikalische Werke gibt, in denen eine Tochter-Vater-Beziehung thematisiert wird, gibt es nur wenige wissenschaftliche Beiträge, welche sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. In der vorliegenden Arbeit soll deshalb die Tochter-VaterBeziehung in Richard Wagners Walküre und Richard Strauss‘ Elektra untersucht werden. Erörtert wird zum einen, welche Beziehung die Väter und Töchter in den beiden Werken zueinander aufweisen, und zum anderen, ob und inwiefern diese ihre Beziehung zu anderen Personen beeinflusst. Um die Fragestellungen ausführlich erarbeiten zu können, wird zunächst die Textebene herangezogen. Dabei wird überprüft, in welcher Art und Weise sich die Tochter-Vater-Beziehung und die Beziehung zu anderen Personen in den Aussagen, Handlungen und Gesten der Protagonisten und Protagonistinnen direkt, aber auch indirekt äußeren. Anschließend wird anhand von musikalischen Analysen erörtert, inwiefern die Beziehungskonstellationen musikalisch, 4 durch Motive, Instrumentierung und so weiter, umgesetzt und dargestellt werden. Abschließend werden die Ergebnisse der Text- und Musikanalyse zusammengeführt, um festzustellen, ob die Darstellungen der Tochter-Vater-Beziehung in den beiden Ebenen übereinstimmen, gemeinsam erst ein vollständiges Bild ergeben oder möglicherweise gar kontrastieren. Beschäftigt man sich mit Familienstrukturen und dem Leben von Kindern innerhalb einer familiären Gemeinschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, kann man unmöglich von einer vorherrschenden Struktur sprechen. Auch wenn eine lokale Eingrenzung auf den deutschsprachigen Raum vorgenommen wird, findet man aufgrund regionaler (Stadt, Land) und schichtsspezifischer (Bauern, Arbeiter, Bürgertum etc.) Unterschiede vielfältigste Formen familiären Zusammenlebens. Dennoch soll, als Einleitung und Rahmung der vorliegenden Arbeit, versucht werden aufzuzeigen, mit welchen Lebensumständen die Kinder – insbesondere Mädchen – innerhalb der Familie konfrontiert waren, und inwiefern sich dies in ihrer Erziehung und ihrer Beziehung zu ihren Eltern – vorrangig den Vätern – äußerte. In den bäuerlichen Familien musste, um die Sicherung von Nahrung und anderen materiellen Bedürfnissen zu gewährleisten, die gesamte Familie zum Lebensunterhalt beitragen. So mussten auch die Kinder – männlich und weiblich – entweder am elterlichen Hof tätig sein oder in anderen Haushalten gegen Bezahlung mit Nahrungsmitteln arbeiten.1 Außerdem stand den Kinden kein eigenes Zimmer zur Verfügung, sie mussten sich zum Schlafen einen Raum, beziehungsweise auch oft ein Bett, mit dem Gesinde teilen. In finanziell besser gestellten Bauernfamilien mit größeren Höfen ändert sich dies jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts.2 Diese finanziellen Schwierigkeiten, mit denen bäuerliche Familien zu kämpfen hatten, beeinflusste die Einstellung zu ihren Kindern maßgeblich. Zwar galten Kinder als zukünftige Arbeitskräfte und als Absicherung der Eltern im Alter, bis dahin waren sie 1 2 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 11f. Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.27. 5 aber vor allem ein zusätzlicher Kostenfaktor, den man sich nicht leisten konnte – dieser Aspekt wurde besonders mit der aufkommenden Schulpflicht für Kinder noch massiver.3 Kinder galten als „kleine Erwachsene“4 und wurden bereits im Alter zwischen fünf und sieben Jahren in die Arbeitswelt eingeführt. Individuelles Eingehen auf den/die Einzelne/n, der Austausch von Zärtlichkeiten und Zuwendung musste hier zurückgestellt werden, was auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern kennzeichnete.5 Die frühe Einführung der Kinder in die Arbeitswelt geschah jedoch nicht ausschließlich aus finanziellen und materiellen Notlagen heraus, sondern entsprach auch den erzieherischen Vorstellungen bäuerlicher Familien im 19. Jahrhundert. Es ging „nicht um die Entfaltung von Anlagen und Individualität […], sondern um den Erwerb von (oft lokalem) Wissen und Techniken und um das Einfügen der Kinder in eine bestehende Ordnung“6. Eine geschlechtsspezifische Differenzierung im Bezug auf Kinderarbeit wurde hier nicht vorgenommen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, als die Kinder bereits älter waren, kam es zu einer unterschiedlichen Behandlung von Jungen und Mädchen. Während Jungen eine Ausbildung ermöglicht wurde, mussten Mädchen entweder weiterhin auf dem elterlichen Hof mitarbeiten oder durch eine andere Tätigkeit Geld verdienen, um die Ausbildung ihrer Brüder zu finanzieren.7 Die Zeit der Jugend endete für Bauernkinder offiziell mit ihrer Heirat. Von diesem Tag an hatten sie den Status von Erwachsenen. Wenn sie bis dahin am elterlichen Hof gelebt haben, waren sie der Autorität ihres Vaters unterstellt – wie auch alle anderen am Hof lebenden Personen, egal ob Familienmitglieder oder Gesinde.8 Jugendliche hatten aber das „festgelegte Recht, an den sozialen Aktivitäten der ledigen Jugend teilzunehmen“9. 3 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.39f. Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. Familien in Deutschland und Österreich, Frankfurt a.M. 1998 S. 267. 5 Vgl. Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. S. 267. 6 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 37. 7 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108. 8 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 41. 9 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.42. 4 6 Ein ähnliches Bild wie in den bäuerlichen Familien zeigt sich in den Arbeiterfamilien. Die Löhne der Arbeiterschicht waren derart gering, dass nicht nur Frauen durch Heimarbeit – außerhäusliche Lohnarbeit von Frauen war hingegen verpönt – zum Lebensunterhalt beitragen mussten, sondern auch Kinder.10 Kinder arbeiteten vor allem im Textilgewerbe – zu einer Arbeitsschutzbestimmung für Kinder kam es jedoch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. So wurde 1891 das Mindestalter für Fabrikarbeit von Kindern auf 13 Jahre und eine maximale Arbeitszeit von zehn Stunden pro Tag für Jugendliche unter 16 Jahren festgelegt, eine Bestimmung für Heimarbeit gab es hingegen erst ab 1911.11 Wie in den Bauernfamilien wurde auch hier bei der Kinderarbeit kein Unterschied zwischen Mädchen und Jungen gemacht. Mädchen mussten jedoch auch in dieser Gesellschaftschicht zu Gunsten ihrer Brüder auf Schulund Berufsausbildung verzichten und arbeiten, um die Ausbildung der Jungen zu finanzieren.12 Ebenfalls findet man in Arbeiterfamilien eine ambivalente Haltung gegenüber den Kindern als zukünftige Arbeitskräfte und finanzielle Unterstützer einerseits und Kostenfaktoren andererseits. Auch hier hat sich die Einstellung gegenüber Kindern und die finanzielle Notlage der Familie auf dieselbe Weise auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ausgewirkt wie in bäuerlichen Familien.13 Aufgrund der langen Arbeitszeiten hatten Jugendliche aus Arbeiterfamilien nur begrenzt die Möglichkeit, „jugendeigene[.] Lebensformen“14 zu entwickeln. Auch verbrachten Jugendliche ihre meiste Freizeit in und mit der Familie, jedoch traten Jungen im Gegensatz zu Mädchen Vereinen bei und verbrachten so Zeit außerhalb der Familie.15 Die Situation änderte sich jedoch im Zuge der Industrialisierung, zumindest für einen Teil der Arbeiterschicht. Männer hatten nun durch neue Industriezweige die Möglichkeit, als Facharbeiter in Fabriken ein höheres Einkommen zu erhalten. Die finanzielle Besserstellung dieser Familien hatte auch eine Veränderung ihrer familiären Strukturen zur Folge. Von nun an galt der Mann als Alleinverdiener, was eine Ablehnung von Frauenarbeit mit sich brachte, welche in dieser Phase der Industrialisierung auch meist außerhäuslich ausgeführt wurde. Die Frau hatte sich von nun an ausschließlich mit der Erziehung der Kinder und der Erledigung ihrer haushaltlichen Pflichten zu beschäftigen, außerhäusliche Arbeit war hiermit nicht 10 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108.15f. Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 40f.,45. 12 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 40, 108. 13 Vgl. Fußnote 5. 14 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 45. 15 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 45f. 11 7 vereinbar.16 Es kam „zu einer besonderen Betonung der Vorstellung vom moralischen Wert der Mutterschaft, wonach die Sorge für die Kinder und die Haushaltsführung die würdigsten, befriedigendsten Aufgaben der Frauen seien“17. Der Mann, als Familienvorstand, beteiligte sich hingegen nicht im Haushalt und bei der Betreuung und Versorgung der Kinder, da diese Arbeiten als unmännlich galten. Auch wenn die Frau einen finanziellen Beitrag durch Heimarbeit leistete, änderte dies nichts an der Position des Mannes. In dieser geschlechtsbedingten Arbeitsteilung und Rollenzuweisung folgte die Arbeiterschicht vorherrschenden bürgerlichen Familienstrukturen.18 Bürgerliche Familien unterschieden sich wesentlich von Bauern- und Arbeiterfamilien. Ein Aspekt bestand darin, dass bürgerliche Frauen bereits im 18. Jahrhundert nicht mehr arbeiteten und der Mann der Alleinverdiener in der Familie war.19 Des weiteren kam es im 19. Jahrhundert, „durch eine deutliche Trennung von Kernfamilie und Gesinde“20, zu einer Privatisierung der bürgerlichen Familie. Außerdem wurden Räumen spezifische Funktionen zugeschrieben, wie Arbeitszimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer und so weiter.21 Diese Änderungen gingen einher „mit einer verschärften Betonung der unterschiedlichen Geschlechtscharaktere von Mann und Frau. Passivität, Emotionalität und Mütterlichkeit galten als typisch weibliche Merkmale, während für Männer Aktivität, Rationalität und Berufsorientierung kennzeichnend sein sollten.“22 Zudem wurde versucht, die sozialen Unterschiede zwischen Mann und Frau „als biologisch verankerte Geschlechtsmerkmale nachzuweisen […], [um] die alten patriarchalischen Familienstrukturen und Rollenzuweisungen“23 zurückzugewinnen und zu untermauern. Es kam auch zu einer veränderten Einstellung gegenüber Kindern, seitdem unter anderem in pädagogischen, philosophischen und medizinischen Schriften der Familienerziehung für die Entwicklung der Kinder große Bedeutung zugeschrieben wurde und die Mutter hierbei als zentrale Figur für die Erziehung der Kinder genannt 16 Vgl. Jack Goody, Geschichte der Familie, München 2000, S. 181, 215. Jack Goody, Geschichte der Familie, S. 215. 18 Vgl. Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. S. 274. 19 Vgl. Jack Goody, Geschichte der Familie, S. 215. 20 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 20. 21 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 20f. 22 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 5f. 23 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 6. 17 8 wurde.24 „Der Geschlechtscharakter der Frau wurde maßgeblich über ihre mütterlichen Funktionen und Fähigkeiten gegenüber Kindern und Männern festgeschrieben, die Frau dazu verpflichtet, vor allem Mutter und mütterlich zu sein.“25 Während Frauen aus wohlhabenden Häusern früher ihre Säuglinge von Ammen auf dem Land versorgen und erziehen ließen, war es ihnen nun ein Anliegen, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern. Frauen stillten ihre Kinder selbst, gaben ihnen Nähe und Zärtlichkeit, beschäftigten sich mit den Entwicklungphasen von Kindern und ihrer körperlichen Pflege. Liebe wurde von nun an als Basis für Ehe und Familie gesehen und das (Klein-) Kind ins Zentrum des Familienlebens gestellt. Dieses intensive Eingehen auf das Kind und seine Entwicklungsphasen, sowie pädagogische Förderung dieser, blieb jedoch lange Zeit ein Privileg wohlhabender Schichten, denn nur diese standen nicht unter dem finanziellen Druck, dass alle Familienmitglieder zum Lebensunterhalt beitragen mussten und Kleinkinder deshalb nicht als finanzielle Bedrohung angesehen wurden.26 Dies führte aber auch dazu, dass Kinder unter dem Aspekt der ‚kindgerechten Erziehung‘ immer stärker „aus der Lebenswelt der Erwachsenen ausgegliedert“27 wurden. Durch Kinderzimmer, Kindermöbel, Spielzeug und Kinderliteratur wurde eine Welt für Kinder geschaffen.28 Doch nicht nur Kindheit, auch Jugend wurde als eine entscheidende Phase in der Entwicklung angesehen. Hierbei ging es darum, Jugendliche durch Ausbildung auf ihre (berufliche) Zukunft vorzubereiten und zur Selbstständigkeit und Leistungsbereitschaft zu erziehen. Dies führte immer wieder zu Generationenkonflikten, vor allem zwischen Vätern und Söhnen, denn die „Anforderung der Entwicklung selbstständigen Denkens und Handelns stand […] die immer längere Fremdbestimmung in Schule und Ausbildung und vor allem die mangelnde wirtschaftliche Selbstständigkeit gegenüber“29. Doch gerade im Bürgertum, wo so viel Wert auf Entwicklungsförderung und Ausbildung von Kindern gelegt wurde, zeigte sich ein erheblicher Unterschied im Umgang mit Mädchen und Jungen. Denn Wissen und Bildung galten als unweiblich und blieben den Jungen vorbehalten. Die Vermittlung von Wissen und Bildung beschränkte sich bei Mädchen darauf, was sie in ihrer 24 Vgl. Barbara Friebertshäuser, Michael Matzner, und Ninette Rothmüller, Familie: Mütter und Väter, Wiesbaden 2007, S. 180f. 25 Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. S. 269. 26 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 36 und Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. S. 268f. 27 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 38. 28 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 38. 29 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 43. 9 zukünftigen Rolle als Ehefrau, Mutter und Hausfrau wissen mussten.30 Diese Wissensvermittlung folgte einem Erziehungsplan, für dessen Umsetzung in der Familie die Mutter zuständig war. In der Schule bildeten bei Mädchen Fächer mit dem Schwerpunkt Handarbeit die Grundlage, noch vor dem Erlernen von Lesen und Schreiben.31 Handarbeit wurde nicht nur als Mittel gesehen, um sexuelle Triebe zu unterdrücken und Mädchen zur Sittlichkeit zu erziehen, durch „ökonomisch sinnlose, ästhetische Arbeiten [konnten sie auch] den von ihnen geforderten bürgerlichen Fleiß und ihre Klassenzugehörigkeit zeigen“32. Als Vorbild für die Mädchen diente demnach die Mutter. Es zeigt sich aber, dass Mädchen, welche sich stark mit ihrem Vater identifizieren konnten, aus den vorherrschenden Rollenkonventionen ausbrechen konnten. Dies gelang vor allem Mädchen, die als erstes Kind der Familie geboren wurden. Zu einer allgemeinen Aufhebung der Benachteiligung von Mädchen bezüglicher ihrer Bildungsmöglichkeiten kam es jedoch erst im 20. Jahrhundert, hauptsächlich ab den 1960er Jahren.33 So unterschiedlich die Familienstrukturen in den Schichten auch waren, hatten sie alle gemein, dass sie patriachalisch organisiert waren, der Vater die Funktion des Haushaltsvorstands einnahm, und alle im Haushalt lebenden Personen seiner Autorität unterstanden.34 Die Vorstandsposition des Mannes wurde im alltäglichen Leben etwa beim Essen ersichtlich. Während die Frau die Aufgabe hatte „zu kochen und zu servieren, [saßen die] Männer […] am Kopfende des Tisches, schnitten das Fleisch, teilten es zu und sollten angeblich auch mehr davon essen, weil sie die Ernährer der Familie seien“35. Dies lässt sich in allen Gesellschaftsschichten finden und diente gleichzeitig dazu, Kindern vorherrschende geschlechtsspezifische Rollenbilder zu vermitteln.36 Die Frage, welches Verhältnis Väter in den unterschiedlichen Schichten zu ihren Kindern aufbauten, wie sie sich ihren Kindern gegenüber verhielten und ob Vater- 30 Vgl. Melanie Unseld, »Man töte dieses Weib!«. Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart u.a. 2001, S. 56. 31 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 106. 32 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 107. 33 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 107. 34 Solche Definitionen von ‚Vaterschaft‘ finden sich in Lexika noch bis in die 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts (vgl. Barbara Friebertshäuser, Michael Matzner, und Ninette Rothmüller, Familie: Mütter und Väter, S. 182). 35 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 39. 36 Vgl. Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 39. 10 Kind-Beziehungen erkennbar waren, wurde in der Forschung bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinreichend untersucht.37 Es lassen sich jedoch „sowohl für den abwesenden, strengen oder gar brutalen Vater als auch für den präsenten und liebevollen Vater für jede Epoche und Gesellschaft entsprechende Belege finden. Insgesamt kann man feststellen, dass Väter in früheren Zeiten oft präsenter für ihre Kinder waren und eine größere Bedeutung für sie hatten. Vaterschaft in Nordamerika und Europa hatte einen ‚janusköpfigen Charakter‘ indem die Väter oft strenger, andererseits jedoch auch präsenter waren als viele Väter des 19. und 20. Jahrhunderts.“38 Eine allgemeine Aussage über die Tochter-Vater-Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert ist nicht möglich und wird aufgrund der regionalen und schichtsbedingten Unterschiede und der individuellen Situationen der einzelnen Familien auch in Zukunft nur bedingt möglich sein. Es stellt sich die Frage, ob die dargestellten realen Familienverhältnisse in der Kunst widergegeben oder auch ins Gegenteil verkehrt wurden. Inwiefern dies in Richard Wagners Walküre und Richard Strauss‘ Elektra der Fall ist, wird im Fazit dieser Arbeit diskutiert. Zudem wird erörtert, welche möglichen Schwierigkeiten der Vergleich von realen Familienstrukturen und Rollenbildern, mit den Darstellungen in den Werken von Wagner und Strauss aufwerfen kann. 37 Vgl. Barbara Friebertshäuser, Michael Matzner, und Ninette Rothmüller, Familie: Mütter und Väter, S. 183. 38 Barbara Friebertshäuser, Michael Matzner, und Ninette Rothmüller, Familie: Mütter und Väter, S. 182. 11 2 Richard Wagners Walküre 2.1 Entstehungsgeschichte Wagners Arbeit am Ring des Nibelungen, bei welchem er sowohl als Librettist als auch Komponist wirkte, erstreckt sich über einen Zeitraum von 26 Jahren. 39 Als Quellen für die Studie im Blick auf das der Tetralogie zugrunde liegende Sujet führt Wagner das Nibelungenlied, die Edda, Wilhelm Grimms Deutsche Heldensaga, Franz Joseph Mones Untersuchungen zur Geschichte der teutschen Heldensage und eine Übersetzung der Völsungasaga an.40 Wagner nutzte diese Quellen nicht als direkte Vorlage, sondern bediente sich der darin vorkommenden Personen, Handlungen und so weiter, um diese in ein neues Verhältnis zueinander zu bringen. Egon Voss formuliert Wagners Umgang mit den verwendeten Quellen folgendermaßen: „Nahezu alles, was im Ring vorkommt, hat eine nachweisbare Quelle. Doch kaum etwas tritt so auf, wie es in den Quellen steht, oder in dem Sinne, den es dort hat.“41 Als Wagner im Oktober 1848 mit der Prosafassung zu Siegfrieds Tod begann, dachte er noch nicht daran, daraus ein solch umfangreiches Werk zu machen, zu welchem es letzten Endes werden sollte.42 Erst als er im August 1850 mit den Kompositionsarbeiten begann, war er mit Siegfrieds Tod dermaßen unzufrieden, dass er die Arbeiten abbrach und seine Heldenoper im Mai 1851 durch Der junge Siegfried erweiterte.43 1851 entstand Wagners Idee, das Doppelwerk zur Tetralogie 39 In einem Brief an Karl Gaillard, am 30. Januar 1844, begründet Wagner, warum er seine Libretti selbst schreibt. Zwar sei dies ursprünglich nur aus einer Notwendigkeit heraus entstanden, weil ihm niemand ein gutes Libretto schreiben konnte, doch ist es ihm mittlerweile unmöglich geworden einen fremden Text zu komponieren. Dies hat einerseits damit zu tun, dass ihn ein Sujet nicht nur dichterisch sondern auch musikalisch ansprechen muss, andererseits gestaltet er während seiner Arbeit an den Versen bereits im Kopf die musikalischen Motive. Wenn die Verse fertig sind, ist es demnach auch die Musik, welche er anschließend nur noch schriftlich festhalten muss (vgl. Richard Wagner, Richard Wagners Briefe, Bd. 1, Leipzig 1925, S. 134). In seiner Mitteilung an meine Freunde geht Wagner auf die Vorteile ein, die seine Tätigkeit als Dichter und Musiker mit sich bringt. Zwar arbeitet er an seinen Werken zunächst als Dichter und dann als Musiker, jedoch war er ein „Dichter, der des musikalischen Ausdrucksvermögens für die Ausführung seiner Dichtung sich im voraus bewußt war“ (Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 6 Reformschriften 1849-1852, Frankfurt a.M. 1983, S. 295). 40 Vgl. Brief an Franz Müller vom 9. Januar 1856 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VII März 1855 – März 1856, Leipzig 1988, S. 334-337 und Richard Wagner, Mein Leben, München 1976, S. 356f.). Für eine detaillierte Auflistung der Quellen vgl. Egon Voss, Der Ring des Nibelungen: Einführung, Kassel 2012, S. 332f. 41 Egon Voss, Der Ring des Nibelungen: Einführung, S. 333. 42 Im selben Jahr entstand der Aufsatz Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage und der Prosaentwurf Die Nibelungen-Saga (Mythus), welcher unter dem Titel Der Nibelungen-Mythus. Als Entwurf zu einem Drama gedruckt wurde (vgl. Peter Wapnewski, Musikdrama, Stuttgart 1986, S. 270). 43 Vgl. Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV. Richard Wagner – Texte zum Musiktheater, Laaber 2004, S. 208. 12 auszuweiten.44 In den Jahren 1851 und 1852 fertigte Wagner die Prosaentwürfe und Versdichtungen zu Raub des Rheingoldes (später Das Rheingold) und Walküre an und überarbeitete Der junge Siegfried (später Siegfried) und Siegfrieds Tod (später Götterdämmerung). Am 15. Dezember 1852 hatte er die Dichtung des Ring des Nibelungen abgeschlossen und ließ 1853 auf eigene Kosten 50 Exemplare drucken.45 Die Kompositionsarbeit erfolgte, sieht man von den Kompositionsskizzen zu Siegfrieds Tod im Jahr 1850 ab, in werkchronologischer Reihenfolge. So entstanden zwischen 1853 und 1857 die Kompositionen zu Rheingold, Walküre und der 1. Aufzug von Siegfried. Im Juli 1857 brach Wagner seine Arbeit mitten im 2. Aufzug von Siegfried ab, setzte diese 1864/65 fort und unterbrach sie daraufhin gleich wieder für mehrere Jahre, um an Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg zu arbeiten. Im März 1869 nahm er die Arbeit am Ring des Nibelungen wieder auf und konnte sein Werk nach der Fertigstellung von Siegfried und der Komposition der Götterdämmerung schließlich am 21. November 1874 abschließen.46 Das Rheingold und die Walküre wurden auf Anordnung von König Ludwig II bereits vor den ersten Bayreuther Festspielen, gegen Wagners Willen, am Königlichen Hof- und Nationaltheater in München uraufgeführt.47 Zu einer vollständigen Aufführung des Ring des Nibelungen und gleichzeitigen Uraufführung von Siegfried und der Götterdämmerung kam es erst bei den ersten Bayreuther Festspielen im Jahr 1876.48 44 In seinem Brief an Theodor Uhlig vom 3. November 1851 spricht er diese Idee an. In einem weiteren Brief an Uhlig, am 12. November 1851, geht er ausführlicher darauf ein und begründet außerdem seine Ergänzung von Siegfrieds Tod durch Der junge Siegfried (vgl. Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. IV Briefe der Jahre 1851 – 1852, Leipzig 1979, S. 161-163, 173-176). 45 Vgl. Hans-Joachim Bauer, Richard Wagner. Einführungen in sämtliche Kompositionen, Hildesheim u.a. 2004, S. 217f. 46 Vgl. Hans-Joachim Bauer, Richard Wagner, S. 218-221. 47 Das Rheingold wurde am 22. September 1864, die Walküre am 26. Juni 1870 uraufgeführt. Teile von der Walküre wurden bereits 1856 in Zürich und 1862 in Wien konzertant aufgeführt (vgl. Egon Voss, Der Ring des Nibelungen: Einführung, S. 334f.). 48 Das Rheingold wurde am 13. August, die Walküre am 14. August, Siegfried am 16. August und die Götterdämmerung am 17. August aufgeführt. Teile aus der Götterdämmerung wurden bereits am 25. März 1875 im Musikverein in Wien unter der Leitung von Wagner aufgeführt (vgl. Egon Voss, Der Ring des Nibelungen: Einführung, S. 335). 13 2.2 Analyse der Textebene 2.2.1 Brünnhilde und Wotan Die wohl wesentlichsten Figuren im Ring des Nibelungen, wenn man sich mit der Thematik der Tochter-Vater-Beziehung beschäftigt, sind Wotan und Brünnhilde. Obwohl die beiden nur in der Walküre aufeinandertreffen, wird ihr Verhältnis zueinander nicht nur deutlich erkennbar, sondern erfährt auch einen entscheidenden Einschnitt, von ihrem ersten Aufeinandertreffen in der ersten Szene im zweiten Aufzug, bis hin zu ihrem endgültigen Abschied in der dritten Szene im dritten Aufzug. Um die Tochter-Vater-Beziehung von Brünnhilde und Wotan besser erörtern zu können, werden die beiden Figuren vorab unabhängig voneinander dargestellt. 2.2.1.1 Wotan Die Figur Wotans ist der germanisch-altnordischen Mythologie entnommen und entspricht dem Gott Odin beziehungsweise Wuotan.49 Er repräsentiert das Oberhaupt der Götter und stellt „the dynamic force and the ruling will of the universe“50 dar. Wagner schreibt an seinen Freund August Röckel über Wotan: „[S]ieh Dir ihn recht an! er gleicht uns auf’s Haar; er ist die Summe der Intelligenz der Gegenwart […].“51 Dieter Schickling veranlasst Wagners Aussage zu der Schlussfolgerung, dass Wotan für Wagner „kein mythischer Gott und schon gar kein alter Germane [ist], sondern innigster Ausdruck der eigenen Zeit, er besitzt jegliche Aktualität: der Mensch als Verbrecher“52. Schicklings Charakterisierung des ‚Menschen als Verbrecher‘ erscheint etwas drastisch und verallgemeinernd – dass Wotan diese Eigenschaft repräsentiert, das stimmt jedoch. Wotan zeichnet sich vor allem durch seine teils fragwürdigen Moralvorstellungen und sein widersprüchliches Handeln im Bezug auf seine eigenen Ideologien aus. Bereits im Rheingold wird man mit einigen Ereignissen konfrontiert, welche die Persönlichkeit Wotans deutlich zutage treten lassen. Sein erster moralischer sowie rechtlicher Fehltritt beginnt mit dem Abschluss des Vertrages mit den Riesen, wodurch den Riesen Freia als 49 Für ausführlichere Erläuterungen über Wuotan beziehungsweise Odin vgl. Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, Stuttgart u.a. 2001, S. 30-32. 50 Elizabeth Magee, Richard Wagner and the Nibelungs, Oxford u.a. 1990, S. 175. 51 Brief an August Röckel vom 25./26. Januar 1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, Leipzig 1986, S. 69). 52 Dieter Schickling, Abschied von Walhall. Richard Wagners erotische Gesellschaft, Stuttgart 1983, S. 50. 14 Lohn für den Bau von Walhall zugesichert wird. Der moralische Fehltritt53 liegt darin, dass er Freia, die Schwester seiner Frau Fricka, skrupellos einsetzt, um seine Burg zu bekommen. Als Fricka ihm deshalb Vorwürfe macht, gibt er ihr die Schuld am Bau von Walhall.54 Der rechtliche Verstoß – welcher gleichzeitig auch einen moralischen Fehltritt beinhaltet – liegt darin, dass Wotan einen Vertrag abgeschlossen hat55, welchen er nie einzuhalten im Sinn hatte.56 Als die Riesen schließlich kommen, um ihren Lohn entgegenzunehmen, versucht Wotan, sich mit aller Gewalt aus dem bestehenden Vertrag herauszuwinden: Er beginnt zunächst damit, dass er sich scheinbar nicht daran erinnere, bereits einen Lohn vereinbart zu haben57, versucht die Riesen anschließend davon zu überzeugen, dass er kein Recht hätte, Freia als Lohn einzusetzen58 und tut schlussendlich den ganzen Vertrag als einen Scherz ab59. Als Wotan die Möglichkeit erhält, Freia zu retten, indem er für die Riesen das Gold von Alberich stiehlt, äußert er plötzlich moralische Bedenken: „Seid ihr bei Sinn? Was nicht ich besitze, soll ich euch Schamlosen schenken?“60 Wenn man bedenkt, wie unbedacht und skrupellos er zuvor Freia als Lohn eingesetzt hat, kann dieser Aussage nur wenig Glaubwürdigkeit abgerungen werden. Als Wotan schließlich doch den Schatz und den Ring von Alberich stiehlt, weigert er sich, den Riesen den Ring zu geben und ist stattdessen im Begriff, Freia endgültig zu opfern. Erst nachdem Erda Wotan vor den Folgen, die der Fluch des Ringes mit sich bringt, warnt, übergibt Wotan den Riesen – nicht den Rheintöchtern, wie es Erda geraten hat –, den Ring und rettet dadurch Freia.61 53 Die Rechtslage kann hierbei, aufgrund mangelnder Informationen, nicht erörtert werden. Da im Ring des Nibelungen jedoch häufiger Frauen ohne ihre Zustimmung Männern als Ehefrau zugesprochen wurden, wird davon ausgegangen, dass hierbei kann rechtlicher Verstoß vorliegt. 54 Wotan zu Fricka: „Gleiche Gier war Fricka wohl fremd, als selbst um den Bau sie mich bat?“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, München 1971, S. 536). 55 Darauf, dass Wotan den Vertrag nicht alleine abschloss, gibt es mehrere Hinweise im Libretto, jedoch liegt die Entscheidungsmacht, als Oberhaupt der Götter, letzten Endes bei ihm. Fricka zu Wotan: „Wußt‘ ich um euren Vertrag, dem Truge hätt ich gewehrt; doch mutig entferntet ihr Männer die Frauen, um taub und ruhig vor und allein mit den Riesen zu tagen: so ohne Scham verschenktet ihr Frechen Freia […]“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 536). Als Freia ihre Brüder zu Hilfe ruft, entgegnet ihr Fricka Folgendes: „Die im bösen Bund dich verrieten, sie Alle bergen sich nun!“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 538). 56 Noch bevor die Riesen erscheinen, um ihren Lohn zu erhalten, sagt Wotan zu Fricka: „[…] Freia, die gute, geb ich nicht auf, nie sann dies ernstlich mein Sinn“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 537). 57 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 539. 58 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 539. 59 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 540. 60 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 547. 61 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 570-572. 15 Hier wird erkennbar, dass Wotan zwar ein Rechtssystem mit Verträgen haben möchte und auch aufstellt62, jedoch die Verträge nicht als für ihn selbst bindend ansieht. Udo Bermbach hat dafür folgende Erklärung: „Solche Rechtsdefizite, die auch moralische Defizite sind, resultieren bei Wotan aus seinem nahezu ungezügelten Hang zur Macht.“63 Von anderen erwartet Wotan nicht nur, dass sie sich an die aufgestellten Verträge halten, sondern er verlangt von ihnen ein moralisches Handeln, welches er selbst nicht zu leisten im Stande ist. Etwa verlangt er von Loge das Versprechen zu halten, einen Weg zu finden, um Freia nicht den Riesen geben zu müssen. Außerdem macht er Loge dafür verantwortlich, dass er, Wotan, dazu eingewilligt hat, Freia als Lohn bereitzustellen.64 Bei der Begegnung mit Alberich in der vierten Szene im Rheingold wirft Wotan Alberich vor, den Ring sein Eigen zu nennen, obwohl er ihn gestohlen hat – dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Wotan selbst mit der Absicht gekommen ist, den Ring zu stehlen, und zwar nicht, um ihn den Rheintöchtern zurückzugeben, sondern um ihn selbst zu behalten. Wotan wirft demnach Alberich ein Vergehen vor, welches er selbst im Begriff ist zu begehen. Dietrich Mack fasst Wotans Auftreten im Rheingold folgendermaßen zusammen: „[E]in erhabener Gott ist er keineswegs. […] Im Rheingold ist Wotan präsent und erbärmlich wie in keinem anderen Werk. Er verwechselt kleinliches Spekulieren, Taktieren und Manövrieren mit Herrschen. Von Anfang an ist er in der Defensive. Wortbrüche (den Riesen gegenüber) und räuberische Handlungen (gegen Alberich) kennzeichnen den ewigen Gott. Von edlen Taten ist im Rheingold wenig zu merken.“65 62 Dieter Schickling weist auf Wotans Hang zu Verträgen auf recht radikale Weise hin: „Wotans ganze Existenz also besteht aus nichts als Verträgen: ein menschliches Monstrum. Wotan selbst wird dieser Zusammenhang erst viel später bewußt: als er in der ‚Walküre‘ den geliebten Sohn Siegmund, den er für große Pläne vorgesehen hatte, opfern muß, weil das von ihm selbst geschaffene Vertragsrecht (das ‚Gesetz‘) es so verlangt. Nun entdeckt er, daß durch Verträge zu herrschen zugleich Fesselung durch Verträge bedeutet“ (Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 52). 63 Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 37. Wie stark Wotans Hang zur Macht ist, wird noch einmal zu Beginn der Götterdämmerung deutlich, wo man aus dem Gespräch zwischen den Nornen erfährt, dass Wotan sogar sein Auge opferte, um vom Quell der Weisheit trinken zu können, und einen Ast von der Weltesche abbrach, um daraus seinen Speer zu fertigen (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 753f.). 64 Wotan zu Fricka über Loge: „Der zum Vertrage mir riet, versprach mir Freia zu lösen: auf ihn verlaß ich mich nun“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 538). Später sagt Wotan zu Loge: „Arglistig weichst du mir aus: mich zu betrügen hüte in Treuen dich wohl! […] Da einst die Bauer der Burg zum Dank Freia bedangen, - du weißt, nicht anders willigt ich ein, als weil auf Pflicht du gelobtest zu lösen das hehre Pfand?“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 542). 65 Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, Regensburg 1971, S. 58. 16 Auch in der Walküre66, Siegfried und der Götterdämmerung erscheint Wotan in keinem besseren Licht.67 In der Walküre wird nicht nur seine Untreue gegenüber seiner Frau Fricka68 thematisiert, es wird auch deutlich, dass er sich im Fall von Erda sogar eines Liebeszaubers bedient hat, um sie sich ihm gefügig zu machen.69 Wotan bricht aber nicht nur Verträge mit anderen und blendet diese mit Täuschungen, er schafft es mithilfe seiner Intrigen beinahe auch, sich selbst zu täuschen. Er hilft Siegmund, schmiedet ihm ein Schwert, zu welchem er ihn hinführt, damit Siegmund in weiterer Folge die Götter vom Fluch des Ringes befreien kann.70 Vor Fricka will er seinen Einfluss auf Siegmund abstreiten und behauptet, Siegmund handle ohne göttlichen Schutz und Einfluss, doch Fricka führt ihm die Wahrheit vor Augen, bis er sie sich schließlich selbst eingestehen muss.71 So gesteht er vor Brünnhilde ein: „Wild durchschweift ich mit ihm die Wälder; gegen der Götter Rat reizte kühn ich ihn auf: gegen der Götter Rache schützt ihn nun einzig das Schwert, das eines Gottes Gunst ihm beschied. Wie wollt ich listig selbst mich belügen? So leicht ja entfrug mir Fricka den Trug: zu tiefster Scham durchschaute sie mich!“72 Sein Scheitern, Siegmund als Erlöser der Götter einzusetzen, lässt ihn erkennen: „[D]er durch Verträge ich Herr, den Verträgen bin ich nun Knecht.“73 Doch auch wenn Wotan durch seinen Fehler, in Siegmunds Schicksal einzugreifen und ihm zu helfen, die Möglichkeit auf Erlösung vertan hat, begeht er letztendlich in Siegfried denselben Fehler. Nun versucht er Siegfrieds Weg zu lenken, indem er beispielsweise Mime den entscheidenden Hinweis gibt, wie es gelingt, Nothung zu schmieden, wodurch Siegfried in den Besitz des Schwertes kommt.74 Oder indem er Alberich scheinbar vor dessen Bruder Mime und Siegfried warnt und ihn dabei gegen Mime aufzuhetzen versucht, um ihn von Siegfried abzulenken.75 Und wie zuvor bei Siegmund streitet Wotan auch bei 66 Auf die Walküre wird vor allem im Kapitel 2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde eingegangen. 67 Mit all den erwähnten negativen Charakterzügen steht Wotan im Ring des Nibelungen jedoch nicht alleine da. Er teilt sie mit einigen anderen männlichen Figuren: Etwa wollten die Riesen Freia nur haben, um die Götter zu vernichten, da sie ohne Freia keine Äpfel mehr hätten, die sie jung halten (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 540f.); Alberich stahl das Gold von den Rheintöchtern, um daraus einen Ring zu schmieden, welcher ihm maßlose Macht verleiht (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 534); und Mime wollte Siegfried benutzen, um an Fafners Schatz zu kommen und ihn anschließend töten (vgl. Siegfried, erster Aufzug, dritte Szene). 68 Bereits im Rheingold spricht Fricka Wotans Untreue an (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 536f.). 69 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 613. 70 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 594-597. 71 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 607-610. 72 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 615f. 73 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 614. 74 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 679f. 75 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 695-697. 17 Siegfried seinen Einfluss auf dessen Lebensweg ab, so betont er vor Alberich, dass Siegfried ohne sein Zutun handelt.76 Als Wotan auf Siegfried trifft, scheinen die Fragen, die Wotan ihm stellt, wie ein Versuch der Selbstbestätigung dafür, dass Siegfried ohne sein Einwirken das Schwert geschmiedet, Fafner getötet, den Ring und die Tarnkappe geholt und schließlich den Weg zu Brünnhilde gefunden hat.77 Schließlich resigniert Wotan vor der durch ihn selbst verursachten Situation. Nachdem er zuvor vergebens versucht hat, durch Siegmund den Fluch des Ringes zu beenden, legt er es nun allein in die Hände Siegfrieds – und Brünnhildes –, die Erlösung zu erzielen. Wotan wirkt von nun an nicht mehr als Herrscher, sondern streift als Wanderer durch die Wälder. Dietrich Mack beschreibt Wotans Resignation als eine Kapitulation in drei Stufen: 1) Durch Fricka wird Wotan mit seiner eigenen Ideologie und deren Fragwürdigkeit konfrontiert. Im darauf folgenden Gespräch mit Brünnhilde wird deutlich, dass er sich dessen durchaus bewusst ist.78 2) „Wotans Weg nach innen, vollzieht sich im Abschied von Brünnhilde. […] Hier wird Wotan […] mit der Hoffnung auf eine neue Menschlichkeit [konfrontiert], die Brünnhilde durch ihre Liebe zu Siegmund und ihr Mitleid mit Sieglinde geweckt hat. An dieser Tat, die die Möglichkeit einer Erlösung verheißt, hat Wotan keinen Anteil. Er muß vielmehr erkennen, daß er das Ende zwar wollen, aber es nicht bringen kann. Dem Gott kann nur ein Mensch helfen. […] Wotan hat dieses System zwar verschuldet, [er erkennt aber] die Morbidität dieser Ideologie und tritt als Herrscher ab. […] ‚Größer jetzt im Entsagen als je da er begehrte‘, schreibt Wagner an Ludwig II.“79 3) Die letzte Stufe ist die „Proklamation des Abschieds“80: Nach dem Abschied von Brünnhilde zieht Wotan als Wanderer umher. Als ihm Siegfried auf dem Felsen als Gegenspieler gegenüber tritt, versucht sich Wotan gegen Siegfried zu stellen und wird von ihm geschlagen. Als Oberhaupt der Götter befindet sich Wotan in einer außerordentlichen Machtposition. Er stellt Gesetze auf und schließt Verträge, an die sich andere halten müssen, welche er für sich selbst jedoch nicht als bindend erachtet. Es zeigt sich, dass Wotans Verhalten gegenüber anderen sich nicht durch einen respektvollen und wertschätzenden Umgang auszeichnet. Es gibt jedoch auch keine Person, in welche er genug Vertrauen hat, um sich ihr gegenüber zu öffnen und seine Ängste und Sorgen 76 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 695. Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 722f. 78 Vgl. Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, S. 58f. 79 Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, S. 59f. 80 Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, S. 60. 77 18 preiszugeben – mit Ausnahme von Brünnhilde, worauf später eingegangen wird.81 Wotans Persönlichkeit stellt sich demnach als narzisstisch, selbstgerecht und rücksichtslos gegenüber anderen dar. Ob nun Wotans Beziehung zu anderen seine Persönlichkeit prägt, oder vielmehr Wotans Persönlichkeit seine Beziehung zu anderen beeinflusst, ist fraglich. Es erscheint jedoch naheliegend, dass eine Wechselbeziehung zwischen beiden Aspekten vorherrscht und sie sich gegenseitig beeinflussen. 2.2.1.2 Brünnhilde Anders als bei Wotan kann die Darstellung von Brünnhilde erst ab dem ersten Aufeinandertreffen der beiden, in der ersten Szene im zweiten Aufzug der Walküre, begonnen werden, da Brünnhilde hier das erste Mal die Bühne betritt. In der Walküre wird jedoch hauptsächlich die Beziehung zwischen Brünnhilde und Wotan thematisiert, weshalb für die Darstellung von Brünnhilde Siegfried und die Götterdämmerung von überwiegender Bedeutung sein werden.82 Brünnhilde ist die Tochter von Wotan und Erda (der „Urwala“83, „der Welt weisestes Weib“84, der „Allwissende[n] […] Urweltweise[n]“85). „Brünnhilde ist mütterlicherseits also eine Schwester der schicksalskundigen Nornen. Sie verbindet die geistige Kraft und den Willen des Vaters mit der naturhaft-unergründlichen, aber passiven Weisheit der Mutter.