Walther L. Bernecker Spanien: unbewältigte Krisen und eine offene Zukunft Viele Beobachter der politischen Szene Spaniens gehen davon aus, dass das Land eine „zweite Transition“ durchlebt. Falls die These stimmt, muss einleitend geklärt werden, was unter der spanischen Transition zu verstehen ist. Die Transition 1975-1982: Gründungsmythos der heutigen spanischen Demokratie; Überwindung der „zwei Spanien“; Beginn einer langen Zeitspanne in Frieden, Freiheit und Fortschritt mit dem Höhepunkt des Beitritts zur EG. In den letzten Jahren: rapide Abnahme des Konsenses über diese Zeitspanne wegen der Legitimitätskrise des politischen Systems. Quellen der Neu-Interpretation: (a) Aufkommen der Erinnerungskultur; demokratischer Pakt wird als Verrat an den Unterlegenen im Bürgerkrieg gedeutet, keinerlei Rechenschaftsablegung wegen der Verbrechen der franquistischen Diktatur; Konstruktion eines alternativen Mythos bei Idealisierung der Zweiten Republik. (b) ungelöste territoriale Frage, zunehmende Gefahr für die Einheit Spaniens aufgrund des katalanischen Nationalismus (zuvor bereits des baskischen). Charakteristika des politischen Systems seit der Transition: Konsens-Verfassung von 1978; (imperfektes) stabiles Zweiparteiensystem; große ökonomische Fortschritte; Integration in die Europäische Union; Konsens zwischen den großen Parteien über grundsätzliche Staatsfragen (Marktwirtschaft, Autonomiestaat, Einheit des spanischen Staates, Zugehörigkeit zur EU, Verfassung als Grundlage des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens). Grundlage der Demokratie sind drei entscheidende Pakte: (a) über die Vergangenheit: Amnestie „aller für alle“ (1977); (b) über die Gegenwart: ökonomisch-soziale Moncloa- Abkommen (1977); über die Zukunft: Verfassung von 1978 und Autonomiestatute. Charakteristika der 2008 begonnenen Krise: Überlagerung verschiedener Teilkrisen: wirtschaftliche und soziale Krise (Arbeitslosigkeit, Lohnreduzierung); Krise des Staatsmodells (Regierbarkeit, Sezessionismus); Krise der politischen Führung (Misstrauen der Bürger in die Politik und die Politiker); Glaubwürdigkeitskrise (massive Korruption, Entstehung neuer sozialer und politischer Formationen); als Folge der Teilkrisen: Legitimitätskrise des politischen Systems; Ziel der neuen Bewegungen: Gesamttransformation der Demokratie. Plötzliche Beendigung des Wirtschaftswachstums führt zur Entstehung neuer Protestbewegungen: Bewegung der „Empörten“ (indignados) des 15M (2011); Hintergrund: extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven, hoher Grad an Korruption; neue Bewegungen weisen horizontale Struktur auf, Fehlen markanter Führerpersönlichkeiten; große Bedeutung der sozialen Netzwerke. Zunahme des Interesses der Jungen an der Politik (seit 2008) fällt zusammen mit der längsten und schwersten Wirtschaftskrise der spanischen Demokratie. Ergebnisse der Stiftung Alternativas: Informe sobre la Democracia 2015. Wichtigstes Ergebnis: schnelle und intensive Verschlechterung des Indikators „Zufriedenheit mit der Demokratie“. 70 % sind „wenig oder gar nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in Spanien“ (20 % über dem europäischen Durchschnitt). Parallel dazu: Aufkommen neuer politischer Optionen (Podemos und Ciudadanos), die große Unruhe in das politische System bringen. Neue politische Formationen: Podemos und Ciudadanos PODEMOS geht aus der Bewegung der „Empörten“ (15M 2011) hervor. Motto: „Sie repräsentieren uns nicht“ und „echte Demokratie jetzt“; mehrheitliche Unterstützung von Seiten der spanischen Bürger zur Regenerierung der Demokratie. Änderung in der Achse der Politik von einem Links-rechtsSchema zu einem Schema Bürger-politische Klasse; transversale Artikulation, gegen das herrschende Parteiensystem gerichtet. Kampf der vielen (die Bürgerschaft, „das Volk“) gegen die wenigen (die Elite, die Kaste). Wähler von Podemos: Ergebnis der Entfremdung von der Politik. Im Laufe des Jahres 2015: klarer Rückgang der Zustimmung zu Podemos: von 28,2 % zu Beginn des Jahres auf 22 % im April und zwischen 15% und 20 % im Oktober. Erklärungen: Ankommen von Podemos in der politischen Realität; Änderungen im „Gemütszustand“ der potentiellen Wähler (hohe Volatilität); Fehlen eines politischen Projektes, das von der Mehrheit der Bürger mitgetragen würde (Durchschnittsspanier verortet sich mit 4,7 in der linken Mitte, verortet aber Podemos bei 2,2). Altes Dilemma: Radikale Ideen in Übereinstimmung zu bringen mit dem von der Mehrheit erwünschten Pragmatismus; Distanzierung vom Gründungsgeist der Partei; strategische Diskrepanzen in der Parteiführung. „Programm des Wandels“: Verzicht auf das allgemeine Grundeinkommen und auf die Nichtbezahlung der Schulden; Steuerprojekt: höhere Besteuerung der höheren Einkommen; Beendigung der