“86 Als Walküre bringt sie, zusammen mit ihren acht Walküre-Schwestern, die auf dem Schlachtfeld gefallenen Helden nach Walhall wo sie die Götter gegen Alberich verteidigen sollen. Bei der Analyse der Figur Brünnhildes wird in der Literatur immer wieder der Wandel, den Brünnhilde vollzieht, diskutiert und hervorgehoben. Wenngleich die Ansichten vieler WissenschaftlerInnen dahingehend übereinstimmen, dass ein Wandel stattfindet, 81 Siehe Kapitel 2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde. Da sich Brünnhildes Persönlichkeit stark in Abhängigkeit von anderen Personen darstellt und wandelt, wird versucht, ohne den folgenden Kapiteln allzu sehr vorzugreifen, eine Charakterisierung Brünnhildes vorzunehmen. 83 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 571. 84 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 613. 85 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 717. 86 Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, Stuttgart u.a. 2001, S. 83. 82 19 sind die Argumentationen darüber, in welcher Weise und zu welchem Zeitpunkt dieser erfolgt, oft uneinheitlich. Laut Ulrike Kienzle etwa beginnt die „Entfaltung von Brünnhildes Charakter […] mit einer Erfahrung der Liebe (zu Wotan und den Wälsungen), führt durch das Leiden der Wahrhaftigkeit (im Trotz gegen Wotans Gebot, Siegmund zu töten, und in ihrem Affekt der Rache an Siegfrieds Verrat) bis zur Freiheit in einem höheren, metaphysischen Sinn“87. An einer anderen Stelle weist sie jedoch darauf hin, dass Brünnhildes innere Wandlung an der Stelle einsetzt, als sie durch Siegmund mit Liebe und „rückhaltlose[r] Hingabe an den geliebten Menschen“88 konfrontiert wird. Brünnhildes Wandlung definiert sie als Emanzipation, das heißt, der Loslösung aus Unselbstständigkeit und Fremdbestimmung. Nach Sabine Henze-Döhring vollzieht sich Brünnhildes Wandel in einem Identitätswechsel „vom Götterkind und Alter ego Wotans zum – so Wagner – sich ‚opfernde(n) Weib‘“89. Brünnhildes Bewusstsein für ihren Identitätswandel beziehungsweise die Hinnahme von diesem, vollzieht sich jedoch noch nicht mit dem Schlaf, in den sie Wotan versetzt, und auch noch nicht in dem Moment, als sie von Siegfried wachgeküsst wird. Es dauert noch eine Weile, bis Brünnhilde bewusst wird, dass sie keine Walküre mehr ist und sie sich ihrem neuen Schicksal fügt. Erst zu Beginn der Götterdämmerung wird Brünnhildes vollzogener Identitätswandel auch in ihrem Handeln erkennbar, da hier ihr Wissen und ihre kriegerische Stärke verloschen sind.90 Hermann von der Pfordten nennt zwei Szenen, welche für Brünnhildes Wandlung von wesentlicher Bedeutung sind, wonach sich diese quasi in zwei Etappen vollzieht und nicht durch eine Situation, beziehungsweise ein Erlebnis ausgelöst wird. Als erste Szene nennt er die in der Literatur immer wieder so bezeichnete Todesverkündungsszene91, in welcher Brünnhilde Siegmund mit nach Walhall nehmen möchte, dieser sich jedoch weigert, ohne seine geliebte Sieglinde mitzukommen. Von der Pfordten schreibt dazu Folgendes: „Überwältigt von solcher Treue, der sie noch nie begegnet ist, fällt ihm Brünnhilde im Sturm des heftigsten Mitgefühls in den Arm. Eine jähe Wandlung geht in ihr vor: mitleidige Liebe läßt sie 87 Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, S. 84. Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, S. 87. 89 Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, Schneverdingen 2004, S. 137. 90 Vgl. Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 139-141. 91 Walküre zweiter Aufzug, vierte Szene. 88 20 alles vergessen. Hingerissen von dem übermächtigen neuen Gefühl beschließt sie, Wotans Gegenbefehl zu trotzen […].“92 Der zweite entscheidende Moment für Brünnhildes Wandlung ist die Szene, in welcher Siegfried sie mit einem Kuss erweckt: „Brünnhilde aber erfährt nun die entscheidende Wandlung in ihrem ganzen Wesen: aus der Walküre, der spröden, unnahbaren Jungfrau, wird ‚das wild wütende Weib‘.“93 Im Folgenden soll eine neue Darstellung von Brünnhildes Wandlung angestellt werden, welche die These vertritt, dass sich ihre Wandlung nicht nur in unterschiedlichen Phasen vollzieht, sondern dabei gleichzeitig von unterschiedlichen Arten von Liebe und Graden autonomen Handelns begleitet wird.94 In ihrem ersten Auftritt in der Walküre95 erscheint Brünnhilde „in voller Waffenrüstung“96, ihre optische Erscheinung weist demnach bereits auf ihre kämpferische Tätigkeit als Walküre hin.97 Als Walküre führt sie Wotans Befehle aus, auch wenn sie seine Entscheidungen nicht immer nachvollziehen kann – zum Beispiel als er ihr aufträgt, Siegmund im Kampf gegen Hunding nicht zu schützen.98 Brünnhilde kann Wotans Anordnung nicht nachvollziehen, da sie um seine Gefühle gegenüber Siegmund Bescheid weiß: Er liebt Siegmund und hat auch ihr „gelehrt“99 ihn zu lieben. Zu diesem Zeitpunkt kennt Brünnhilde zwar dieses Gefühl platonischer Liebe, wie es 92 Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, Bielefeld u.a. 1921, S. 61. 93 Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, S. 64. 94 Auf die unterschiedlichen Kategorien von Liebe, die bei Brünnhilde zu tragen kommen, weist auch Barry Emslie hin: Eine Kategorie stellt jene Art von Liebe dar, die Brünnhilde schon vor der Todesverkündigung kannte. Sie ist losgelöst von christlichen Vorstellungen von Schuld und sexueller Repression und ist vom Wesen her fröhlich und sorglos. Außerdem ist sie mit Wissen verbunden. Die zweite Kategorie von Liebe, mit welcher Brünnhilde in der Todesverkündigung konfrontiert wird, ist anders – es handelt sich um heterosexuelle, körperliche Liebe. Durch Siegmund tritt Brünnhilde ihrem eigenen sexuellen Erwachen einen Schritt näher. Im letzten Aufzug, in der letzten Szene von Siegfried wird ihr sexuelles Erwachen vollzogen (vgl. Barry Emslie, Richard Wagner and the Centrality of Love, Woodbridge 2010, S. 85). 95 Siehe Walküre, zweiter Aufzug, erste Szene. 96 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 603. 97 Nach Robert Donington zeigt uns Wagner „Brünnhilde zuerst als die unentwickelte Walküre, die sie anfangs ist“ (Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole. Musik und Mythos, Stuttgart 1976, S. 111). 98 Siehe Walküre, zweiter Aufzug, zweite Szene. 99 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617. 21 etwa ein Vater gegenüber dem Sohn, oder die Schwester gegenüber dem Bruder100 verspürt, ihr Handeln ist jedoch noch so stark von Wotan abhängig, dass sie auszieht, um seinem Befehl Folge zu leisten und entgegen ihrer eigenen Wertvorstellungen, zu agieren. Als Brünnhilde auf Siegmund trifft101, geschieht das noch mit dem Vorhaben, Wotans Befehl Folge zu leisten, Siegmund sterben zu lassen und ihn mit nach Walhall zu nehmen. Siegmund weigert sich, Sieglinde alleine zurück zu lassen, und Brünnhilde kann zunächst nicht verstehen, wie er „ewige Wonne“102 ausschlagen und stattdessen den Tod mit Sieglinde wählen kann. Als Siegmund gegen Brünnhilde den Vorwurf erhebt „So jung und schön erschimmerst du mir: doch wie kalt und hart erkennt dich mein Herz! Kannst du nur höhnen, so hebe dich fort, du arge, fühllose Maid!“103, spiegeln seine Worte genau das wider, wozu Brünnhilde als Walküre erzogen wurde. Wotan selbst beschreibt, nach welchem Vorbild er seine Walküren erzog: „Erzog ich euch kühn, zum Kampfe zu ziehn, schuf ich die Herzen euch hart und scharf […].“104 Im selben Moment sieht sich Brünnhilde jedoch durch Siegmund mit einer Art von Liebe konfrontiert, die sie zuvor noch nicht erlebt hat – es ist eine bedingungslose, aufopfernde Liebe, die jedoch nicht mehr platonischer, sondern sexueller Natur ist. Auch wenn Brünnhilde selbst diese Art von Liebe noch nicht erfahren hat und es auch in diesem Moment nicht tut, wird etwas in ihr ausgelöst, was sie das erste Mal nicht nur autonom, sondern auch gegen den Willen Wotans handeln lässt – sie sichert Siegmund ihren Schutz im Kampf gegen Hunding zu. Laut Dieter Schickling ereignet sich hier ein Durchbruch: „[Z]um ersten Mal widersteht Liebe offen dem Gesetz.“105 Auch als Wotan wütend in den Kampf eingreift, bringt Brünnhilde Sieglinde in Sicherheit.106 Dieser Akt des freien und unabhängigen Handelns währt jedoch nicht lange, da Brünnhilde ihre Tat vor Wotan verantworten und schließlich die Konsequenzen dafür tragen muss. Brünnhilde versucht ihre Entscheidung zu rechtfertigen und hofft auf das Verständnis Wotans, doch dieser kann ihr Verhalten nicht entschuldigen und bestraft sie. Brünnhilde scheint zwar zu verstehen, dass Wotan nicht anders handeln kann, und sie ist auch in der 100 Die Vorstellung von platonischer Liebe zwischen Geschwistern wird im Ring des Nibelungen durch die Liebesbeziehung von Sieglinde und Siegmund untergraben. Auch die Liebe zwischen Brünnhilde und Siegfried ist von inzestuöser Natur. 101 Siehe Walküre, zweiter Aufzug, vierte Szene. 102 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 625. 103 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 625. 104 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639f. 105 Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 153. 106 Siehe Walküre, zweiter Aufzug, fünfte Szene. 22 Lage, die Art der Strafe zu einem gewissen Grad zu beeinflussen, doch ist sie in diesem Augenblick wieder vollkommen von Wotan abhängig und verliert ihre zuvor gewonnene Autonomie. Als Siegfried Brünnhilde mit einem Kuss erweckt107, scheint ihr, obwohl ihr Wotan ihr Schicksal verkündet hat, zunächst nicht klar zu sein, was dies für sie bedeutet – nämlich, dass sie nun Siegfrieds Frau ist. Voller Freude darüber, dass er sie aus ihrem Schlaf befreit hat, spricht sie davon, dass sie ihn schon immer geliebt habe. Gemeint ist hier jedoch keine sexuelle Liebe, sondern eine platonische Liebe dem Kind gegenüber, dessen Mutter und Vater sie zu schützen versuchte: „Du warst mein Sinnen, mein Sorgen du, Dich Zarten nährt ich, noch eh du gezeugt, noch eh du geboren, barg dich mein Schild. So lang lieb ich dich, Siegfried!“108 Erst als sie ihre Rüstung neben sich liegen sieht109, die sie nun nicht mehr schützend am Körper trägt, wird ihr bewusst, welche Folgen ihr Erwecken durch Siegfried hat: „Verwundet hat mich, der mich erweckt! Er erbrach mir Brünne und Helm: Brünnhilde bin ich nicht mehr.“ 110 Sie merkt, wie ihr die Kräfte und das Wissen, welche sie als Walküre besaß, abhandenkommen und versucht Siegfried von sich wegzustoßen.111 Erst als Siegfried noch einmal intensiv auf sie eingeht und ihr seine Liebe gesteht, wird sie zur liebenden Frau und stürzt sich in seine Arme.112 Zu Beginn der Götterdämmerung wird Brünnhildes Wandlung von der kämpferischen Walküre zur bedingungslos liebenden Frau deutlich erkennbar – zum ersten Mal erfährt sie selbst die Art von Liebe, die auch Siegmund und Sieglinde geteilt haben. Als Siegfried ihr Alberichs Ring gibt, sie sich „voll Entzücken“ 113 den Ring ansteckt (den sie von nun an „als einziges Gut“114 geizt) und Brünnhilde Siegfried im Gegenzug ihr Pferd Grane überlässt, wird deutlich, dass sie mit ihrem Dasein als Walküre abgeschlossen hat. Während Siegfried zu neuen Taten aufbricht, bleibt Brünnhilde alleine auf dem Felsen zurück und wartet auf seine Rückkehr. Ihr neues 107 Siehe Siegfried, dritter Aufzug, dritte Szene. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 731. 109 Siegfried hat ihr den Helm und die Brünne abgenommen bevor er sie wachküsste. Dadurch wurde ihre Wandlung von der kämpferischen Walküre zum liebenden Weib bereits visuell vollzogen, noch bevor sich Brünnhilde selbst dessen bewusst war (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 728). 110 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 733. 111 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 734f. 112 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 735-738. 113 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 759. 114 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 759. 108 23 Leben als liebende Frau hat sie zwar in Distanz zu Wotan, aber im selben Zug in die Abhängigkeit von Siegfried gebracht. Nun hat sie nicht nur die Möglichkeit zum selbstständigen Handeln aufgegeben, sondern die Möglichkeit zum Handeln generell. Brünnhilde befindet sich in keiner agierenden Rolle mehr, sondern in einer untätigen, indem sie auf dem Felsen zurückbleibt und auf die Rückkehr Siegfrieds wartet. Es ergibt sich eine Art Paradoxon, da die Art von Liebe, die Brünnhilde durch Siegmund kennengelernt und sie erstmals zum selbstbestimmten Handeln – losgelöst von Wotans Befehlen – motiviert hat, sie nun in die völlige Abhängigkeit von einem Mann bringt. Als Waltraute auf den Felsen zurückkehrt und Brünnhilde bittet, den Rheintöchtern den Ring, welchen sie von Siegfried bekommen hat, zurückzugeben, um Wotan und Walhall zu retten, wird deutlich, wie stark sich Brünnhilde bereits von den Göttern und sogar von Wotan distanziert hat.115 Brünnhilde weigert sich, ihr „Liebespfand“116 zur Rettung Walhalls herzugeben, zu wichtig ist ihr Siegfrieds Liebe: „Mehr als Walhalls Wonne, mehr als der Ewigen Ruhm ist mir der Ring […] Denn selig aus ihm leuchtet mir Siegfrieds Liebe, […] Die Liebe ließe ich nie, mir nähmen sie die Liebe, stürzt auch in Trümmern Walhalls strahlende Pracht!“117 In einem Brief an August Röckel schreibt Wagner über Brünnhildes Abwendung von den Göttern Folgendes: „Erlebtest Du nicht, dass Brünnhilde sich von Wodan [sic!] und allen Göttern geschieden um – der Liebe willen, weil sie – wo Wodan Plänen nachhing – nur – liebte? Seit vollends Siegfried sie erweckt, hat sie kein andres Wissen mehr als das Wissen der Liebe. Nun – das Symbol dieser Liebe ist – da Siegfried von ihr zog – dieser Ring: da ihn Wodan von ihr fordert, tritt ihr nur noch der Grund der Trennung von Wodan entgegen (weil sie aus Liebe handelte), und nur eines weiss sie jetzt noch, dass sie allem Götterthume entsagt hat um der Liebe willen.“118 Eine erneute Wandlung in Brünnhildes Verhalten findet statt, als sie den Betrug 119 durch Siegfried erkennt und dadurch aus ihrer hingebungsvollen Liebe zu ihm gerissen wird. Sie kann den Betrug, durch den Mann, dem sie ihre ganze Liebe zuteilwerden ließ, nicht hinnehmen und will diesen durch Siegfrieds Tod rächen. Als ihr Hagen zusichert, den Verrat an ihr zu rächen, verrät Brünnhilde ihm sogar die einzige 115 Siehe Götterdämmerung, erster Aufzug, dritte Szene. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 774. 117 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 775. 118 Brief an August Röckel vom 25./26. Januar.1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 70f.). 119 Durch den Tarnhelm in der Gestalt Gunthers auf dem Walkürenfelsen erscheinend, nimmt Siegfried Brünnhilde den Ring weg, steckt ihn sich selbst an und nötigt sie sexuell. Als Brünnhilde später bei den Gibichungen den Ring an Siegfrieds Finger sieht, wird ihr klar, dass nicht Gunther, sondern Siegfried auf dem Walkürenfelsen war (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 776-778, 788). 116 24 Stelle, an der Siegfried verwundbar ist.120 In dem Augenblick der Erkennung des Betruges wandelt sich Brünnhilde von der hingebungsvoll liebenden, hin zur wild wütenden, nach Rache sinnenden Frau. In dieser Situation handelt sie zwar nicht selbst und ermordet Siegfried, bringt aber Hagen121 und Gunther dazu, dies für sie zu erledigen.122 Erst nach Siegfrieds Tod erfährt Brünnhilde vom Trank, den Siegfried von Hagen erhalten hatte, und welcher ihn dazu brachte Brünnhilde zu vergessen. 123 Die Kenntnis darüber lässt sie von der wild wütenden Rächerin, zur „wissenden Erlöserin“124 werden.125 Brünnhilde musste „der Reinste verraten, daß wissend würde ein Weib“126. Von ihrer Wut auf Siegfried befreit erkennt Brünnhilde, dass sie das Ende herbeiführen muss, um den Fluch des Ringes zu beenden und Erlösung zu erlangen.127 Sie nimmt den Ring von Siegfrieds Finger und lässt den Scheiterhaufen, auf dem er liegt, entzünden. Brünnhilde steckt sich den Ring an ihren Finger und folgt Siegfried, auf dem Rücken von Grane, in die Flammen. Die Rheintöchter erhalten den Ring zurück, und die Flammen erfassen schließlich Walhall, wo die Götter versammelt 120 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 794. Die Tatsache, dass Hagen Siegfried nicht um ihretwillen ermordet hat, sondern nur, um den Ring zu bekommen, wird Brünnhilde später bewusst (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 810). 122 Laut Eva Rieger zeichnet Wagner in „Brünnhilde eine Frau, die stets von männlichen Autoritäten abhängig ist, […] die keine feste Identität hat und die ihre kämpferischen Fähigkeiten verliert, um ein liebendes Weib zu werden. Doch ist sie ungehorsam, und daraus wächst ihr Stärke zu. Zum einen verweigert sie dem Vater die Ausführung seines Befehls, zum anderen rächt sie Siegfrieds Untreue und ihre Vergewaltigung. Beide Male ist sie aber in einen patriarchal-bürgerlichen Rahmen eingebunden […]“ (Eva Rieger, „Die Liebe ist ‚das ewig Weibliche‘ selbst“. Richard Wagners Weiblichkeitskonstruktionen am Beispiel von Brünnhilde, Wiesbaden u.a. 2003, S. 155). 123 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 762f., 766, 811. 124 An August Röckel schrieb Wagner (am 25./26. Januar 1854): „[…] das leidende, sich opfernde Weib wird endlich die wahre wissende Erlöserin: denn die Liebe ist eigentlich ‚das ewig Weibliche‘ selbst“ (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 68). 125 Laut Eva Rieger findet eine „Zweiteilung Brünnhildes in die kämpferische Walküre und die tugendhafte Liebende“ statt, die zwei Seiten werden jedoch ausschließlich nacheinander, niemals zeitgleich präsentiert. „Die neue Brünnhilde ist nur um den Preis der alten zu haben“ (Eva Rieger, „Die Liebe ist ‚das ewig Weibliche‘ selbst“, S. 156). Zu diesem Zeitpunkt hat es jedoch den Anschein als wäre sie weder die eine noch die andere – sie ist keine kämpferische Walküre, welche die Befehle anderer ausführt, und auch keine tugendhafte Liebende, welche sich in die völlige Abhängigkeit eines Mannes begibt. Es ist zwar erkennbar, dass sie Siegfried noch liebt, jedoch handelt sie nun selbstbestimmt. 126 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 813. 127 In Eine Mitteilung an meine Freunde schreibt Wagner im Bezug auf den Fliegenden Holländer: „Als Ende seiner [gemeint ist der Holländer] Leiden ersehnt er […] den Tod; […] Erlösung kann der Holländer aber gewinnen durch – ein Weib, das sich aus Liebe ihm opfert: die Sehnsucht nach dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dies Weib ist aber nicht mehr die heimatlich sorgende […] sondern es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, sage ich es mit einem Worte heraus: das Weib der Zukunft“ (Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 6 Reformschriften 1849-1852, S. 238). Laut Dieter Schickling hat Wagner das Weib der Zukunft in der Figur Brünnhildes umgesetzt (vgl. Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 151). Eva Rieger weist darauf hin, dass Wagner Mathilde Wesendonck als Vorbild für die Figur Brünnhildes verwendet hat (vgl. Eva Rieger, „Die Liebe ist ‚das ewig Weibliche‘ selbst“, S. 158f.) 121 25 sind.128 Zu diesem Zeitpunkt vereint Brünnhilde erstmals Liebe und autonomes Handeln. Ihr gelingt, woran die männlichen Figuren im Ring des Nibelungen, aus unterschiedlichen Gründen, gescheitert sind: die Erlösung. Ulrike Kienzle fasst Brünnhildes Wandlung wie folgt zusammen: „Am Schluß hat Brünnhilde den gesamten Kreislauf göttlichen, menschlichen und sogar dämonischen Lebens durchschritten: von der unberührbaren göttlichen Jungfrau über die menschlich liebende Frau hinab bis zur tiefsten Demütigung, von dort wieder hinauf über die furiengleiche Rächerin bis zur großen Trauernden, zur allwissenden Vollstreckerin des Weltendes. Brünnhilde hat den gesamten Reichtum an Erfahrungen in sich versammelt, den die Tetralogie umfaßt. In ihrem Schicksalsweg ist alles Leid und alle Liebe konzentriert, von denen die übrigen Figuren immer nur Teilaspekte erfahren haben.“ 129 2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde Für die Darstellung der Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde bietet sich aus dem Ring des Nibelungen Zyklus lediglich die Walküre an. Nur hier treffen die beiden Figuren aufeinander und können direkt miteinander kommunizieren und interagieren. In Siegfried und der Götterdämmerung kann die Beziehung der beiden zueinander nur mehr indirekt, durch Gespräche mit anderen oder Handlungen gegenüber Dritten, dargestellt werden. Aus diesem Grund wird in diesem Kapitel vorwiegend die Walküre zur Analyse herangezogen. Brünnhilde ist, wie bereits erwähnt, eine Walküre und hat in ihrer Tätigkeit130 als solche Wotan zu dienen, für ihn zu kämpfen und seinen Befehlen Folge zu leisten. Doch gleichzeitig ist sie mehr als das, sie ist Wotans Lieblingswalküre131, und das hebt sie von ihren Walküre-Schwestern ab. Die beiden verbindet eine enge Beziehung – die Beziehung zu Brünnhilde ist wohl die tiefste und innigste, die Wotan zu einer anderen Person aufbaut. Aus diesem Grund öffnet Wotan sich Brünnhilde und vertraut ihr an, was er sonst keiner anderen Person sagen kann – nur ihr kann er all seine Taten und die 128 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 813-815. Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, S. 100. 130 „Brünnhilde wird gezeugt und geboren als Machtinstrument Wotans: zur Rekrutierung ‚kühner Kämpfer Scharen‘ gegen ‚Alberichs Heer‘, zur Abwehr des ‚Endes‘“ (Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, S. 126). Dieter Schickling bezeichnet Brünnhildes Aufgabe als Walküre als eine untergeordnete, in welcher sie als Sendebotin, Schutzengel und Leichentransporteurin fungiert (vgl. Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 152). 131 Nach Barry Emslie resultiert ihr privilegierter Status daraus, dass Erda ihre Mutter ist und sie Wotan naturgemäß am besten versteht (vgl. Barry Emslie, Richard Wagner and the Centrality of Love, S. 83f.). Laut Sabine Henze-Döhring vereint Wotans Lieblingstochter „auf ‚natürliche‘ Weise Wotans Wille mit der Weisheit Erdas, ihrer Mutter“ (Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, S. 126f.). 129 26 daraus resultierenden Folgen ehrlich offenlegen und seine Fehler eingestehen. 132 Mit seiner Aussage „mit mir nur rat ich, red ich zu dir“133, wird deutlich, dass Brünnhilde nicht nur seine Lieblingstochter, sondern ein integraler Bestandteil seiner selbst ist. Für Udo Bermbach stellt Wotans Liebe zu Brünnhilde demnach eine Form der Selbstliebe dar.134 Gleichzeitig schreibt Bermbach: „[D]och gibt es eine Person135 im Ring, die Wotan, der Machtversessene und Liebesbedürftige, wirklich liebt, wenngleich in eigener Weise: Brünnhilde […]. Es ist ein unvergleichbares Verhältnis zwischen den beiden, aber ob inszestuöse [sic!] Wünsche Wotans dieses Verhältnis mitbestimmen, ist nicht zu entscheiden, bleibt Spekulation. Wohl eher handelt es sich um eine außerordentlich enge Tochter-Vater-Beziehung, die aber zugleich den Gott von einer Seite zeigt, welche der Stratege und Politiker sonst erfolgreich verbirgt.“ 136 In einem Brief an Franz Liszt äußerte Wagner Bedenken über den zweiten Aufzug der Walküre und speziell auch über die Szene zwischen Wotan und Brünnhilde in der zweiten Szene im zweiten Aufzug. Wie wir aus dem Brief erfahren, waren diese Bedenken jedoch nicht von langer Dauer: „Für den inhaltschweren zweiten Akt bin ich besorgt: er enthält zwei so wichtige und starke Katastrophen, daß dieser Inhalt eigentlich für zwei Akte genug wäre; doch sind beide so voneinander abhängig, und die eine zieht die andere so unmittelbar nach sich, daß hier ein Auseinanderhalten ganz unmöglich war. […] In entmutigten, nüchternen Stunden hatte ich die meiste Furcht vor der großen Szene Wodans [sic!] und namentlich vor seiner Schicksalsenthüllung gegen Brünhilde [sic!]; ja in London war ich bereits einmal so weit, die Szene ganz verwerfen zu wollen […].“137 132 Wotan erzählt Brünnhilde alles, vom Vertragsbruch mit den Riesen, über seine List mit der er den Ring von Alberich gestohlen hat, bis zu seinem Eingeständnis, dass Siegmund nicht frei von Götterhand wirkt (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611-616). Nach Carl Dahlhaus handelt es sich hierbei nur scheinbar um einen Dialog, eigentlich stellt die Szene, in der sich Wotan Brünnhilde anvertraut, einen Monolog dar (vgl. Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV, S. 238). 133 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 612. 134 Vgl. Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 44. 135 Die hier vorgenommene Betonung, dass es eine Person gibt, welche Wotan wirklich liebt, scheint legitim. Zwar betont Brünnhilde immer wieder Wotans Liebe zu Siegmund (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617, 644), jedoch scheint es, als fungiere Siegmund lediglich als Wotans Werkzeug. Nicht aus Liebe kümmert er sich um Siegmund, sondern deshalb, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen, damit er den Fluch des Ringes beendet. Nach dem Tod Siegmunds trauert er nicht um den verlorenen Sohn, sondern um die verlorene Möglichkeit auf Erlösung. 136 Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 44. Auch Barry Emslie verweist auf den Aspekt des Inzestuösen in der Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde. Hier geschieht dies jedoch aus der Perspektive von Fricka: „Like many wives and mothers, Fricka distrusts the emotional attachment between her husband and the daughter. The fact that Brünnhilde is not her own biological offspring only makes it easier for her to voice her certainty that Wotan’s deep and loving attachment to Brünnhilde (and we might also infer Brünnhilde’s deep and loving attachment to him) is incestuous” (Barry Emslie, Richard Wagner and the Centrality of Love, S. 120). 137 Brief an Franz Liszt vom 3. Oktober 1855 (Richard Wagner, Richard Wagners Briefe, Bd. 1, S. 361f.). Als die zwei von Wagner angesprochenen ‚Katastrophen‘ benennt Dahlhaus „Wotans verzweifelte Entsagung und Siegmunds Tod“. Ihre Abhängigkeit voneinander sieht Dahlhaus „eher [als] gedanklich und im Zusammenhang der ganzen Tetralogie als dramatisch und in der sichtbaren Handlung“ (Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV, S. 238). 27 Trotz aller Unsicherheiten kam Wagner jedoch zu folgendem Entschluss: „Für den Gang des ganzen großen vierteiligen Dramas ist es die wichtigste Szene und findet als solche wahrscheinlich bald auch die nötige Teilnahme und Aufmerksamkeit.“138 Doch nicht nur durch Wotan, sondern auch durch Brünnhilde wird ihre besondere Beziehung zueinander deutlich. Nachdem Fricka Wotan verlassen hat und Brünnhilde sich ihrem Vater nähert, bemerkt sie sofort seinen leidvollen Zustand und sorgt sich um ihn. Sie will wissen, was ihn bedrückt, schließlich ist sie sein „Wille“139. Brünnhildes Bezeichnung von sich selbst als ‚Wotans Wille‘ verdeutlicht die Besonderheit ihrer Beziehung zueinander, sie ist nicht nur sein „Kind“140 sondern auch sein ‚Wille‘. Fricka unterstreicht Brünnhildes Sonderstellung bei Wotan bereits vorher, indem sie diese als „Wunsches Braut“141 Wotans bezeichnet. Diese Selbstdarstellung Brünnhildes wurde in der Literatur immer wieder aufgegriffen und als Ausgangspunkt für diverse Interpretationen von ihrem Verhältnis zu Wotan herangezogen.142 Für Sabine HenzeDöhring etwa scheint Brünnhildes „Existenz […] untrennbar mit derjenigen Wotans verbunden“143. Nach Udo Bermbach ist Brünnhilde „der Reflex Wotans, sie ist der Spiegel seiner Wünsche und Befehle, sein altera pars und seine ‚anima‘, deshalb auch integraler Teil des Vaters selbst. Mehr als bloße Tochter, mehr auch als Fricka, kennt sie zunächst keine individuelle Eigenständigkeit, sondern nur Einheit in der Zweiheit – das aber verschafft ihr von Anfang an eine Sonderstellung unter allen Walküren, auch gegenüber Fricka.“144 138 Brief an Franz Liszt vom 3. Oktober 1855 (Richard Wagner, Richard Wagners Briefe, Bd. 1, S. 362). In seiner Schrift Publikum und Popularität berichtet Wagner, dass sich ein von ihm „hochgeschätzter würdiger alter Herr von freundlichster Lebensgesinnung“ bei einer Aufführung der Walküre in Bayreuth „über die von ihm als unerträglich empfundene Länge der Scene zwischen Wotan und Brünnhilde“ im zweiten Akt beklagte. Seine Frau „eine ehrwürdige, häuslich sorgsame Matrone“ hingegen bedauerte nur „die tiefe Ergriffenheit von ihr genommen zu sehen, in welcher sie die Klage dieses Heidengottes über sein Schicksal gefesselt hielte“. Wagner selbst bezeichnet den Vorfall als ein Beispiel dafür, dass „die natürliche Empfänglichkeit für unmittelbare Eindrücke von theatralischen Vorstellungen und den ihnen zugrunde liegenden dichterischen Absichten eben so ungemein verschieden ist, wie die Temperamente überhaupt, ganz abgesehen von den verschiedenen Graden der Bildung, es sind“ (Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 10, Berlin u.a. 1914, S. 72). 139 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611. 140 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611. 141 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 607. 142 In der Walküre finden sich noch weitere Aussagen Brünnhildes und Wotans, die Brünnhildes Beziehung zu ihrem Vater verdeutlichen. Es wird angenommen, dass demnach, bei den im Folgenden zitierten Quellen, für die Darstellung der Beziehung Brünnhildes zu Wotan nicht lediglich Brünnhildes eigene Bezeichnung als ‚Wille Wotans‘ herangezogen wurde. 143 Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 126. 144 Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 44f. 28 Bermbach lehnt sich hier an die Interpretation Robert Doningtons an, welche Brünnhilde als Repräsentantin von „Wotans innere[r] Weiblichkeit“ 145 und „Anima“146 schildert. Ulrike Kienzle bezeichnet Brünnhilde als „Spiegel und Echo von Wotans Gedanken“147. Hermann von der Pfordten beschreibt sie als „Wotans Lieblingskind, die Verkörperung seines innersten Wesens und Wollens“148. Dieter Schickling stellt eine deutlich andere Interpretation von Brünnhildes Bezeichnung von sich selbst als ‚Wille Wotans‘ an: „Wotans ‚Wille‘ nennt sie sich, und das ist denn schon beträchtlich mehr, als einer Tochter oder einer Frau überhaupt sonst zusteht. Es klingt so, als bestimme sie, was Wotan entscheidet.“149 Die Tatsache, dass Wotan Siegmund trotz Brünnhildes Einwand töten lassen will, widerlegt Schicklings Annahme. Die Beziehung zwischen Brünnhilde und Wotan äußert sich jedoch nicht nur verbal, sondern auch körperlich. Besonders Brünnhildes Gestik weist auf ein vertrautes Verhältnis zu ihrem Vater hin. Wagner schreibt in den Anmerkungen etwa: „Brünnhilde wirft erschrocken Schild, Speer und Helm von sich und läßt sich mit besorgter Zutraulichkeit zu seinen Füßen nieder“150, und „Sie legt traulich und ängstlich Haupt und Hände ihm auf Knie und Schoß“151. Wotan erwidert ihre Gesten: „Wotan blickt ihr lange in das Auge; dann streichelt er ihr mit unwillkürlicher Zärtlichkeit die Locken.“152 Doch bei aller Vertrautheit und gegenseitiger Zuneigung ist Brünnhilde trotz allem eine Walküre und muss Wotans Befehlen Folge leisten. Daran wird man erinnert, als sie sich – Wotan zuliebe153 – weigert, Siegmund sterben zu lassen, und Wotan ihr 145 Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 128. Robert Donington bezeichnet die ‚innere Weiblichkeit‘ beim Mann (bei der Frau ist es die ‚innere Männlichkeit‘) als Vermittlerrolle, wenn das Ich einer Person zu einem gewissen Vorgehen entschlossen ist, welches jedoch nicht die tatsächlichen Interessen der Person widerspiegelt. 146 Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 128. 147 Auf den Begriff der Spiegel-Metapher geht Kienzle noch genauer ein: „Der Spiegel-Metapher kommt im ganzen Ring große Bedeutung zu; sie umschreibt die Ergänzung von Ich und Du zum ‚vollkommenen Menschen‘, der sich nach Wagners Überzeugung in der Beziehung zwischen Liebenden – zwischen Siegmund und Sieglinde, zwischen Siegfried und Brünnhilde –, aber auch hier – im innigen Einvernehmen von Vater und Tochter – verwirklicht“ (Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, S. 86). 148 Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, S. 61. 149 Dieter Schickling, Abschied von Walhall, S. 152. 150 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611. 151 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611. 152 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 611. 153 Brünnhilde zu Wotan: „Du liebst Siegmund: dir zulieb, ich weiß es, schütz ich den Wälsung“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617). 29 sogar droht, seinen Zorn gegen sie zu wenden154, wenn sie es wagt, gegen seine Anweisungen zu handeln. Brünnhilde ist wegen Wotans Wutausbruch „erschrocken und betäubt“155, doch auch, wenn sie seine Entscheidung nicht nachvollziehen kann, muss sie ihm dennoch gehorchen.156 Wotans und Brünnhildes Beziehung soll jedoch schon bald eine Wandlung erfahren – konkreter formuliert resultiert diese aus Brünnhildes Wandlung157, die sie aufgrund der Erfahrung der Liebe Siegmunds zu Sieglinde vollzieht. Als Brünnhilde beschließt, Siegmund im Kampf gegen Hunding zu schützen, stellt sie sich erstmals gegen den Befehl Wotans. Wesentlich hierbei ist, dass sie zwar gegen seinen Befehl handelt, jedoch nicht gegen seinen eigentlichen Willen.158 Sie kennt Wotans innerstes Sinnen159 und weiß, dass sein Befehl nicht seinem Willen entspricht – als ‚Wotans Wille‘ scheint es demnach ihre Pflicht, seinem Befehl zu trotzen. Auch als Wotan in den Kampf eingreift und mit seinem Speer Siegmunds Schwert zerstört, lässt sich Brünnhilde nicht beirren und rettet Sieglinde.160 „Damit sagt sie sich von Wotan los; es bedeutet nicht einmaligen Ungehorsam, sondern endgültige Scheidung. Denn die Welt, in der der 154 Wotan zu Brünnhilde: „Ha, Freche du! Frevelst du mir? […] Kennst du, Kind, meinen Zorn? […] Wehe dem, den er trifft! Trauer schüf ihm sein Trotz! Drum rat ich dir, reize mich nicht! Besorge, was ich befahl: Siegmund falle! Dies sei der Walküre Werk!“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 618). 155 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 618. 156 Gegenüber Fricka versucht Wotan die Tatsache, dass Brünnhilde allein nach seinen Befehlen handelt zu verleugnen, doch Fricka lässt sich von ihm nicht täuschen. Fricka: „[…] die Walküre wend auch von ihm [Siegmund]!“ Wotan: „Die Walküre walte frei.“ Fricka: „Nicht doch! Deinen Willen vollbringt sie allein: verbiete ihr Siegmunds Sieg!“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 609). 157 Auf Brünnhildes Wandlung wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingegangen (siehe Kapitel 2.2.1.2 Brünnhilde). 158 Auf den Zwiespalt zwischen Wotan’s Befehl und Brünnhildes Handeln weißt auch Elizabeth Magee hin: „Brünnhilde has challenged Wotan’s will; but will is not the only operative factor in choice. As well as the dynamic force of the will there is the affective power of desires, from which spring whishes. […] In defending Siegmund, now, Brünnhilde is acting contrary to Wotan’s orders, yet in accordance with his desires. […] Brünnhilde is acting for Wotan in her capacity of wish-fulfiller, against him in her role as agent of his will. It is not her fault if the two roles are incompatible” (Elizabeth Magee, Richard Wagner and the Nibelungs, S. 175f.). Magee’s Aussage stimmt mit der in diesem Text postulierten insofern nicht überein, als sie Wille mit Befehl gleichsetzt und Brünnhilde demnach gegen Wotan’s Befehl – sprich Willen – handelt, aber in Übereinstimmung mit seinem Wunsch. In diesem Text wird jedoch die These vertreten, dass Wotan’s Befehl und Wille nicht übereinstimmen, sondern sein Wille seinen eigentlichen Wunsch repräsentiert. Demnach handelt Brünnhilde zwar gegen seinen Befehl, aber in Übereinstimmung mit seinem Willen – sprich Wunsch. Möglicherweise sind Wotans Befehl und Wille bis zu diesem Zeitpunkt immer miteinander konform gegangen, hier ist dies jedoch nicht der Fall. 159 Sein innerstes Sinnen besteht darin, mithilfe von Siegmund dem Fluch zu entrinnen und Erlösung zu finden. 160 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 629. Nach Sabine Henze-Döhring tritt Brünnhilde, wenn sie Wotan Ungehorsam leistet, ihm nicht mit einer eigenen Identität gegenüber, sondern lediglich mit dem „besseren, von ihm unterdrückten Teil seines Ichs“ (Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, S. 128). 30 Göttervater gebietet und Brünnhilde bis dahin lebte und wirkte, weiß nichts von Liebe und Mitleid.“161 In der Tat hat Brünnhildes Ungehorsam die Scheidung von der Götterwelt zur Folge, diese Entscheidung trifft sie jedoch nicht selbst, sondern Wotan. Wotans Reaktion und verbaler Wutausbruch über Brünnhildes Tat folgt sofort, nachdem Brünnhilde mit Sieglinde verschwunden ist und Wotan Hunding ermordet hat: „Doch Brünnhilde! Weh der Verbrecherin!“162 Wotan zieht auch gleich eine Konsequenz aus ihrem Ungehorsam: „Furchtbar sei die Freche gestraft […]!“163 Als Wotan später „in höchster zorniger Aufgeregtheit“164 auf dem Walkürenfelsen eintrifft, äußert sich seine Wut auf Brünnhilde noch stärker – er bezeichnet sie als „Verbrecherin […], ewig Verworfene[.]“165 und „Treulose“166. Seine Aussagen gegenüber den Walküren offenbaren, dass Wotans Entrüstung über Brünnhildes Tat aus zweierlei Gründen entfacht wurde: 1) Sie hat als Walküre sein „herrschend Gebot offen verhöhnt“167, weshalb er die Integrität seiner Befehlsmacht als Gott untergraben sieht. 2) Wotan zeigt sich persönlich verletzt und enttäuscht, war es doch gerade Brünnhilde – die sein „innerstes Sinnen“168 und den „Quell [seines] Willens“169 kannte und seines „Wunsches schaffender Schoß“170 war –, welche nun den „seligen Bund“171 zwischen den beiden brach. Dieser Aspekt scheint von noch größerer Bedeutung und wird verdeutlicht, als er Brünnhilde aufzählt, was sie alles für ihn war („Wunschmaid […], Schildmaid […], Loskieserin […], Heldenreizerin […] [und] Walküre“172) und jetzt nicht mehr ist und was sie vorher gemeinsam unternommen haben und nun nicht mehr können („[…] das Trinkhorn nicht reichst du traulich mir mehr; nicht kos‘ ich dir mehr den kindischen Mund […]“173). Wotan ist wütend und auch verletzt darüber, dass sich Brünnhilde – so sieht er es zumindest – mit dieser Tat von ihm lossagte. Er zieht daraus die Konsequenz Brünnhilde zu bestrafen.174 Gleichzeitig will er aber die Verantwortung 161 Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, S. 61. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 629. 163 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 629. 164 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639. 165 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639. 166 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640. 167 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640. 168 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640. 169 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640. 170 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640. 171 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640. 172 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640f. 173 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 641. 174 Die Interpretation darüber, wen oder was Wotan tatsächlich bestraft, zeigt sich in der Literatur vielseitig. Nach Robert Donington wendet sich Wotans Zorn nicht nur gegen Brünnhilde, sondern 162 31 für diese Entscheidung von sich abstreifen, indem er Brünnhilde selbst dafür verantwortlich macht: „Nicht straf ich dich erst, deine Strafe schufst du dir selbst.“175 Die Strafe176 trifft Brünnhilde hart, und sie „sinkt mit einem Schrei zu Boden“177. Dennoch, oder gerade deshalb beginnt sie ihre Tat vor Wotan zu verteidigen. Ihre Verteidigungsrede zeigt zum einen, dass sie hinter ihrem Handeln steht, zum anderen zeigt sie aber auch, dass Brünnhilde trotz Wotans Wut darauf hofft, dass er sie versteht, wie auch sie ihn versteht und dadurch erkennt, dass sie nur aus ihrer Empathie für ihn so gehandelt hat. Brünnhilde plädiert dafür, dass Wotans Befehl, Siegmund nicht zu schützen, nicht seinem eigentlichen Wunsch entsprach, sondern er dabei von Fricka beeinflusst wurde. Doch Brünnhilde wusste um den „Zwiespalt“178, der Wotan hierbei quälte. Aus ihren Worten wird deutlich, wie gut sie Wotan kennt und dass sie über seine wahren Gefühle Bescheid weiß. Es wird aber auch ersichtlich, dass sie in ihrer Tätigkeit als Walküre seinen Befehlen nicht nur blind folgt, sondern diese hinterfragt und ihnen, wenn notwendig, auch entgegenwirkt179, um Wotan in gewisser Weise ‚vor sich selbst zu schützen‘. Wie richtig sie mit ihrer Einschätzung über Wotans Gefühlswelt und ausweglose Situation lag, bestätigt Wotan selbst: „So tatest du, was so gern zu tun ich begehrt; doch was nicht zu tun, die Not zwiefach mich zwang!“180 Umso paradoxer scheint sein Eingeständnis vor dem Hintergrund, dass er nichtsdestotrotz an seinem Beschluss, Brünnhilde zu bestrafen, festhält. Denn obwohl sie zwar seinen Befehl verweigert, aber damit seinen eigentlichen Wunsch verteidigt hat, hat sie sich in seinen Augen dadurch von ihm losgesagt.181 Doch ist es in Wahrheit nicht Brünnhilde, welche sich von Wotan losgesagt hat, genau das Gegenteil ist der Fall – Wotan hat sich von Brünnhilde losgesagt. Auch wenn er erkennt und auch eingesteht, dass er genau so gleichzeitig gegen seine ‚Anima‘ (vgl. Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 128). Auf die Tatsache, dass Donington Brünnhilde als Wotans ‚Anima‘ bezeichnet, wurde bereits früher eingegangen (siehe Kapitel 2.2.1.3 Die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde, S. 29). Ulrike Kienzle weist darauf hin, dass es Wotan mit Brünnhildes Bestrafung nicht nur auf die „Vernichtung ihrer Göttlichkeit, sondern auch ihres Selbstbewußtseins als Frau“ abzielt (Ulrike Kienzle, Brünnhilde – das Wotanskind, S. 87). 175 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640. 176 Wotan verkündet die Strafe, durch welche sie auf dem Walkürenfelsen schlafend, dem Mann, der sie erweckt, zur Frau gegeben wird (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 642). 177 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 642. 178 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 644. 179 Brünnhilde hat zwar, bereits als ihr Wotan seinen Gegenbefehl verkündet hat, bemerkt, dass dieser nicht seinem eigentlichen Wunsch entspricht, die Fähigkeit gegen diesen zu handeln erlangte sie jedoch erst durch ihre Wandlung. Die Wandlung die sie durch Siegmunds Liebe zu Sieglinde erfahren hat, wurde bereits mehrmals angesprochen und erläutert (siehe u.a. Kapitel 2.2.1.2 Brünnhilde, S. 22f.). 180 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 645. 181 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646. 32 handeln wollte, wie es Brünnhilde getan hat, dies jedoch nicht konnte, ist es ihm nicht möglich, sie von ihrer vermeintlichen Schuld loszusprechen.182 Wenn Brünnhilde dies als „starre[n] Trotz[.]“183 bezeichnet, durch welchen er sein „trautestes Kind“184 verstößt, scheint ihr Vorwurf nicht ohne Berechtigung. Hierin erkennt man die Doppelseitigkeit ihrer Beziehung – sie sind nicht nur Vater und Tochter, sondern auch Gott und Walküre. Trotz seiner Liebe zu ihr als Tochter kann er über ihren Ungehorsam als Walküre – als welche sie seinen Befehlen Folge zu leisten hat – nicht hinwegsehen, was mit seinem verletzten Stolz als Gott und Herrscher zu tun hat. Es scheint demnach als würde er bei der Bestrafung ihre Beziehung zwischen Gott und Walküre voranstellen. Einen zentralen Aspekt bei seiner Ablehnung Brünnhilde gegenüber dürfte auch ihre Fähigkeiten zu Mitleid und Liebe, welche sie durch Siegmund erworben hat, einnehmen. Diese Annahme geht aus einigen Aussagen Wotans hervor: „Wo gegen mich selber ich sehrend mich wandte, aus Ohnmachtsschmerzen schäumend ich aufstoß, wütender Sehnsucht sengender Wunsch den schrecklichen Willen mir schuf, in den Trümmern der eig’nen Welt meine ew’ge Trauer zu enden: - da labte süß dich selige Lust; wonniger Rührung üppigen Rausch enttrankst du lachend der Liebe Trank, als mir göttlicher Not nagende Galle gemischt?“185 und „Du folgtest selig der Liebe Macht: folge nun dem, den du lieben mußt!“186 Ob Wotans Ablehnung dessen schlicht daher rührt; 1) dass die Welt der Götter schlichtweg von Mitleid und Liebe nichts weiß;187 oder 2) es daran liegt, dass Brünnhilde das Gefühl von Liebe gerade zu einem Zeitpunkt entdeckt, als er selbst vor „den Trümmern der eig’nen Welt“188 steht und er ihr es deshalb nicht gönnen beziehungsweise es vielleicht auch nicht nachvollziehen kann; oder 3) ob vielleicht doch die These der inzestuösen Gefühle Wotans zu Brünnhilde189 berücksichtigt werden muss, weshalb er es vielleicht nicht ertragen kann, dass ein anderer Mann als er dieses Gefühl bei Brünnhilde ausgelöst hat – auch wenn Siegmunds Liebe nicht Brünnhilde galt und Brünnhilde 182 Robert Donington beschreibt Wotans Reaktion und Zustand folgendermaßen: „Wotan tut genau das, was jeder in seinem gegenwärtigen verblendeten Zustand höchstwahrscheinlich tun würde – er projiziert seine eigenen feindseligen Absichten auf die andere Person, anstatt sie in sich selbst zu sehen. Dadurch kann er die andere Person höchst selbstgerecht genau des Vergehens bezichtigen, das er selbst begeht. Brünnhildes Eingreifen in jene Angelegenheit, die er unterschwellig selbst gern gefördert hätte, hat all die Bitterkeit ausgelöst, die er selbst als ursprünglicher Anstifter des ganzen fehlgeschlagenen Versuchs hätte akzeptieren müssen, befände er sich in einem weniger verblendeten Zustand“ (Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 130). 183 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 643. 184 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 643. 185 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646. 186 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 647. 187 Diese Aussage Hermann von der Pfordtens wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt zitiert (vgl. Fußnote 161). 188 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646. 189 Diese Thematik wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt angesprochen (vgl. Fußnote 136). 33 Siegmund zwar liebte, aber nicht auf sexuelle Art190; – welche Motivation hinter seiner Reaktion steht, kann hier nicht beantwortet werden. Nachdem Brünnhilde es nicht geschafft hat, Wotan zum Einlenken zu bewegen und von ihrer Strafe abzusehen, versucht sie ihm klar zu machen, welche Konsequenzen ihre Bestrafung für ihn selbst hätte: „[D]ie eig’ne Hälfte fern von dir halten, - daß sonst sie ganz dir gehörte […]. Dein ewig Teil nicht wirst du entehren, Schande nicht wollen, die sich beschimpft! Dich selbst ließest du sinken, sähst du dem Spott mich zum Spiel!“191 Nicht nur Brünnhilde würde Wotans Strafe treffen, sondern – davon ist sie überzeugt – auch Wotan selbst. Wie recht Brünnhilde damit hat, wird sich später zeigen. Doch auch jetzt verkennt Wotan die Lage und weicht nicht von seiner Überzeugung ab. Wieder versucht er die Verantwortung für Brünnhildes Schicksal von sich zu schieben.192 Nachdem Brünnhilde Wotan bittet die Art der Strafe nochmals zu wiederholen, wird an ihrer Reaktion deutlich, dass es ihr nicht mehr darum geht die Strafe zu verhindern, sondern lediglich darum, sie zu verändern. Ob dies daran liegt, dass sie eingesehen hat, dass Wotan nicht darauf eingehen würde die Strafe vollkommen zurückzunehmen, oder ob sie inzwischen ein größeres Ziel verfolgt – was ihre Erweckung durch Siegfried und die darauf folgende Erlösung der Götter impliziert – muss hier unbeantwortet bleiben. Brünnhilde will nicht dem „feigsten Manne“193, sondern einem „furchtlos[en] freieste[n] Held[en]“194 zur Frau werden. Als Wotan diesen Wunsch verweigert, stürzt sie sich zu seinen Füßen und fleht ihn an, sie nicht dieser „gräßlichsten Schmach“195 freizugeben und zu ihrem Schutz um den Felsen ein Feuer zu entfachen. Erstmals, seitdem Brünnhilde gegen Wotans Befehl gehandelt hat und so ihr „selige[r] Bund“196 gebrochen wurde, erbarmt sich Wotan Brünnhildes und bringt ihr wieder offen seine Zuneigung entgegen. Er zeigt sich „überwältigt und tief ergriffen […] erhebt sie von den Knien und blickt ihr gerührt in das Auge“197. Erst jetzt scheint er von der Tatsache, dass er diejenige, die er liebt, sein „kühnes, herrliches 190 Wotan hat Brünnhilde sogar ‚gelehrt‘ Siegmund zu lieben (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617). So hat sie geliebt, den auch Wotan geliebt hat (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646). 191 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 646f. 192 Wotan sagt zu Brünnhilde: „Von Walvater schiedest du – nicht wählen darf er für dich“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 647). 193 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 648. 194 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 648. 195 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649. 196 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 640. 197 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649. 34 Kind“198, seines „Herzens heiligste[n] Stolz“199 verliert und sie von nun an nicht mehr in seinem Leben sein wird, emotional ergriffen. Trotz der starken Bindung der beiden zueinander, die hier durch Wotan wieder ersichtlich wird, schafft er es aber auch jetzt nicht, die Strafe von ihr abzuwenden. Doch er erfüllt ihre Bitte: Nur dem ‚freiesten Helden‘ soll es gelingen, das Feuer zu durchqueren und Brünnhilde zur Frau zu bekommen.200 Ob Wotans Entscheidung wirklich nur aus Liebe zu Brünnhilde getroffen wurde, oder ob dahinter (zusätzlich) ein politisches Kalkül201 steckt, weil er dadurch wieder Hoffnung auf Erlösung hat, sei dahingestellt.202 Brünnhilde „sinkt gerührt und begeistert an Wotans Brust“203, sie ist noch immer voller Liebe zu ihrem Vater und scheint zu verstehen, dass er nicht anders handeln kann und sie bestrafen muss.204 Wotans letzte Worte sind voller Reminiszenzen an die gemeinsame Vergangenheit. Schließlich nimmt er ihren Kopf in seine Hände und küsst die Gottheit von ihr. Er ruft Loge, um das Feuer zu entfachen. Wotan fällt der Abschied schwer, mehrmals dreht er sich um und blickt auf Brünnhilde, bevor es ihm gelingt, den Felsen zu verlassen.205 „Wotan […] muß mit ihr sein Liebstes opfern; er ist durch eigene Schuld vernichtet. Wenn er ihr Begehren erfüllt und Loge herbeiruft, um den ‚Feuerzauber‘ zu entzünden, wenn er sie unter der großen Tanne auf beide Augen küßt und die Entschlummernde mit ihren Waffen bedeckt, wenn er nach ergreifendem Abschied mit dem Hinweis auf ihren Erwecker die Szene verläßt, so haben wir den Eindruck: nicht sie erlebt eine Tragödie, sondern er. Er hat alles verloren, sie wird alles 198 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649. 200 „And both she and Wotan know that this has to be Siegfried, already growing in Sieglinde’s womb” (Barry Emslie, Richard Wagner and the Centrality of Love, S. 86). In der Tat führen Brünnhildes Aussagen zur Erkenntnis, dass es sich bei diesem Helden nur um Siegfried handeln kann. Zu Sieglinde sagt Brünnhilde: „Denn Eines wiss‘ und wahr es immer: den hehrsten Helden der Welt hegst du, o Weib, im schirmenden Schoß!“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 637). Später sagt sie zu Wotan: „[D]er weihlichste Held – ich weiß es – entblüht dem Wälsungenstamm!“ und „Sieglinde hegt die heiligste Frucht“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 647). Schließlich bittet sie Wotan, dass nur ein „furchtlos freiester Held“ sie auf dem Felsen finden kann (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 648). Wotan erfüllt ihre Bitte indem „Einer nur freie die Braut, der freier als [er], der Gott“ ist (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649). 201 Udo Bermbach weist auf Wotans politisches Kalkül in dieser Situation hin: „Wie immer die emotionale Befindlichkeit Wotans hier sein mag, selbst in dieser Lage kehrt bei ihm alsbald das politische Kalkül zurück“ (Udo Bermbach, Wotan – der Gott als Politiker, S. 46). Bermbach meint hier Wotans Einwilligung in Brünnhildes Bitte, sie nicht irgendeinem Mann zu geben, was er mit dem Wissen getan hat, dass dieser Mann nur Siegfried sein kann und er so wieder Hoffnung auf Erlösung hat. 202 Paradox erscheint nur die Tatsache, dass Wotan, der zuvor nur noch „das Ende“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 616) wollte, jetzt seine neue Hoffnung auf Erlösung ergreift. Sein Verhalten dürfte aber insofern nicht überraschen, als zuvor bereits gezeigt wurde, dass Wotans Handeln von Widersprüchen geprägt ist (siehe Kapitel 2.2.1.1 Wotan). 203 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 649. 204 In der Tat ist erst ein Zorn Brünnhildes auf Wotan und über ihre Bestrafung erkennbar, als Siegfried in der Gestalt Gunthers auf dem Felsen erscheint, und sich Brünnhilde dadurch von Wotan betrogen und hintergangen fühlt (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 777). 205 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 650f. 199 35 gewinnen; nicht um sie bangt uns, sondern um ihn. Er ist der Unterliegende, ihn wird das Schicksal ereilen; sie aber wird triumphieren.“206 Darauf, wie stark Wotan der Abschied von Brünnhilde trifft, verweist der hier schon mehrmals zitierte Brief Wagners an August Röckel: „Wotan ist nach dem Abschied von Brünnhilde in Wahrheit nur noch ein abgeschiedener Geist: seiner höchsten Absicht nach kann er nur noch gewähren lassen, es gehen lassen wie es geht, nirgends aber mehr bestimmt eingreifen; deswegen ist er nun auch ‚Wanderer‘ geworden […].“207 In Siegfried und der Götterdämmerung wird deutlich, dass Wotan noch viel stärker an Brünnhilde hängt als sie an ihm. Brünnhilde kann zwar nach ihrer Erweckung noch nicht sofort mit ihrem Dasein als Walküre abschließen, doch es dauert nicht lange, bis sie sich in ihr neues Schicksal als liebende Frau begibt.208 Deutlich wird ihre Loslösung von Wotan und der Götterwelt, als Waltraute zu ihr auf den Felsen kommt. Brünnhilde äußert zwar noch kurz ihre Hoffnung darüber, dass Wotan ihr ihre Tat verziehen hat, doch als Waltraute dies nicht bestätigt, geht Brünnhilde nicht weiter darauf ein. Als Waltraute ihr berichtet, dass Wotan seit dem Abschied von ihr nur mehr als Wanderer durch die Welt streifte und jetzt hoffnungs- und tatenlos auf seinem Thron sitzt, weigert sich Brünnhilde zu seiner Rettung Siegfrieds Ring zu opfern.209 Anders verhält es sich bei Wotan – obwohl er sich mit der Bestrafung Brünnhildes von ihr losgesagt hat, gelingt es ihm jedoch nicht, seine Bindung zu ihr zu lösen. Dies zeigt sich in der Szene, in der er auf Siegfried trifft und ihn – obwohl er seine letzte Möglichkeit darstellt, den Fluch vom Ring zu beenden – daran hindern will, zu Brünnhilde zu gelangen. Wagner begründet Wotans Verhalten mit seiner Eifersucht um Brünnhilde: „Sieh, wie er dem Siegfried im dritten Acte gegenüber steht! Er ist hier vor seinem Untergange so unwillkürlicher Mensch endlich, dass sich – gegen seine höchste Absicht – noch einmal der alte Stolz rührt, und zwar (wohlgemerkt!) aufgereizt durch – Eifersucht um Brünnhilde; denn diese ist sein empfindlichster Fleck geworden.“210 206 Hermann von der Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, S. 62. Sabine Henze-Döhring schreibt dazu Folgendes: „Wotans Liebesgefühle für Brünnhilde sind nie stärker als im Augenblick des Abschieds: Sie gelten nicht nur dem Kind, sondern auch ihrer gemeinsamen Hoffnung. In dem Moment, als er von ihr die Gottheit küßt, nimmt er ihr einen Teil ihrer Existenz, löscht damit aber auch einen Teil seiner eigenen aus“ (Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, S. 128f.). 207 Brief von Wagner an August Röckel vom 25./26. Januar 1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 69). 208 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 729-738. 209 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 770-775. 210 Brief von Wagner an August Röckel vom 25./26. Januar 1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 69). 36 Obwohl er die Strafe verhängt hat, scheint es ihm nun, da es soweit ist, nicht möglich zu sein, Brünnhilde ohne Widerstand in die Hände eines Mannes zu übergeben. Bedenkt man jedoch Wotans Worte: „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“211, erscheint die Tatsachen, dass er Siegfried mit seinem Speer herausfordert, als logische Konsequenz. 2.2.2 Wotans andere Töchter – Brünnhildes Schwestern Befasst man sich mit Tochter-Vater-Beziehungen im Ring des Nibelungen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Brünnhilde nicht Wotans einzige Tochter ist. Neben Brünnhilde hat er noch acht weitere Walküren-Töchter212 und Sieglinde, welche aus Wotans Beziehung mit einer menschlichen (nicht-göttlichen) Frau entstanden ist. Im Folgenden soll einerseits erörtert werden, wie Wotans Beziehung zu seinen Töchtern im Libretto dargestellt wird, und andererseits, wie sich Brünnhildes Beziehung zu ihren Schwestern gestaltet. 2.2.2.1 Die Walküren Wotans Beziehung zu Brünnhilde ist die einzige zu einer seiner Töchter, welche eine Tochter-Vater-Beziehung erkennen lässt. Sein Verhalten gegenüber den anderen Walküren213 lässt auf keinen väterlichen Umgang schließen – weder verbal noch non211 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 651. Ihre Namen lauten: Gerhilde, Ortlinde, Waltraute, Schwertleite, Helmwige, Siegrune, Grimgerde und Rossweisse. „The names of Brünnhilde and her eight sisters […] are all composites. Schwertleite, for example, means ‘sword wielder’“ (Jeffrey Peter Bauer, Women and the changing concept of salvation in the operas of Richard Wagner, Anif/Salzburg 1994, S. 137). Ernest Newman erklärt die Bedeutung des Wortes ‚Walküre’ wie folgt: „The ‘Wal-‘ of ‘Walküre’ comes from an old German word signifying battlefield, and the remainder of the word from an old verb ‘küren’ (to choose: cf. the present German verb ‘erküren’, p.p. ‘erkoren’, to choose, elect)” (Ernest Newman, The Wagner Operas, Princeton 1991, S. 511). Gerhad Wahrig Definiert den Begriff Walküre folgendermaßen: „Jungfrau, die in der Schlacht diejenigen auswählt, die sterben u. nach Walhall eingehen sollen {nach a[lt]nord[ischen] Valkyrja; zu germ[anischen] wala – ‚tot, gefallen‘, auch ‚Schlachtfeld‘ […] + kiesen ‚küren, auswählen‘}“ (Gerhard Wahrig (Hg.), Deutsches Wörterbuch. Mit einem "Lexikon der deutschen Sprachlehre", München 1982, S. 4100). 213 Sowohl Jeffrey Peter Bauer, als auch Jonathan Lewsey geben an, dass alle neun Walküren-Töchter von Wotan und Erda sind (vgl. Jeffrey Peter Bauer, Women and the changing concept of salvation in the operas of Richard Wagner, S. 136 und Jonathan Lewsey, Who’s Who and What’s What in Wagner, Aldershot 1997, S. 261). Das Libretto lässt jedoch darauf schließen, dass lediglich Brünnhilde die Tochter von Wotan und Erda ist. Zum Beispiel sagt Wotan zu Brünnhilde: „[…] mit Liebeszauber zwang ich die Wala [gemeint ist Erda], stört ihres Wissens Stolz, daß sie Rede nun mir stand. Kunde empfang ich von ihr; von mir doch barg sie ein Pfand: der Welt weisestes Weib gebar mir, Brünnhilde, dich. Mit acht Schwestern zog ich dich auf […]“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 613). In Siegfried sagt Erda zu Wotan Folgendes: „Ein Wunschmädchen [gemeint ist Brünnhilde] gebar ich Wotan […] was weckst du 212 37 verbal, wie zum Beispiel körperliche Zuneigung. Im Gegensatz zu Brünnhilde bezeichnet er die anderen Walküren nie als seine Kinder oder Töchter, jedoch bezeichnen ihn die Walküren wiederum als Vater.214 Wie Brünnhilde – aber auch Fricka und Erda – verkörpern die anderen Walküren Wotans ‚Anima‘, so Robert Donington.215 Wie Brünnhildes, ist es auch die Aufgabe ihrer Walküre-Schwestern, im Auftrag von Wotan auf dem Schlachtfeld gefallene Helden nach Walhall zu bringen. Jonathan Lewsey beschreibt die Walküren als asexuell, und ihre einzige treibende Kraft besteht darin, Wotan zu dienen.216 Die einzigen Stellen im Ring des Nibelungen, die sich anbieten, um die Beziehung zwischen Wotan und den Walküren sowie Brünnhilde und ihren WalküreSchwestern auszumachen, sind im dritten Aufzug (erste und zweite Szene) der Walküre zu finden. Bereits bevor Brünnhilde auf dem Felsen eintrifft, auf welchem ihre Schwestern warten, um gemeinsam nach Walhall zu reiten, wird einerseits erkennbar, dass sich die Walküren über Brünnhildes Sonderstellung bei Wotan bewusst sind217 – sie müssen mit ihrer Rückkehr nach Walhall auf Brünnhilde warten, da ihnen Wotan sonst „grimmigen Gruß“218 entgegenbringen würde. Andererseits lässt sich ihr Verhältnis zu Wotan hier erstmals erahnen – sie respektieren Wotan und wollen seinen Anweisungen Folge leisten, eventuell auch, weil sie die Konsequenzen bei Missachtung dieser fürchten. Als Brünnhilde auf dem Felsen eintrifft, bringt sie ihre Walküre-Schwestern in eine prekäre Situation: Brünnhilde „[b]rach ungehorsam […] Heervaters heilig Gebot“ 219, ist jetzt auf der Flucht vor ihm und bittet ihre Schwestern um Hilfe. Sie benötigt eines der Pferde ihrer Walküre-Schwestern, um mit Sieglinde weiter fliehen zu können. Doch die Reaktionen der Walküren darauf sind eindeutig – sie lassen sich nicht zu „rasende[m] mich, und frägst um Kunde nicht Erdas und Wotans Kind?“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 718). Wer die Mutter beziehungsweise Mütter der anderen Walküren ist/sind, bleibt hingegen unbekannt. 214 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635, 639, 642. 215 Vgl. Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 128. 216 Jonathan Lewsey, Who’s Who and What’s What in Wagner, S. 261. Ihr, durch Wotan bestimmtes, Handeln betont auch Elizabeth Magee, wenn sie sagt, dass die Walküren keine eigenständigen Entscheidungen treffen, sondern lediglich Wotans Befehle ausführen (vgl. Elizabeth Magee, Richard Wagner and the Nibelungs, S. 173). 217 Laut Jeffrey Peter Bauer ist Brünnhilde die Anführerin der Walküren (vgl. Jeffrey Peter Bauer, Women and the changing concept of salvation in the operas of Richard Wagner, S. 138). 218 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 632. 219 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635. 38 Trotz“220 gegen Wotan aufbringen. Helmwiges Aussage: „Dem Vater gehorch ich“221, drückt die bedingungslose Ergebenheit der Walküren gegenüber, und mit Sicherheit auch Angst vor Wotan aus, welche die Liebe zu ihrer Schwester Brünnhilde zu übertreffen scheint. Jedoch muss hier die Tatsache Berücksichtigung finden, dass es Brünnhilde in ihrer Not – die aus ihrem Ungehorsam gegenüber Wotan entstanden ist – überhaupt wagt, sich an ihre Walküre-Schwestern zu wenden. Dieser Schritt zeugt von Brünnhildes Vertrauen und ihrer Hoffnung auf schwesterlichen Zusammenhalt. Brünnhildes Hoffnung und Vertrauen werden auch nicht enttäuscht, denn, obwohl sich die Walküren bis zuletzt weigern, sich gegen Wotan zu stellen, verstecken sie Brünnhilde vor ihm, als er in „höchster zorniger Aufgeregtheit“222 auf dem Felsen erscheint. Zunächst täuschen die Walküren Unwissenheit über die Geschehnisse vor, doch als sich Wotan nicht beirren lässt, gestehen sie, dass Brünnhilde in ihrer Not zu ihnen gekommen ist. Obwohl sie sehen, wie wutentbrannt Wotan über Brünnhildes Tat ist, beginnen sie für Brünnhilde um Erbarmen zu bitten – er soll seinen Zorn zähmen, bevor er mit Brünnhilde spricht, damit dieser die Schwester nicht mit voller Härte trifft. Doch Wotan hat kein Verständnis für das Mitgefühl der Walküren für Brünnhilde und beschimpft sie als „[w]eichherziges Weibergezücht“223. Nichtsdestotrotz lassen sich die Walküren nicht von ihrem Mitleid für ihre Schwester abbringen und bringen ihr Entsetzen über Brünnhildes Strafe zum Ausdruck. Nachdem Wotan die Strafe verkündet hat, kommen die Walküren in „höchster Aufregung von der Felsenhöhe […] herab und umgeben in ängstlichen Gruppen Brünnhilde“224. Sie beginnen auf Wotan einzureden: „Halt ein! O Vater! Soll die Maid verblühn und verbleichen dem Mann? Du schrecklicher Gott! Wende von ihr die schreiende Schmach! Wie die Schwester träf uns selber der Schimpf!“225 Als ihnen Wotan dasselbe Schicksal androht, wenn sie den Felsen nicht sofort verlassen oder es wagen Brünnhilde noch einmal aufzusuchen, gewinnt letztendlich doch ihre Angst vor Wotan die Überhand, und sie fliehen vom Felsen. 220 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635. 222 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639. 223 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 639. 224 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 642. 225 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 642. 221 39 Aufgrund dieser Szenen können einige wesentliche Aspekte in den Beziehungen zwischen Wotan und den Walküren sowie zwischen Brünnhilde und ihren WalküreSchwestern ausgemacht werden. Zum einen lässt sich die zu Beginn aufgestellte Aussage, dass Wotan gegenüber den Walküren kein liebevolles, väterliches Verhalten an den Tag legt, untermauern. Zum anderen wurde aber auch gezeigt, dass die Walküren – auch wenn sie sich zunächst geweigert haben und sie am Ende doch von Wotan eingeschüchtert wurden – nicht alle Entscheidungen Wotans gutheißen und sich gegebenenfalls auch dagegen auflehnen und ihrem Unmut Ausdruck verleihen. Die innere Gespaltenheit der Walküre-Schwestern Brünnhildes wird in dieser Szene deutlich: Einerseits sind sie Wotan in ihrer Tätigkeit als Walküren treu ergeben, auch aus Angst davor, sich gegen ihn und seine Macht zu stellen. Andererseits ist ihre schwesterliche Verbundenheit zu Brünnhilde so stark, dass sie diese Angst (zumindest kurzzeitig) überwinden. Im Bezug auf Brünnhilde wurde gezeigt, dass sich die Walküren, um ihrer Schwester zu helfen, gegen Wotan stellen, was eine starke schwesterliche Bindung voraussetzt. Angesichts des wütenden Zustandes, in dem sich Wotan befand und der Tatsache, dass die Walküren üblicherweise Wotans Befehlen folgen, erhält dies noch einmal mehr Gewicht. Bezüglich Brünnhilde wurde bereits angemerkt, dass ihr Handeln, ihre Schwestern um Hilfe zu bitten, großes Vertrauen in ihre Beziehung zu diesen voraussetzt – gerade deshalb, weil Brünnhilde – als Walküre – weiß, in welchem Verhältnis ihre Schwestern zu Wotan und seinen Befehlen stehen. Waltraute wird, aufgrund ihres Auftritts in der Götterdämmerung (erster Aufzug, dritte Szene), als einzige der Walküre-Schwestern Brünnhildes separat betrachtet.226 Setzt man sich mit der Szene zwischen Brünnhilde und ihren Walküre-Schwestern in der Walküre und ihrem Aufeinandertreffen mit Waltraute in Siegfried auseinander, lassen sich signifikante Veränderungen feststellen. Als Waltraute auf dem Felsen erscheint, tut sie dies nicht, wie sie zu Beginn behauptet, um Brünnhildes Willen. Und ihre Rückkehr auf den Felsen ist auch nicht, wie es zunächst den Anschein hat, ein mutiges Aufgebehren gegen Wotans Befehl, Brünnhilde nie wieder aufzusuchen. Auf Walhall 226 Jeffrey Peter Bauer beschreibt den Unterschied zwischen Brünnhilde, Waltraute und den andern Walküren folgendermaßen: „The Valkyrie Brünnhilde […] will act in her own capacity. Waltraute will also act on her own (visionary) capacity. All the remaining sisters will act collectively, rather than as individuals” (Jeffrey Peter Bauer, Women and the changing concept of salvation in the operas of Richard Wagner, S. 136). 40 hat sich seit Wotans Abschied von Brünnhilde viel verändert – Wotan schickt die Walküren nicht mehr aus, um gefallene Helden nach Walhall zu bringen, Wotan durchstreifte als Wanderer die Wälder, er ließ die Weltesche fällen und sitzt nun tatenlos auf seinem Thron. Wotan regiert nicht mehr, demnach hat Waltraute wegen ihrem Besuch bei Brünnhilde auch nichts zu befürchten – das Gegenteil ist der Fall: Waltraute fürchtet sich vor dem, was passiert, wenn sich die Situation auf Walhall nicht ändert. Waltrautes Aussage „Dürft ich ihn [Wotan] fürchten, meiner Angst fänd ich ein End!“227 ist für die gegenwärtigen Umstände Wotans und Walhalls bezeichnend. Um Walhall zu retten, kommt sie zu Brünnhilde und bittet diese, den Ring den Rheintöchtern zurückzugeben. Doch auch Brünnhilde hat sich verändert, weshalb sie Waltrautes Bitte nicht nur ablehnt, sondern sie sogar als „fühllose Maid“ 228 bezeichnet, weil sie von ihr verlangt „Siegfrieds Liebespfand“229 herzugeben. Für Brünnhilde steht nun die Liebe zu Siegfried über allem, sogar über der Rettung Wotans, Walhalls und ihrer WalküreSchwestern. Auch wenn Brünnhilde ihre Schwestern in ihrer größten Not beiseite gestanden haben, kann sie, aufgrund ihrer treu ergebenen Liebe zu Siegfried, jetzt nicht dasselbe für sie tun. Hier verliert Brünnhildes Aussage: „Oh seid mir treu, wie traut ich euch war!“230, mit der sie sich in der Walküre an ihre Schwestern gewandt hat, jegliche Bedeutung. So schickt Brünnhilde „lieblos“231 ihre trauernde Schwester fort. Die beiden Schwestern haben sich voneinander distanziert und können die Gefühlswelt der jeweils anderen nicht nachvollziehen und verstehen. Brünnhilde ist nicht in der Lage die „ängstliche Scheu“232, in der sich Waltraute befindet, wahrzunehmen und reagiert infolgedessen unangemessen (Brünnhilde spricht „in höchster freudiger Aufgeregtheit […], [s]ie umarmt Waltraute unter stürmischen Freudenbezeigungen, welche diese mit scheuer Ungeduld abzuwehren sucht“ 233 usw.) auf ihr Erscheinen. Ebenso wenig kann Waltraute Brünnhildes Verhalten – gemeint ist ihre hingebungsvolle Liebe zu Siegfried, welche sie über das Wohl der Götter stellt – 227 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 772. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 774. 229 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 774. 230 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635. 231 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 775. 232 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 771. 233 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 771. 228 41 nachvollziehen. Waltraute spricht von einem „Taumel“234, welcher Brünnhilde erfasst hat. Die Szene in Siegfried zeichnet – bezogen auf die Beziehung zwischen Brünnhilde und ihren Walküre-Schwestern (beziehungsweise Waltraute) – demnach ein vollkommen konträres Bild zu dem in der Szene in der Walküre. 2.2.2.2 Sieglinde Ähnlich wie bei den Walküren ist auch zwischen Wotan und Sieglinde keine TochterVater-Beziehung erkennbar. Auch Sieglinde bezeichnet Wotan nie als seine Tochter oder sein Kind. Auf Seiten Sieglindes ist es insofern etwas komplizierter, als sie nicht weiß, dass Wotan ihr Vater ist – aus diesem Grund kann ihre Beziehung zu Wotan nicht untersucht werden.235 Als Wotan Brünnhilde verbietet Siegmund zu schützen verliert er kein Wort über Sieglinde, es scheint, als wäre ihm ihr Schicksal gleichgültig.236 Auch als ihm Brünnhilde später sagt, dass Sieglinde ein Kind von Siegmund erwartet, lässt er sich nicht für seine Tochter Sieglinde erweichen. Seine Aussage gegenüber Brünnhilde, „Nie suche bei mir [Wotan] Schutz für die Frau [Sieglinde], noch für ihres [Sieglindes] Leibes Frucht!“237, macht dies deutlich. Wie bereits zuvor erörtert wurde, könnte seine negative Reaktion auf Sieglinde und ihr Ungeborenes jedoch auch daran liegen, dass Wotan hierin eine neue Möglichkeit sieht, den Fluch abzuwehren. Damit Sieglindes Kind tatsächlich frei von seiner Führung walten kann, verstößt er sie. Die Beziehung zwischen Brünnhilde und Sieglinde gestaltet sich etwas komplex und ändert sich von ihrem ersten Aufeinandertreffen bis hin zu Sieglindes Flucht. Sieglinde weiß nicht, dass Brünnhilde ihre Schwester ist. Bei Brünnhilde ist zwar anzunehmen, dass sie darüber Bescheid weiß, dass Sieglinde ihre Schwester ist, jedoch bezeichnet sie diese nie als solche.238 Als Brünnhilde zu Siegmund kommt, um ihm seinen Tod zu 234 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 773. Aus dem Libretto geht hervor, dass Wotan und Sieglinde sich bereits vor dem Kampf zwischen Siegmund und Hunding getroffen haben. Es handelt sich hierbei um den Abend an dem Wotan in das Haus Hundings kam und dort Nothung in den Baumstamm stieß. Sieglinde berichtet hierbei von einem Fremden, der plötzlich den Saal betrat (vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 596f.). 236 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617. 237 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 647. 238 Auf Siegmunds Frage, ob er in Walhall seinen Vater vorfindet antwortet Brünnhilde: „Den Vater findet der Wälsung dort“ (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 623). Das und die Tatsache, dass sie Wotans enge Vertraute ist, deuten darauf hin, dass sie weiß, dass Siegmund Wotans Sohn ist. Später 235 42 verkünden und ihn mit nach Walhall zu nehmen, nimmt sie hierbei – wie Wotan – keine Rücksicht auf Sieglinde. Als sich Siegmund weigert, mit ihr nach Walhall zu kommen ist ihr zunächst vollkommen unverständlich, wie er „das arme Weib“239 „ewige[r] Wonne“240 vorziehen kann. Schließlich ist sie aber von seiner Liebe zu Sieglinde so beeindruckt, dass sie anbietet, sich um Sieglinde zu kümmern, wenn Siegmund in Walhall ist. Letztendlich flieht sie, nach Siegmunds Tod, sogar mit Sieglinde, um sie vor Wotan in Sicherheit zu bringen.241 Nachdem Brünnhilde zu Beginn nur Siegmunds Schicksal am Herzen gelegen ist – immerhin hat ihr Wotan nur gelehrt Siegmund zu lieben, nicht jedoch Sieglinde242 – ist es nun jenes von Sieglinde und ihrem ungeborenen Kind. Brünnhilde bringt Sieglinde zu den Walküren und bittet sie Sieglinde zu retten. Als sich die Walküren weigern, Sieglinde zu helfen, bleibt Brünnhilde zurück, um sich alleine dem Zorn Wotans zu stellen, damit Sieglinde fliehen und sich und ihr Ungeborenes in Sicherheit bringen kann.243 Auch Sieglindes Einstellung zu Brünnhilde ändert sich im Laufe der Szene auf dem Felsen. Während Brünnhilde die Walküren anfleht Sieglinde zu helfen, starrt Sieglinde „finster und kalt“244 vor sich hin. Als „Brünnhilde sie lebhaft – wie zum Schutze – umfaßt, [fährt sie] mit einer abwehrenden Gebärde auf“245. Sieglinde macht Brünnhilde Vorwürfe, weil sie sie gerettet hat. Siegmund ist tot, und ohne ihn will auch Sieglinde nicht mehr leben. Als Brünnhilde Sieglinde von dem Kind erzählt, welches sie von Siegmund erwartet, schlägt Sieglindes Stimmung plötzlich um. Jetzt bittet auch sie die Walküre um Hilfe und fleht Brünnhilde auf Knien an, sie und ihr Kind zu schützen.246 Bevor Sieglinde flieht, wendet sie sich „in größter Rührung“247 an Brünnhilde: „O hehrstes Wunder[!] Herrliche Maid! Dir Treuen dank ich heiligen Trost! Für ihn, den wir liebten, rett ich das Liebste: meines Dankes Lohn lache dir einst! Lebe wohl! Dich segnet Sieglindes Weh!“248 Cosima Wagner schreibt in ihrem Tagebuch bezeichnet sie Sieglinde als „Siegmunds Schwester und Braut“, was sie folglich zu Wotans Tochter macht (Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 634). 239 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 625. 240 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 625. 241 Siehe Walküre, zweiter Aufzug, vierte und fünfte Szene. 242 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 617. 243 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 634-637. 244 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635. 245 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 635. 246 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 636. 247 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 638. 248 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 638. 43 über diese Szene: „Am Morgen singt R. mir das Thema von Sieglinde an Brünnhilde und sagt mir: ‚Das bist du - -‘, […].“249 2.2.3 Fricka250 Es scheint, für das in dieser Arbeit behandelte Thema, noch von Interesse, die Beziehung Frickas zu Wotan und Brünnhilde zu betrachten. Speziell im Hinblick darauf, wie die Beziehung der beiden Frauen zu Wotan, ihr Verhältnis zueinander beeinflusst, und weshalb. In einem Brief an August Röckel beschreibt Wagner die Beziehung zwischen Wotan und Fricka: „Das feste Band, das beide bindet, entsprungen dem unwillkürlichen Irrthume der Liebe, über den nothwendigen Wechsel hinaus sich zu verlängern, sich gegenseitig zu gewährleisten, dieses Entgegentreten dem ewig Neuen und Wechselvollen der Erscheinungswelt – bringt beide Verbundene bis zur gegenseitigen Qual der Lieblosigkeit.“251 Die ‚Lieblosigkeit‘, die ihre Beziehung bestimmt, zeichnet sich bereits im Rheingold ab. Wotan nimmt auf die Gefühle seiner Frau Fricka keine Rücksicht. Er setzt Frickas geliebte Schwester Freia als Lohn für den Bau von Walhall ein, was Fricka in Angst und Sorge um ihre Schwester versetzt. Außerdem betrügt Wotan Fricka mit anderen Frauen, dass diese darüber Bescheid weiß und dies nicht gut heißen kann, wird bereits im Rheingold ersichtlich. Vergebens hat sie gehofft, mit dem Bau von Walhall Wotan sesshaft machen zu können. Doch Wotan versteht ihre Aufregung nicht und spielt ihre Vorwürfe wegen seiner Untreue herunter – denn er ehrt doch die Frauen, jedoch „mehr als [Fricka] freut“252. Lässt sich Fricka im Rheingold in ihrer Diskussion mit Wotan immer wieder von ihm zurückdrängen, so tritt sie ihm in der Walküre wesentlich entschiedener entgegen. Fricka bezeichnet sich selbst als „der Ehe Hüterin“253 und hält den „heiligen Eid“254 der Ehe hoch. Sie klagt nicht nur Wotans Betrug an ihr an – 249 Tagebucheintrag vom 15. März 1874 (Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 2 1873-1877, München u.a. 1976, S. 802). Einige Jahre zuvor sagte Richard Wagner zu Cosima, jedoch scherzend, wie sie selbst in ihrem Tagebucheintrag vom 29. Oktober 1870 vermerkt: „Du bist Elisabeth, Elsa, Isolde, Brünnhilde, Eva in einer Person, und ich habe dich geheiratet“ (Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 1 1869-1872, München u.a. 1976, S. 306). 250 Auf Siegmund und Siegfried und ihre Beziehung zu Wotan und Brünnhilde wurde bereits in den vorherigen Kapiteln eingegangen, weshalb dies hier nicht mehr aufgegriffen wird. 251 Brief von Wagner an August Röckel vom 25./26. Januar 1854 (Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, S. 67f.). 252 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 537. 253 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 605. 254 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 605. 44 woraus die Walküren und auch Siegmund und Sieglinde entstanden – sondern auch Siegmunds und Sieglindes Betrug an Hunding. Siegmunds und Sieglindes Vergehen ist in den Augen Frickas sogar in zweifacher Weise verwerflich: 1) Sieglinde betrügt mit Siegmund ihren Ehemann Hunding und 2) Siegmund und Sieglinde sind Geschwister – bei dieser „Blutschande“255 „schaudert [Fricka] das Herz [und] schwindet [ihr] Hirn“256. Wie Wotan im Rheingold seinen Betrug an Fricka rechtfertigen wollte, versucht er nun Siegmunds und Sieglindes Betrug an Hunding zu verteidigen. Er kann eine Ehe, die zwei Unliebende eint – wie es bei Sieglinde und Hunding der Fall war –, nicht ehren und sieht deshalb in der Vereinigung zweier Liebender – auch wenn es sich um Geschwister handelt – nichts Verwerfliches. Fricka zeigt sich davon unbeeindruckt, für sie steht der Bund der Ehe über Liebe.257 Als Wotan Fricka davon überzeugen will, dass Siegmund frei von göttlichem Gesetz und Einfluss handelt, lässt ihn Fricka seinen Selbsttrug erkennen: Siegmund führt nicht seinen eigenen Willen aus, sondern den Wotans – jede scheinbar ‚schicksalhafte Fügung‘, die ihn dort hin geführt hat wo er jetzt ist, wurde durch Wotan herbeigeführt. Um Frickas „heilige Ehre“258 willen soll Wotan nun nicht Siegmund, sondern Hunding den Sieg verschaffen. „[…] indem Fricka Wotan dies zu Bewußtsein bringt, steht sie für mehr als nur eine nörgelnde Frau […]. Sie steht für einen Teil von Wotans innerer Weiblichkeit, der besser als er selbst weiß, was er schließlich wissen muß, da es im Grunde wahr und wichtig für ihn ist.“ 259 Anfangs versucht Wotan Frickas Vorwurf noch zu verleugnen, doch schließlich muss er sich eingestehen, dass „sein moralisches ego, Fricka, im Recht ist“ 260. Aufgrund der Tatsache, dass Wotan Fricka mehrmals betrogen hat, ist es jedoch fraglich, ob er den Entschluss, Siegmund im Kampf nicht zu helfen, tatsächlich gefällt hat, um Frickas Ehre zu verteidigen. Plausibler scheint es, dass, nachdem sich Wotan seinen Selbsttrug eingestanden hat und ihm bewusst wurde, dass Siegmund nie in der Lage sein würde, den Fluch des Ringes zu beenden, er in seiner Hoffnungslosigkeit Frickas Forderung einwilligte. 255 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 605. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 605. 257 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 604-607. 258 Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 610. 259 Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole, S. 115. 260 Dietrich Mack, Zur Dramaturgie des Ring, S. 59. 256 45 Brünnhilde und Fricka treffen nie, beziehungsweise nur sehr kurz aufeinander, die eine verlässt jedes Mal die Bühne, wenn die jeweils andere auftritt261. Dennoch ist erkennbar, dass sich ihre Beziehung zueinander problematisch gestaltet. Dies hat auch damit zu tun, dass Brünnhildes und Frickas Verhältnis zueinander wesentlich von Wotan abhängig ist, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ist Brünnhilde aus Wotans Ehebruch mit Erda entstanden, ihren Ärger darüber drückt Fricka in der Walküre aus: „Die treue Gattin trogest du stets […] und höhnend kränktest mein Herz. Trauernden Sinnes mußt ich’s ertragen, zogst du zur Schlacht mit den schlimmen Mädchen, die wilder Minne Bund dir gebar: denn dein Weib noch scheutest du so, daß der Walküren Schar, und Brünnhilde selbst, deines Wunsches Braut, in Gehorsam der Herrin du gabst.“ 262 Die von ihr vorgenommene Betonung von Brünnhilde als Wotans ‚Wunsches Braut‘, lässt in diesem Zusammenhang darauf schließen, dass Fricka auch die enge Beziehung Brünnhildes zu Wotan missfällt. Doch auch Brünnhilde ist Fricka nicht positiver gesinnt, ist es doch Fricka, die Wotan den ‚Sinn entfremdet‘263 und ihn dazu bringt, Siegmund den Sieg zu nehmen. Zum anderen repräsentierten Brünnhilde und Fricka die zwei „entgegengesetzten Regungen, die in Wotan im Widerstreit miteinander liegen […], [i]st Brünnhilde Wotans Wille […] so ist Fricka Wotans Gewissen“264. Zumindest als es darum geht, Siegmund entweder zu schützen oder seinen Sieg zu verhindern, stehen diese zwei Seiten in einem klaren Widerspruch zueinander und sind somit inkompatibel. Allein diese Tatsache macht es für Fricka und Brünnhilde unmöglich, ein gutes Verhältnis zueinander aufbauen können. 261 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 604, 610. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 606f. 263 Vgl. Richard Wagner, Die Musikdramen, S. 644. 264 Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV, S. 237. 262 46 2.3 Analyse der musikalischen Ebene 2.3.1 Aspekte zur Einführung Für Wagner besaß das Orchester „unleugbar ein Sprachvermögen“265, welches sich in dessen „Vermögen [der] Kundgebung des Unaussprechlichen“266 zeigt. Die im Orchester mitwirkenden Instrumente werden hierbei jedoch nicht als eine klanglich verschmelzende Einheit betrachtet, sondern als „Individualitäten“267, welche die Fähigkeit zur „individuelle[n] Kundgebung“268 besitzen. Das für die Wortsprache – diese versteht Wagner als „Organ des Verstandes“269 – „Unaussprechliche“270, kann mithilfe der Tonsprache, dem „Organ des Gefühles“271, zum Ausdruck gebracht werden – hierbei handelt es sich um Empfindungen und Gefühle. Um die mitgeteilten Empfindungen und Gefühle den HörerInnen verständlich zu machen, benötigt die Tonsprache jedoch die Wortsprache. In Oper und Drama schreibt Wagner dazu: „Die Musik kann nicht denken; sie kann aber Gedanken272 verwirklichen, d.h. ihren Empfindungsgehalt als einen nicht mehr erinnerten, sondern vergegenwärtigten kundtun: dies kann sie aber nur, wenn ihre eigene Kundgebung von der dichterischen Absicht bedingt ist, und diese wiederum sich nicht als eine nur gedachte, sondern zunächst durch das Organ des Verstandes, die Wortsprache, klar dargelegte offenbart. Ein musikalisches Motiv kann auf das Gefühl einen bestimmten, zu gedankenhafter Tätigkeit sich gestaltenden Eindruck nur dann hervorbringen, wenn die in dem Motive ausgesprochene Empfindung vor unseren Augen von einem bestimmten Individuum an einem bestimmten Gegenstande als ebenfalls bestimmte, d.h. wohlbedingte, kundgegeben ward. Der Wegfall dieser Bedingungen stellt ein musikalisches Motiv dem Gefühle als etwas Unbestimmtes273 hin, und etwas Unbestimmtes kann in derselben Erscheinung noch so oft wiederkehren, es bleibt uns immer ein eben nur wiederkehrendes Unbestimmtes, das wir aus einer von uns empfundenen Notwendigkeit seiner Erscheinung nicht zu rechtfertigen, und daher mit nichts anderem zu verbinden imstande sind.“ 274 265 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 7 Oper und Drama, Frankfurt a.M. 1983, S. 308. 266 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 308f. 267 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309. 268 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309. 269 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309. 270 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309. 271 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 309. 272 Ein Gegenstand, der einen bestimmten Eindruck auf jemanden macht, bemächtigt sich dessen Empfindung. Um diese Empfindung mitteilen zu können bedarf es einem Ausdruck beziehungsweise Gedanken (vgl. Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 318f.). 273 Aus diesem Grund findet es Wagner auch unzulässig, in der Instrumentalmusik musikalische Themen als ‚Gedanken‘ zu bezeichnen (vgl. Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 321). 274 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 7 Oper und Drama, S. 321f. In Eine Mitteilung an meine Freunde spricht Wagner von einer ‚Vermählung‘ von Wort- und Tonsprache (vgl. Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Bd. 6 Reformschriften 1849-1852, S. 296). 47 An diese Überlegung lässt sich mit einer Aussage anknüpfen, welche Wagner in seiner Schrift Zukunftsmusik festgehalten hat. Laut dieser liegt die Größe eines Dichters gerade darin, das ‚Unaussprechliche‘ zu verschweigen, der Musiker bringt dies dann mithilfe der ‚unendlichen Melodie‘ zum Erklingen.275 Diese und noch weitere Überlegungen Wagners haben dazu geführt, dass seine Werke, insbesondere auch der Ring des Nibelungen, vor dem Hintergrund der Leitmotivtechnik276 untersucht wurden und werden. Von Wagner selbst sind keine Leitmotivkataloge oder eine Auflistung der Bezeichnungen der verwendeten Motive vorhanden. Insgesamt finden sich in seinen Kompositionsskizzen zum Ring des Nibelungen lediglich elf Motivbezeichnungen.277 Doch auch wenn Wagner selbst keine Leitmotivanalyse durchführte, gab es zumindest zwei Zeitgenossen von ihm, welche 275 Vgl. Richard Wagner, Zukunftsmusik. An einen französischen Freund (Fr. Villot), Leipzig o.J., S. 59. Begriffe wie ‚Leitmotiv‘, ‚Musikdrama‘ oder ‚unendlich Melodie‘ finden in der Wagnerliteratur häufige Verwendung. Unterschiedliche AutorInnen weisen jedoch darauf hin, dass die Definitionen und Interpretationen dieser Termini oft stark divergieren. Dies wird darauf zurückgeführt, dass die Ausführungen Wagners fehlinterpretiert werden, ein Begriff zwar von Wagner verwendet, aber nicht von ihm eingeführt und definiert wurde, oder Wagner diesen Terminus nie verwendet hat und aus diesem Grund keine eindeutige Begriffsbestimmung vorliegt. Sucht man in der Literatur von und über Wagner beispielsweise Hinweise über die Herkunft des Begriffes ‚Leitmotiv‘ und dessen Verwendung durch Wagner, gerät man scheinbar in einen Irrgarten. Nach Hans Joachim Bauer wurde der Begriff ‚Leitmotiv‘ 1871 von Friedrich Wilhelm Jähns in Carl Maria von Weber in seinen Werken eingeführt und von Wagner kaum verwendet (vgl. Hans-Joachim Bauer, Richard Wagner Lexikon, Bergisch Gladbach 1988, S. 234). Martin Gregor-Dellin verweist bei der Erfindung des Terminus auf Hans von Wolzogen (vgl. Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München 1983, S. 866). Auch Hans von Wolzogen gibt an, der erste gewesen zu sein, welcher den Begriff ‚Leitmotiv‘ für die Analyse von Wagners Werken verwendet hat. Jedoch geschah dies erst nach der Veröffentlichung seines Thematischen Leitfades, welchen er für die ersten Bayreuther Festspiele 1876 anfertigte (vgl. Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen. Beiträge zur Erkenntnis von der Musik als Ausdruck, Leipzig 1906, S. 216). Laut Christian Thorau war es hingegen der Musikhistoriker August Wilhelm Ambros, welcher den Begriff 1860 erstmals auf Wagner (und Liszt) bezogen verwendete (vgl. Christian Thorau, Motivtechnik, kompositorische Syntax und Form, Kassel 2012, S. 241). Wolfram Steinbeck weist sogar darauf hin, dass Wagner den Begriff ‚Leitmotiv‘ selbst so nie verwendet hat (vgl. Wolfram Steinbeck, Zur Formfrage in Wagners Ring des Nibelungen, Schneverdingen 2004, S. 280). Zumindest die Aussage von Steinbeck kann widerlegt werden, wenn man Cosima Wagners Tagebucheintrag vom 31. Januar 1879 Glauben schenkt, dort heißt es: „Am Schluß einer Fuge sagt er [Wagner]: ‚K.D. [Kanon(ähnliche) Durchführung] das wiederholt sich auch, da kann man sich schon die Wiederholung meiner Leitmotive gefallen lassen.‘“ (Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 3 1878-1880, München u.a. 1982, S. 300). Um noch einmal auf die Verwendung des Begriffs ‚Leitmotiv‘ in der Wagnerliteratur einzugehen, sei noch auf Gilbert Stöck verwiesen, welcher, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Definitionen des Terminus, dafür argumentiert, stattdessen den Begriff ‚Kennfiguren‘ zu verwenden. Einerseits soll dadurch stärker auf die außermusikalischen Bedeutungen dieser Bezug genommen werden, andererseits soll der Begriff ‚Motiv‘ abstrahiert werden, um die Grenzen, welche dieser mit sich bringt, aufzuweichen (vgl. Gilbert Stöck, Das Kennfigur-System als neuer Zugang zu Richard Wagners „Leitmotiv“-Technik, Wiesbaden u.a. 2003, S. 81-83). 277 Vgl. Christian Thorau, Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners, Stuttgart 2003, S. 127. 276 48 dies taten und von dessen Arbeiten er wusste. Gottlieb Heinrich Federleins Analysen278, welche Wagner selbst als „etwas sehr Anerkenneswertes“279 und „sehr Nützliches“280 bezeichnete, waren nach Hans Paul Freiherr von Wolzogen die ersten, in denen der „Verwendung bestimmter musikalischer Motive ernstlich“281 nachgegangen wurde. Von Federleins Arbeit wurde Wolzogen im Herbst 1874 zu seiner Analyse des Vorspiels zu Siegfried motiviert. Liszt war von dieser so begeistert, dass er ihn bei den Vorproben zu den ersten Bayreuther Festspielen 1875 dazu ermutigte, noch weitere Analysen zu machen.282 Vom Leipziger Verleger Edwin Schloemp wurde Wolzogen schließlich gebeten, einen Thematischen Leitfaden für die Uraufführung des Ring des Nibelungen bei den ersten Bayreuther Festspielen 1876 anzufertigen.283 Während sich Federlein mehr auf den musikalischen Aufbau der Szenen stützte und die Handlung nur geringfügig heranzog, ging Wolzogen vom Drama aus und versuchte dessen Handlung durch musikalische Motive zu erläutern.284 Wolzogen weist darauf hin, dass auch Wagner erkannt hat, dass der Fokus seiner Analysen auf der „Beobachtung des poetischen Elements“285 lag und Wagner sich für den gesamten Ring des Nibelungen eine Analyse gewünscht hätte, welche sich mehr auf die musikalische Ebene stützt – wie es in den Analysen Federleins der Fall war. 278 Federleins Analysen des Rheingold und der Walküre erschienen 1871 beziehungsweise 1872 im Musikalischen Wochenblatt (vgl. Peter Rümenapp, Zur Rezeption der Leitmotivtechnik Richard Wagners im 19. Jahrhundert, Wilhelmshaven 2002, S. 113). 279 Brief von Wagner an Federlein vom 24. Mai 1870 (Richard Wagner, Briefe. Die Sammlung Burrell, Frankfurt a.M. 1950, S. 808). 280 Brief von Wagner an Federlein vom 24. Mai 1870 (Richard Wagner, Briefe. Die Sammlung Burrell, S. 808). Den Tagebucheinträgen (vom 23. Oktober 1870 und 21. Mai 1871) Cosima Wagners zufolge erhielt Richard Wagner Federleins Analysen vor dessen Veröffentlichung (vgl. Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 1 1869-1872, S. 303, 389). 281 Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen, S. 215. 282 Laut Emil Heck klebte er sich die, von Federlein zusammengestellten, Leitmotive aus dem Rheingold und der Walküre an den jeweiligen Stellen im Libretto ein und brachte dieses zur Vorprobe in Bayreuth 1875 mit, woraufhin Liszt dafür Interesse zeigte. Anschließend machte er – Heckel – Hans von Wolzogen den Vorschlag, von Siegfried und der Götterdämmerung eine Analyse in der Art von Federleins zu machen (vgl. Richard Wagner, Richard Wagner an Emil Heckel. Zur Entstehungsgeschichte der Bühnenfestspiele in Bayreuth, Leipzig 1912, S. 106f.). 283 Vgl. Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen, S. 215f. 284 Vgl. Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen, S. 216. 285 Hans von Wolzogen, Musikalisch-dramatische Parallelen, S. 217. Auf diesen Aspekt weist Wagner auch in seiner Schrift Über die Anwendung der Musik auf das Drama hin: „[…] ich habe nur des einen meiner jüngeren Freunde [gemeint ist Hans von Wolzogen] zu gedenken, der das Charakteristische der von ihm so genannten ‚Leitmotive‘ mehr ihrer dramatischen Bedeutsamkeit und Wirksamkeit nach als (da dem Verfasser die spezifische Musik fernlag) ihre Verwertung für den musikalischen Satzbau in das Auge fassend ausführlicher in Betrachtung nahm“ (Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 10, S. 185). Obwohl Wagner, wie bereits erwähnt wurde, Federleins Analysen bekannt waren, nimmt er auf diese hier keinen Bezug. 49 2.3.2 Musikalische Analyse Laut Sabine Henze-Döhring bleibt auf „der textlichen (vordergründigen) Ebene […] vieles ungesagt, was auf der musikalischen (hintergründigen) unmißverständlich zum Ausdruck gebracht wird“286. Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich bezüglich der vorzufindenden Tochter-Vater-Beziehungen in der Walküre mithilfe der Analyse der musikalischen Ebene Erkenntnisse gewinnen lassen, welche auf textlicher Ebene nicht erkennbar waren. Auf Basis der durchgeführten Analyse des Librettos konnte bereits festgestellt werden, dass Wotan lediglich zu Brünnhilde ein väterliches Verhältnis zeigt. Aus diesem Grund beschränkt sich die musikalische Analyse auf Szenen zwischen Brünnhilde und Wotan.287 Die erste Szene zwischen Wotan und Brünnhilde ist die erste Szene des zweiten Aufzugs der Walküre. Bereits bevor sich der Vorhang geöffnet hat, wird Brünnhildes Präsenz musikalisch durch das ‚Walkürenritt-Motiv‘ verdeutlicht, welches in ff von der Basstrompete und drei Posaunen vorgetragen wird.288 Durch die Quart- und Terzsprünge und die unterschiedlichen Notenwerte erhält das Motiv eine prägnante Klanggestalt. Die Veränderung der Tonhöhe des Motivs um eine Terz in jedem Takt steigert die Intensität noch zusätzlich. Walküre Notenbeispiel 1: ‚Walkürenritt-Motiv‘289 286 Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 129. 287 Da viele Leitmotive bereits im Rheingold oder in anderen Szenen der Walküre eingeführt werden, ist es für die Erstellung eines Leitmotivkataloges und die Durchführung einer musikalischen Analyse notwendig, Analysen anderer MusikwissenschaftlerInnen heranzuziehen. Verwendet wurden sechs vollständige Analysen des Ring des Nibelungen – dies gewährleistet die Möglichkeit nachzuvollziehen, wo die jeweiligen Leitmotive zum ersten Mal verwendet wurden (vgl. Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole. Musik und Mythos, Stuttgart 1976, Uwe Faerber, Ersichtlich gewordene Taten der Musik. Musikalische Ausdrucksbestimmungen in Wagners Ring, Frankfurt a.M. u.a. 2003, Edmund E. F. Kühn, Richard Wagners Musikdramen. Sämtliche komponierten Bühnendichtungen, Berlin o.J., Kurt Overhoff, Die Musikdramen Richard Wagners. Eine thematischmusikalische Interpretation, Salzburg 1967, Wolfgang Perschmann, Richard Wagner: „Der Ring des Nibelungen“. Die optimistische Tragödie. Sinndeutende Darstellung, Graz 1986, Richard Wagner, Die Walküre. Der Ring des Nibelungen, München 1982). Aufgrund des teilweise enormen Unterschiedes bezüglich der Anzahl der aufgelisteten Leitmotive, werden lediglich Leitmotive verwendet, welche bei mindestens drei Analysen beziehungsweise AutorInnen vorzufinden sind. Auf Leitmotive, die verwendet werden, obwohl sie nicht in mindestens drei Analysen verwendet wurden, wird gesondert hingewiesen. 288 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, Leipzig o.J., S. 174-176. 289 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 174f. (Basstrompete und Posaunen). Das Motiv tritt hier zum ersten Mal auf. Die abgebildeten Notenbeispiele zeigen das Motiv in seiner jeweiligen ersten 50 Dieser musikalische Vorbote wird im Folgenden verstärkt, indem Brünnhilde musikalisch in ihrer Rolle als Walküre positioniert wird. Es entsteht ein dichtes Geflecht aus allen den Walküren zugeschriebenen Motiven.290 Während vokal der ‚Walkürenruf‘ zu hören ist, erklingen die restlichen ‚Walküre-Motive‘ instrumental und bedienen sich hierbei einer breiten Palette an Instrumentengruppen, welche sowohl Holzblas-, Blechblas- als auch Streichinstrumente umfassen. Die drei Motive weisen eine sehr unterschiedliche Gestalt auf: Das ‚Walkürenruf-Motiv‘ besteht aus großen Sprüngen abwärts und einem kleineren aufwärts. Die ‚Walküren-Motive‘ bestehen aus einem staccato gespielten Wechsel zwischen zwei Sechzehntelnoten, beziehungsweise in Halbtonschritten absteigenden Achtelnoten, welche durch einen Legatobogen verbunden werden. Walküre Notenbeispiel 2: ‚Walkürenruf-Motiv‘ (Rahmen mit durchgehender Linie) und ‚Walküren-Motive‘(Rahmen mit unterbrochener Linie) 291 Die Leitmotive repräsentieren jedoch nicht nur Brünnhildes Rolle als Walküre, sondern gleichzeitig ihre Stellung und Pflichterfüllung gegenüber Wotan. Wotan wird in dieser Szene von keinen Leitmotiven begleitet, weshalb sein Verhältnis zu Brünnhilde auf musikalischer Ebene nicht weiter analysiert werden kann. vollständigen Darstellung im Ring des Nibelungen. In den analysierten Passagen können auch Variationen von diesem vorkommen. 290 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 178-189. 291 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 178f. (über ganzen Orchesterapparat verteilt auch Vokalpart). Die Motive werden hier zum ersten Mal verwendet. 51 Nach der Szene zwischen Fricka und Wotan kommt es zum zweiten Aufeinandertreffen von Wotan und Brünnhilde.292 Noch als Brünnhilde an Wotan herantritt, wird die Grundstimmung der folgenden Szene und der diesen Unmut verursachende Grund musikalisch vorgezeichnet, indem eine um zwei Takte verlängerte Variante des ‚Unmuts-Motivs‘ und das rhythmisch variierte ‚Fluch-Motiv‘ erklingen.293 Das ‚UnmutMotiv‘ erhält durch den Triolenvorschlag und die Verwendung vieler unterschiedlicher Notenwerte einen unruhigen Eindruck. Beim ‚Fluch-Motiv‘ werden, im Gegensatz zum Notenbeispiel, die hintereinander folgenden Töne auf derselben Tonhöhe nicht mehrmals angespielt, sondern zu einem größeren Notenwert zusammengefasst. Dadurch erhält das ‚Fluch-Motiv‘ an dieser Stelle einen ruhigen aber bestimmten Charakter. Walküre Notenbeispiel 3: ‚Unmuts-Motiv‘294 Walküre Notenbeispiel 4: ‚Fluch-Motiv‘295 Brünnhilde vernimmt sofort die gedrückte Stimmung ihres Vaters, ihre Fähigkeit zur empathischen Wahrnehmung der Gefühlslage Wotans wird musikalisch durch das ‚Unmuts-Motiv‘ im Violoncello deutlich. Dass Brünnhilde sich nicht getäuscht hat, wird erkennbar, als auch Wotan von dem ‚Unmuts-Motiv‘, wieder im Violoncello, begleitet wird. Während das Motiv bei Brünnhilde dreimal erklingt und dabei bei jeder 292 Walküre zweiter Aufzug, zweite Szene. Das ‚Unmuts-Motiv‘ erklingt im Oktav-Unisono in der Bassklarinette, drei Fagotten und dem Violoncello, das ‚Fluch-Motiv‘ in drei Posaunen (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 234). 294 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 220 (Bassklarinette, Fagotte, Kontrabässe). Das Motiv taucht erstmals in der Szene zwischen Wotan und Fricka auf, als Wotan durch Fricka gezwungen wird, sich seinen Selbsttrug einzugestehen. Auch wenn er es vor Fricka nicht eingesteht weiß er, dass er Siegmunds Handeln beeinflusst hat – dies erzeugt seinen Unmut (siehe Walküre zweiter Aufzug, erste Szene). 295 Richard Wagner, Das Rheingold, Taschenpartitur, London u.a. o.J., S. 564 (Vokalpart). Nachdem Wotan Alberich den Ring weggenommen hat, verflucht Alberich den Ring mit diesen Worten (siehe Rheingold vierte Szene). 293 52 Wiederholung um eine (große bzw. kleine) Terz höher versetzt wird, fällt es bei Wotan um eine kleine Sexte und eine reine Quinte ab.296 Vermittelt der Anstieg bei Brünnhilde ein Gefühl von Angst über den Unmut Wotans, wird durch den Abfall bei Wotan die Aussichtslosigkeit der Situation sichtbar. Als sich im Folgenden „Wotans Ausdruck und Gebärde bis zum furchtbarsten Ausbruch“297 steigern, spiegelt sich dies im Orchester wider, durch die immer belebtere Spielweise und die Steigerung der Instrumentenanzahl. Wotan legt vor Brünnhilde seine Hoffnungslosigkeit offen, im Orchester wird dies durch die mehrmalige Wiedergabe des ‚Verzweiflungs-Motivs‘298 auf unterschiedlichen Tonhöhen unterlegt. Die Anzahl der spielenden Instrumente wird dabei kontinuierlich gesteigert, was Wotans Verzweiflung zunehmend Nachdruck verleiht. In der letzten Wiederholung wird das Motiv von der ersten und zweiten Violine in einer gedehnten Variante vorgetragen, Hörner und Trompeten treten später aufeinanderfolgend hinzu.299 Durch die crescendierende, aufsteigende Melodielinie und die staccato gespielten Achtelnoten mit anschließender Triole erhält das Motiv einen zunehmend angespannten Eindruck. Walküre Notenbeispiel 5: ‚Verzweiflungs-Motiv‘300 Brünnhilde ist über Wotans Zustand besorgt – sie lässt sich zu seinen Füßen nieder, legt ihren Kopf und ihre Hände auf seinen Schoß. Sie will wissen, was ihm so große Sorge bereitet und beteuert ihre Treue zu ihm. Die Aufrichtigkeit ihrer Liebe zu Wotan wird musikalisch nicht nur bestätigt sondern vielmehr verdeutlicht. Zu ihren letzten Worten „Brünnhilde bittet“301 wird im Vokalpart das ‚Liebes-Motiv‘ eingeleitet, welches im pp von der Bassklarinette, über einem ausgehaltenen F bzw. F‘ des Violoncello und 296 Der Tonverlauf der Anfangstöne bei der fünfmaligen Wiederholung des ‚Unmuts-Motivs‘ verläuft wie folgt: es → g → b → d → G (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 235). 297 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 236. 298 Das ‚Verzweiflungs-Motiv‘ wird ausschließlich in der Analyse von Uwe Färber als Motiv bezeichnet. Aufgrund der Häufigkeit mit der es in dieser Szene vorkommt, wird es hier als Motiv behandelt, obwohl es die oben genannten Kriterien (vgl. Fußnote 288) nicht erfüllt (vgl. Uwe Faerber, Ersichtlich gewordene Taten der Musik, S. 109). 299 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 236-238. 300 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 236 (Fagotte, Violoncello, Kontrabass). 301 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 240. 53 Kontrabrass, über zehn Takte hinweg solistisch vorgetragen wird.302 In dieser gedehnten Variante des ‚Liebes-Motivs‘ ist der Sprung zwischen der ersten und der zweiten abwärtsführenden Bewegung, im Gegensatz zum hier angeführten Notenbeispiel, von einer kleinen Terz auf eine kleine Septe vergrößert. Außerdem ist die zweite abwärtsführende Bewegung deutlich verlängert. Der Sprung befindet sich im Notenbeispiel zwischen dem zweiten und dritten Takt. Walküre Notenbeispiel 6: ‚Liebes-Motiv‘303 Wotan drückt seine Zuneigung zu Brünnhilde zwar nicht mit einem ‚Liebes-Motiv‘ aus, aber er vertraut ihr seine Vergangenheit mit all den begangenen Untaten und Fehlern, und den daraus resultierenden Folgen an, was wiederum sein Vertrauen und seine Bindung zu Brünnhilde zeigt. Zu Beginn seiner Erzählung – seines Monologs – geben die Leitmotive lediglich den Inhalt von Wotans Worten wider beziehungsweise voraus und vermitteln keinen Subtext.304 Erst als Wotan von dem ‚freien Helden‘ erzählt, welchem es möglich wäre den Fluch abzuwenden, fungiert das Orchester nicht mehr als Verdoppelung des gesungenen Textes. Wotans Worte werden – bis zu Brünnhildes Frage, ob Siegmund nicht frei handelt – unterlegt von einem Teppich aus ‚SorgeUnruhe-Motiv‘ und ‚Unmuts-Motiv‘305 und rhythmischen sowie melodischen Variationen dieser. Durch den Wechsel von punktierten Achtel- und Sechzehntelnoten und der unregelmäßigen Bewegung nach oben, erhält das ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘ einen unruhigen, hektischen Charakter. 302 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 240. Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 20 (Violoncelli, Kontrabass). Das Motiv wird als Motiv für die Liebe zwischen Siegmund und Sieglinde eingeführt (siehe Walküre, erster Aufzug, erste Szene). 304 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 242-255. 305 Für Dahlhaus sind die Motive des Unmuts und der Sorge-Unruhe „einer Situation adäquat, in welcher der Gott keiner ist“ (Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert IV, S. 239). 303 54 Walküre Notenbeispiel 7: ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘306 Erklingt diese Motivkombination erstmals nur im Violoncello im pp, wird es in weiterer Folge zunehmend instrumental verstärkt und erhält, obwohl es weiterhin überwiegend im p-Bereich bleibt, mehr Gewicht.307 Das Motiv reißt schließlich zu Wotans Worten „O göttliche Not! Gräßliche Schmach!“308 ab, um noch einmal erneut – wieder mit zunehmender Instrumentierung – einzusetzen.309 Während Wotans folgendem Eingeständnis über seinen Selbsttrug und sein bevorstehendes Schicksal, geben die erklingenden Leitmotive größtenteils den Text wider oder verdeutlichen diesen.310 Brünnhilde ist über Wotans Aussage erschrocken und will von ihm wissen, was er jetzt von ihr verlangt. Das unbehagliche Gefühl, das sie hierbei empfindet, drückt sich musikalisch in einer rhythmischen und melodischen Variation des ‚Sorge-UnruheMotiv‘ in Bassklarinette, Fagotten und Violoncello aus.311 Während Brünnhilde Wotans Entscheidung anzweifelt und er ihr mit seinem Zorn droht, wenn sie diese nicht ausführt, kommt es zu keiner leitmotivischen oder sonstigen musikalischen Ausgestaltung, welche die Beziehung zwischen Brünnhilde und Wotan betreffen oder darstellen würde.312 Jedoch erklingt während Wotans Drohung vereinzelt, wieder rhythmisch und melodisch variiert, das ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘313, welches seine eigenen Zweifel an der Entscheidung erkennen lassen, was wiederum Brünnhildes Einschätzung, dass sich Wotan hierbei ihm Zwiespalt befand, unterstützt. Im danach stattfindenden Instrumentalteil erklingt wieder das variierte ‚Verzweiflungs-Motiv‘314, 306 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 255 (Violoncello). Das Motiv wird hier eingeführt und zeigt Wotans Sorge und Unruhe wegen seiner Entscheidung und der bevorstehenden Tat. 307 Das Violoncello wird zuerst von erstem und zweitem Fagott verstärkt, dann von Kontrabass, drittem Fagott, viertem dann zweitem Horn und schließlich von der Bratsche (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 255-258). 308 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 259. 309 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 259-262. 310 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 263-280. Etwa erklingt das ‚Siegmund-Motiv‘, ‚SchwertMotiv‘, ‚Flucht-Motiv‘, ‚Entsagungs-Motiv‘, ‚Erda-Motiv‘, ‚Rache-Motiv‘ usw. 311 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 280. 312 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 283-291. 313 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 289f. (Fagotte, Violoncello, Kontrabass) und Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 291 (Bassklarinette, Fagotte, Basstrompete, Violoncello, Kontrabass). 314 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 295 (Bassklarinette, Fagotte, Basstrompete, Violoncello). 55 was sowohl für die momentane Gefühlslage Wotans als auch Brünnhildes bezeichnend sein könnte. Als Brünnhilde alleine zurück bleibt, kommt ihre innere Zerrissenheit musikalisch zum Ausdruck. Sie ist eine Walküre und muss Wotans Auftrag Folge leisten – diese Seite in Brünnhilde spiegelt das ‚Walkürenritt-Motiv‘315 wider. Ihr Unbehagen, das dieser Auftrag auslöst, wird durch das ‚Unmuts-Motiv‘316 und später zusätzlich durch das ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘317 ausgedrückt. Wem Brünnhildes Sorge gilt, wird durch das ‚Wälsungenleid-Motiv‘, das im Violoncello und Kontrabass im p sehr weich vorgetragen wird, deutlich.318 Walküre Notenbeispiel 8: ‚Wälsungenleid-Motiv‘319 Als Brünnhilde und Wotan beim Kampf zwischen Hunding und Siegmund erneut aufeinandertreffen320, passiert leitmotivisch beziehungsweise musikalisch im Allgemeinen nichts, was für die Analyse der Beziehung der beiden zueinander von Bedeutung sein könnte. So wird Brünnhilde musikalisch mit dem ‚WalkürenrittMotiv‘321 dargestellt und zu Wotan erklingt das ‚Speer/Vertrags-Motiv‘322. Vor allem durch die, in Sekundschritten abwärtsführenden Viertelnoten, erhält das ‚Speer/Vertrags-Motiv‘ einen kraftvollen und bestimmten Klangcharakter. 315 Das Motiv erklingt wiederholt, auf unterschiedlichen Tonstufen, in der Basstrompete und ab der dritten Wiederholung auch in der dritten Trompete (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 298f.). 316 Zunächst zweimal in erster und zweiter Violine, Bratsche, Violoncello und Kontrabass (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 297f.), dann in Bassklarinette und Bratsche (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 299). 317 Die beiden Motive erklingen in gedehnter und variierter Form und zeitlich versetzt jeweils im Englisch-Horn und Violoncello und Kontrabass (Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 300). 318 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 299. 319 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 29 (Violoncello und Kontrabass). Das Motiv erklingt erstmals nach Sieglindes Aussage „So bleibe hier! Nicht bringst du Unheil dahin, wo Unheil im Hause wohnt!“ und steht für die leidvolle Vergangenheit der beiden Wälsungen (siehe Walküre erster Aufzug, erste Szene). 320 Walküre zweiter Aufzug, fünfte Szene. 321 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 397 (Posaunen) und Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 402f. (Variation davon in Trompeten und Basstrompete). 322 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 398f. (Tenortuben, Basstuben, Kontrabasstuba, Violoncello, Kontrabass) und Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 404 (Violoncello, Kontrabass). 56 Walküre Notenbeispiel 9: ‚Speer/Vertrags-Motiv‘323 Erst nachdem Wotan Hunding ermordet hat und Brünnhilde mit Sieglinde verschwunden ist, fungiert das Orchester wieder als Sprachrohr der emotionalen Befindlichkeit. Sofort nachdem Hunding tot zu Boden sinkt, erklingt im Violoncello und Kontrabass das ‚Unmuts-Motiv‘ im Oktav-Unisono.324 Wotan beginnt zu begreifen, was Brünnhilde getan hat und droht mit ihrer Bestrafung. Als er von der Bühne verschwindet und der Vorhang fällt, erklingt das ‚ Sorge-Unruhe-Motiv ‘ im ff.325 Für die Analyse der Tochter-Vater-Beziehung Wotans und Brünnhildes ist ihre letzte Begegnung in der Walküre326 von größter Relevanz. Hier stehen, im Gegensatz zu den anderen Szenen, keine anderen Personen oder Handlungen im Fokus der Konversation, sondern ausschließlich Wotan, Brünnhilde und ihre Beziehung zueinander. Als die anderen Walküren den Felsen bereits verlassen haben und Brünnhilde noch zu Wotans Füßen liegt, etabliert sich ein Motiv, welches für die gesamte Szene, aber speziell für den Beginn dieser, von Bedeutung sein wird.327 Es handelt sich hierbei um das Motiv welches später erklingt, während Brünnhilde ihre Tat vor Wotan zu rechtfertigen versucht. In den herangezogenen Analysen wird dieses Motiv entweder als ‚Verteidigung‘ oder ‚Wälsungenliebe‘ bezeichnet. Da Brünnhildes Verteidigung jedoch auf ihrer Liebe zu den Wälsungen basiert, scheinen die beiden Bezeichnungen auf derselben Aussage zu basieren. Aufgrund der späteren Verwendung des Motivs wird in dieser Arbeit die Bezeichnung ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ verwendet. Das Motiv besteht aus zwei sehr ähnlichen Teilen, wobei der dritte Takt, im Gegensatz zum ersten, um eine große Sekunde erhöht beginnt. Der vierte Takt beginnt, im Gegensatz zum zweiten, 323 Richard Wagner, Das Rheingold, Taschenpartitur, S. 197 (Violoncello, Kontrabass). Das Motiv erklingt erstmals zu Frickas Worten „Die Burg ist fertig, verfallen das Pfand“ und steht sowohl für Wotans abgeschlossene Verträge, als auch für seinen Speer (siehe Rheingold zweite Szene). 324 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 405. 325 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 408 (Bassklarinette, Fagotte, Posaunen, Violoncello, Kontrabass). 326 Siehe Walküre dritter Aufzug, dritte Szene. 327 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 598 (Bassklarinette, Oboe, Englisch-Horn). 57 um eine große Terz höher und weicht zudem durch die beiden Achtelnoten rhythmisch ab. Walküre Notenbeispiel 10: ‚Wälsungenliebe-Motiv‘328 Die gleichzeitig erklingende, variierte Form des ‚Unmuts-Motivs‘ zeigt Brünnhildes Unbehagen, welches sie trotz der Überzeugung der Richtigkeit ihrer Tat verspürt. 329 Unmittelbar bevor Brünnhilde ihre Rechtfertigung beginnt, erklingt in der Bassklarinette, an das ‚Unmuts-Motiv‘ angehängt, eine verkürzte Variante des ‚Wälsungenliebe-Motivs‘. Dieselbe Motivvariante erklingt im Anschluss eine Oktave höher im Vokalpart zu Brünnhildes Worten „War es so schmählich“330, woran das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ in gedehnter Form gehängt wird.331 Doch schon bald bekommt das ‚Unmuts-Motiv‘ Überhand und erklingt mehrmals wiederholt und variiert in Oboe und Englisch-Horn zu Brünnhildes Worten „O sag’, Vater! Sieh mir ins Auge, schweige den Zorn“332. Als Brünnhilde nach ihrer Schuld fragt, wird bei Wotans Antwort „Frag deine Tat, sie deutet dir deine Schuld!“333 musikalisch erkennbar, worin Brünnhildes Schuld Wotan zufolge besteht. Denn nachdem in Violoncello und Kontrabass zunächst eine Kombination aus ‚Unmuts-Motiv‘ und ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ erklingt, ist im Vokalpart dieselbe Motivvariante des ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ zu hören, wie zu Beginn von Brünnhildes Vokalpart. Bei Wotan wird der Sprung am Ende jedoch von einer kleinen Septime auf eine große Sexte reduziert.334 Wotan sieht Brünnhildes Schuld genau darin, womit sie zuvor ihre Tat rechtfertigen wollte – die Liebe zu den Wälsungen. Dass Brünnhilde an ihrer Tat dennoch nichts Falsches erkennen kann, verdeutlicht das ‚Walkürenritt-Motiv‘ in den Hörnern.335 Das Motiv erklingt jedoch sehr 328 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 618 (Klarinette, Hörner, Oboe, Englisch-Horn). Das Motiv erklingt bereits zu Beginn der dritten Szene zum ersten Mal, dass Notenbeispiel entstammt jedoch einer späteren Passage, wo es in mehreren Instrument über längere Zeit zu hören ist. 329 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 598 (Fagotte, Violoncello, Kontrabass, Oboe). 330 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 599: 331 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 599. 332 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 600. 333 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 601f. 334 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 599, 601. Generell weisen die beiden Passagen eine große Ähnlichkeit auf. 335 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 602. Zu Brünnhildes Worten: „Deinen Befehl führte ich aus.“ 58 verhalten im pp. Für sie entsprach ihr Handeln dem einer Walküre. Im Folgenden werden Brünnhildes und Wotans Aussagen hauptsächlich vom ‚Unmuts-Motiv‘ und ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ begleitet.336 Zu Brünnhildes Worten „Weil für dich im Auge das eine ich hielt“ 337 erklingt in den Streichern erstmals das ‚Zerrissenheits-Motiv‘, welches über einen längeren Zeitraum immer wieder zu hören ist.338 Dieses Motiv ist sowohl für Brünnhildes als auch Wotans Situation der Entscheidung, entweder für oder gegen Siegmund zu handeln, bezeichnend. Durch die Sechzehntel- und Achtelnoten und den bogenförmigen Melodieverlauf erhält das Motiv einen unruhigen Klangcharakter. Dadurch wird das Gefühl der Zerrissenheit klanglich umgesetzt. Walküre Notenbeispiel 11: ‚Zerrissenheits-Motiv‘339 Das Motiv erklingt fast durchgehend, während Brünnhilde Wotan den Moment schildert, als sie zu Siegmund kam, um ihn zu töten und sich schließlich dazu entschlossen hat, anders zu handeln.340 Doch ihre Schilderung endet abermals mit dem ‚Unmuts-Motiv‘ im Violoncello und Kontrabass.341 Als Brünnhilde erneut ansetzt, um von demjenigen zu sprechen, der ihr die Liebe ins Herz gehaucht hat – Siegmund – und den sie deshalb unmöglich töten hätte können, ist ihr Gefühl des Unmuts vergessen. Die Musik bringt ihre Gefühlsregung wieder durch das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ zum Ausdruck. Dieses Mal erklingt es nicht mehr fragmentarisch in einzelnen Instrumenten, 336 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 603-606 (Violoncello, Kontrabass, Oboe, Englisch-Horn). Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 606f. 338 Das Motiv findet lediglich bei Wolfgang Perschmann eine derartige Berücksichtigung, dass ihm auch ein Motivname zugewiesen wird. Perschmann bezeichnet es als ‚Zerrissenheits-Motiv‘. Aufgrund der Präsenz des Motivs und der ausgedehnten Zeitdauer seines Auftretens, wird es auch hier als Motiv berücksichtigt (vgl. Wolfgang Perschmann, Richard Wagner: „Der Ring des Nibelungen“, S. 134). 339 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 606 (Violine, Bratsche, Violoncello). 340 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 606-617. 341 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 617. 337 59 sondern durchzieht ihren ganzen Vortrag wie ein Geflecht. Das Motiv erklingt jeweils in zwei beziehungsweise drei Instrumenten gleichzeitig unisono und wird anschließend von der nächsten Instrumentengruppe weitergetragen. Die Vortragsbezeichnungen p und dolce bringen den emotionalen Gehalt der Szene zum Ausdruck. Zunächst erklingt das Motiv in den Holz- und Blechbläsern, bis es schließlich auch im Vokalpart, Violoncello und Kontrabass aufgenommen wird.342 Eine zusätzliche Steigerung erhält die Szene, als das Motiv abschließend in Oboen, Englisch-Horn, Klarinetten, Violinen und Bratschen erklingt und ein letztes Mal an Violinen, Bratschen und Violoncello weitergegeben wird.343 Nach Brünnhildes Vortrag erhält das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ im Zusammenhang mit Wotan erstmals eine Bedeutungsänderung. Wurde es bei Wotan zuvor nur verwendet, um Brünnhildes Schuld zu benennen, wird es nun gebraucht, um Wotans Liebe zu den Wälsungen beziehungsweise zu Siegmund auszudrücken. „So tatest du, was so gern zu tun ich begehrt; doch was nicht zu tun die Not zwiefach mich zwang?“344 sagt Wotan, als in Violoncello und Kontrabass das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ erklingt und bei der dritten Wiederholung, nun auch in den Fagotten, sogar eine rhythmische Intensivierung erfährt.345 Die Qual seiner Entscheidung bringt das ‚Zerrissenheits-Motiv‘ zum Ausdruck, was durch die, zwischen p, mf und f, schwankende Dynamik noch verstärkt wird.346 Die musikalische Ebene zeigt, dass nicht nur Wotans und Brünnhildes Gefühlszustände in Hinblick auf ihre Entscheidungen korrespondiert haben, sondern auch, dass Brünnhilde mit ihrer Einschätzung Wotans – bezüglich seiner Liebe zu Siegmund und dem Zwiespalt seiner Entscheidung – richtig gelegen hat. Doch obwohl Wotan im Grunde auch so handeln wollte, wie es Brünnhilde getan hat, beschließt er trotzdem, sie zu bestrafen. Durch die musikalische Ebene erfahren wir, dass der Grund dafür paradoxerweise gerade ihre Liebe zu den Wälsungen ist, indem nach Wotans Vorwurf „von mir sagtest du dich los“347, im Violoncello und Kontrabass das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ erklingt. Dass sich Wotan aber auch über diesen Entschluss nicht wirklich sicher ist, gibt dass zuvor klingende ‚ZerrissenheitsMotiv‘ preis.348 342 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 618. Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 619. 344 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 620. 345 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 620. 346 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 621f. (Streicher). 347 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 626. 348 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 625 (Bratsche, Kontrabass). 343 60 Die nächste musikalisch signifikante Stelle ereignet sich, als Brünnhilde Wotan mitteilt, dass dem Wälsungenstamm der ‚weihlichste Held‘ entblüht und Sieglinde die ‚heiligste Frucht‘ hegt. Musikalisch wird hier, im Vokalpart und den Hörnern, bereits auf Siegfried verwiesen.349 Relevant erscheint diese Tatsache jedoch erst später, als Brünnhilde Wotan bittet, dass es nur dem ‚furchtlos freiesten Helden‘ gelingen soll, auf den Felsen zu kommen. Als zu diesen Worten in den Hörnern und im Vokalpart erneut das ‚Siegfried-Motiv‘ erklingt, ist unverkennbar, wer damit gemeint ist.350 Walküre Notenbeispiel 12: ‚Siegfried-Motiv‘351 Dass sich auch Wotan dessen bewusst ist, wird unmissverständlich klar, als zu seiner Aussage „Denn einer nur freie die Braut, der freier als ich, der Gott!“352 Fagotte, Hörner und Basstrompete das ‚Siegfried-Motiv‘ wiedergeben. Das anschließend mehrmals wiederholt in den Bläsern erklingende ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ wirkt hierbei unterstützend.353 Auch als Brünnhilde bereits in den Schlaf gesunken ist, wird musikalisch noch einmal auf Siegfried verwiesen. Das Motiv erklingt im Vokalpart, Hörnern und Basstrompete zu Wotans mahnenden Worten „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“354. Instrumental zieht es sich in Trompeten, Posaunen und Kontrabasstuba noch über einige Takte länger hinaus.355 Zwischen diesen Szenen liegen einige wesentliche musikalische Stellen, die noch erörtert werden müssen. Als Brünnhilde Wotan noch einmal explizit nach der Art ihrer Strafe fragt, erklingt zu seiner Antwort „In festen Schlaf verschließ ich dich“ 356 zum ersten Mal das, die Strafe benennende Motiv. Das ‚Zauberschlaf-Motiv‘ erklingt in allen Instrumenten (außer in der Pauke und im Kontrabass) einmal, im Vokalpart etwas 349 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 634. Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 642. 351 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 535f. (Vokalpart). Das Motiv erklingt zum ersten Mal als Brünnhilde Sieglinde sagt, dass sie den ‚hehrsten Helden‘ im Schoß hegt (siehe Walküre dritter Aufzug, erste Szene). 352 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 662f. 353 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 663-667. 354 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 691-695. 355 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 695-699. 356 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 638f. 350 61 verkürzt zweimal hintereinander. Durch die geringe Lautstärke, die Legatobögen und der überwiegenden Verwendung von halben Noten erhält das Motiv einen ruhigen Charakter – entsprechend der damit verbundenen Bedeutungszuschreibung. Walküre Notenbeispiel 13: ‚Zauberschlaf-Motiv‘357 Brünnhilde ist über die Strafe schockiert und fleht Wotan an, sie zu überdenken. Zu ihrem Flehen erklingt in Violine und Violoncello ein neues Motiv über fast dreizehn Takte hinweg.358 In den für die Erstellung des Motivkatalogs herangezogenen, Analysen wird dieses Motiv allgemein mit Brünnhildes Schlaf in Beziehung gesetzt. Sabine Henze-Döhring, die sich in ihrem Artikel ausführlich mit der Figur Brünnhildes auseinandergesetzt hat, schreibt das Motiv jedoch zum einen dem „über Wotan hinausragenden Willen[.] Brünnhildes“ 359 und zum anderen auch „der Liebe Wotans zu Brünnhilde“360 zu. Gerade bei der Analyse der Tochter-Vater-Beziehung Wotans und Brünnhildes führen die unterschiedlichen Zuschreibungen zu signifikanten Unterschieden und müssen daher eingehend abgewogen werden. Da an diesem Punkt noch keine Entscheidung getroffen werden kann, wird das Motiv als ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘ bezeichnet. Im ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘ wird zunächst der erste Takt dreimal vollkommen unverändert gespielt. Erst im vierten Takt kommt es zu einer Veränderung, indem die Melodie aus den vorherigen Takten erhöht erklingt. Es werden jedoch nicht alle Töne gleichermaßen erhöht – die Erhöhungen befinden sich im Bereich einer Sekunde bis zu einer Quarte. 357 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 638f. (große Flöte, Englisch-Horn, Klarinette, Bassklarinette Fagotte, Violinen, Bratsche, Violoncello, Vokalpart). 358 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 640-642. 359 Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 135. 360 Sabine Henze-Döhring, „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der BrünnhildeGestalt, S. 135. 62 Walküre Notenbeispiel 14: ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘361 In dem oben beschriebenen Kontext – als Brünnhilde Wotan anfleht, die Strafe zu überdenken – scheinen beide Assoziationen zulässig. Zum einen könnte das Motiv für Brünnhildes bevorstehenden Schlaf stehen, über den sie gerade spricht. Zum anderen könnte sie auch an die Liebe ihres Vaters zu ihr appellieren, die ihn dazu bringen soll, sie nicht irgendeinem Mann zur Frau zu geben. Als Wotan ihren Wunsch abweist, erklingt auch hier das ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘ in Violine und Violoncello, jedoch beginnt es eine reine Quarte tiefer als zuvor bei Brünnhilde.362 Steht das Motiv für Brünnhildes Schlaf, zeigt es Wotans Entschluss, Brünnhilde zu bestrafen. Sieht man es als Zeichen der Liebe Wotans zu Brünnhilde, erkennt man hier trotz seiner harten Worte seine Liebe zu Brünnhilde, und es lässt sich erahnen, dass er sich noch für seine Tochter erweichen wird. Als Brünnhilde ihn noch einmal anfleht und ihn bittet, ein Feuer zu entfachen, welches den Felsen umgibt, ist Wotan tief ergriffen, erhebt sie von den Knien und sieht ihr in die Augen. Als er dies tut, erklingt nicht nur das ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘, sondern auch Fragmente des ‚Walkürenritt-Motivs‘.363 Es scheint, als hätte Brünnhilde für Wotan, entgegen seiner vorherigen Aussagen, ihren Status als Walküre doch noch nicht verloren. Auch als Wotan daraufhin von Brünnhilde Abschied nimmt und von ihren gemeinsamen Aktivitäten spricht, die in Zukunft nicht mehr möglich sein werden, erklingt mehrmals hintereinander das ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘.364 Genau so erklingt es auch, als er Brünnhilde in seinen Armen hält und erzählt, wie sehr sie ihn unterstützt und ihm geholfen hat.365 Entweder spiegelt das Motiv in diesen Passagen die liebevollen Worte Wotans über Brünnhilde und seine Gefühle zu ihr wider, oder es zeigt, dass er trotz seiner Liebe zu Brünnhilde an der Strafe festhält. Auch hier scheinen wieder beide Deutungsweisen des Motivs legitim und angemessen. Das ‚Schlummer / Wotans Liebe zu Brünnhilde-Motiv‘ erklingt auch noch, teils stark variiert, nachdem 361 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 640 (Violine, Violoncello). Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 643. 363 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 652f. 364 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 656f. (erste und zweite Mal in Klarinetten, Hörnern und Bratsche, bei der dritten Wiederholung in Englisch-Horn, Fagotten, Hörnern und Bratsche). 365 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 667-672. Die größte instrumentale Ausprägung erhält das Motiv auf S. 667. 362 63 Brünnhilde in den Schlaf gefallen ist unter anderem, als er sie auf den Mooshügel legt366; als er die schlafende Tochter betrachtet, ihr den Helm schließt und sie mit dem Schild bedeckt367; und er sich noch einmal mit einem schmerzlichen Blick zu ihr umdreht368. In diesen Passagen lässt die Verwendung des Motivs darauf schließen, dass es sich dabei tatsächlich um die Liebe Wotans zu Brünnhilde handelt. Als Wotan Brünnhilde in seinen Armen hält erklingt zu seinen Worten „zum letzten Mal letz‘ es mich heut‘ mit des Lebewohles letzten Kuß“369, im Vokalpart das ‚Abschied-Motiv‘.370 Die hier besungene Handlung folgt jedoch erst später. Walküre Notenbeispiel 15: ‚Abschieds-Motiv‘371 Als Wotan sie auf die Augen küsst woraufhin Brünnhilde in den Schlaf fällt, erklingt das ‚Zauberschlaf-Motiv‘.372 Nachdem Wotan Brünnhilde auf einen Mooshügel gelegt und sie mit ihrem Schild bedeckt hat, wendet er sich von ihr ab und ruft Loge, um das Feuer zu entzünden. Ab diesem Zeitpunkt erklingen bis zum Ende der Walküre unterschiedlichste ‚Feuer-Motive‘, auf welche jedoch hier nicht mehr näher eingegangen wird.373 2.4 Zwischenfazit Der Vergleich der textlichen mit der musikalischen Ebene hat, im Hinblick auf die Beziehung zwischen Wotan und Brünnhilde, gezeigt, dass das Verhältnis der beiden Ebenen zueinander keineswegs konstant und/oder immer vorhersehbar ist. An einigen Stellen verstärken sich die Ebenen gegenseitig, indem etwa ein Motiv erklingt, das einen Gefühlszustand zum Ausdruck bringt, welcher sich aus dem Text ableiten lässt. Dies ist zum Beispiel der Fall, als Wotans Stimmung nach dem Gespräch mit Fricka 366 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 674 (Streicher). Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 675f. (Streicher, Bläser). 368 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 677 (Bassklarinette, Streicher). 369 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 671. 370 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 671. 371 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 671 (Vokalpart). 372 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 673 (großen Flöten, Oboe, Violinen). 373 Die Motive können aus den bereits zitierten Analysen entnommen werden. 367 64 durch das ‚Unmuts-Motiv‘ dargestellt wird. In anderen Passagen besteht wiederum keine direkte Verbindung zwischen Musik und Sprechtext, hier vermittelt die Musik eine Art Subtext. Als Brünnhilde etwa ihre Tat vor Wotan rechtfertigt, erklingt nicht nur das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘, sondern auch das ‚Unmuts-Motiv‘, was zeigt, dass sie, obwohl sie ihr Handeln als richtig empfindet, dennoch unsicher ist. Weiteres wird durch den Einsatz des ‚Zerrissenheits-Motivs‘ und ‚ Wälsungenliebe-Motivs‘ im Bezug auf Wotan Brünnhildes Einschätzung über Wotans tatsächliche Gefühlslage bezüglich seiner Entscheidung, Siegmund zu töten, bestätigt. Es kann aber auch zu einer Verdeutlichung des Sprechtextes durch die Musik kommen. Als Brünnhilde Wotan fragt, was sie verbrochen hat, wird seine Antwort „Frag deine Tat, sie deutet dir deine Schuld!“374 durch das ‚Wälsungenliebe-Motiv‘ verständlich. Auch besteht durch den Sprechtext Ungewissheit darüber, ob Wotan sich darüber bewusst ist, dass Siegfried derjenige sein wird, der Brünnhilde erweckt. Durch den Einsatz des ‚Siegfried-Motivs‘ in den entsprechenden Passagen wird der Zweifel daran aufgehoben. An manchen Stellen, an denen man den Einsatz bestimmter Leitmotive erwarten würde, wird ganz auf diese verzichtet. Dies ist unter anderem der Fall, als Wotan Brünnhilde mit seinem Zorn droht, wenn sie seinen Befehl nicht ausführt und Siegmund nicht tötet. An anderen Stellen wiederum überrascht die Wahl der Leitmotive, weil der Sprechtext nicht darauf schließen lässt. Nachdem Wotan Hunding getötet hat und sich darüber bewusst wird, was Brünnhilde getan hat, kommt verbal seine Entrüstung darüber zum Ausdruck und er droht bereits mit ihrer Bestrafung. Auf der musikalischen Ebene hingegen erklingt das ‚Sorge-Unruhe-Motiv‘, welches einen vollkommen anderen Gefühlszustand offenbart, als es textlich der Fall ist. Es hat sich gezeigt, dass für eine umfassende Analyse der Tochter-Vater-Beziehung von Wotan und Brünnhilde sowohl die textliche als auch die musikalische Ebene herangezogen werden muss. Denn erst durch den Vergleich der beiden Ebenen und ihre gegenseitige Ergänzung entsteht ein vollständiges Bild. 374 Richard Wagner, Die Walküre, Partitur, S. 601f. 65 3 Richard Strauss‘ Elektra 3.1 Entstehungsgeschichte Elektra bezeichnet den Beginn einer fruchtbaren künstlerischen Zusammenarbeit des Komponisten Richard Strauss und des Schriftstellers Hugo Laurenz August von Hofmannsthal. Hofmannsthals Drama, welches zunächst für das Theater konzipiert war, wurde am 4. Oktober 1903 im Kleinen Theater in Berlin uraufgeführt, unter der Regie von Max Reinhardt mit Gertrud Eysoldt in der Hauptrolle.375 Hofmannsthal gab seinem Werk den Titel Elektra. Tragödie in einem Aufzug frei nach Sophokles. Ein Tagebucheintrag von Hofmannsthal vom 17. Juli 1904 gibt Auskunft über die Wahl des Titels: „Der erste Einfall kam mir anfangs September 1901. Ich las damals, um für ‚Pompilia‘ gewisses zu lernen, den ‚Richard III.‘ und die ‚Elektra‘ von Sophokles. Sogleich verwandelte sich die Gestalt dieser Elektra in eine andere. Auch das Ende stand sogleich da: daß sie nicht mehr weiterleben kann, daß, wenn der Streich gefallen ist, ihr Leben und ihr Eingeweide ihr entstürzen muß […].“376 Hofmannsthal veränderte jedoch nicht nur das Ende, sondern er verzichtete auch auf die Vorgeschichte, welche unter anderem die Opferung Iphigenies durch Agamemnon und dessen daraus resultierende Ermordung beinhaltet.377 Welche Aufführung Strauss von Hofmannsthals Stück sah, ist nicht bekannt, 1942 erinnerte sich der Komponist jedoch an die Aufführung: „Als ich zuerst Hofmannsthals geniale Dichtung im ‚Deutschen Theater‘ [in Berlin] mit Gertrud Eysoldt sah, erkannte ich wohl den glänzenden Operntext (der es nach meiner Umarbeitung der Orestszene tatsächlich geworden ist) […].“378 Anhand dieser Aussage lässt sich die mögliche Anzahl der Aufführungen nach Bryan Gilliam auf drei Aufführungen im Zeitraum vom 21. Oktober bis zum 7. November 1905 einschränken.379 Ungeklärt ist auch, wie Hoffmannsthal über Strauss‘ Interesse an 375 Vgl. Karen Forsyth, Hofmannsthal’s Elektra: from Sophocles to Strauss, Cambridge 1989, S. 19f. Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. 1959, S. 131. Nach eigenen Angaben Hofmannsthals soll er sich während der Arbeit an Elektra auch mit Erwin Rohdes Psyche und Josef Breuers und Sigmund Freuds Studien über Hysterie befasst haben (vgl. Christoph Khittl, »Nervencontrapunkt« als musikalische Psychoanalyse? Untersuchungen zu Elektra von Richard Strauss, Wien 2001, S. 213). Welchen Einfluss diese oder auch andere Werke, als auch geistige Strömungen und gesellschaftliche Entwicklungen dieser Zeit auf Hofmannsthals Arbeit an Elektra hatten, kann hier nicht näher diskutiert werden. 377 Für einen eingehenderen Vergleich von Sophokles‘ und Hofmannsthals Elektra vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, Tutzing 1996, S. 17-27. 378 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, Zürich 1957, S. 229. 379 Vgl. Bryan Gilliam, Richard Strauss’s Elektra, Oxford 1991, S. 52f. 376 66 seinem Text informiert wurde.380 Mit Hofmannsthals Brief an Strauss, vom 7. März 1906, ist zumindest eine erste Datierung über den Austausch bezüglich Elektras festlegbar. „Lieber und sehr geehrter Herr [Strauss], und wie steht’s mit Ihnen und ‚Elektra‘? Es ist doch die Hoffnung auf keine geringe Freude, die Sie in mir so unerwartet rege gemacht haben. Wollen Sie mich durch ganz wenige Zeilen wissen lassen, ob diese Hoffnung wach bleiben darf oder sich schlafen legen soll? Je mehr ich nachdachte, desto ausführbarer schiene mir’s – Ihnen ging’s vielleicht entgegengesetzt. Ich werde für die kleine Nachricht, in jedem Fall, dankbar sein. Ihr herzlich ergebener Hofmannsthal“381 Aus Strauss‘ Antwortschreiben geht hervor, dass er „nach wie vor die größte Lust auf ‚Elektra‘“382 und sich diese auch schon „ganz schön zum Hausgebrauch zusammengestrichen“383 hat. Gleichzeitig äußert er aber Bedenken darüber, nach Salome die Kraft zu finden, einen Stoff zu bearbeiten, der dieser so ähnlich ist. Hofmannsthal versuchte Strauss‘ Zweifel abzuwenden, indem er die Ähnlichkeit zwischen Salome und Elektra auf wenige Aspekte zu reduzieren versuchte. Diese Aspekte bestehen darin, dass beide Werke Einakter sind, als Titel Frauennamen tragen, im Altertum spielen und in Berlin von Gertrud Eysoldt kreiert wurden.384 „[D]er Wunsch, dieses dämonische, ekstatische Griechentum des 6. Jahrhunderts Winckelmannschen Römerkopien und Goethescher Humanität entgegenzustellen, gewann das Übergewicht über die Bedenken […]“385 und Strauss begann mit der Arbeit an Elektra. Bis ins Jahr 1908 finden sich im Briefwechsel Besprechungen über Textkürzungen, Szenenumstellungen oder andere Abänderungen.386 380 Nach Karen Forsyth kam es, vom 20. bis 23. November 1905, zu einem gleichzeitigen Aufenthalt von Strauss und Hofmannsthal in Berlin, wo ein Treffen möglich gewesen wäre und Strauss sein Interesse an Elektra aussprechen hätte können (vgl. Karen Forsyth, Hofmannsthal’s Elektra: from Sophocles to Strauss, S. 28). Gilliam hingegen datiert den gleichzeitigen Berlin-Aufenthalt Strauss‘ und Hofmannsthals auf den 2. Februar 1906 (vgl. Bryan Gilliam, Richard Strauss’s Elektra, S. 55). 381 Brief von Strauss vom 7. März 1906 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, Zürich 1978, S. 17). 382 Brief von Strauss vom 17. November 1906 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 17). 383 Brief von Strauss vom 17. November 1906 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 17). 384 Brief von Hofmannsthal vom 27. April 1906 (vgl. Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 19). 385 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 230. 386 Auf die Abänderungen des Textes wird hier nicht im Detail eingegangen, jedoch wird in den folgenden Kapiteln auf einige, für die behandelte Fragestellung relevante Aspekte hingewiesen. 67 Während der Arbeit am Libretto begann Strauss bereits mit der Komposition. Strauss‘ Anstellung an der Berliner Oper und diverse Tätigkeiten als Gastdirigent hatten zur Folge, dass die Kompositionsarbeit an Elektra immer wieder aufgehalten wurde. Am 25. Januar 1909 wurde Elektra in Dresden unter der Leitung von Ernst von Schuch uraufgeführt.387 3.2 Analyse der Textebene In Elektra sind es, neben der namensgebenden Protagonistin, zwei weitere Frauen, die das Geschehen der Oper im Wesentlichen dominieren. Im Gegensatz zu ihnen rückt die Präsenz der männlichen Figuren deutlich in den Hintergrund. Selbst Orest, dem Vollstrecker der Rache, wird verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit zuteil. Doch auch, wenn die drei Frauen auf der Bühne eine vorrangige Position einnehmen, ist es ein Mann, der ihr Handeln beeinflusst. Der ermordete König Agamemnon, beziehungsweise die Vergangenheit, die mit seiner Person in Verbindung steht, bilden die Eckpfeiler des Sujets, woraus sich alle Geschehnisse entwickeln. Im Bezug auf die Frage nach der Tochter-Vater-Beziehung ergibt sich hier, im Gegensatz zum Ring des Nibelungen, eine vollkommen andere Ausgangssituation. Es kann zwar untersucht werden, wie sich die Beziehung der Töchter zu ihrem toten Vater gestaltet und in welcher Art und Weise diese zum Ausdruck kommt, jedoch nicht umgekehrt. Welches Verhalten Agamemnon seinen Töchtern gegenüber zeigte, kann nur vermutet werden. Dies hat zur Folge, dass, anders als zuvor beim Ring des Nibelungen, die Töchter nicht unabhängig von ihrer Beziehung zum Vater behandelt werden können. Aus diesem Grund wird zunächst erörtert, inwiefern in Elektras und Chrysothemis‘ Verhalten eine Beziehung zu Agamemnon erkennbar ist, bevor im Anschluss untersucht wird, ob dies ihre Beziehung zu anderen Personen beeinflusst. Aufgrund der erheblichen Kürzung des Opernlibrettos gegenüber dem ursprünglichen Text von Hofmannsthals Sprechtheater wird, wo es notwendig erscheint, auch der Text des Sprechtheaters herangezogen, um ein umfassenderes Bild zu erhalten. 387 Für eine genaue Darstellung der Kompositionsarbeit an Elektra vgl. Bryan Gilliam, Richard Strauss’s Elektra, S. 56-66. 68 3.2.1 Elektra Wie bereits erwähnt, nimmt Hofmannsthal die Vorgeschichte um Agamemnons Opferung Iphigenies nicht auf. In Hofmannsthals Elektra „steht die Tat und das Verhältnis zur Tat im Mittelpunkt: eine Untat wird durch eine Untat gesühnt“388. „[D]as Grundthema der ‚Elektra‘“389 ist „ein simples und ungeheures Lebensproblem: das der Treue“390. Dies ist für die hier behandelte Fragestellung insofern wesentlich, als Agamemnons Ermordung durch Klytämnestra und Ägisth dadurch aus rein sexuellen Motiven erfolgt391, was wiederum Auswirkungen auf Elektras Verhältnis zur Untat ihrer Mutter und gleichzeitig auf ihre Beziehung zu ihren Vater hat.392 Elektra projiziert ihre ganze Liebe auf den toten Vater. Nach Michael Heinemann „gerät der tote König zur väterlichen Überfigur“393 und das, obwohl Elektra ihn „kaum je gekannt haben kann“394. Elektras Existenz dreht sich ausschließlich um ihren Vater, sie fühlt sich ihm verpflichtet und will den Mord an ihm rächen. In ihrem Monolog nach der Magdszene wird deutlich, wie präsent und tief verankert die Gestalt ihres Vaters und dessen Ermordung in Elektras Handlungen und Gedanken sind. Mit welcher Obsession Elektra dies auslebt, geben die Mägde gleich zu Beginn der Oper preis: „Wo bleibt Elektra? Ist doch ihre Stunde, die Stunde, wo sie um den Vater heult […].“395 Wie in einem Ritual trauert Elektra jeden Tag zur selben Stunde um Agamemnon. In ihrem Monolog schildert sie zunächst den Hergang der Ermordung. Ihre detaillierte Beschreibung erweckt den Anschein, als wäre sie damals Zeugin der Tat gewesen. Doch während im Libretto kein Hinweis darauf zu finden ist, kommt im Theatertext heraus, dass Elektra die Ermordung ihres Vaters nicht mit angesehen hat.396 Nach dieser Schilderung wird deutlich, dass Elektras Trauer psychische Auswirkungen 388 Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, Frankfurt a.M. 1952. S. 354. Brief von Hofmannsthal an Strauss Mitte Juli 1911 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 134). 390 Brief von Hofmannsthal an Strauss Mitte Juli 1911 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 134). 391 Klytämnestra und Ägisth töteten Agamemnon, um ihre Liebesbeziehung weiterführen zu können und keine Konsequenzen durch Agamemnon befürchten zu müssen. 392 Welche Auswirkungen die Darstellung der Ermordung Agamemnons aus rein sexuellen Motiven auf die Beziehung Elektras zu ihrer Mutter hat wird im Kapitel 3.2.5.1 Klytämnestra und ihre Töchter diskutiert. 393 Michael Heinemann, Elektras Erwartung, Laaber 2002, S. 149. 394 Michael Heinemann, Elektras Erwartung, S. 148. 395 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 7. 396 Elektra sagt diesbezüglich zu Chrysothemis: „Diesmal will ich dabei sein! Nicht so wie damals. Diesmal bin ich stark. Ich werfe mich auf sie, ich reiß das Beil aus ihrer Hand, ich schwing es über ihr […]“ (Hugo von Hofmannsthal, Dramen II. 1892-1905, Frankfurt a.M. 1979, S. 197). Michael Heinemann betitelt Elektra dennoch als „Zeugin des Mordes“ (Michael Heinemann, Elektras Erwartung, S. 148). 389 69 hat. Sie leidet an Wahnvorstellungen, was in ihrer Bitte an Agamemnon, sich ihr zu zeigen „wie gestern, wie ein Schatten dort im Mauerwinkel“397, zum Ausdruck kommt. Elektra beendet ihren Monolog mit einem Blick in die Zukunft, indem sie „mit feierlichem Pathos“398 die Rache an Agamemnons Ermordung beschreibt. Auch ihr Tanz, der der Ermordung Klytämnestras und Ägisths folgt, wird hier bereits von ihr thematisiert – Elektra erweist sich so „als eine Frau, die von Anbeginn an dem Ende verfallen ist“399. Laut Bayerlein ist Elektra so auf das Mordereignis fixiert, dass in ihrem Zeitempfinden nur zwei Ebenen existieren: „Jene der Bluttat, Elektras einzige Vergangenheit, die all ihr Reden, ihre Empfindungen und ihre Gebärden durchtränkt, mit deren immer wieder vor Augen geführter Vergegenwärtigung sie sich zu immer neuem Haß anstachelt und andererseits die ihr gegenübergestellte Zukunft der visionär beschworenen und in den Bilderfolgen ihrer Phantasie längst vorweggenommenen Rachetat, die sie durch Orest zu verwirklichen trachtet“400 – in Elektras Monolog kommt dies klar zum Ausdruck. Elektras Nicht-Vergessen-Können wird in Hofmannsthals Theatertext durch ihre Aussage „[I]ch bin kein Vieh, ich kann nicht vergessen!“401 ausgedrückt. Angesichts der zahlreichen tierhaften Gesten und Metaphern, die gerade im Zusammenhang mit Elektra402 immer wieder auftreten, steht Elektras Äußerung dazu im direkten Kontrast. Laut Jean Starobinski ist sie bei Hofmannsthal „[m]it einer ganzen Seite ihres Wesens […] zum Tier geworden“403. Nicht nur zeigt Elektra selbst immer wieder tierhafte Gebärden404 und wird von anderen als tierhaft beschrieben405, sondern Elektra schildert 397 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal. Musik von Richard Strauss, Berlin 1908, S. 15. 398 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 15. 399 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 73. Laut Bayerlein liegt Elektras Größe und ihr Leid darin, „daß sie trotz ihres Wissens um die Unvermeidbarkeit des Zusammenbruchs unerbittlich ihrem Anspruch auf Rache lebt“ (Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 73). 400 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 64. 401 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195. 402 Auch andere Personen erhalten Tierbezeichnungen oder zeigen tierhaftes Verhalten, worauf hier jedoch nicht genauer eingegangen werden kann. 403 Jean Starobinski, Die Zauberinnen, München 2007, S. 228. 404 Dies ist gleich zu Beginn der Oper der Fall, als Elektra die Mägde entdeckt und sich diese zu ihr umdrehen steht in der Szenenanweisung: „Elektra springt zurück wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel, den einen Arm vor dem Gesicht“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 7). Nach Ernst Hötzl wird Elektra in der Magdszene „als beinahe subhumane Kreatur vorgestellt, die, gleich einer wilden Bestie, im Hofe ihres Heimatschlosses ihr Dasein zu fristen hat“ (Ernst Hötzl, Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal: Die Elektra – ein Psychogramm der AtridenTrilogie, Anif/Salzburg 1990, S. 125). Auch das Beil gräbt sie „lautlos, wie ein Tier“ aus (Richard 70 sich selbst und ihr Handeln in tierhaften Metaphern406. Im Libretto gehört diese Aussage Elektras zu den zahlreichen Kürzungen, weshalb die dadurch entstehenden Diskrepanzen aufgelöst werden. Elektras Unfähigkeit oder auch ihr Unwille, die Tat ihrer Mutter und Ägisths zu vergessen, zeigt sich auch darin, dass sie aktuelle Geschehnisse ohne ersichtlichen Grund mit dem Mord an Agamemnon in Verbindung bringt. So entgegnet Elektra, als Chrysothemis abwehrend die Hände hebt: „Was hebst du die Hände? So hob der Vater seine beiden Hände, da fuhr das Beil herab und spaltete sein Fleisch.“407 Als Chrysothemis Elektra erzählt, dass sie durch die Tür gehört hat, dass Klytämnestra plant, Elektra in einen Turm zu sperren, löst dies bei Elektra erneut Erinnerungen an die Mordnacht aus: „Mach keine Türen auf in diesem Haus! Gepreßter Atem, pfui! und Röcheln von Erwürgten, nichts andres gibt’s in diesen Mauern!“408 Nach Carl Dahlhaus handelt es sich in der Oper um die Tragödie derjenigen, „die sich dadurch innerlich zerstört, daß sie in einer teils schuldbeladenen, teils die Vergangenheit verdrängenden Umgebung die einzige ist, die nicht vergessen kann“409. Elektras ausgeprägte Liebe410 und Loyalität dem toten Vater gegenüber und ihr Wunsch nach Rache haben, neben den bereits geschilderten, noch weitere psychische sowie Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 51). Als Elektra im Hof darauf wartet, dass Orest Klytämnestra ermordet, steht in der Szenenanweisung: „Sie läuft auf einem Strich vor der Tür hin und her, mit gesenktem Kopf, wie das gefangene Tier im Käfig“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 63). 405 Aussagen der Mägde im Bezug auf Elektra sind etwa „Giftig, wie eine wilde Katze“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 8), „Da pfauchte sie wie eine Katze“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 8) und „reckte ihre Finger wie Krallen gegen uns“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 10). Klytämnestra sagt, als sie auf Elektra trifft: „Wie es sich aufbäumt mit geblähtem Hals und nach mir züngelt!“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 23). 406 Als sie Klytämnestra den Mord an ihr schildert, bezeichnet Elektra sich selbst als Hund, der ihr hinterher jagen wird (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 36). 407 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 17. 408 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 18. 409 Carl Dahlhaus, 20. Jahrhundert. Historik – Ästhetik – Theorie – Oper – Arnold Schönberg, Laaber 2005, S. 611. 410 Die Liebe Elektras ihrem Vater gegenüber wurde in der Literatur immer wieder diskutiert. Carl Dahlhaus etwa spricht davon, dass Elektras Liebe zum Vater und Hass auf die Mutter ein „selbstzerstörerische[s] Unmaß“ angenommen und die Katastrophe herbeigeführt hätte (Carl Dahlhaus, 20. Jahrhundert, S. 612). Silvia Kronberger bezeichnet die Liebe zwischen Agamemnon und Elektra sogar als Liebesbeziehung (vgl. Silvia Kronberger, Elektra: stark – allein – hysterisch, Anif/Salzburg 2003, S. 126). Kronbergers Aussage muss insofern kritisch betrachtet werden, als die ‚Liebesbeziehung‘ in der Oper nicht ‚zwischen‘ Agamemnon und Elektra stattfinden kann sondern, wenn überhaupt, eine einseitige sein müsste, da Agamemnon Elektras Gefühle nicht (mehr) erwidern kann. Auf die mögliche 71 physische Folgen. Hofmannthal spricht davon, dass „[i]n ‚Elektra‘ […] die Person verlorengegangen [ist], um sich zu retten“411 – „das Individuum [wird] in der empirischen Weise aufgelöst indem eben der Inhalt seines Lebens es von innen her zersprengt wie das sich zu Eis umbilden(de) Wasser im irdenen Krug. Elektra ist nicht mehr Elektra […].“412 Dies äußert sich unter anderem im Verfall ihrer Schönheit und Weiblichkeit, was auch mit einer Ablehnung der weiblichen Sexualität einhergeht. Dass Elektra ihr körperlicher Verfall bewusst ist, wird deutlich, als sie um Chrysothemis wirbt, um sie zur Mithilfe zu überreden. Sie preist die schlanken Füße, biegsamen Hüften, starken Schultern und jungen Arme ihrer Schwester und bezeichnet gleichzeitig ihre eigenen Arme als traurig und verdorrt.413 Zwar musste Elektra ihre Schönheit und weiblichen Triebe opfern, doch geschah dies aus Liebe zu ihrem Vater. 414 Sonja Bayerlein spricht hier von einem „unlösbaren Zwiespalt […]: Um ihre königliche Würde, die durch die schmachvolle Ermordung des Vaters verletzt wurde, wiederherzustellen, macht sich Elektra zum Werkzeug der Rache ihres Vaters. Gleichzeitig bewirkt die damit verbundene Lebensweise zwangsläufig einen Verfall aller äußeren Kennzeichen des Königlichen […]. Die innere Erstarrung [im Gefühl des Hasses] übersteht ihr Äußeres nicht unbeschadet […].“415 Dass Elektra trotz ihrer Treue und Liebe dem Vater gegenüber eine Art von Reue oder Wehmut über den Verlust ihrer Schönheit und Weiblichkeit empfindet, zeigt sich im Gespräch mit Orest. Nachdem Elektra ihren Bruder wiedererkannt hat, schämt sie sich Tochter-Vater-Beziehung zu Agamemnons Lebzeiten wird in Kapitel 3.2.3 Agamemnon und seine Töchter eingegangen. 411 Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 354. 412 Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke VII. Dramen 5, Frankfurt a.M. 1997, S. 416. Im Bereich der Psychologie stößt man zum Thema ‚Rache‘ auf folgende Definition: „Form der Vergeltung und Emotion, die das Ziel hat, einen Ausgleich für erlittene Kränkungen und verletztes Ehrgefühl zu schaffen, der nicht selten auch gewaltsam erfolgt (Blutrache). […] Rachephantasien sind ein Zeichen für unbewältigte Konflikte“ (Gerd Wenninger (Red.), Lexikon der Psychologie, Bd. 3 M – Ref, Heidelberg 2001, S. 412). Hofmannsthals Aussage deutet an, welches Ausmaß der Aspekt der Rache bei Elektra annimmt. Elektra will das getane Unrecht an ihrem Vater (welches gewissermaßen auch ihr angetan wurde, da ihr dadurch der Vater genommen wurde) rächen, indem die VerursacherInnen dasselbe Schicksal erfahren, welches sie ihrem Vater angetan haben. Ihr Verlangen nach Rache nimmt eine Besessenheit an, durch welche nicht nur die Opfer ihrer Rache, sondern auch Elektra selbst zerstört wird: Sie opfert ihre Weiblichkeit; sie ist gefangen in der Erinnerung an die schreckliche Vergangenheit; sie ist unfähig loszulassen und ihr Leben zu leben; sie kann kein Mitgefühl oder Verständnis für das Leid und die Wünsche anderer Personen aufbringen; sie ist unfähig ein Beziehung zu einem anderen Menschen als ihrem toten Vater aufzubauen und ist sogar im Begriff ihr eigene Mutter zu töten. Elektras Verlangen nach Rache hat sich zu einer extremen Ausprägung entwickelt und ist der ‚Inhalt ihres Lebens‘ geworden, wodurch ‚die Person Elektra verlorengegangen‘ ist. Ihre Besessenheit nach Rache hat demnach zu ihrer eigenen ‚Entmenschlichung‘ geführt. 413 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 45f. 414 Für Silvia Kronberger zeigt sich hierin eine „Missbrauchskomponente“ in der Liebe zwischen Elektra und Agamemnon denn, „[a]ll das, was Elektra jetzt hassen muss, hat sie einst dem Vater geopfert“ (Silvia Kronberger, Elektra: stark – allein – hysterisch, S. 126). 415 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 134, 68. 72 vor ihm für ihr Aussehen und bezeichnet sich selbst als „Leichnam [seiner] Schwester“416. Gleichzeitig spricht sie von ihrer früheren Schönheit und allem, was sie hat opfern müssen417 – „sie meint kaum mehr Frau zu sein“418. Hierbei handelt es sich auch um die einzige Szene, in welcher Elektra die Zeit vor Agamemnons Ermordung thematisiert.419 Elektras Aufopferung ihrer Weiblichkeit420 und allen damit in Beziehung stehenden Aspekten – Sexualität, Gebären von Kindern, Heiraten – zieht auch eine Ablehnung der Weiblichkeit aller anderen Frauen nach sich. Elektra zeigt diese nicht nur gegenüber den Mägden und ihren Kindern421, sondern auch gegenüber ihrer Schwester. Chrysothemis‘ Sehnsucht nach einem Ehemann und Kindern ruft bei Elektra nur Verachtung und Spott hervor. Sie hat keinerlei Verständnis für den Wunsch ihrer Schwester.422 Dies bringt sie sogar gegenüber Orest (vor der Erkennungsszene) zum Ausdruck: „Geh‘ ins Haus, drin hab‘ ich eine Schwester, die bewahrt sich für Freudenfeste auf!“423 Der Grund für den Verlust ihrer Weiblichkeit und ihrer Abneigung gegen weibliche Sexualität wird in der Literatur unterschiedlich dargestellt, im Wesentlichen handelt es sich entweder um den Mord Agamemnons aus sexuellen Motiven Klytämnestras, die Unfähigkeit der Frau zur Tat oder die Person Agamemnons – hier kann unter anderem 416 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 59. Auch Orest ist über ihr Aussehen erschüttert. Er spricht von ihren hohlen Wagen und furchtbaren Augen und fragt, was sie mit ihren Nächten gemacht haben (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 56). 417 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 59f. Im Theatertext kommt deutlich heraus, dass Elektra sich an ihrer Schönheit und ihrem weiblichen Körper erfreut hat (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 225). Außerdem vergleicht hier Orest Elektras früheres Aussehen mit ihrem jetzigen: „Elektra ist groß, ihr Aug ist traurig, aber sanft, wo deins voll Blut und Haß“ (Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 222). 418 Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 355. 419 Diesen Aspekt thematisiert auch Sonja Bayerlein (vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 64). 420 Im Folgenden beinhaltet die Verwendung des Terminus Weiblichkeit auch immer die damit in Verbindung stehenden Aspekte wie Sexualität, das Gebären von Kindern, einen Ehemann, ein weibliches Erscheinungsbild und so weiter. 421 Zu den Mägden sagte Elektra, laut Aussage der Aufseherin: „Nichts kann so verflucht sein, nichts, als Kinder, die wir hündisch auf der Treppe im Blute glitschernd, hier in diesem Hause empfangen und geboren haben“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 13). 422 Elektras Verachtung für den Wunsch ihrer Schwester kommt bei ihrem ersten Aufeinandertreffen zum Ausdruck (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 21). 423 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 56. 73 dessen übermäßige (wenn auch nicht physische) Präsenz in Elektras Leben, seine Idealisierung durch Elektra oder Ähnliches gemeint sein. So unterschiedlich die drei Argumentationen auch scheinen, basieren sie alle auf Elektras ausgeprägter Liebe zu ihrem Vater und dem daran anknüpfenden Wunsch nach Rache. Sowohl Michael Heinemann als auch Wolfgang Müller-Funk ziehen alle drei Aspekte heran. Beide gehen davon aus, dass einerseits das sexuelle Mordmotiv Klytämnestras die Entwicklung von Elektras Sexualität verhindert hat und anderseits Elektras Aufgabe ihrer Weiblichkeit geschah, um die Rache ausführen zu können.424 Im letzten Punkt weichen die beiden Autoren voneinander ab. Während Heinemann Elektras Verzicht auf sexuelle Erfahrung als „Folge einer unzureichend entwickelten und reflektierten Beziehung zum Vater“425 versteht, macht laut Müller-Funk „der übermächtige tote Vater […] den Vollzug weiblicher Sexualität unmöglich“426. Sonja Bayerleins Analyse stimmt mit den ersten beiden Aspekten von Heinemann und Müller-Funk überein, der letztgenannte findet bei ihr keine Erwähnung.427 Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern die angeführten Gründe für Elektras Verfall ihrer Weiblichkeit – sprich Klytämnestras Sexualität, die Unfähigkeit der Frau zur Tat und Agamemnon – mithilfe des Libretto und Aufzeichnungen Hofmannsthals bekräftigt oder auch widerlegt werden können. Wie bereits erwähnt, hat Hofmannsthals Nicht-Wiederaufnahme der Vorgeschichte zur Folge, dass die Ermordung Agamemnons aus sexuellen Motiven Klytämnestras erfolgte. Im Theatertext428 gibt es einige Passagen, die zeigen, dass Elektra Sexualität – besonders die ihrer Mutter – mit der Ermordung ihres Vaters in Verbindung bringt. Nachdem Chrysothemis sagt, dass sie von diesem Ort weg und einen Ehemann und Kinder haben will, entgegnet Elektra: „Pfui, die’s denkt, pfui, die’s mit Namen nennt! Die Höhle zu sein, drin nach dem Mord dem Mörder wohl ist; das Tier zu spielen, das dem schlimmern Tier Ergetzung bietet. Ah, mit einem [Agamemnon] schläft sie [Klytämnestra], preßt ihre Brüste ihm auf beide Augen und winkt dem zweiten [Ägisth], der mit Netz und Beil hervorkriecht hinterm Bett.“ 429 424 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Arbeit am Mythos: Elektra und Salome, Wien 2001, S. 183 und Michael Heinemann, Elektras Erwartung, S. 149f. 425 Michael Heinemann, Elektras Erwartung, S. 149. 426 Wolfgang Müller-Funk, Arbeit am Mythos: Elektra und Salome, S. 183. 427 Vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 65-68. 428 Im Libretto wurden diese Passagen gestrichen. 429 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 194f. Die Passage stellt außerdem ein weiteres Beispiel dafür dar, das Elektra immer wieder gegenwärtige Situationen mit der Ermordung Agamemnons in Verbindung setzt. 74 Später, im Gespräch mit Klytämnestra sagt Elektra: „Auf diesem [Klytämnestras] Schoß bin ich gelegen nackt? Zu diesen Brüsten hast du mich gehoben? So bin ich ja aus meines Vaters Grab herausgekrochen, hab gespielt in Windeln auf meines Vaters Richtstatt!“430 Der Ekel, den die Sexualität ihrer Mutter bei Elektra hervorruft, lässt darauf schließen, dass dies auch zum Verfall ihrer eigenen Weiblichkeit geführt hat. Über die Unfähigkeit der Frau zur Tat hat sich Hofmannsthal geäußert: „[E]ine Untat wird durch eine Untat gesühnt, – und diese Sühne ist einem Wesen [Elektra] auferlegt, das darüber doppelt zugrunde gehen muß: weil sie als Individuum sich fähig hält und schon als Geschlecht unfähig ist, die Tat zu tun.“431 Diesen Gedanken führt Hofmannsthal noch weiter aus: „Zwischen ihr [Elektra] und der Tat liegt alles, auch ihre Individualität: sie meint kaum mehr Frau zu sein, spricht von sich wie von einer Toten – und vergißt das Beil, denn sie ist doch Frau.“432 Elektra ist aufgrund ihres Geschlechts demnach nicht nur zur Tat selbst unfähig, sondern auch zur Mithilfe in Form des Überreichens des Beils. Fraglich ist nun, ob Elektra ihre Weiblichkeit aufgegeben hat, um zur Tat fähig zu sein – immerhin benennt Elektra selbst (indirekt) Orest als Vollbringer der Tat.433 Zwar beschließt sie nach seinem vermeintlichem Tod den Mord an Klytämnestra und Ägisth selbst zu vollbringen, da „ungetan es ja nicht bleiben darf“434, doch hat sie ihre Weiblichkeit schon lange davor verloren. 435 Ob Elektra ihre Weiblichkeit schlussendlich tatsächlich geopfert hat, um zur Tat fähig zu sein, kann hier nicht beantwortet werden. Hofmannsthals zuvor zitierte Aussage zeigt jedoch, dass dies, falls dem so ist, vergeblich war, weil Elektra letztendlich aufgrund ihres Geschlechts sogar die Mithilfe versagt blieb. 430 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 200. Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 354. 432 Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 355. 433 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 34. Im Theatertext wird dies durch eine Aussage von Orests angeblichem Tod verdeutlicht: „Das Werk, das nun auf uns [Chrysothemis und Elektra] gefallen ist, weil er [Orest] nicht kommen kann […]“ (Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 214). 434 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 214. 435 Darauf verweist Elektra selbst gegenüber Chrysothemis (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 46) und Orest (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. S. 58-60). 431 75 Abschließend soll noch erörtert werden, inwiefern Agamemnon selbst zu Elektras Verlust der Weiblichkeit beigetragen hat. Aufschlussreich scheint hier eine Aussage Elektras in der Erkennungsszene: „Diese süßen Schauder hab‘ ich dem Vater opfern müssen. Meinst du, wenn ich an meinem Leib mich freute, drangen seine Seufzer, drang nicht sein Stöhnen an mein Bett? Eifersüchtig sind die Toten: und er schickte mir den Haß, den hohläugigen Haß als Bräutigam.“ 436 Auch wenn sich diese Ereignisse vermutlich nur in den Wahnvorstellungen Elektras abgespielt haben, wird der Einfluss, den der tote Agamemnon auf Elektra und die Entwicklung ihrer Weiblichkeit hat, erkennbar. Ihre Aussage lässt außerdem erstmals darauf schließen, dass ihr Opfer nicht ausschließlich freiwillig, sondern auch unter Zwang erfolgte, was in einem Widerspruch zu ihrer zuvor geschilderten Haltung zu ihrem Vater steht. Die Tat „der Elektra geht aus einer Art Besessenheit hervor“437, schreibt Hofmannsthal im Jahr 1926 rückblickend. Ihre Besessenheit unterstreicht die Tatsache, dass sie das Beil, mit dem ihr Vater ermordet wurde, aufbewahrt hat, um es Orest für den Vergeltungsschlag zu überreichen. Ihre Mutter und Ägisth sollten also nicht mit irgendeinem Mordwerkzeug getötet werden, sondern mit demselben Beil, mit dem die beiden Agamemnon ermordet haben. Als Elektra Orest tot glaubt, gräbt sie das Beil aus, um Klytämnestra und Ägisth selbst hinzurichten. Doch Orest lebt und ist gekommen, um die Tat auszuführen – in Euphorie darüber verkündet Elektra: „Der ist selig, der seine Tat zu tun kommt, selig der, der ihn ersehnt, selig, der ihn erschaut. Selig, wer ihn erkennt, selig, wer ihn berührt. Selig, wer ihm das Beil aus der Erde gräbt, […].“438 Doch im entscheidenden Moment scheitert Elektra an ihrer einzigen Aufgabe: Sie gibt Orest das Beil nicht. Ihr Versagen drückt sie mit folgenden Worten aus: „Ich hab ihm das Beil nicht geben können! Sie sind gegangen und ich habe ihm das Beil nicht geben können. Es sind keine Götter im Himmel!“439 Bedenkt man die Obsession, mit der sie für diesen Augenblick gelebt hat und die Tatsache, dass sie die einzige Möglichkeit zur Mithilfe an der Ermordung Klytämnestras und Ägisths nicht genutzt hat, scheint es 436 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 60. Aufzeichnung vom September 1926 (Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, S. 237). Silvia Kronberger unterstreicht Hofmannsthals Aussage: „Elektra trauert nicht nur, sondern ihr Hass gegen die Mutter und Ägisth und ihre Rachgelüste haben wahnhafte Züge angenommen“ (Silvia Kronberger, Elektra: stark – allein – hysterisch, S. 124). 438 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 62. 439 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 63. 437 76 umso verwunderlicher, dass ihr Versagen nach dem ersten Aufschrei Klytämnestras wie vergessen scheint. Elektras Triumph wurde durch ihr Versagen nicht erschüttert, dass Ziel ihres Daseins hat sich erfüllt. Sie trägt nun die „Last des Glückes“ 440 und bricht in einem „namenlose[n] Tanz“441 tot zusammen. „Für Elektra blieb nichts als der Tod […].“442 3.2.2 Chrysothemis Im Vergleich mit Elektra scheint Chrysothemis der Verlust ihres Vaters nicht zu bekümmern. Sie opfert weder ihre Weiblichkeit aus Liebe zu ihrem Vater, noch betrauert sie in einem täglichen Ritual dessen Ermordung. Auch ist sie nicht von unbändigem Hass erfüllt oder widmet ihr Leben der Rache an Klytämnestra und Ägisth. In der Tat ist keine Beziehung Chrysothemis‘ zu ihrem toten Vater erkennbar; wie ihr Verhältnis zu Agamemnon vor dessen Ermordung war, kann nicht festgestellt werden und bleibt fraglich. Dennoch leidet sie unter der grausamen Vergangenheit und der durch Agamemnons Ermordung hervorgerufenen Situation – nicht wie ihre Schwester durch die Trauer um den Vater und Hass auf die Mutter, sondern durch die für sie unerträglichen Lebensumstände, die daraus entstanden sind. Paul Bekkers Beobachtung scheint Chrysothemis‘ Haltung gegenüber der Ermordung Agamemnons gut zu beschreiben, wenn er sagt: „[She is] [m]ore oppressed than indignant over what has happened.“443 Chrysothemis ist von Ängsten geplagt, sie ist wie getrieben und kann nicht zur Ruhe kommen.444 Sie fühlt sich wie eingesperrt und vergleicht sich selbst und Elektra 440 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 74. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 73. 442 Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 139. Ernst Hötzl schreibt über Elektras Tod: „Das Ziel ihres Lebens ist erreicht, sie sieht in ihrem Dasein keine weitere Funktion. Sie ist das letzte Opfer ihres eigenen Hasses und tanzt sich zu Tode. Dies ist die einzige Möglichkeit, für ihren verstörten Geist Frieden zu finden. Durch den Tod ist sie auch mit ihrem geliebten Vater vereint“ (Ernst Hötzl, Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal: Die Elektra – ein Psychogramm der Atriden-Trilogie, S. 131). Jean Starobinskis Äußerung darüber erklingt im selben Tonfall: „Und im Triumph ihres befriedigten Hasses ereilt sie der Tod. […] Die Energie, in der Liebe und Haß sich mischten, findet nur noch im eigenen Körper im Übermaß des Tanzes an den Grenzen von Freude und Zerstörung ihr Ziel“ (Jean Starobinski, Die Zauberinnen, S. 228, 231). 443 Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, Princeton (New Jersey) 1992, S. 379. Von Susan Gillespie verwendete Originalquelle: Paul Bekker, “Elektra. Studie“, in: Neue Musik-Zeitung 14, 16 und 18 (1909), S. 293-298, 333-337 und 397-391. 444 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 19. 441 77 mit Vögeln, die auf der Stange sitzen und den Kopf nach links und rechts drehen. 445 Die gegenwärtige Situation ist für sie unerträglich. Sie glaubt damit abschließen zu können, wenn sie nur von hier weg kommt, dann wäre sie auch die Alpträume los, die sie nachts plagen: „Wär ich fort, wie schnell vergäß ich alle bösen Träume […].“446 Chrysothemis‘ psychische Belastung schlägt sich auch auf ihre mentalen Kräfte nieder. Sie ist nicht in der Lage ihre Gedanken zu behalten: „Mein Kopf ist immer wüst. Ich kann von heut auf morgen nichts behalten. Manchmal lieg ich so da, dann bin ich was ich früher war, und kanns nicht fassen, daß ich nicht mehr jung bin.“447 Diese Aussage Chrysothemis‘ offenbart gleichzeitig ihre größte Angst – den Verlust ihrer Jugend. Obwohl Chrysothemis noch vor Schönheit und Weiblichkeit erstrahlt 448, ist sie wie gefesselt von der Vorstellung, diese zu verlieren. Somit steht ihre größte Angst in direktem Zusammenhang mit ihrem innigsten Wunsch: Chrysothemis ersehnt sich ein ‚Weiberschicksal‘, was einen Ehemann und Kinder beinhaltet.449 Dafür würde sie sogar einen Bauern heiraten und mit ihm in seiner Hütte wohnen.450 Wie stark sie sich danach sehnt wird deutlich, als sie von den Mägden zu erzählen beginnt, die schwanger sind, ihre Kinder gebären und die Kinder schließlich groß werden.451 Gleichzeitig wird ihr wieder bewusst, wie schnell die Zeit verrinnt, und dass sie Kinder haben muss, bevor ihr „Leib verwelkt“452. Ihre Aussage: „Nein, ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal. Viel lieber tot, als leben und nicht leben“453 macht deutlich, wie stark die Aspekte ‚das Leben leben‘ und ‚Weiberschicksal‘ in Chrysothemis‘ Vorstellung miteinander 445 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 20. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195. 447 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195. 448 Dies wird bei Elektras Werben um ihre Schwester erkennbar (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 45-48). 449 Otto Erhardt bezeichnet Chrysothemis als „liebesdurstig und lebenshungrig, nach Weibes- und Mutterglück verlangend“ (Otto Erhardt, Richard Strauss. Leben, Wirken, Schaffen, Olten 1953, S. 215). Kurt Pahlen äußert sich über Chrysothemis folgendermaßen: „Man unterschätze Chrysothemis nicht; dieses helle Gegenstück zur düsteren Elektra ist, obwohl durch eine warme, schöne lyrische Sopranstimme charakterisiert, ebenfalls eine Verzweifelte. Nur daß ihre Verzweiflung die am einfachsten zu fassende ist; dazu bedarf es keiner Psychologie. Sehnsucht nach ein wenig Freude in einem freudlosen Dasein, Sehnsucht nach Wärme und Liebe, wo nur Haß, Kälte, Angst sie umgibt –, wie menschlich, wie natürlich ist das! […] Elektras Tragik liegt ihr völlig fern […]“ (Richard Strauss, Elektra. Textbuch, Mainz 1995, S. 206-208). 450 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 19f. Jean Starobinski bezeichnet Chrysothemis als „zu sanft und zu menschlich […] für den offenen Aufruhr“, weshalb sie „fliehen und ein Leben als Frau zu leben beginnen“ möchte (Jean Starobinski, Die Zauberinnen, S. 226). 451 „[…] Frauen, die ich schlank gekannt hab‘, sind schwer von Segen, mühn sich zum Brunnen, heben kaum die Eimer, und auf einmal sind sie entbunden ihrer Last, kommen zum Brunnen wieder aus ihnen selber quillt süßer Trank und säugend hängt ein Leben an ihnen, und die Kinder werden groß […]“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 20f). 452 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 20. 453 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 21. 446 78 verbunden sind. Bei Chrysothemis „steht die weibliche Geschlechtlichkeit im Zentrum der eignen Person […] für sie [ist] jenseits ihrer ‚weiblichen Bestimmung‘ kein wahres Leben möglich“454. Aus dem Theatertext geht im Gegensatz zum Libretto hervor, was hinter Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ steckt: „Ich will empfangen und gebären Kinder, die nichts von diesem wissen, meinen Leib wasch ich in jedem Wasser, tauch mich tief hinab in jedes Wasser, alles wasch ich mir ab, das Hohle meiner beiden Augen wasch ich mir rein – sie sollen sich nicht schrecken, wenn sie der Mutter in die Augen schaun!“455 Chrysothemis‘ Wunsch ist es, eine neue Generation in die Welt zu setzen, welche unbelastet von der grausamen Vergangenheit aufwachsen und leben kann. 3.2.3 Agamemnon und seine Töchter Betrachtet man die unterschiedlichen Reaktionen der Schwestern auf die Ermordung ihres Vaters, stellt sich die Frage nach der Beziehung von Elektra und Chrysothemis zu Agamemnon vor dessen Tod. Zwar können darüber nur Vermutungen angestellt werden, da die Tochter-Vater-Beziehung zu Agamemnons Lebzeiten weder in der Oper noch im Theaterstück thematisiert wird, doch wird im Folgenden erörtert, wie diese ausgesehen haben könnte. Vor allem Elektras Verhalten aufgrund der Ermordung Agamemnons und ihre ausgeprägte Liebe und Treue zu ihrem toten Vater geben Anlass, um darüber nachzudenken, woraus ihre starke Vaterbindung resultiert. Eine Möglichkeit besteht darin, dass Agamemnon und Elektra eine überaus liebevolle Tochter-Vater-Beziehung hatten, oder sie sein Lieblingskind war, und deshalb am meisten Liebe und Aufmerksamkeit bekam, was wiederum ihre tiefen Gefühle zum Vater erklärt.456 Eine andere Theorie besteht darin, dass Elektra über die Affäre der Mutter Bescheid wusste, und ihr Vater demnach der einzige Elternteil war, zu welchem Elektra noch eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen konnte, nachdem die Mutter im Begriff war, die Familie durch ihre Liebesbeziehung mit Ägisth zu zerstören. Nach der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra und Ägisth entfernte sie sich noch mehr von der 454 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 80. 455 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 196. 456 Ihre starke Liebe zum Vater und ihre Trauer über dessen Tod kommen vor allem in Elektras Monolog zum Ausdruck. 79 Mutter und flüchtete sich endgültig in ihre Liebe zum Vater.457 Betrachtet man jedoch den Dialog zwischen Elektra und Orest, entsteht der Anschein, als hätte sie ihre Weiblichkeit nicht freiwillig geopfert, sondern als wäre dies unter Agamemnons Zwang geschehen.458 Dies lässt wiederum auf eine autoritäre Vaterfigur schließen, dessen Ansprüchen Elektra gerecht zu werden versuchte, um seine Liebe zu erlangen. Auch der tote Vater hat noch so viel Macht über Elektra, dass sie auch jetzt noch das Gefühl hat, nicht frei entscheiden zu können. Im Dialog mit Orest spricht sie außerdem von der Eifersucht Agamemnons, wenn sie sich an ihrer Weiblichkeit erfreute, weshalb er ihr den Hass als Bräutigam schickte.459 Dies könnte wiederum auf eine inzestuöse Beziehung zwischen Agamemnon und Elektra schließen lassen.460 Ist dem der Fall, könnte Elektras negative Beziehung zu ihrer Mutter bereits vor Agamemnons Ermordung bestanden haben, da Elektra ihre Mutter möglicherweise als Rivalin um den Vater gesehen haben könnte. Welche Beziehung Elektra und Agamemnon auch hatten, an der Haltung Chrysothemis‘ über die Ermordung des Vaters zeigt sich, dass Agamemnons Verhalten Chrysothemis gegenüber entweder ein anderes war als jenes, welches er gegenüber Elektra zeigte, oder, dass Chrysothemis auf das Verhalten ihres Vaters anders reagierte als Elektra. Während Elektras Leben von ihrer Liebe zu und Loyalität gegenüber Agamemnon geprägt ist, zeigt Chrysothemis kein liebevolles Verhältnis zum toten Vater. Was auch immer zu diesen unterschiedlichen Haltungen der Schwestern gegenüber Agamemnon geführt hat bleibt fraglich. Elektra scheint sich jedoch nicht darüber bewusst zu sein, dass Chrysothemis eine andere Beziehung zu Agamemnon hatte als sie selbst. Als sie in ihrem Monolog zu Beginn der Oper die Rachetat und den anschließenden Siegestanz schildert, bezieht sie alle Kinder Agamemnons mit ein – so auch Chrysothemis.461 Elektra scheint die Tatsache, dass Chrysothemis unter Umständen ein anderes Verhältnis zu ihrem Vater hatte als sie selbst und ihre Schwester die Ermordung der Mutter nicht gut heißen könnte und die Rachetat deshalb nicht zwangsläufig als Triumph erleben würde, gar nicht erst in den Sinn zu kommen. 457 Elektra spricht zwar von der Affäre zwischen Klytämnestra und Ägisth, inwiefern sie jedoch bereits vor Agamemnons Ermordung darüber Bescheid wusste, ist nicht klar (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 14). 458 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 60. 459 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 60. 460 Wie bereits vorhin gezeigt wurde, spricht Silvia Kronberger von einer Liebesbeziehung zwischen Agamemnon und Elektra (vgl. Fußnote 411). 461 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 15f. 80 Wie gezeigt wurde, gestaltet sich die Diskussion um die Tochter-Vater-Beziehungen in Elektra schwierig. Die Betrachtungsweise des Verhältnisses zwischen Elektra und Agamemnon ändert sich zwischen Elektras Monolog und ihrem Dialog mit Orest, und bewegt sich hierbei in einer Reichweite von liebevoll über autoritär bis hin zu inzestuös. Im Bezug auf Chrysothemis‘ Verhältnis zu Agamemnon kann lediglich davon ausgegangen werden kann, dass sich dieses in irgendeiner Weise von jenem zwischen Elektra und Agamemnon unterschieden hat. Wie dieses jedoch ausgesehen haben könnte, bleibt fraglich. 3.2.4 Die Beziehung beider Schwestern zueinander Elektra „die dämonische Rachegöttin gegen die Lichtgestalt ihrer irdischen Schwester“462 – so bezeichnet Strauss die gegensätzlichen Charaktere der beiden Schwestern. Hofmannsthal selbst hat dazu angemerkt, dass die „heroische Elektra und die nur weibliche Chrysothemis“463 einen Kontrast darstellen. Dabei kam es ihm aber darauf an, „daß sie mitsammen eine Einheit bildeten, recht eigentlich eins waren.“464 Michael Walter sieht genau hierin ein Problem: „Der in sich widersprüchliche und darum dynamische Charakter der Salome wird von Strauss in Elektra in zwei Figuren aufgespalten: Einerseits Elektra, in der sich der Wille zum Fanatismus manifestiert. Weil Elektra aber nicht mehr als eine Manifestation ist, die mit der Person Elektras nicht identisch ist, erscheint sie identitätslos. Anderseits Chrysothemis, die in allem Elektras Gegenteil ist, und deren Wille zum Hausfrauendasein vom zeitgenössischen bürgerlichen Publikum wohl zustimmend goutiert wurde und ihre Identität ausmachte. Das Verhältnis der beiden Figuren ist jedoch nicht dialektisch, sie sind nur als Gegenteile aufeinander bezogen. Als Einzelfiguren – wie Salome – wären sie nicht denkbar.“465 Diese hat zur Folge, dass beide Charaktere – vor allem aber Elektra – von Anbeginn an statisch sind und keine Möglichkeit zur Veränderung besteht. Hierzu ist noch anzumerken, dass laut Walter dieses Problem erst durch die Kürzungen Strauss‘ verursacht wurde.466 In der Tat scheinen Elektra und Chrysothemis in jedem Aspekt das Gegenteil der jeweils anderen zu verkörpern. Die größte Diskrepanz besteht in ihrem Umgang mit der Ermordung ihres Vaters. Elektras ganze Liebe und Treue gilt dem toten Vater, weshalb sie sich in vollen Zügen dem Hass auf ihre Mutter und Ägisth hingibt und auf 462 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 230. Aufzeichnung vom März 1922 (Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, S. 234). 464 Aufzeichnung vom März 1922 (Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, S. 234). 465 Michael Walter, Elektra – germanisches Fortissimo und ästhetische Konstruktion, 2005, S.56. 466 Vgl. Michael Walter, Elektra – germanisches Fortissimo und ästhetische Konstruktion, S. 57. 463 81 Vergeltung aus ist. Chrysothemis hingegen ersehnt sich nichts mehr als ein ‚Weiberschicksal‘, sie will die Vergangenheit und die gegenwärtige Situation hinter sich bringen. Insofern prägt Agamemnon, beziehungsweise die Haltung, die Elektra und Chrysothemis bezüglich seiner Ermordung einnehmen, ihre ganze Beziehung zueinander. Alle Konflikte der beiden basieren letzten Endes darauf. Keine der Schwestern kann die Position der jeweils anderen verstehen, die unterschiedlichen Motivationen, die ihr Leben bestimmen, entzweien die beiden unüberwindbar. In Elektras Augen ist Chrysothemis' Weigerung zur Rache an der Mutter Verrat am Vater, dies macht sie für Elektra zur „Tochter Klytämnestras“467. Ihre Verachtung für Chrysothemis‘ Haltung bringt Elektra im Theatertext klar zum Ausdruck: „Ich wünsch dir, wenn du Kinder hast, sie mögen an dir tun, wie du am Vater!“468 Chrysothemis auf der anderen Seite macht Elektra und ihren Hass für ihre jetzige Lage verantwortlich: „Du bist es, die mit Eisenklammern mich an den Boden schmiedet. Wärst nicht du, sie ließen uns hinaus. Wär‘ nicht dein Haß, dein schlafloses unbändiges Gemüt, vor dem sie zittern, ah, so ließen sie uns ja heraus aus diesem Kerker, Schwester!“469 Chrysothemis ist davon überzeugt, dass Elektra ihr helfen könnte zu entkommen: „Elektra, hör‘ mich. Du bist so klug, hilf uns aus diesem Haus, hilf uns ins Freie.“470 Ein weiterer wesentlicher Kontrast der Schwestern ist der Umgang mit dem Vergessen. Elektra ruft sich die Tat und ihren Wunsch nach Rache in ihrem täglichen Ritual immer wieder ins Gedächtnis.471 Sie will die Ermordung ihres Vaters nicht vergessen und macht es auch den anderen Personen unmöglich, dies zu tun.472 Chrysothemis hingegen will die Vergangenheit vergessen und endlich ihren Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ erfüllen.473 „Chrysothemis verkennt nicht, dass das von ihr herbeigesehnte ‚Weiberschicksal‘ nur nach dem Vergessen auszuleben ist […].“474 Eine Aufzeichnung Hofmannsthals liefert eine Erklärung darüber, was der Aspekt des Vergessens beinhaltet: 467 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 17. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 196. 469 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 19. 470 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 47. 471 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 14-16. 472 Immer wieder erwähnt sie vor Chrysothemis (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 17f, 41-51) und Klytämnestra (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 35-38) die Tat und die noch folgende Rache. 473 Im Theatertext kommt ihre Verzweiflung darüber, die Vergangenheit endlich vergessen zu können stärker zum Ausdruck (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195f). 474 Michael Walter, Elektra – germanisches Fortissimo und ästhetische Konstruktion, S. 57. 468 82 „Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen. Und dennoch ist ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft. […] So steht […] Elektra gegen Chrysothemis […]. Chrysothemis wollte leben, weiter nichts; und sie wußte, daß, wer leben will, vergessen muß. Elektra vergißt nicht. Wie hätten sich die beiden Schwestern verstehen können?“ 475 Hofmannsthals Aussage erklärt und begründet die von Michael Walter kritisch betrachtete Statik der Figuren und deren Unfähigkeit zur Entwicklung. 476 Elektra ist statisch, weil sie nicht vergessen will. Chrysothemis will zwar vergessen können, wird aber von ihrem Umfeld – vor allem von Elektra – daran gehindert. Dies blockiert Chrysothemis‘ Weiterentwicklung oder ‚Verwandlung‘, wie es Hofmannsthal nannte. Nach dem vermeintlichen Tod Orests kommt es zu einer scheinbaren Annäherung der Schwestern auf Seiten Elektras. Um Chrysothemis zur Mithilfe zu bewegen, beginnt Elektra ihre Schönheit und Kraft zu preisen. Elektra versichert Chrysothemis sogar, ihr bei der Erfüllung ihres ‚Weiberschicksals‘ zu helfen477, obwohl dies bei Elektra zuvor nur Spott und Hohn hervorgerufen hat.478 In der Literatur wurde und wird diese Szene des Öfteren zum Anlass genommen, um Elektras homosexuelles Begehren gegenüber Chrysothemis zu erörtern. So sprach Paul Goldmann bereits 1905 davon, dass „[z]wei der edelsten Frauengestalten der altgriechischen Dichtung […] in ein lesbisches Verhältnis zueinander gesetzt“479 worden seien. Nach Wolfgang Müller-Funk ist „[d]ie erotisch geladene Rede Elektras […] nicht so sehr ein schmerzvolles Eingeständnis eines Verzichtes auf weibliche Sexualität und Sinnlichkeit, sondern auch ein Begehren der Schwester, das gleichsam männlich konnotiert ist, ein freies zwischen gleichen. Elektra betrachtet die Schwester mit den Blicken eines Mannes.“480 Bei Chrysothemis rufen Elektras Worte jedoch nur Angst und Entsetzen hervor, sie reagiert zunehmend abwehrend.481 Sie weiß, dass sie „mit einer Beteiligung an der Ermordung der Mutter ihre weibliche Identität, die auf die Verwirklichung ihrer auf 475 Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 138f. Siehe Zitat von Michael Walter auf S. 81. 477 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 45-48. 478 Auf Chrysothemis‘ verzweifelte Bitte ihr zu helfen, damit sie irgendwann Mann und Kinder haben kann antwortet Elektra höhnisch: „Armes Geschöpf!“, „Was heulst du? Fort! Hinein! Dort ist dein Platz! Es geht ein Lärm los. Stellen sie vielleicht für dich die Hochzeit an?“ (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 20f). 479 Zitiert nach Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok, Richard Strauss und die Antike: Von der psychologisierenden Opern-Mythe zur mythologisierenden Operette, Anif/Salzburg 1990, S. 115. 480 Wolfgang Müller-Funk, Arbeit am Mythos: Elektra und Salome, S. 184. 481 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 42-50. 476 83 Mutterschaft ausgerichteten Sehnsüchte hin drängt, verlieren würde“482, was ihr die Ermordung ihrer eigenen Mutter unmöglich macht. Elektra versichert ihr, dass ihr „kein Tropfen Blut am Leibe haften“483 bleibt und das, was sie „jetzt an Schaudern überwinde[t] […] vergolten [wird] mit Wonneschaudern Nacht für Nacht […]“484. Doch Chrysothemis ist sich der Widernatürlichkeit der Tat ihrer Mutter bewusst und weiß, dass sie dasselbe Schicksal erleiden würde, würde sie Klytämnestra ermorden. 485 Mit den Worten: „Ich kann nicht!“486 läuft sie davon, woraufhin Elektra sie verflucht. Jetzt wird deutlich, dass es Elektra nie wirklich um ihre Schwester gegangen ist, sondern einmal mehr nur um ihren Vater und darum, seine Ermordung zu rächen. Mit Chrysothemis‘ Weigerung Elektra zu helfen ist diese für Elektra als Schwester und Bezugsperson nicht mehr existent. Im Theatertext bringt Elektra unverkennbar zum Ausdruck, dass sie auf Erden keine Person mehr hat, die ihr am Herzen liegt. Orest fragt (vor der Erkennungsszene): „So hast du nichts auf Erden, was dir lieb ist […]?“487 Elektra entgegnet: „Ich bin nicht Mutter, habe keine Mutter, bin kein Geschwister, habe kein Geschwister […].“488 Auch nachdem Klytämnestra und Ägisth ermordet wurden, die Ursache für den Zwiespalt der Schwestern aufgelöst wurde und scheinbar nichts mehr zwischen ihnen steht, gelingt es ihnen nicht zueinander zu finden. Die Spaltung der Schwestern wird wieder durch ihre gegensätzliche Haltung zur Situation hervorgerufen. Während Chrysothemis, welche die Tat jetzt auch befürwortet, ihre Freude und neu erweckte Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit allen – auch Elektra – teilen will, scheint Elektra die Welt um sich nicht mehr wahrzunehmen und reagiert nicht auf die Rufe ihrer Schwester.489 Auch in ihrem ‚Duett‘490 gehen die beiden nicht aufeinander ein, sondern 482 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 231. 483 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 50. 484 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 50. 485 Hofmannsthal beschreibt die Widernatürlichkeit der Tat Klytämnestras: „Die Tat ist für die Frau das Widernatürliche (so schon Klytämnestra) […] Ihre Tat ist Mutter sein, - wie aber, wenn sie sich an dem vergeht durch Untat, welcher der Vater ihres Kindes ist?“ (Hugo von Hofmannsthal, Prosa III, S. 354). 486 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 51. 487 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 220. 488 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 220. 489 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 70f. 490 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 72f. Hierbei handelt es sich um eine der wenigen Passagen, in denen Strauss keine Kürzung, sondern eine Ausdehnung der Verse haben wollte. Strauss schrieb das ‚Duett‘ von Elektra und Chrysothemis betreffend an 84 führen separate Monologe. Chrysothemis wendet sich schließlich von Elektra ab, um bei Orest zu sein – Elektra beginnt ihren Tanz und bricht schließlich unter der „Last des Glückes“491 sterbend zusammen. 3.2.5 Die Beziehungen der Schwestern zu anderen Personen 3.2.5.1 Klytämnestra und ihre Töchter Hofmannsthal sind die „drei Frauengestalten […] wie die Schattierungen eines intensiven und unheimlichen Farbtones gleichzeitig aufgegangen“492. Silvia Kronberger fehlt den Frauengestalten, auf denen „[d]rei Aspekte des Weiblichen: Mütterlichkeit, Sexualität, Aggression [aufgeteilt sind] […] [i]n ihrer Eindimensionalität […] allen dreien ihre Glaubwürdigkeit“493. Auch Matthew Boyden weist den Figuren in Elektra ein bestimmtes Attribut zu. Er geht jedoch nicht darauf ein, wie glaubwürdig er die Darstellung der einzelnen Figuren findet: „Wie Salome ist Elektra eine Tragödie der Leidenschaften, nicht der Seele. Alle Figuren sind durch ein Gefühl definiert: Elektra ist Haß, Chrysothemis ist Verlangen, Klytämnestra ist Angst und Orest ist Liebe.“494 Welche ‚Aspekte des Weiblichen‘ oder ‚Leidenschaften‘ man den drei Frauen in Elektra auch immer zuschreiben mag, es ist offensichtlich, dass sie in der Handlung unterschiedliche Positionen einnehmen. Welche Beziehung dadurch zwischen Klytämnestra495 und ihren Töchtern – vor allem im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Positionen, die sie im Bezug auf Agamemnons Ermordung einnehmen – erkennbar ist, soll im Folgenden untersucht werden. Hofmannsthal: „Ihre erste Verssendung dankend erhalten; sehr schön, aber etwas wenig. Bitte drücken Sie noch ein bißchen, es kommen sicher noch etwa 8 Verse für jede heraus, ich muß hier Material haben, um beliebig steigern zu können. 8, 16, 20 Verse, soviel Sie können, und alles in derselben ekstatischen Stimmung, immer sich steigernd“. Brief an Hofmannsthal vom 22. Juni 1908 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 37). 491 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 74. 492 Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke VII, S. 459. 493 Silvia Kronberger, Elektra: stark – allein – hysterisch, S. 124. 494 Matthew Boyden, Richard Strauss. Die Biographie, Wien 1999, S. 324. 495 Für eine ausführliche Analyse der Figur Klytämnestras vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 74-78, 243-268. 85 Elektras ganze Liebe und Loyalität gilt dem toten Vater, Agamemnon – Klytämnestra hat diesen gemeinsam mit Ägisth ermordet. Elektras Verbundenheit dem Vater gegenüber hat demnach den Hass auf ihre Mutter zwangsläufig zur Folge. Elektras „naturgemäße blutsverwandte Bindung zur Mutter“496 wird ausgelöscht – sie will den Tod ihrer Mutter, um ihren Vater zu rächen. Doch auch Klytämnestra ist Elektra gegenüber nicht positiver gesinnt. Sie zwingt ihre Tochter bei den Hunden zu essen, lässt ihre körperliche Misshandlung durch Ägisth zu und droht ihr sogar, sie an Ketten legen und hungern zu lassen.497 Klytämnestras Ablehnung Elektras rührt daher, dass diese sie daran hindert, ihre Tat zu vergessen – „denn wie Elektra in der Mutter immer den fleischgewordenen Frevel vor Augen hat, so begegnet dieser umgekehrt in der Tochter das fleischgewordene Gedächtnis ihrer Untat“498. Paul Bekker schildert Elektras und Klytämnestras Verhältnis zueinander wie folgt: „The two complement each other: the crime of the one determines the character of the other. Klytämnestra’s deed turns Elektra into a vengeful fury whose fate is fulfilled the moment her victim dies.”499 Ob ihre Beziehung zueinander vor der Ermordung anders war, wird in der Oper zu keinem Zeitpunkt thematisiert. Doch trotz ihrer gegenseitigen Ablehnung sind einige Aspekte zu finden, in denen die Frauen Ähnlichkeit aufweisen. Ein wesentlicher Punkt hierbei ist ihr körperlicher Verfall. Wie bereits gezeigt wurde, hat Elektra ihre Schönheit und Weiblichkeit geopfert. Doch auch Klytämnestras äußeres Erscheinungsbild verfällt, sie hat ein „fahles, gedunsenes Gesicht“500 und ihre „Augenlider [sind] angeschwollen“501. Bei Klytämnestra geht dies jedoch mit einem allgemeinen physischen Gebrechen einher, sie muss sich beim Gehen auf eine ihrer Vertrauten stützen, schafft es kaum ihre Augen offen zu halten und fühlt sich „lebendigen Leibes wie ein wüstes Gefild“502. Auch der Aspekt der Widernatürlichkeit der Frau zur Tat verbindet die beiden. Denn während sich Klytämnestra bereits des Mordes an ihrem Mann schuldigt gemacht hat, ersehnt Elektra die Ermordung ihrer Mutter herbei. Doch beide führen die Tat nicht 496 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 63. 497 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 11, 35. 498 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 78. 499 Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, S. 378. 500 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 23. 501 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 25. 502 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 23. 86 selbst durch, sondern beauftragen einen Mann, der dies für sie macht.503 Während jedoch Klytämnestra als Mithelferin beteiligt war504, ist Elektra nicht einmal das möglich, da sie Orest das Beil nicht gegeben hat505. Trotz ihrer gegenseitigen Antipathie, der Warnung ihrer Vertrauten und Schleppenträgerin506 und Klytämnestras eigener Bemerkung: „Sie kennt mich gut. Doch weiß man nie, was sie im Schilde führt“507, sucht Klytämnestra Hilfe bei Elektra. Sie erhofft sich, „etwas Angenehmes“508 zu hören, etwas, das ihr hilft, ihre Alpträume loszuwerden, und sie glaubt, dass Elektra im Stande ist, ihr zu helfen. Elektra weiß um den Zustand und die Ängste ihrer Mutter Bescheid, sie nutzt die Situation und tut so, als würde sie nichts von den Träumen Klytämnestras wissen. Im Theatertext behauptet Elektra Chrysothemis gegenüber gar, dass sie Klytämnestra die bösen Träume schickt.509 Klytämnestra versucht Elektra näher zu kommen und geht in eine ruhigere Stimmung über, um ihr das Geheimnis des Opfertieres zu entlocken, das sie von den Träumen befreit.510 Im Theatertext versucht sie sogar die Härte, die sie Elektra gegenüber an den Tag legt, zu rechtfertigen.511 Die Stimmung schlägt abrupt um, als Elektra nach ihrem Bruder fragt, jetzt kommt die Abscheu, die beide füreinander empfinden, wieder deutlich zum Ausdruck. Klytämnestra droht Elektra, sie an die Kette zu legen und hungern zu lassen, um zu erfahren, welches Opfer fallen muss. Im Gegenzug wirft ihr Elektra die grausame Wahrheit ins Gesicht, sagt Klytämnestra, dass sie selbst das Opfertier ist und schildert ihr den Mordhergang.512 Ihre Schilderung beendet sie mit den Worten: „[S]ausend fällt das Beil, und ich steh‘ da und seh‘ dich 503 Vgl. Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, S. 378. Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 14. 505 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 63. 506 Mit Aussagen wie: „Sie meint es tückisch“ und „Sie redet nicht, wie sie’s meint“ versuchen die Frauen Klytämnestra vor Elektra zu warnen (Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 24f). 507 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 24. 508 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 26. 509 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 197f. Im Libretto sind Teile dieser Verse in Elektras Mordschilderung gegenüber Klytämnestra eingebaut (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 35f). 510 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 27. 511 „Wenn Eltern hart sind, ist es stets das Kind das sie zur Härte zwingt. Kein strenges Wort ist ganz unwiderruflich, und die Mutter, wenn sie schlecht schläft, denkt lieber sich das Kind im Ehebett als an der Kette liegen“ (Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 205f). 512 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 33-37. 504 87 endlich sterben! Dann träumst du nicht mehr, dann brauche ich nicht mehr zu träumen, und wer dann noch lebt, der jauchzt und kann sich seines Lebens freun!“513 Wie bereits gezeigt wurde, ist an Chrysothemis‘ Verhalten keine Bindung zum Vater erkennbar. Jedoch folgt aus Chrysothemis‘ Weigerung der Rache an der Ermordung ihres Vaters nicht gleichzeitig ihre Liebe zur Mutter. Denn, wie zwischen Elektra und Klytämnestra, ist auch zwischen Chrysothemis und Klytämnestra keine liebevolle Mutter-Tochter-Beziehung vorhanden. Auch ihr Verhältnis zueinander wird von der Vergangenheit – der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra und Ägisth – beeinflusst. Die beiden treffen während der gesamten Oper nie aufeinander, denn Chrysothemis flieht, bevor ihre Mutter die Bühne betritt, und sie erscheint erst wieder, als Klytämnestra diese verlässt. Welche Beziehung die beiden zueinander haben, geht demnach lediglich aus ihren Gesprächen mit Elektra hervor.514 Nach Sonja Bayerlein kann Chrysothemis aufgrund ihres Kinderwunsches ihre naturgemäße Bindung zur Mutter nicht so einfach abbrechen wie Elektra. Damit sie aber „den unauflöslichen Zwiespalt zwischen der Abscheu vor der Tat der Mutter und gleichzeitiger Kindespflicht zur Mutterliebe nicht austragen“515 muss, versteckt sie sich vor ihr. Denn der „sich auftuende Konflikt zwischen der Kindespflicht zur Rache als Tochter des Vaters […] und ihrem Ideal der ‚Mutterrolle‘ […] übersteigt ihre psychischen Kräfte.“516 Dass Chrysothemis nicht nur einem Zwiespalt aus dem Weg geht, sondern die Mutter auch aus Angst meidet, wird im Theatertext deutlich. So sagt Chrysothemis zu Elektra, dass sie Kinder auf die Welt bringen möchte, die keine Angst hätten, wenn sie ihrer Mutter in die Augen sehen.517 Dass sich auch Klytämnestra über Chrysothemis‘ Angst vor ihr bewusst ist, geht aus folgender Aussage hervor: „Sag du deiner Schwester, sie soll nicht so wie ein verschreckter Hund vor mir ins Dunkel flüchten. Heiß sie, freundlich, wie sichs geziehmt, mich grüßen, und gelassen mir Rede stehn.“518 Doch, obwohl Chrysothemis ihrer Mutter aus dem Weg geht und sie diese nicht ständig 513 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 37f. Wie bei Elektra und Klytämnestra wird auch nicht thematisiert, welche Beziehung Klytämnestra und Chrysothemis vor der Mordtat zueinander hatten. 515 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 81f. 516 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 192. 517 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 196. 518 Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 207. 514 88 mit dem Mord an Agamemnon konfrontiert, wird auch sie – wie ihre Schwester – aus dem Haus verstoßen.519 Trotz ihrer negativen Beziehung zueinander gibt es auch zwischen Chrysothemis und Klytämnestra Übereinstimmungen. Beide wollen die Vergangenheit vergessen und werden in ihren Träumen immer wieder damit konfrontiert520. Sie haben Angstzustände, benennen den Grund dafür jedoch nicht521, und beide weisen Zustände der geistigen Verwirrung auf, was mit ihrem Versuch, die Vergangenheit zu verdrängen, zusammenhängt522. Zieht man ausschließlich das Libretto heran, sind jene Stellen gestrichen, in denen Chrysothemis‘ Träume und auch ihre geistige Verwirrung zum Ausdruck kommen. Ihre Ängste und der Wunsch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, bleiben jedoch erhalten. 3.2.5.2 Orest und seine Schwestern Die Beziehung der Schwestern zu Orest kann aufgrund der Tatsache, dass er lediglich gegen Ende der Oper präsent ist, nur ansatzweise erörtert werden. Die wohl aufschlussreichste Szene ereignet sich jedoch bereits vor Orests Eintreffen, als Chrysothemis Elektra über dessen vermeintlichen Tod informiert. Chrysothemis „heul[t] wie ein verwundetes Tier“523 und wirft sich vor Verzweiflung auf den Boden524. Im Theatertext kommt ihre Trauer noch stärker zum Ausdruck, indem sie sich fragt, ob der sterbende Bruder nach seinen Schwestern verlangte und sie darüber aufgebracht ist, dass sie nicht einmal eine Locke ihres Bruders bekommen.525 Bayerlein argumentiert dafür, dass Orest für Chrysothemis „nur die Funktion [hatte], ihr den Zugang zum 519 Im Theatertext spricht Chrysothemis an, dass sie bei den Knechten leben muss (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 194). 520 Chrysothemis (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195) und Klytämnestra (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 27-29) sprechen ihre Alpträume Elektra gegenüber an. 521 Chrysothemis spricht lediglich davon, dass sie Angst hat und ihr die Knie zittern (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 19). Klytämnestra spricht von einem ‚Etwas‘, das ihre Angst auslöst, ist aber nicht im Stande diese zu definieren und zu benennen (vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 28). 522 Chrysothemis ist nicht in der Lage, sich Dinge von einem Tag auf den anderen zu merken (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 195). Auch Klytämnestra fällt es schwer ihre Gedanken zu ordnen, sie ist sich nicht mehr sicher darüber, was passiert ist und was nicht (vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 202f., 206). 523 Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 38. 524 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 39. 525 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Dramen II, S. 214. 89 eigentlichen Leben zu ermöglichen […]“526. Ob dem wirklich so ist, bleibt fraglich. Die oben zitierten Passagen weisen jedoch eher darauf hin, dass ihre Trauer dem toten Bruder gilt und nicht der verlorenen Möglichkeit auf eine bessere Zukunft. Im Gegensatz zu Chrysothemis ist bei Elektra keine Trauer über die Nachricht des toten Bruders erkennbar. Elektra kann zunächst nicht fassen, dass Orest tatsächlich tot sein soll und streitet es ab. Als sie jedoch wieder in der Lage ist, ihre Gedanken zu sammeln, gilt ihre erste Sorge der Rache Agamemnons – sie beschließt, die Tat selbst zu vollziehen. Es scheint, als nehme Orest in Elektras Leben lediglich die Rolles des Rächers ein, eine schwesterliche Liebe ist hier nicht erkennbar.527 Paul Bekker schreibt im Bezug auf die Erkennungsszene: „Her hate engenders love. It is not the brother whom Elektra greets (although a certain sisterly tenderness may be heard underneath her words). But primarily she sees in him the avenger of the father, whose appearance awakens feelings in her heart that had seemed forever buried and will never appear again after this one exalted outburst.” 528 Als die Tat vollbracht ist und Klytämnestra und Ägisth tot sind, denkt Elektra nicht mehr an ihren Bruder – sie ist vollkommen in ihre eigene Welt versunken, Chrysothemis hingegen will bei ihrem Bruder stehen.529 Die Beziehung Orests zu seinen Schwestern lässt sich so gut wie gar nicht erörtern. Orest scheint, als er Elektra erkennt, über ihr Schicksal betroffen530, und will sie nach der Erkennungsszene auch gleich umarmen, was diese abwehrt531. Über Chrysothemis verliert er jedoch kein Wort. 526 Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 200. 527 Carl Dahlhaus schreibt diesbezüglich: „Orest ist in Hofmannsthals Drama […] weniger der Täter seiner Tat als ein Werkzeug Elektras […]“ (Carl Dahlhaus, 20. Jahrhundert, S. 612). 528 Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, S. 379. 529 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 73. 530 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 56. 531 Vgl. Richard Strauss, Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal, S. 59. 90 3.3 Analyse der musikalischen Ebene 3.3.1 Aspekte zur Einführung „Als ich zuerst Hofmannsthals geniale Dichtung […] sah, erkannte ich wohl den glänzenden Operntext […] und, wie seinerzeit in ‚Salome‘, die gewaltige musikalische Steigerung bis zum Schluß […]. Beide Opern boten wunderbare musikalische Angriffspunkte […]. Anfangs schreckte mich aber der Gedanke, daß beide Stoffe in ihrem psychischen Inhalt viel Ähnlichkeit hatten […]. Beide Opern stehen in meinem Lebenswerk vereinzelt da: ich bin in ihnen bis an die äußersten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie (Klytämnestra Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen.“532 Strauss‘ Aussage, die er 1942 über Salome und Elektra tätigte, beinhaltet Termini, die zeigen, welchen wesentlichen Stellenwert psychologische Aspekte in seiner kompositorischen Arbeit inne hatten. Strauss verstand Musik als „Ausdruck der menschlichen Psyche“533, was sich auch in den von ihm verwendeten Begriffen wie Contrapunkt“534, „seelische[r] Contrapunkte“ 536 widerspiegelt. 537 „Nervencontrapunkt“535 und „nervöse[.] Die Anwendung solcher Termini beschränkte Strauss jedoch nicht nur auf seine eigenen Werke, er gebraucht sie auch im Bezug auf Werke anderer Komponisten, etwa dem dritten Akt von Wagners Tristan und Isolde.538 Strauss‘ Bezugnahme auf Werke Wagners ist insofern nicht weiter verwunderlich, als für Strauss die Musik in Wagner ihre „höchste Ausdrucksfähigkeit erreicht“539 hat. Unter Komponieren verstand Strauss „die Übertragung eines Sinnes- oder Gefühlsausdruckes in die Symbolsprache der Musik“540. Wesentlich hierbei ist, dass das 532 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 229f. Brief an Cosima Wagner vom 30. September 1895 (Cosima Wagner und Richard Strauss, Ein Briefwechsel, Bd.2, Tutzing 1978, S. 140). 534 Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel. 19341949, Salzburg 1955, S. 15). 535 Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel, S. 17). 536 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 180. 537 Katharina Hottmann weist darauf hin, dass Strauss solche Termini zwar verwendete, sich aber nie konkret über deren Begriffsbestimmung äußerte (vgl. Katharina Hottmann, Historismus und Gattungsbewusstsein bei Richard Strauss. Untersuchungen zum späteren Opernschaffen. „Die andern komponieren. Ich mach‘ Musikgeschichte!“, Tutzing 2005, S. 95). Laut Christoph Khittl lässt die Verwendung der Begriffe auf „Einflüsse aus der Literatur und Literaturkritik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts schließen“ (Christoph Khittl, „Nervencontrapunkt“. Einflüsse psychologischer Theorien auf kompositorisches Gestalten, Wien u.a. 1991, S. 143). Sonja Bayerlein äußert sich diesbezüglich konkreter: „Außer [der] eher philosophisch orientierten Beschäftigung mit Psychologie (neben Nietzsche beschäftigte sich Strauss auch mit Schriften Arthur Schopenhauers) finden sich bei Strauss keine Zeugnisse einer theoretischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie oder der Freudschen Psychoanalyse, deren allgemeiner Gehalt ihm jedoch vertraut gewesen sein dürfte“ (Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 13). 538 Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (vgl. Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel, S. 15). 539 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 167. 540 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 47. 533 91 moderne Orchester nicht nur untermalt, erklärt, oder erinnert, denn es „gibt den Inhalt selbst, enthüllt das Urbild, gibt die innerste Wahrheit“541. Die Entwicklung dieses modernen Orchesters, welches in der Lage ist, das Urbild zu enthüllen, geht nach Strauss auf Haydn, Weber, Berlioz und Wagner zurück.542 Die Aufgabe der Musik bestand für Strauss demnach darin, eine (psychologische und emotionale) Ebene zum Ausdruck zu bringen und anzusprechen, welche mit dem gesprochenen und geschriebenen Wort nicht erreicht werden kann. Hierin sah Strauss auch gleichzeitig die Überlegenheit der Musik gegenüber dem gesprochenen und geschriebenen Wort: „Was die schönsten Verse der größten Dichter in seitenlangen Umschreibungen der Phantasie des Lesers oder Hörers allenfalls zu suggerieren vermögen, mit einem Akkord gelingt es der Musik, die Empfindung selbst auszusprechen: das Gefühl der Liebe, der Sehnsucht, der Bußfertigkeit, der Todesbereitschaft […].“543 Doch nicht nur Strauss sprach der Musik die Fähigkeit zu, psychologische und emotionale Vorgänge zum Ausdruck zu bringen, auch Hofmannsthals Meinung diesbezüglich schien mit der von Strauss übereinzustimmen. In seinem Tagebuch notierte Harry Graf Kessler eine Aussage Hofmannsthals, in welcher er die Vorteile der Musik gegenüber der Sprache im Bezug auf Elektra beschreibt: „In [Elektra] ist zum ersten Mal der Versuch gemacht, in einen tragischen Moment eine ganze menschliche Psyche zusammenzupressen, sozusagen einen Querschnitt durch eine Seele zu geben auch mit allen physiologischen Untergründen. […] Allerdings, gerade Dieses, dass [sic!] so viel Hintergrund in der Elektra ist, das wird erst die Musik herausbringen. Denn das gesprochene Drama ist auf eine elende Komparserie angewiesen. Wenn diese auch hundertmal hinter den Kulissen ‚Orest, Orest!‘ ruft, so denkt kein Mensch daran, was da hinten vorgeht. Die Musik hat ganz andre Mittel. Deshalb glaube ich, dass vielleicht erst die Musik das herausbringen wird, was an dem Stück wirklich dran ist.“ 544 Vor allem beim Schluss der Oper sah Hofmannsthal die Möglichkeit, dessen Wirkung durch die Musik im Gegensatz zum Theaterstück zu steigern, was er auch gegenüber Strauss anmerkte: „Nun wünsche ich Ihnen Kraft und Freude für den Schluß, der ja in Ihrem Werk viel bedeutungsvoller und wuchtiger sein wird als in der Dichtung.“545 541 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 91. Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (vgl. Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel, S. 15). 543 Brief an Joseph Gregor vom 8. Januar 1935 (Richard Strauss und Joseph Gregor, Briefwechsel, S. 16). 544 Tagebucheintrag von Harry Graf Kessler vom 7. Dezember 1907 (Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke VII, S. 430). 545 Brief an Strauss vom 16. August 1908 (Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 46). 542 92 In Strauss‘ Auffassung über Musik finden sich Parallelen zu den Ansichten Wagners: Beide sprechen der Musik die Fähigkeit zu, Empfindungen und Gefühle auszudrücken, wozu die Wortsprache hingegen nicht in der Lage ist. Sowohl Wagner als auch Strauss räumen dem Orchester hierbei einen besonderen Stellenwert ein. Doch während Wagner davon spricht, dass die Tonsprache die Wortsprache benötigt, um die ausgedrückten Empfindungen und Gefühle den HörerInnen verständlich zu machen, betont Strauss lediglich die Überlegenheit der Musik gegenüber dem gesprochenen und geschriebenen Wort.546 Die Ähnlichkeiten der Ansichten Wagners und Strauss‘ im Bezug auf Musik und deren Ausdruck von Empfindungen ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass Strauss Wagners Oper und Drama gelesen und es als das „bedeutendste wissenschaftliche Buch der Weltgeschichte“547 bezeichnet hat. Eine Aussage Strauss‘ bezüglich Wagners ‚Leitmotivtechnik‘ und seiner Rezeption und Adaption dieser ist jedoch nicht vorhanden. Dennoch wird Strauss‘ Kompositionstechnik häufig mit Wagners ‚Leitmotivtechnik‘ in Verbindung gebracht. Laut Joachim Veit hat Strauss „Wagners Technik in seiner Salome (1905) und Elektra (1908) mit letzter Konsequenz angewendet und zu einem nicht mehr überbietbaren Endpunkt geführt“548. Ernst Krause versucht hingegen eine Abgrenzung der Kompositionstechniken beider Komponisten zueinander, wonach „[i]m Gegensatz zum ‚Leitmotiv‘ Wagners […] Strauss eine Motivtechnik mehr gefühlsmäßiger als konstruktiver Art eingeführt“549 hat. 3.3.2 Musikalische Analyse Wie anhand der Analyse des Librettos und Theatertextes festgestellt werden konnte, zeigt Elektra eine überaus starke Bindung zum verstorbenen Vater und widmet ihr Leben seiner Rache. Im Gegensatz zu Elektra ist bei Chrysothemis keine Beziehung zu Agamemnon feststellbar. Zwar wird auch sie von der Vergangenheit beeinflusst, jedoch äußert sich dies bei ihr nicht im Verlangen nach Rache, sondern in ihrem Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘. Im Folgenden soll untersucht werden, ob die Feststellungen, die aufgrund der Textanalyse getroffen wurden, sich in der Musik widerspiegeln, oder 546 Für die Erläuterungen über Wagner siehe Kapitel 2.3.1 Aspekte zur Einführung Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, S. 95. 548 Joachim Veit, Art. Leitmotiv, Kassel 1996, Sp. 1092. 549 Ernst Krause, Richard Strauss. Gestalt und Werk, Leipzig 1955, S. 136. 547 93 ob die Musikanalyse neue Erkenntnisse bringt. Die Analyse beschränkt sich, abgesehen von Elektras Monolog, auf Szenen, die zwischen den beiden Schwestern stattfinden.550 Nach der Magdszene beginnt Elektra ihr tägliches Ritual, die komplexe emotionale Befindlichkeit, in der sie sich hierbei befindet wird musikalisch offengelegt. Zu Elektras Wehklage: „Allein! Weh, ganz allein. Der Vater fort, hinabgescheucht in seine kalten Klüfte“551 erklingt einerseits das ‚Hass-Motiv‘552 und andererseits das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘553. Das ‚Hass-Motiv‘ repräsentiert Elektras Wunsch nach Rache aufgrund der Ermordung ihres Vaters, und steht somit auch mit ihrer Mutter in Verbindung. Zu erwähnen ist hier, dass das ‚Rache-Motiv’ aus den Tönen des bitonalen Elektra-Akkords aufgebaut ist, welcher aus einem E-Dur und Des-Dur Dreiklang besteht. Das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘ spiegelt wiederum ihre Trauer über den Verlust des Vaters wider. Die Intervallfolge der ersten drei Töne (reine Quarte und kleine Sexte) des ‚Qual über Tod des Vaters-Motivs‘ entspricht dem ‚AgamemnonMotiv‘, die anschließenden Halbtonschritte abwärts weichen vom ‚Agamemnon-Motiv‘ ab. Durch die musikalische Reduzierung auf die Wiedergabe dieser beiden Motive treten diese, neben Elektras Gesang, deutlich hervor. Vortragsbezeichnungen wie ff, f, sfz und espressivo verstärken die akustische Dominanz der Motive noch zusätzlich. 550 Da viele Motive in anderen Szenen, als den hier analysierten, eingeführt werden, ist es für die Erstellung eines Motivkataloges und die Durchführung einer musikalischen Analyse notwendig, Analysen anderer MusikwissenschaftlerInnen heranzuziehen (vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, Tutzing 1996, Paul Bekker, Elektra: A Study by Paul Bekker, Princeton (New Jersey) 1992, Heinz Josef Herbort, Ein Gemenge aus Nacht und Licht – Form zwischen Gesetzt und Intuition in der Elektra bei Hofmannsthal und Strauss, Frankfurt a.M. 2000, Gerd Indorf, Die »Elektra«-Vertonung von Richard Strauss - »ein profundes Mißverständnis« oder kongeniale Leistung?, 2000, William Mann, Die Opern von Richard Strauss, München 1969, Günther von Noé, Das Leitmotiv bei Richard Strauss dargestellt am Beispiel der „Elektra“, 1971, Kurt Overhoff, Die Elektra-Partitur von Richard Strauss. Ein Lehrbuch für die Technik der dramatischen Komposition, Salzburg 1978 und Richard Specht, Richard Strauss und sein Werk. Zweiter Band: Der Vokalkomponist. Der Dramatiker, Leipzig 1921). Aufgrund des teilweise enormen Unterschiedes bezüglich der Anzahl der aufgelisteten Motive, werden lediglich Motive verwendet, welche bei mindestens drei Analysen beziehungsweise AutorInnen vorzufinden sind. 551 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Mainz 1987, Ziffer (1)35. Die Zahl in Klammer gibt den Takt vor beziehungsweise nach der Ziffer an, in welchem das Motiv / die Textpassage beginnt. Steht die Zahl in Klammer vor der Ziffer, ist der jeweilige Takt vor der Ziffer gemeint, steht die Zahl in Klammer nach der Ziffer, ist der jeweilige Takt nach der Ziffer gemeint. 552 Das Motiv erklingt hier insgesamt dreimal, zweimal hintereinander in den Violinen (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)35) und einmal in Englisch-Horn, Heckelphon, Violinen, Violoncello (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 35(5)). 553 Das Motiv erklingt hier insgesamt viermal: In Kontrafagott, Violoncello und Kontrabass (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 35(3)), in Bassklarinette und Bratschen (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)36), wie beim ersten Mal in Kontrafagott, Violoncello und Kontrabass (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 36(1)) und in großen Flöten und Oboen (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 36(3)). 94 Elektra Notenbeispiel 1: ‚Hass-Motiv‘554 Elektra Notenbeispiel 2: ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘555 Elektras folgender zweimaliger leiser Ausruf des Namens ihres Vaters enthält im Vokalpart das ‚Agamemnon-Motiv‘556. Durch den vokalen Vortrag des Motivs wird erkennbar, dass sich das Motiv in seiner melodischen Gestalt am Sprachduktus orientiert. Der Eindruck wird zudem dadurch verstärkt, dass der Sprung abwärts am Ende, im Gegensatz zum Notenbeispiel, von einer kleinen Dezime auf eine kleine Terz reduziert wurde. In den Blechbläsern erklingt darüber dreimal das ‚KöniglicheMotiv‘557, wodurch ihre königliche Herkunft und die Position ihres Vaters verdeutlicht werden. Der fanfarenartige Klangcharakter des Motivs bringt dessen Zuschreibung des Königlichen zum Ausdruck. Die Verwendung von Blechbläsern verstärkt den Eindruck zusätzlich. Elektra Notenbeispiel 3: ‚Agamemnon-Motiv‘558 Elektra Notenbeispiel 4: ‚Königliches-Motiv‘559 554 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 1(5) (Oboen, Violinen). Das Motiv erklingt erstmals zu Beginn der Magdszene nach der Anmerkung ‚Elektra springt zurück wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel, den einen Arm vor dem Gesicht‘. Erst später wird das Motiv mit Elektras Hass in Beziehung gesetzt. Die abgebildeten Notenbeispiele zeigen das Motiv in seiner jeweilig ersten Darstellung in Elektra. In den analysierten Passagen können auch Variationen von diesem vorkommen. 555 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 3(3) (große Flöten, Englisch-Horn). Das Motiv erklingt erstmals in der Magdszene, als die Mägde Elektras Trauer und Qual über den Tod Agamemnons und ihr tägliches Ritual ansprechen. 556 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (5)37. 557 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (6)37 (Hörner, Posaunen). 558 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (10)1 (über fast gesamtes Orchester verteilt). Das Motiv erklingt erstmals zu Beginn der Oper, noch während der Vorhang geöffnet wird. Erst in Elektras Monolog wird, durch das gleichzeitige Rufen von Agamemnons Namen, die Bedeutung des Motivs klar. 95 In Elektras Aussage „Wo bist du, Vater? Hast du nicht die Kraft, dein Angesicht zu mir zu schleppen?“560 wird erkennbar, dass sie den Verlust ihres Vaters nie verkraftet hat. Das mehrmals hintereinander erklingende ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘561 in Englisch-Horn, Violinen und Bratschen bestärkt diese Vermutung. Als Elektra die Mordnacht zu schildern beginnt, werden die Täter im Text nicht namentlich genannt, jedoch erklingen in der Musik das ‚Klytämnestra‘562 und das ‚Ägisth-Motiv‘563. Durch die musikalische Reduzierung auf die beiden Motive und den Vokalpart, treten diese trotz des vorgeschriebenen p deutlich hervor. Als das ‚Klytämnestra-Motiv‘ noch ein zweites Mal erklingt, wird es vom ‚Hass-Motiv‘ begleitet.564 Beide Motive werden im f vorgetragen, zusätzlich erklingt lediglich die Gesangsstimme, wodurch die Motive noch präsenter werden. Durch die Kombination beider Motive werden diese unmittelbar aufeinander bezogen, wodurch Elektras Hass auf ihre Mutter auch musikalisch untermauert wird. Elektra Notenbeispiel 5: ‚Klytämnestra‘565 Elektra Notenbeispiel 6: ‚Ägisth-Motiv‘566 Ihre Racheschilderung beginnt Elektra mit der Heraufbeschwörung Agamemnons, wozu sich in den Blechbläsern ein Motiv etabliert, welches Agamemnons Geist beziehungsweise seinen Schatten repräsentiert.567 Trotz der Tonwiederholungen wird, 559 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 17(1) (Oboen, Heckelphon, Horn). Das Motiv wird in der Magdszene eingeführt, als die fünfte Magd davon spricht, dass sie Elektras Füße küssen will und diese ein Königskind ist. 560 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)37. 561 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)37. 562 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 39(2) (Fagotte). 563 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 39(4) (Basstuba). 564 Das ‚Klytämnestra-Motiv‘ wird in den Fagotten vorgetragen, das ‚Hass-Motiv‘ in den Oboen und Violinen (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)40). 565 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 39(2) (Fagotte). Das Motiv wird hier eingeführt, eine exaktere Zuschreibung erhält es erst in der Szene zwischen Elektra und Klytämnestra, worauf hier jedoch nicht eingegangen wird. 566 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 39(4) (Basstuba). Das Motiv erklingt hier zum ersten Mal. 567 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 42(5). 96 durch die schnellen Sechzehntel und die Oktavsprünge, ein statischer Eindruck vermieden. Das ‚Schatten-Motiv‘ erklingt während Elektras Schilderung der Rache immer wieder in unterschiedlicher Instrumentierung. Hierbei erreicht es, durch große Instrumentierung und hohe Lautstärke (von f zu ff steigernd), zweimal einen Höhepunkt an Intensität.568 Zwischen diesen Höhepunkten befindet sich lediglich Elektras Ausruf des Namen Agamemnons, wodurch der erste Höhepunkt unterbrochen wird. Elektra Notenbeispiel 7: ‚Schatten-Motiv‘569 Während zu Elektras Aussage „Agamemnon! Vater! Ich will dich sehn, laß mich heute nicht allein! Nur so wie gestern, wie ein Schatten im Mauerwinkel zeig dich deinem Kind!“570 eine Vielzahl der bereits eingeführten Motive erklingen,571 wird im Anschluss daran ein neues Motiv etabliert.572 Es handelt sich dabei um das ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘ welches Elektra hingebungsvolle Liebe zum Vater darstellt. Dieses Motiv ist im Bezug auf Agamemnon das erste, welches sich über mehrere Takte zieht und somit eine Melodie entwickeln kann. Durch die Spielanweisungen langsam, pp und espressivo, die Legatobögen und den Klang der Streicher erhält die Melodie einen lieblichen Charakter. Der musikalische Ausdruck über Elektras Liebe zu ihrem Vater wird vom ‚Schatten-Motiv‘573 beendet. Auch wenn das ‚Schatten-Motiv‘ im p vorgetragen wird, ist der Wechsel, durch die unterschiedlichen Charaktere der Motive, prägnant. 568 Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 44(1) und Ziffer 44(5). Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 42(5) (Fagotte, Posaunen). Das Motiv erklingt hier zum ersten Mal und repräsentiert den Schatten beziehungsweise den Geist Agamemnons, welchen Elektra in ihrem Ritual heraufzubeschwören versucht. 570 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 44(3). 571 Es erklingt beispielsweise im Vokalpart das ‚Agamemnon-Motiv‘, in Holz-, Blechbläsern und Streichern das ‚Schatten-Motiv‘ und in Oboen, Englisch-Horn, Fagotte, Violinen und Bratschen das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘. 572 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (6)46 (Hörner, Streicher). Das Motiv hält sich, teils verkürzt und variiert bis Ziffer 48(2) fast durchgehend. 573 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 46(1) (Trompete, Basstrompete). 569 97 Elektra Notenbeispiel 8: ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘574 Während Elektras anschließender Darstellung der Rache kommt es nicht nur zu einem häufigen Taktwechsel zwischen 6/4, 2/2 und 9/4 Takt, sondern auch zu einer immer bewegteren Spielweise.575 Elektra beendet ihre Rachedarstellung mit der Schilderung des Tanzes, welchen sie im Anschluss an die Tat tanzen wird, was mit einem Wechsel in den 6/4 Takt einhergeht.576 Der Tanz wird nicht nur textlich, sondern auch musikalisch vorweggenommen – durch das schwungvolle ‚Tanz-Motiv‘577 aus Elektras späterem Triumphtanz. Elektra Notenbeispiel 9: ‚Tanz-Motiv‘578 Immer wieder erklingt das ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘579, mit welchem Elektras Monolog – in Kombination mit dem ‚Agamemnon-Motiv‘ zu Elektras 574 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (6)46 (Hörner, Violinen, Violoncelli). Das Motiv repräsentiert hier, in seiner ersten Erscheinung, Elektras Liebe zu ihrem Vater. Später steht es aber auch für die Liebe der Geschwister zueinander, weshalb es als ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘ bezeichnet wird. Auf diese Bedeutungsänderung weist auch Bayerlein hin (vgl. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 138f). Nach William Mann spiegelt das Motiv Elektras Wunsch „nach Wiedervereinigung der Familie“ wider (William Mann, Die Opern von Richard Strauss, S. 76). Gerd Indorf bezeichnet es als Motiv der „Sehnsucht nach der heilen Familie“ (Gerd Indorf, Die »Elektra«-Vertonung von Richard Strauss - »ein profundes Mißverständnis« oder kongeniale Leistung?, S. 196). Betrachtet man den Kontext, in dem das Motiv eingebettet ist, scheinen die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen und Bezeichnungen der genannten AutorInnen jedoch nicht zwangsläufig als Wiederspruch, vielmehr verweisen sie auf dieselbe Kernaussage: Elektras Sehnsucht nach dem Vater, ihr Wunsch nach der Wiedervereinigung der Kinder mit ihrem Vater. 575 Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 47(1) bis 56(3). 576 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 56(3). 577 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 57(5) (Violinen). 578 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 57(5) (Violinen). Das Motiv wird hier eingeführt und erklingt erst wieder zu Elektras Triumphtanz. 579 Zum Beispiel erklingt das Motiv in Oboen, Violine und Bratsche (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 58(5)), oder in großen Flöten, Oboen, Violine und Bratsche (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 59(2)) und so weiter. 98 zweimaligem Ruf des Namen ihres Vater580 und einer rhythmisch variierten Form des ‚Schatten-Motivs‘581 – auch endet.582 Die Musikanalyse von Elektras Monolog hat gezeigt, dass sich Elektras starke Beziehung zu ihrem toten Vater nicht nur in ihrem Handeln und ihren Äußerungen widerspiegelt, sondern auch in der Musik. So lässt sich bei jedem verwendeten Motiv im Monolog eine Verbindung zu Agamemnon herstellen. Dies geschieht entweder indem ein Motiv Agamemnon direkt zugeordnet wird, oder indem eine bestimmte Kombination aus Text und Musik einen Bezug zu Agamemnon herstellt. Elektras Monolog wird von Chrysothemis‘ leisem Ruf (‚Anruf-Motiv‘)583 unterbrochen, worauf Elektra „wie aus einem Traum erwachend“584 erscheint. Wie das ‚AgamemnonMotiv‘ folgt auch das ‚Anruf-Motiv‘ dem Sprachduktus, was durch den vokalen Gebrauch deutlich wird. Elektra Notenbeispiel 10: ‚Anruf-Motiv‘585 Nach Elektras Aussage „Was willst du? Rede, sprich, ergieße dich, dann geh und laß mich!“586 wird zu Chrysothemis Geste, des abwehrenden Hochhaltens der Hände das ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘ eingeführt.587 Mit seinem bogenförmigen Melodieverlauf stellt das Motiv eine musikalische Nachahmung der Bewegung des Handhebens dar. Das Motiv erklingt zwar im p, wird aber durch die Spielanweisung espressivo hervorgehoben. Dies wird zusätzlich durch die musikalische Reduktion auf Fagotte und Hörner, welche im p Haltetöne spielen, unterstützt. 580 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)62 (Vokalpart). Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)62 (Violoncelli, Kontrabass). 582 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 62 (Holzbläser, Streicher). 583 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 64(2). 584 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)65. 585 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 64(2) (Klarinette, Fagotte, Vokalpart). Das Motiv erklingt hier zu Chrysothemis‘ Ruf von Elektras Namen zum ersten Mal. 586 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 65(5). 587 Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 66(1). 581 99 Elektra Notenbeispiel 11: ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘588 Sofort greift Elektra dieses Motiv auf589, als sie davon spricht, dass Agamemnon die Hände so hob, als er ermordet wurde. Außerdem wird Elektras Aussage zusätzlich mit einem Fragment ‚Agamemnon-Motivs‘590 des und dem ‚Mordbeil-Motiv‘591 angereichert, wodurch auch musikalisch der Bezug zu Agamemnons Ermordung hergestellt wird. Wie das ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘ stellt auch das ‚Mordbeil-Motiv‘ eine musikalische Nachahmung einer Bewegung dar. Hierbei handelt es sich um das herabfallende Beil, welches durch die großen Abwärtssprünge dargestellt wird. Eine anschließende rhythmische Variation des ‚Schatten-Motivs‘ zeigt die Folgen des herabfallenden Beils. Es erklingt dieses Mal im Vokalpart zu Elektras Worten „spaltete sein Fleisch“592. Elektra Notenbeispiel 12: ‚Mordbeil-Motiv‘593 Die restliche Szene ist nicht nur textlich, sondern auch musikalisch ein Spiegeln von Chrysothemis‘ Ängsten und Wünschen. Zu ihren Worten „Ich hab’s wie Feuer in der Brust“594 etabliert sich nicht nur vokal, sondern auch instrumental jenes Motiv, welches Chrysothemis‘ Gefühl des Getriebenseins und Nichtfähigseins, ihr Leben zu leben charakterisiert. Das Motiv wird zunächst im f eingeführt, decrescendiert aber in weiterer Folge über mehrere Takte hinweg. In der Melodie kommt es, nach einem anfänglichen größeren Sprung nach oben (reine Quinte), zu einer steten Abwärtsbewegung in 588 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 66(1) (große Flöten, Violinen). Das Motiv wird hier zum ersten Mal verwendet und zeigt Chrysothemis‘ Angst und Hilflosigkeit. In weiterer Folge wird das Motiv auch verwendet, um flehentliches Bitten auszudrücken. 589 Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)67 (Englisch-Horn, Klarinetten, Bassetthörnern und Bratschen). 590 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)67 (Fagotten und Hörnern). 591 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 67(1) (Violinen und Bratschen). 592 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 67(3). 593 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 1(1) (Streicher). Das Motiv wird in der Magdszene eingeführt, als in der Anmerkung beschrieben wird, wie Elektra wie ein Tier zurückspringt. 594 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75. 100 Sekundschritten. Erst gegen Ende steigt der Melodieverlauf wieder geringfügig. Durch den Legatobogen, der das ganze Motiv umspannt, erhält die Melodie einen fließenden Charakter. Elektra Notenbeispiel 13: ‚Getriebensein-Motiv‘595 Das Motiv durchzieht die gesamte Passage, in der Chrysothemis ihre Unruhe schildert596, bis eine variierte Form des ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘597 schließlich den Grund dafür preis gibt – es ist Elektras Trauer über den toten Vater, welche sie am Vergessen hindert. Chrysothemis erzählt von ihrem Gefühl der Angst, welches sie Tag und Nacht verspürt und quält.598 Und wieder wird der Grund für ihre Angst durch das rhythmisch variierte und verlängerte ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘ benannt.599 Abgesehen vom Vokalpart und dem Motiv in den Bratschen erhält die Musik an dieser Stelle, durch die gehaltenen Töne in den Holzbläsern, einen fast statischen Eindruck. Nach Chrysothemis‘ Vorwurf an Elektra, dass diese an ihrer Situation schuld sei600 und Chrysothemis‘ abermaligem Ausdruck darüber, endlich von hier fort zu wollen601, wird ihr innigster Wunsch thematisiert – „äußerst lebhaft und feurig“602 beginnt Chrysothemis die Worte: „Kinder will ich haben, bevor mein Leib verwelkt […]“603, dazu erklingt erstmals das ‚Kinderwunsch-Motiv‘ Chrysothemis‘ in Hörnern und Streichern. Anders als Chrysothemis‘ ‚Getriebensein-Motiv‘ verläuft ihr ‚Kinderwunsch-Motiv‘ nicht in einer Abwärtsbewegung, sondern in auf- und absteigenden Bögen. Durch die bogenförmigen Melodieverläufe und den starken Dynamikwechsel erhält das Motiv einen lebhaften Charakter. Die Legatobögen verleihen dem Motiv zudem eine fließende Klanggestalt. 595 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75 (Vokalpart, Violinen). Das Motiv erklingt hier zum ersten Mal. 596 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75 bis 77(2) (wechselt zwischen fast allen Instrumenten, zu Beginn auch vokal). 597 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)79 (Posaunen, Violoncelli, Kontrabass). 598 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 79(2). 599 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (8)80 (Bratschen). 600 Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 81(1)-(1)85. 601 Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)85-86(3). Die Passage wird musikalisch vom ‚Getriebensein-Motiv‘ in Oboen, Klarinette, Violinen und Bratschen unterlegt. 602 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 86(4). 603 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 86(4). 101 Elektra Notenbeispiel 14: ‚Kinderwunsch-Motiv‘604 Ihre Worte „Hab Mitleid mit dir selber und mit mir! Wem frommt denn solche Qual?“605, bringen sie von ihrem Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ wieder zur gegenwärtigen Situation zurück. Welche Qual hierbei gemeint ist, beantwortet das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘.606 Wieder ist es Elektras Trauer um den toten Vater, welche Chrysothemis an der Auslebung ihrer Wünsche hindert. Mit dem Ausruf: „Der Vater, der ist tot“607 und dem ‚Schatten-Motiv‘ in der Basstrompete wird die Unwiderruflichkeit der Ermordung Agamemnons betont. Chrysothemis‘ Schilderung des Stillstands ihres Lebens spiegelt sich in einem musikalischen Stillstand, durch über mehrere Takte gehaltene leise Töne in Bläsern und Streichern, wider.608 Als sie in eine Darstellung der gebärenden Mägde über geht, welche ihre Kinder aufziehen, wird auch die Musik wieder lebhafter und lauter.609 Ihr Eingehen auf die Mägde und deren Kinder wird über einen längeren Zeitraum vom ‚Kinderwunsch-Motiv‘610 begleitet. Chrysothemis‘ Worte „Nein, ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal“611 beenden ihre lebhafte Schilderung. Das gleichzeitig erklingende ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘612 bringt jedoch wieder ihre Hilflosigkeit diesbezüglich zum Vorschein. Es handelt sich hier um eine verlängerte Variante des ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motivs‘, indem der erste Takt des Motivs mehrmals wiederholt wird, bevor das gesamte Motiv vorgetragen wird. Dynamisch wird das Motiv vom p bis zum f 604 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 86(4) (Hörner, Streicher). Das Motiv wird hier eingeführt. 605 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)91. 606 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)92 (große Flöten, Bratschen). 607 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)93. 608 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 94(1)-(2)100. 609 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)100-107(1). 610 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 104(1) (erstreckt sich fast über den gesamten Orchesterapparat). 611 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)108. 612 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 108(1) (Heckelphon, Bratschen, Violoncelli). In den Hörnern erklingt das Motiv in seiner ursprünglichen Form. 102 gesteigert. Nach ihrer Aussage „Viel lieber tot, als leben und nicht leben“613 erklingt das Motiv erneut, jedoch wieder in seiner ursprünglichen Form.614 Gleichzeitig bricht Chrysothemis in heftiges Weinen aus. Elektras Unverständnis für den Wunsch ihrer Schwester bringt sie durch das ‚Hass-Motiv‘ in den Violinen zu „Was heulst Du?“615 zum Ausdruck. Das Motiv wird im ff vorgetragen und tritt, durch die Reduzierung der Instrumentierung auf die Haltetöne in den Trompeten und Posaunen, noch stärker hervor. Zu „Stellen sie vielleicht für dich die Hochzeit an?“616 erklingt Chrysothemis‘ ‚Kinderwunsch-Motiv‘ in tiefer Lage, was Elektras Ablehnung von Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ verdeutlicht. Auf eine Darstellung der restlichen Szene wird verzichtet, da dies von der Fragestellung abweichen würde. Während in Elektras Monolog ihre Beziehung zu Agamemnon musikalisch untermauert wurde, konzentriert sich die Szene zwischen den Schwestern auf Chrysothemis. Die Musik spiegelt Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ und ihr Ängste, von denen sie geplagt wird, wider. Auch auf der musikalischen Ebene wird deutlich, dass sie keine emotionale Bindung zum Vater hat, dessen Ermordung und die daraus resultierende Situation jedoch auch ihr Leben maßgeblich beeinflussen. Das nächste Mal treffen die beiden Schwestern aufeinander, als Chrysothemis Elektra die Nachricht von Orests Tod verkündet. Der erste Teil der Konversation wird, da er für die Fragestellung nicht relevant erscheint, nicht thematisiert. Es wird lediglich der Zeitpunkt ab Elektras Entschluss zur Tat aufgegriffen, um zu überprüfen, inwiefern sich Elektras Werben um Chrysothemis auch musikalisch zeigt. Noch bevor Elektra ihren Entschluss zur Vollbringung der Tat ausspricht, wird dies durch das ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘ verkündet. Das Motiv besteht aus zwei, in entgegengesetzte Richtungen verlaufende Melodielinien: Eine führt in Achtelnoten in Halbtonschritten nach unten, die andere führt überwiegend in Terzschritten nach oben, fällt einmal nach unten ab und verwendet keine konstanten Notenwerte. Das Motiv 613 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 111(1). Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 112(5) (große Flöten, Klarinetten, Bassetthorn, Violinen, Bratsche). 615 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 114(1). 616 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)116 (Heckelphon, Kontrafagott, Kontrabasstuba, Solobass und Kontrabass). 614 103 erstreckt sich über 19 Takte617 in den Streichern und wird lediglich zweimal vom ‚Anruf-Motiv‘618 Chrysothemis‘ unterbrochen. Die Kombination von ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘ auf Seiten Elektras und dem ‚Anruf-Motiv‘ auf Seiten Chrysothemis‘ bleibt über einen längeren Zeitraum erhalten.619 Elektra Notenbeispiel 15: ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘620 Erst nachdem Elektra Chrysothemis sagt, dass sie ihre Hilfe braucht, da Ägisth und Klytämnestra in einem Zimmer schlafen, beginnt Elektra um Chrysothemis zu werben. Während nach Elektras Aussage „Denn du bist stark!“621 das ‚Entschluss zur TatMotiv‘622 sehr prägnant in f und ff erklingt, und noch einmal ihre wahren Absichten zeigt, etabliert sich wenig später ein neues Motiv. Bereits bevor Elektra ihre Ansprache beginnt, um Chrysothemis‘ Kraft und schönen Körper zu preisen, erklingt zweimal hintereinander das ‚Chrysothemis‘ Kraft-Motiv‘623, welches Elektras schmeichelnde Worte bekräftigt. Das Motiv setzt zweimal zu einem aufwärtsführenden Bogen an und erreicht hier im ersten Bogen einen Tonumfang von zwei Oktaven. Der Tonumfang des zweiten Bogens ist noch um eine reine Quarte größer. Durch die Legatobögen und den großen Tonumfang der Melodiebögen erhält das Motiv eine ausdrucksstarke Wirkung. Elektra Notenbeispiel 16: ‚Chrysothemis‘ Kraft-Motiv‘624 617 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)34a-(1)36a. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)35a (Vokalpart) und Ziffer 35a(5) (Vokalpart, Oboe, Englisch-Horn). 619 Vgl. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 36a(1)-44a(4). Zwar werden hierbei auch andere Motive verwendet, jedoch sind diese für die Fragestellung nicht relevant, weshalb darauf nicht eingegangen wird. 620 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)34a (Streicher). Das Motiv erklingt hier zum ersten Mal. 621 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)51a. 622 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 51a(1) (das Motiv durchzieht fast den gesamten Orchesterapparat). 623 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)52a (Klarinetten, Violinen, Bratsche) und Ziffer 54a(1) (Violinen). 624 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)52a (Klarinetten, Violinen, Bratsche). Das Motiv erklingt hier zum ersten Mal. 618 104 Erst nach Elektras Aussage „Du bist voller Kraft, du bist wie eine Frucht an der Reife Tag“625 kommt es, motivtechnisch betrachtet, zu einem erneuten Eingehen Elektras auf Chrysothemis. Elektra weiß um Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘, was sich musikalisch in der Verwendung von Chrysothemis‘ ‚Kinderwunsch-Motiv‘626 widerspiegelt, jedoch erklingt zuvor noch das ‚Chrysothemis‘ Kraft-Motiv‘627. Obwohl das ‚Chrysothemis‘ Kraft-Motiv‘ im Vergleich zum ‚Kinderwunsch-Motiv‘ (f) sehr viel leiser beginnt (p), treten beide Motive deutlich hervor. Dies gelingt aufgrund der, über mehrere Takt gehaltenen Töne in den restlichen Instrumenten. Chrysothemis‘ Abwehr „Laß mich!“628 erfolgt noch während ihres ‚Kinderwunsch-Motivs‘, was Elektras fehlgeschlagenen Versuch, Chrysothemis durch Preisung ihres Körpers und ihrer Kraft zur Mithilfe zu überreden, zeigt. Das ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘ zu Elektras Worten „Nein, ich halte dich“629 bringt die Absicht hinter Elektras Handeln wieder zum Vorschein. Es wird hier jedoch lediglich die obere Melodielinie des Motivs verwendet. Die Motivkombination von ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘630 und ‚Wunsch nach RacheMotiv‘631 zu Elektras Aussage „[…] mit meinem Willen dir impfen das Blut“632 bringt noch einmal deutlicher heraus, was Elektra bezweckt. Jetzt fällt Chrysothemis‘ „Laß mich!“633 in das ‚Wunsch nach Rache-Motiv‘ hinein, was ihre Ablehnung der Mithilfe ausdrückt. Elektra Notenbeispiel 17: ‚Wunsch nach Rache-Motiv‘634 Dasselbe Szenario erfolgt zu Elektras „Nein, ich laß dich nicht“635 und Chrysothemis‘ darauf folgendem „Elektra, hör mich!“636, was auch wieder mit dem ‚Wunsch nach Rache-Motiv‘637 unterlegt wird. 625 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 66a(1). Das Motiv erklingt zuerst in den Hörnern und Streichern, nach drei Takten stimmen auch die Klarinetten ein (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 68a(1)). 627 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)68 (Klarinetten, Bassetthorn, Hörner, Streicher). 628 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 69a(3). 629 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)70a (Basstrompete, Posaune). 630 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)75a (Hörner, Bratschen). 631 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75a (Bassklarinette, Fagotten, Kontrafagott, Violoncelli, Kontrabass) 632 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 74a(4). 633 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 75a(2). 634 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (1)75a (Bassklarinette, Fagotte, Kontrafagott, Violonelli, Kontrabass). Das Motiv erklingt hier zum ersten Mal. 626 105 Trotz Chrysothemis‘ abwehrendem Verhalten gibt Elektra nicht auf und versucht es erneut, indem sie Chrysothemis verspricht, ihr eine Schwester zu sein und sie bei der Erfüllung ihres ‚Weiberschicksals‘ zu unterstützen. Elektras Ausführungen werden musikalisch vom ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘ begleitet. Die zweideutige Verwendung des Motivs kann hier durchaus zum Tragen kommen, da Elektra Chrysothemis zwar von ihrer Liebe zu ihr überzeugen will, Elektras Liebe zum Vater jedoch entscheidend mitspielt. Die Spielanweisung „alle Streicher sehr seelenvoll, mit sehr viel vibrato“638 verleiht der Passage einen lieblichen Klang.639 Wieder erstreckt sich das Motiv auch über Chrysothemis‘ Abwehr „Nicht, Schwester, nicht. Sprich nicht ein solches Wort in diesem Haus“640. Doch auch jetzt reagiert Elektra nicht auf Chrysothemis’ Widerstand und bietet ihr sogar an, ihr wie eine Sklavin zu dienen, was durch das ‚Dienen-Motiv‘641 ausgedrückt wird, woran wieder das ‚Liebe zum Vater / Geschwisterliebe-Motiv‘642 anknüpft. Das ‚Dienen-Motiv‘ besteht aus zwei abwärtsführenden Linien, die jeweils von einem Legatobogen umspannt werden. Die erste Linie ist größtenteils aus Halbtonschritten und punktierten Viertel- und Achtelnoten aufgebaut. Die zweite Melodielinie gestalte sich hingegen unregelmäßiger. Elektra greift sogar auf das, von Chrysothemis verwendete, ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘643 zurück, um ihre Schwester auf ihre Seite zu bringen. Elektra Notenbeispiel 18: ‚Dienen-Motiv‘644 Nach Chrysothemis‘ Bitte „O bring mich fort! Ich sterb‘ in diesem Haus!“ 645 beginnt Elektra, sie mit einer Todesgöttin zu vergleichen, was sich auch in den verwendeten 635 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)76a. Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 76a(2). 637 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 75a(4) (zunächst Oboen, Fagotten, Horn, Violoncelli, dann wiederholt von Bassklarinette, Fagotten, Kontrafagott, Horn, Violoncelli, Kontrabass). 638 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 82a(2). 639 Die Passage erstreckt sich über einen längeren Zeitraum, das Motiv wird hierbei mehrmals und abwechselnd in unterschiedlichen Instrumenten wiederholt (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 82a(1)-(2)89a). 640 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 88a(3). 641 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 89a(1) (Violinen). 642 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 90a(5) (große Flöten, Violinen). 643 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 96a(1) (Klarinetten). 644 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)16 (Violinen). Das Motiv wird bereits in der Magdszene eingeführt, als eine Magd schildert, wie Elektra von Klytämnestra und Ägisth behandelt wird. Als die fünfte Magd daraufhin sagt, dass sie sich vor Elektra niederwerfen und ihr die Füße küssen will, erklingt das Motiv erneut und wird so mit der Geste des Dienens in Verbindung gebracht. 636 106 Motiven abzeichnet. Auf das Wort ‚zürnen‘ von „Dein Mund ist schön, wenn er sich einmal auftut, um zu zürnen!“646, erklingt sowohl das ‚Schatten-Motiv‘ in den Posaunen, als auch die obere Melodielinie des ‚Entschluss zur Tat-Motivs‘ in den Trompeten.647 Die musikalischen Motive verdeutlichen, was hinter Elektras Worten steckt. Zu Elektra Worten: „Aus deinem reinen, starken Mund muß furchtbar ein Schrei hervor sprühn furchtbar wie der Schrei einer Todesgöttin“648, verweist das zweimal erklingende ‚Hass-Motiv‘649 darauf, welche Art von Schrei gemeint ist. Elektra fährt weiter fort: „Denn eh‘ du diesem Haus und mir entkommst, mußt du es tun.“650 Auch hier verdeutlicht erst die Musik, was Elektra meint, denn das rhythmisch gedehnte ‚Orest als Rächer-Motiv‘651 zeigt auf, dass Chrysothemis Orests Aufgabe übernehmen muss, um frei zu sein und ihr Leben leben zu können. Mit den wiederholenden Sechzehntelnoten erinnert das Motiv entfernt an das ‚Schatten-Motiv‘. Elektra Notenbeispiel 19: ‚Orest als Rächer-Motiv‘652 Gegen Ende der Szene erklingt zu Chrysothemis‘ zweimaliger Verteidigung „Ich kann nicht!“653 das ‚Hass-Motiv‘654. Beim zweiten Erklingen erfährt das Motiv, durch größere Instrumentierung und der Steigerung vom p zum f, eine Intensivierung. Während Elektras letztem Versuch die Schwester zu überreden, „Sieh ich lieg vor dir und küsse deine Füße“655, erklingt zweimal, das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘656 und führt noch einmal den Tod des Vater als Grund für ihr Verhalten an. Nachdem Chrysothemis verschwunden ist, erklingt zwischen Elektras Verfluchung Chrysothemis‘ und dem Entschluss die Tat alleine zu vollbringen in fast allen Blechbläsern im ff das 645 Dazu erklingt das ‚Abwehrendes Heben der Hände-Motiv‘ in Klarinetten, Bassetthörnern und Bassklarinette (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 97a(4)). 646 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (8)98a. 647 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (2)98a. 648 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 98a(1). 649 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (4)99a (Oboen, Violinen, Bratschen). 650 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 101a(1). 651 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 101a(1) (Trompeten, Basstrompete). 652 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 216(4) (Fagotte). Das Motiv wird eingeführt als Elektra Klytämnestra nach ihrem Bruder fragt, kurz bevor Elektra ihrer Mutter deren Tod schildert. 653 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 107a(2) und Ziffer 108a(1). 654 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 107a(2) (Fagotte, Kontrafagott, Violoncelli, Kontrabass) und Ziffer 108a(1) (Oboen, Fagotte, Streicher). 655 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 107a(4). 656 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer (3)108a (Klarinetten, Bassetthörner, Bassklarinette). 107 ‚Königliche-Motiv‘.657 Musikalisch zeigt sich, dass sich Elektra nicht mit der Wut auf ihre Schwester aufhält, sondern sofort wieder der tote Vater ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rückt. Die Musikanalyse macht deutlich, dass Elektra zwar vorgibt, sie würde sich in die Situation ihrer Schwester hineinversetzen und ihr helfen wollen, ihre tatsächliche Motivation wird jedoch durch Motive wie ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘, ‚Wunsch nach Rache-Motiv‘ und so weiter preisgegeben: die Besessenheit, Rache für die Ermordung ihres Vater zu nehmen. Auch in der Schlussszene nach der vollbrachten Tat ändert sich das musikalische Bild der beiden Schwestern nicht maßgeblich. Während sich bei Chrysothemis musikalisch die Freude über die Rückkehr des Bruders und die Liebe zu ihren Geschwistern zeigt, dominieren bei Elektra auch jetzt jene Motive, welche mit der Figur Agamemnons in Beziehung stehen.658 3.4 Zwischenfazit Vergleicht man die Textanalyse mit der Musikanalyse, kann festgestellt werden, dass gerade dort, wo es darum geht, die Positionen der Schwestern festzulegen, die verwendeten musikalischen Motive den Text unterstützen und verstärken. So wird Elektras Monolog vorwiegend mit Motiven unterlegt, welche Elektras Liebe zu Agamemnon und ihren Hass und gleichzeitige Trauer über dessen Ermordung ausdrücken. Im ersten Dialog zwischen den Schwestern werden hingegen Motive verwendet, welche Chrysothemis Ängste und ihren Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ widerspiegeln. An einigen Stellen offenbart die Musik jedoch, was textlich nur angedeutet wird. Während in Elektras Monolog im Text die Namen der MöderInnen Agamemnons nicht genannt werden, werden diese musikalisch durch das ‚Klytämnestra-Motiv‘ und das ‚Ägisth-Motiv‘ benannt. Als Chrysothemis Elektra ihre 657 Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 109a(1). Da die Positionen der Schwestern, auch im Hinblick auf deren musikalische Umsetzung, bereits ausführlich dargestellt wurden, wird an dieser Stelle auf eine detaillierte Analyse der Schlussszene verzichtet. Für eine eingehendere Analyse der Schlussszene vgl. u.a. Sonja Bayerlein, Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, S. 233-241, 269-273 und Kurt Overhoff, Die Elektra-Partitur von Richard Strauss, S. 182-188. 658 108 Unruhe schildert und den Grund dafür nicht benennen kann oder will, geschieht dies musikalisch durch das ‚Qual über Tod des Vaters-Motiv‘.Erst beim zweiten Aufeinandertreffen der Schwestern legt die musikalische Ebene offen, was auf der Textebene verschwiegen und verschleiert werden soll. Elektra versucht auf Chrysothemis einzugehen und übernimmt teilweise deren musikalische Motive, um sie zur Mithilfe zu bewegen, doch gleichzeitig zeigt die Musik immer wieder Elektras wahre Beweggründe auf. Beispielsweise übernimmt Elekra Chrysothemis‘ ‚Kinderwunsch-Motiv‘, als sie ihre Schönheit und Weiblichkeit preist, jedoch bringt das kurz darauf erklingende ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘Elektras Motiv für ihr Handeln zum Vorschein. An manchen Stellen wird Elektras Vorhaben auch musikalisch vorweggenommen, dies geschieht beispielsweise, als das ‚Entschluss zur Tat-Motiv‘ erklingt, noch bevor Elektra ihren Entschluss ausspricht. Chryosothemis‘ Ablehnung der Mithilfe wird wiederum musikalisch untermauert und verstärkt, indem ihre Ausrufe der Abwehr entweder während dem Erklingen von Motiven erfolgt, die Elektra verwendet, um Chrysothemis zu umwerben, oder während Motiven, die Elektras Wunsch nach Rache ausdrücken659. Im Vergleich der Textebene mit der musikalischen Ebene konnte außerdem gezeigt werden, dass sich Elektra, trotz ihres eingehenden Versuchs, Chrysothemis zur Mithilfe zu überreden, und ihrer Verfluchung Chrysothemis‘, nachdem diese weggelaufen ist, nicht mit dem Hass auf oder dem Ärger über ihre Schwester aufhält. Dies zeigt sich auf musikalischer Ebene durch das ‚Königliche-Motiv‘, was verdeutlicht, dass sich Elektra sofort wieder ihrem Wunsch nach Rache zuwendet. Es hat sich gezeigt, dass die musikalische Ebene und die Texteben zwar an einigen Stellen übereinstimmen und sich gegenseitig verstärken, jedoch wird an anderen Stellen musikalisch etwas vermittelt, was aus dem Text nicht hervorgeht oder bewusst verschwiegen wird. Für eine umfassende und ganzheitliche Analyse ist es deshalb notwendig, beide Ebenen heranzuziehen. 659 Beispielsweise erfolgt ein Ausruf der Abwehr während das ‚Kinderwunsch-Motiv‘ erklingt (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 69a(3)), und ein weiteres Mal während dem Erklingen vom ‚Wunsch nach Rache-Motiv‘ (Richard Strauss, Elektra, Orchesterpartitur, Ziffer 75a(2)). 109 4 Fazit Abschließend werden die wesentlichsten Aspekte der Analyseergebnisse beider Werke verglichen, um zu erörten, inwiefern Übereinstimmungen zwischen den Tochter-VaterBeziehungen und den Verhältnissen zu anderen Figuren zu finden sind und wo diese voneinander abweichen. Im Bezug auf die Tochter-Vater-Beziehung ergeben sich bereits erste Unterschiede. In Elektra bleibt die Beziehung der Schwestern zu ihrem Vater, und auch die Einstellung, die sie bezüglich Agamemnons Ermordung und der damit verbundenen Rache einnehmen, während der ganzen Zeit konstant. Elektra liebt ihren Vater, betrauert noch immer dessen Ermordung und will Rache. Chrysothemis hingegen will mit der Vergangenheit abschließen und ein neues Leben beginnen. Nachdem die Tat vollbracht ist, freut sich Chrysothemis zwar auch darüber, an ihrer Beziehung gegenüber Agamemnon ändert dies jedoch nichts. In der Walküre hingegen ist eine Veränderung bezüglich der Tochter-Vater-Beziehung erkennbar. Zu Beginn sind alle Walküren Wotan treu ergeben und führen seine Befehle aus, so auch Brünnhilde. Doch gleichzeitig weist Brünnhilde eine viel stärkere und intimere Beziehung zu ihrem Vater auf, als alle anderen Walküren. Für sie ist Wotan nicht nur eine Autorität der sie unterstellt ist, sondern auch ein Vater, dem sie sich verbunden fühlt und für den sie das Beste will. Während also von allen Walküren lediglich Brünnhilde eine besondere Tochter-Vater-Beziehung zu Wotan aufweist, ist es am Ende gerade sie, welche sich von Wotan loslöst. Sie zieht die Liebe zu einem Mann der Liebe zu ihrem Vater vor. Sowohl in der Walküre als auch in Elektra beeinflussen diese unterschiedlichen Beziehungen der Töchter zu ihren Vätern die Beziehungen der Schwestern zueinander. Bezogen auf diesen Aspekt lassen sich auch Paralleln zwischen der Walküre und Elektra herstellen. Zu Beginn – bevor sich Brünnhilde von Wotan loslöst – weisen die Beziehungen von Brünnhilde, den anderen Walküren und Elektra zu ihren Vätern Ähnlichkeiten auf, da alle die Treue ihrem Vater gegenüber ins Zentrum ihres Handelns stellen. Auch wenn der Aspekt der Liebe zum Vater und der Hintergrund der Treue in allen Fällen unterschiedlich interpretiert werden muss, so stellt Chrysothemis eine Gegenposition zu den anderen Töchtern dar, da für sie die Erfüllung ihres ‚Weiberschicksals‘ im Mittelpunkt steht. Zum einen kontrastiert dies mit den Einstellungen der anderen, da für Chrysothemis der Vater keine wesentliche Bezugsperson darstellt, zum anderen, weil sie ein ‚Weiberschicksal‘ möchte. Dies ändert sich, nachdem sich Brünnhilde in Siegfried verliebt hat und gleichzeitig die 110 Bindung zu ihrem Vater aufgibt. Jetzt stehen Elektra und Waltraute (sie steht jetzt stellvertretend für die Walküren) Chrysothemis beziehungsweise Brünnhilde gegenüber, und sie können die Positionen der jeweils anderen nicht verstehen. Elektra kann Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ nicht nachvollziehen, und Chrysothemis kann ebensowenig Elektras Entscheidung, ihr Leben der Rache zu widmen, verstehen. In derselben Art und Weise versteht Waltraute jetzt nicht, dass sich Brünnhilde der Liebe zu einem Mann hingibt und sich deshalb weigert, ihrem Vater zu helfen. Brünnhilde hingegen ist entsetzt darüber, dass Waltraute von ihr erwartet, den Ring von Siegfried herauszugeben, um Wotan und die anderen Götter zu retten. Die Beziehungen der Väter zu den Töchtern gestalten sich innerhalb der Opern unterschiedlich. Wotan zeigt ausschließlich Brünnhilde gegenüber eine ‚echte‘ TochterVater-Beziehung, zu seinen anderen Töchtern (Sieglinde wird hier nicht berücksichtig) ist lediglich eine Beziehung zwischen Gott und Walküren auszumachen. Doch obwohl (oder gerade weil) er nur für Brünnhilde väterliche Gefühle hegt, richtet sich sein Zorn gegen diese, er verstößt sie und gibt sie einem Mann zur Frau. In diesem Zusammenhang wurde jedoch bereits erörtert, dass, auch wenn sich Wotan eigentlich von Brünnhilde abwendet, sich letztlich Brünnhilde von ihrem Vater löst, und nicht umgekehrt, und, dass Wotan darunter leidet. In Elektra kann die Beziehung von Agamemnon zu seinen Töchtern lediglich aufgrund des Verhaltens von Elektra und Chrysothemis analysiert werden. Die ausgeprägte unterschiedliche Haltung gegenüber der Ermordung Agamemnons und der Rache zu Ehren Agamemnons lassen jedoch darauf schließen, dass auch hier eine unterschiedliche Beziehung des Vaters zu seinen Töchtern zugrunde liegt und das Verhalten der Töchter hervorruft. In beiden Werken konnte festgestellt werden, dass die Tochter-Vater-Beziehung auch Einfluss auf die Beziehung zu anderen Personen hat. In der Walküre ist hier die Beziehung von Wotan und Brünnhilde zu Fricka zu nennen. Zwar wird die Beziehung zwischen Wotan und Fricka nicht ausschließlich von Wotans Beziehung zu Brünnhilde beeinflusst, die Tatsache, dass Brünnhilde aus Wotans Untreue gegenüber Fricka entstanden ist, und Brünnhildes Position als Lieblingswalküre Wotans, spielen jedoch wesentlich mit. Im Hinblick auf die Beziehung zwischen Fricka und Brünnhilde sind die Gegenpositionen, die beide im Bezug auf Wotans Handeln einnehmen, entscheidend. Fricka will, dass Wotan nach seinen eigenen Verträgen handelt und setzt ihn unter Druck, Siegmund zu töten. Für Brünnhilde steht Wotans Wohlbefinden im 111 Vordergrund, weshalb sie will, dass Wotan nach seinem eigenen Willen handelt und Siegmund beschützt, da er ihn liebt. In Elektra hat Elektras Liebe zum Vater den Hass auf ihre Mutter fast zwangsläufig zur Folge. Dies führt sogar so weit, dass sie ihre eigene Mutter getötet sehe möchte. Chrysothemis‘ Beziehung zu ihrer Mutter wird zwar nicht von ihrer Beziehung zu ihrem Vater beeinflusst, aber von der grausamen Vergangenheit. Chrysothemis hat Angst vor Klytämnestra und versteckt sich vor ihr, ihren Tod betrauert jedoch auch sie nicht. Klytämnestra zeigt zu keiner ihrer Töchter ein mütterliches Verhältnis. Während ihr Hass auf Elektra daher rührt, dass Elektra sie daran hindert, die Vergangenheit zu vergessen, lässt sich ihre negative Einstellung gegenüber Chrysothemis auf keine spezifische Tatsache zurückführen. Die Beziehung zu Orest zeigt sich im Verhältnis zur Tochter-Vater-Beziehung nur darin, dass er für Elektra die Position als Rächer und nicht die des Bruders einnimmt, aus diesem Grund betrauert sie auch seinen vermeintlichen Tod nicht. Chrysothemis hingegen zeigt noch schwesterliche Gefühle für ihn. So trauert sie, als ihr der Tod Orests mitgeteilt wird, und will am Ende ihre Freude mit ihrem Bruder teilen. Im Bezug auf die musikalische Analyse konnte gezeigt werden, dass die Musik in beiden Werken unterschiedliche Funktionen erfüllt. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass die (Leit-)Motive den textlich vermittelten Inhalt widerspiegeln und so verstärken. In andern Fälle vermittelt die Musik hingegen eine Art Subtext. Dadurch offenbart sie, was textlich entweder verschwiegen werden soll oder nicht eindeutig mitgeteilt werden kann. Dies hat zur Folge, dass musikalisch ein anderes Stimmungsbild entsteht als textlich, was wiederum Interpretationen der Tochter-Vater-Beziehung zulässt. Für eine umfassende Analyse und Untersuchung der Fragestellung ist deshalb eine getrennte Betrachtung beider Ebenen und ein anschließender Vergleich und die Zusammenführung beider Teilanalysen notwendig. In der Einleitung wurden die Familienstrukturen der unterschiedlichen Schichten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dargestellt. Zwar wurde in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass keine Aussagen über Tochter-Vater-Beziehungen zu dieser Zeit getroffen werden können, weshalb auch nicht analysiert werden kann, inwiefern die Tochter-Vater-Beziehungen in der Walküre und Elektra mit den realen 112 Gegebenheiten dieser Zeit übereinstimmen oder von diesen abweichen. Es soll jedoch erörtert werden, ob und inwiefern die Darstellungen der Figuren in den Opern mit den Familienstrukturen und Rollenbildern der damaligen Zeit korrespondieren oder kontrastieren. Bei der Betrachtung der Vaterfiguren – zumindest bei der Wotans – zeigt sich, dass hier die traditionelle Position des Vaters als Familienoberhaupt und Autoritätsperson widergespiegelt wird. Dies geschieht, indem die Walküren (und auch alle anderen, die auf Walhall leben) der Befehlsmacht Wotans unterstellt sind. Als Brünnhilde Wotans Befehl missachtet, muss sie entsprechend dafür bestraft werden. Bei den Töchtern zeigt sich sowohl ein Kontrast zu den Rollenbildern, als auch eine Übereinstimmung mit diesen. Chrysothemis‘ Wunsch nach einem ‚Weiberschicksal‘ spiegelt die damalige bürgerliche Ansicht wider, dass Frauen sich auf ihre Rolle als Mutter, Haus- und Ehefrau zu besinnen hätten. Nach ihrer Loslösung von Wotan und ihrer Vereinigung mit Siegfried passt auch die Figur Brünnhildes in dieses Rollendenken. Denn während Siegfried eine aktive Position einnimmt und auszieht, um neue Abenteuer zu erleben, befindet sich Brünnhilde nun in einer passiven Rolle und wartet auf dem Felsen auf Siegfrieds Rückkehr. Im Gegensatz dazu passen die Walküren – zu Beginn Brünnhilde inbegriffen – und Elektra nicht in das Rollenbild der passiven, fürsorglichen Mutter und Ehefrau. Doch während die Walküren von Wotan zu Kämpferinnen erzogen wurden, geschieht Elektras Abwendung vom gängigen Frauenbild erst nach der Ermordung ihres Vaters. Inwiefern die in der Einleitung aufgestellte Aussage, dass Mädchen, die eine starke Identifizierung zum Vater aufweisen, häufiger aus gängigen Rollenbildern ausbrechen als andere, auf Elektra Anwendung finden kann, sei dahingestellt. Umso erstaunlicher ist jedoch die Tatsache, dass Elektra nicht in der Lage ist, die Tat selbst zu vollbringen, sondern diese Aufgabe in die Hände Orests legen muss. Hofmannsthals Aussage über die ‚Unfähigkeit der Frau zur Tat‘ würde sich mit der damals vorherrschenden Auffassung der Frau als passives Wesen, im Gegensatz zum aktiven Mann erklären lassen. Wie die Töchter zeigen auch die Mütter eine starke Abweichung von den bürgerlichen Rollenbildern. Weder in der Walküre noch in Elektra werden die Frauen als mütterlich und fürsorglich oder Erzieherin der Kinder dargestellt. In der Walküre leben sogar alle Töchter (abgesehen von Sieglinde) bei ihrem Vater, und man weiß nicht, abgesehen von Brünnhilde, wer ihre Mütter sind. Im Gegensatz dazu leben in Elektra die Töchter zwar noch bei ihrer Mutter, jedoch ist kein mütterliches Verhalten Klytämnestras zu erkennen. Orest wurde sogar noch als Kind von Klytämnestra aus dem Haus gebracht, da sie Angst hatte, dass 113 er die Ermordung seines Vaters rächen könnte. In der Walküre findet sich noch eine weitere Abweichung der Mutterfigur von den bürgerlichen Vorstellungen der Frau. Während im Bürgertum Wissen und Bildung Männern vorbehalten war und als unweiblich galt, wird in der Walküre Erdas Wissen hervorgehoben, indem sogar Wotan Rat bei ihr sucht. Inwiefern sich Wagner, Hofmannsthal und Strauss tatsächlich an den traditionellen Familienstrukturen und Geschlechterrollen ihrer Zeit orientiert haben – zumal sie auf bereits existierende mythologische Sujets zurückgriffen –, kann hier nicht beantwortet werden. Für weiterführende Forschungen wäre es jedoch interessant, die Werke mit den realen Strukturen und Rollenbildern in den Familien Wagners, Strauss‘ und Hofmannsthals abzugleichen. Mithilfe von Briefen, Tagebüchern und dergleichen wäre es eventuell möglich festzustellen, inwiefern diese in die Werke hineinspielen. Vor diesem Hintergrund darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch philosophische, psychologische und künstlerische Strömungen sowie andere Aspekte das Schaffen von KünstlerInnen beeinflussen können und sich möglicherweise in ihren Werken niederschlagen. 114 5 Literarturverzeichnis Bauer, Hans-Joachim: Richard Wagner Lexikon, Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe Verlag 1988. Bauer, Hans-Joachim: Richard Wagner. Einführungen in sämtliche Kompositionen, Neuauflage mit Ergänzungen, Hildesheim u.a.: Georg Olms Verlag 2004. Bauer, Jeffrey Peter: Women and the changing concept of salvation in the operas of Richard Wagner, Anif/Salzburg: Ursula Müller-Speiser 1994 (Wort und Musik. Salzburger Akademische Beiträge 20). Bayerlein, Sonja: Musikalische Psychologie der drei Frauengestalten in der Oper “Elektra“ von Richard Strauss, Tutzing: Hans Schneider 1996 (Würzburger Musikhistorische Beiträge 16). Bekker, Paul: Elektra: A Study by Paul Bekker, ins Englische übersetzt von Susan Gillespie, in: Richard Strauss and his world, hg. Bryan Gilliam, Princeton (New Jersey): Princeton University Press 1992, S. 372-405. Bermbach, Udo: Wotan – der Gott als Politiker, in: »Alles ist nach seiner Art«. Figuren in Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, hg. von Udo Bermbach, Stuttgart u.a.: Metzler 2001, S. 27-48. Boyden, Matthew: Richard Strauss. Die Biographie, aus dem Englischen von Maurus Pacher, Wien u.a.: Europa-Verlag 1999. Buschinger, Danielle und Spiewok, Wolfgang: Richard Strauss und die Antike: Von der psychologisierenden Opern-Mythe zur mythologisierenden Operette, in: Antike Mythen im Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1989, hgg. von Peter Csobádi, Gernot Gruber, Jürgen Kühnel, Ulrich Müller und Oswald Panagl, Anif/Salzburg: Verlag MuellerSpeiser 1990 (Wort und Musik 7), S. 111-121. Dahlhaus, Carl: 19. Jahrhundert IV. Richard Wagner – Texte zum Musiktheater, hg. von Hermann Danuser, Laaber: Laaber-Verlag 2004 (Gesammelte Schriften in 10 Bänden 7). 115 Dahlhaus, Carl: 20. Jahrhundert. Historik – Ästhetik – Theorie – Oper – Arnold Schönberg, hg. von Hermann Danuser, Laaber: Laaber-Verlag 2005 (Gesammelte Schriften in 10 Bänden 8). Donington, Robert: Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole. Musik und Mythos, 2., verb. Aufl. mit einem systematischen Noten-Anhang der Motive, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1976. Emslie, Barry: Richard Wagner and the Centrality of Love, Woodbridge: The Boydell Press 2010. Erhardt, Otto: Richard Strauss. Leben, Wirken, Schaffen, Olten u.a.: Verlag Otto Walter 1953 (Musikerreihe 13). Faerber, Uwe: Ersichtlich gewordene Taten der Musik. Musikalische Ausdrucksbestimmungen in Wagners Ring, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2003. Forsyth, Karen: Hofmannsthal’s Elektra: from Sophocles to Strauss, in: Richard Strauss. Elektra, hg. von Derrick Puffett, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 1989, S. 17-32. Friebertshäuser, Barbara, Matzner, Michael und Rothmüller, Ninette: Familie: Mütter und Väter, in: Handbuch Familie, hg. von Jutta Ecarius, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlag GmbH 2007, S. 179-198. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg Verlag 1999 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 50). Gilliam, Bryan: Richard Strauss’s Elektra, Oxford: Clarendon Press 1991. Goody, Jack: Geschichte der Familie, aus dem Englischen von Holger Fliessbach, München: Beck 2000 (Europa bauen). Gregor-Dellin, Martin: Richard Wagner. Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, vom Autor neu durchgesehene Auflage, München: Goldmann Verlag 1983. 116 Heinemann, Michael: Elektras Erwartung, in: Richard Strauss. Essays zu Leben und Werk, hgg. von Michael Heinemann, Matthias Herrmann und Stefan Weiss, Laaber: Laaber 2002, S. 147-158. Henze-Döhring, Sabine: „Liebe – Tragik“: Zur musikdramaturgischen Konzeption der Brünnhilde-Gestalt, in: Richard Wagners Ring des Nibelungen. Musikalische Dramaturgie – Kulturelle Kontextualität – Primär-Rezeption, hg. von Klaus Hortschansky, Schneverdingen: Verlag für Musikbücher Karl Dieter Wagner 2004 (Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster 20), S. 125-159. Herbort, Heinz Josef: Ein Gemenge aus Nacht und Licht – Form zwischen Gesetzt und Intuition in der Elektra bei Hofmannsthal und Strauss, in: Inszenierte Antike – Die Antike, Frankreich und wir. Neue Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart, hgg. von Henry Thorau, Hartmut Köhler, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2000 (Trierer Studien zur Literatur 33), S. 87-112. Hofmannsthal, Hugo von: Prosa III, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1952 (Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in Einzelausgaben Prosa 3). Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1959: Fischer Verlag (Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in Einzelausgaben Aufzeichnungen). Hofmannsthal, Hugo von: Dramen II. 1892-1905, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1979 (Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden 2). Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke VII. Dramen 5, hgg. von Klaus E. Bohnenkamp und Mathias Mayer, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1997 (Hugo von Hofmannsthal. Kritische Werke 7). Hottmann, Katharina: Historismus und Gattungsbewusstsein bei Richard Strauss. Untersuchungen zum späteren Opernschaffen. „Die andern komponieren. Ich mach‘ Musikgeschichte!“, Tutzing: Hans Schneider 2005 (Publikationen des Instituts für österreichische Musikdokumentation 30). 117 Hötzl, Ernst: Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal: Die Elektra – ein Psychogramm der Atriden-Trilogie, in: Antike Mythen im Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1989, hgg. von Peter Csobádi, Gernot Gruber, Jürgen Kühnel, Ulrich Müller und Oswald Panagl, Anif/Salzburg: Verlag Mueller-Speiser 1990 (Wort und Musik 7), S. 123-133. Indorf, Gerd: Die »Elektra«-Vertonung von Richard Strauss - »ein profundes Mißverständnis« oder kongeniale Leistung?, in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 8 (2000), S. 157-197. Khittl, Christoph: „Nervencontrapunkt“. Einflüsse psychologischer Theorien auf kompositorisches Gestalten, Wien u.a.: Böhlau Verlag 1991. Khittl, Christoph: »Nervencontrapunkt« als musikalische Psychoanalyse? Untersuchungen zu Elektra von Richard Strauss, in: Richard Strauss - Hugo von Hofmannsthal. Frauenbilder, hgg. von Ilija Dürhammer und Pia Janke, Wien: Edition Praesens 2001, S. 211-229. Kienzle, Ulrike: Brünnhilde – das Wotanskind, in: »Alles ist nach seiner Art«. Figuren in Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, hg. von Udo Bermbach, Stuttgart u.a.: Metzler 2001, S. 81-103. Krause, Ernst: Richard Strauss. Gestalt und Werk, 7. überarbeitete Auflage, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1955. Kronberger, Silvia: Elektra: stark – allein – hysterisch, in: Kundry & Elektra und ihre leidenden Schwestern. Schizophrenie und Hysterie / Frauenfiguren im MusikTheater, hgg. von Silvia Kronberger und Ulrich Müller, Anif/Salzburg: Verlag Mueller-Speiser 2003 (Wort und Musik 53), S. 121-128. Kühn, Edmund E. F.: Richard Wagners Musikdramen. Sämtliche komponierten Bühnendichtungen, Berlin: Globus Verlag o.J. Lewsey, Jonathan: Who’s Who and What’s What in Wagner, Aldershot u.a.: Ashgate 1997. 118 Mack, Dietrich: Zur Dramaturgie des Ring, in: Richard Wagner. Werk und Wirkung, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg: Bosse 1971 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 26), S. 53-63. Magee, Elizabeth: Richard Wagner and the Nibelungs, Oxford u.a.: Clarendon Press 1990. Mann, William: Die Opern von Richard Strauss, ungekürzte Sonderausgabe, aus dem Englischen übertragen von Willi Reich, München: Verlag C.H.Beck 1969. Müller-Funk, Wolfgang: Arbeit am Mythos: Elektra und Salome, in: Richard Strauss Hugo von Hofmannsthal. Frauenbilder, hgg. von Ilija Dürhammer und Pia Janke, Wien: Edition Praesens 2001, S. 171-193. Newman, Ernest: The Wagner Operas, Princeton: Princeton University Press 1991. Noé, Günther von: Das Leitmotiv bei Richard Strauss dargestellt am Beispiel der „Elektra“, in: NZfM 132/Nr.8 (1971), S. 418-422. Overhoff, Kurt: Die Musikdramen Richard Wagners. Eine thematisch-musikalische Interpretation, Salzburg: Verlagsbuchhandlung Anton Pustet 1967. Overhoff, Kurt: Die Elektra-Partitur von Richard Strauss. Ein Lehrbuch für die Technik der dramatischen Komposition, Salzburg: Anton Pustet 1978. Perschmann, Wolfgang: Richard Wagner: „Der Ring des Nibelungen“. Die optimistische Tragödie. Sinndeutende Darstellung, Graz: Richard WagnerGesellschaft 1986. Pfordten, Hermann von der: Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften, 2. Aufl., Bielefeld u.a.: Velhagen & Klasing 1921 (Die Bücherei der Volkshochschule. Eine Sammlung gemeinverständlicher Darstellungen aus allen Wissensgebieten 4). Rieger, Eva: „Die Liebe ist ‚das ewig Weibliche‘ selbst“. Richard Wagners Weiblichkeitskonstruktionen am Beispiel von Brünnhilde, in: Der »Komponist« Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft. Symposion Würzburg 2000, hgg. von Ulrich Konrad und Egon Voss, Wiesbaden u.a.: Breitkopf & Härtel 2003, S. 151-159. 119 Rümenapp, Peter: Zur Rezeption der Leitmotivtechnik Richard Wagners im 19. Jahrhundert, Wilhelmshaven: Florian Noetzel 2002 (Veröffentlichungen zur Musikforschung 19). Schickling, Dieter: Abschied von Walhall. Richard Wagners erotische Gesellschaft, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1983. Sieder, Reinhard: Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. Familien in Deutschland und Österreich, in: 20. Jahrhundert, hgg. von André Burguière, Christiane Klapisch-Zuber, Martine Segalen, Françoise Zonabend, aus dem Französischen von Gabriele Krüger-Wirrer, Frankfurt a.M. u.a.: Campus Verlag 1998 (Geschichte der Familie 4), S. 212-284. Specht, Richard: Richard Strauss und sein Werk. Zweiter Band: Der Vokalkomponist. Der Dramatiker, Leipzig u.a.: E. P. Tal & Co. Verlag 1921. Starobinski, Jean: Die Zauberinnen, aus dem Französischen von Horst Günther, München: Carl Hanser Verlag 2007. Steinbeck, Wolfram: Zur Formfrage in Wagners Ring des Nibelungen, in: Richard Wagners Ring des Nibelungen. Musikalische Dramaturgie – Kulturelle Kontextualität – Primär-Rezeption, hg. von Klaus Hortschansky, Schneverdingen: Verlag für Musikbücher Karl Dieter Wagner 2004 (Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster 20), S. 279-297. Stöck, Gilbert: Das Kennfigur-System als neuer Zugang zu Richard Wagners „Leitmotiv“-Technik, in: Der »Komponist« Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft. Symposion Würzburg 2000, hgg. von Ulrich Konrad und Egon Voss, Wiesbaden u.a.: Breitkopf & Härtel 2003, S. 81-94. Strauss, Richard: Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal. Musik von Richard Strauss, Berlin: Adolph Fürstner 1908. Strauss, Richard: Betrachtungen und Erinnerungen, 2., erweiterte Auflage, hg. von Willi Schuh, Zürich: Atlantis-Verlag 1957. Strauss, Richard: Elektra. Textbuch, Einführung und Kommentar von Kurt Pahlen, Mainz: Schott 1995. 120 Strauss, Richard und Gregor, Joseph: Briefwechsel. 1934-1949, hg. von Roland Tenschert, Salzburg: Otto Müller Verlag 1955. Strauss, Richard und Hofmannsthal, Hugo von: Briefwechsel, hg. von Willi Schuh, 5., ergänzte Auflage, Zürich: Atlantis Musikbuch-Verlag 1978. Thorau, Christian: Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners, Stuttgart: Franz Steiner 2003 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 50). Thorau, Christian: Motivtechnik, kompositorische Syntax und Form, in: Wagner Handbuch, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel: Bärenreiter-Verlag 2012, S. 236245. Unseld, Melanie: »Man töte dieses Weib!« Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart u.a.: Metzler 2001. Veit, Joachim: Art. Leitmotiv, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil Bd. 5 Kas-Mein, hg. von Ludwig Finscher, zweite, neu bearbeitete Ausgabe, Kassel u.a.: Bärenreiter u.a. 1996, Sp. 1078– 1095. Voss, Egon: Der Ring des Nibelungen: Einführung, in: Wagner Handbuch, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel: Bärenreiter-Verlag 2012, S. 332-340. Wagner, Cosima: Die Tagebücher, Bd. 1 1869-1872, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2., durchgesehene und im Anhang revidierte Auflage, München u.a.: Piper & Co. Verlag 1982. Wagner, Cosima: Die Tagebücher, Bd. 2 1873-1877, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2., durchgesehene und im Anhang revidierte Auflage, München u.a.: Piper & Co. Verlag 1982. Wagner, Cosima: Die Tagebücher, Bd. 3 1878-1880, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2., durchgesehene und im Anhang revidierte Auflage, München u.a.: Piper & Co. Verlag 1982. Wagner, Cosima und Strauss, Richard: Ein Briefwechsel, Bd.2, hg. von Franz Trenner, Tutzing: Hans Schneider 1978. 121 Wagner, Richard: Richard Wagner an Emil Heckel. Zur Entstehungsgeschichte der Bühnenfestspiele in Bayreuth, hg. von Karl Heckel, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1912. Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 10, hg. von Wolfgang Golther, Berlin u.a.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. 1914 (Richard Wagner. Gesammelte Schriften und Dichtungen in zehn Bänden 10). Wagner, Richard: Richard Wagners Briefe, Bd. 1, ausgewählt und erläutert von Wilhelm Altmann, Leipzig: Bibliographisches Institut 1925. Wagner, Richard: Briefe. Die Sammlung Burrell, hg. und kommentiert von John N. Burk, Einleitung, Kommentar und Anhang aus dem Englischen übersetzt von Karl und Irene Geiringer, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1950. Wagner, Richard: Die Musikdramen, mit einem Vorwort von Joachim Kaiser, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1971. Wagner, Richard: Mein Leben, vollständige, kommentierte Ausgabe, hg. von Martin Gregor-Dellin, München: List Verlag 1976. Wagner, Richard: Sämtliche Briefe, Bd. IV Briefe der Jahre 1851 – 1852, hgg. von Hans-Joachim Bauer und Johannes Forner, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1979. Wagner, Richard: Die Walküre. Der Ring des Nibelungen, Opernführer verfasst und herausgegeben von Kurt Pahlen, München: Wilhelm Goldmann Verlag 1982. Wagner, Richard: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 6 Reformschriften 1849-1852, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1983. Wagner, Richard: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 7 Oper und Drama, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1983. Wagner, Richard: Sämtliche Briefe, Bd. VI Januar 1854 – Februar 1855, hgg. von HansJoachim Bauer und Johannes Forner, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1986. Wagner, Richard: Sämtliche Briefe, Bd. VII März 1855 – März 1856, hgg. von HansJoachim Bauer und Johannes Forner, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1988. 122 Wagner, Richard: Zukunftsmusik. An einen französischen Freund (Fr. Villot), Leipzig: Insel-Verlag o.J. Wahrig, Gerhard (Hg.): Deutsches Wörterbuch. Mit einem "Lexikon der deutschen Sprachlehre", völlig überarbeitete Neuausgabe, München: Mosaik Verlag 1982. Walter, Michael: Elektra – germanisches Fortissimo und ästhetische Konstruktion, in: Musik-Konzepte. Neue Folge: Richard Strauss. Der griechische Germane 129/130 (2005), S. 51-67. Wapnewski, Peter: Musikdrama, in: Richard-Wagner-Handbuch, hgg. von Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart: Alfred Körner Verlag 1986, S. 269-331. Wenninger, Gerd (Red.): Lexikon der Psychologie, Bd. 3 M – Ref, Heidelberg u.a.: Spektrum Akademischer Verlag 2001. Wolzogen, Hans von: Musikalisch-dramatische Parallelen. Beiträge zur Erkenntnis von der Musik als Ausdruck, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1906. Verzeichnis der verwendeten Partituren Strauss, Richard: Elektra, Orchesterpartitur, hg. von o.A., Mainz: Fürstner Musikverlag, 1987 Wagner, Richard: Das Rheingold, Taschenpartitur, hg. von o.A., ins Englische übersetzt von Frederick Jameson, ins Französische übersetzt von Alfred Ernst, London u.a.: Eulenburg, o.J. Wagner, Richard: Die Walküre, Partitur, hg. von o.A., Leipzig: Peters, o.J. 123