Wohnungsräumungen; Gesetz zur Transparenz; unentgeltliche Wasser- und Lichtversorgung im Falle von Armut; Kampf gegen die Steuerflucht; viele wenig konkretisierte Maßnahmen. Entwicklungsphasen von Podemos: (a) vor den Europawahlen von 2014: Antisystempartei, Antikapitalismuspartei, Antiglobalisierungspartei; keine Rückzahlung der öffentlichen Schulden (eine Billion Euro), Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens. (b) Wandel zu moderateren Positionen, Übergang von einer Art Rätebewegung zu einer zentralisierten Organisation. (c) Herstellung von Allianzen mit anderen Gruppen oder Parteien; Suche nach attraktiven Kandidaturen zusammen mit Parteien von lokaler Reichweite. Parteichef: Pablo Iglesias CIUDADANOS entsteht als Partei der rechten Mitte wegen des Verlustes an Unterstützung des Partido Popular (PP); neue politische Heimat der gemäßigten Rechten. Parteipolitisches Wachstumsmodell: Rekrutierung von Eliten und kleinerer Parteien mit lokaler Verankerung. Profil des Wählers: mittlere Stellung auf der ideologischen Skala oder etwas zur Rechten des Durchschnittswählers, eine Art „Podemos der Rechten“. Identifiziert Korruption als wichtigstes Problem des Landes. Parteichef: Albert Rivera. Wahlen der Jahre 2014/2015: Möglicherweise Ende des politischen Zyklus, der in der Transition begonnen hat; neues und erweitertes Parteiensystem. Wahlen zum Europäischen Parlament (25. 5. 2014): Zum ersten Mal erhalten PP und PSOE zusammen weniger als 50 % der Stimmen (PP: Verlust von 2,6 Millionen Stimmen gegenüber 2010); Podemos: fünf Abgeordnete (8 % der Stimmen). Andalusische Wahlen (22. 3. 2015): Sieg des PSOE in 86 % der 776 Kommunen (allerdings Verlust von knapp 120.000 Stimmen gegenüber 2012);PP verliert 506.000 Stimmen gegenüber 2012; Podemos erringt 590.000 Stimmen, Ciudadanos 369.000; Minderheitsregierung von Susana Díaz (PSOE), Erfordernis politischer Pakte. Stimmverteilung im andalusischen Parlament (insgesamt: 109 Sitze): PSOE 47,PP 33, Podemos 15, Ciudadanos 9, Izquierda Unida 5. Kommunal- und Autonomiewahlen (24. 5. 2015): Keine absoluten Mehrheiten; äußerst komplexes politisches Panorama; erforderlich: Koalitionen oder Duldung durch andere Parteien. Ergebnis der Verhandlungen nach den Wahlen: die alternative Linke regiert die Hauptstädte (Kandidaturen von Podemos, Bürgerbewegungen, „Bürgerwellen“, Compromis, Ganemos/Guanyem, Sozialisten, Initiativen der „Volkseinheit“). Politik der Pakte kommt der Linken zugute. PP: höchster Stimmenverlust seiner Geschichte. Bürgermeister in den Provinzhauptstädten: PP 19 (2011:43); PSOE 17; Bürgerplattformen 5 (Madrid: Manuela Carmena; Barcelona: Ada Colau); PNV 3; CiU 1; andere 5). Politische und wirtschaftliche Situation im Sommer/Herbst 2015: weiterhin zwei ungelöste große Problembereiche: Beendigung der Wirtschaftskrise und territoriale Organisation des Staates. Beendigung der Rezession: 2014/2015 Beginn des Endes der größten Wirtschaftskrise der Demokratie. 2014 Wachstum des BIP um 1,4 %, Schaffung von 435.000 Arbeitsplätzen; Rückgang des öffentlichen Defizits (in Prozent des BIP) von elf (2009) auf 5,7 (2014) auf geschätzte 4,5 (2015). Geschätztes BIP- Wachstum 2015: zwischen 2,5 % und 3 %. Aber Fortbestehen der akkumulierten Ungleichgewichte: sehr hohe öffentliche Schulden (eine Billion Euro), zu viel Bauwirtschaft, geringe Produktivität, viel geringqualifizierte Arbeitskräfte, hohe Arbeitslosenquote (23 %); Außenbilanz wird im Gleichgewicht gehalten durch interne Abwertung (Lohnreduzierung). Strukturelle Probleme: wenig flexible Märkte, Fehlen einer soliden produktiven Basis, die in der Lage wäre, den Immobiliensektor und den Tourismus als Wachstumsquellen abzulösen. Während der wirtschaftlichen Boomjahre (bis 2008): Verlust an Konkurrenzfähigkeit. Territorialorganisation des Staates: das einzige bis heute nicht gelöste säkulare Problem des Landes; die nationale Kohäsion ist vergleichsweise gering, Ergebnis der Eigenarten der Konstruktion Spaniens als Staatsnation. Integrationsfähigkeit der zentripetalen Kraft Kastiliens ist im Schwinden begriffen. Es gibt kaum „Staatspolitiken“, die Vorstellung eines allgemein-nationalen Interesses ist gering. Das Katalonienproblem im Herbst 2015: Der katalanische Ministerpräsident Artur Mas erklärt die vorgezogenen Regionalwahlen vom 27. September zu einem „Plebiszit“ über die Unabhängigkeit. Wahlergebnis: absolute Mehrheit der Sitze im Parlament für die Unabhängigkeitsbefürworter (72 Sitze von 135), aber „nur“ 47,7 % der Stimmen. Junts pel Sí 62 Sitze, CUP 10 Sitze, Ciutadans 25 Sitze, PSC 16 Sitze, PP 11 Sitze, Catalunya Sí que es Pot (=Podemos & Iniciativa) 11 Sitze. Wahlbeteiligung 77 %. „Lektionen“ aus den katalanischen Wahlen vom 27. September 2015: Keine weitere Zunahme der Stimmen für die Unabhängigkeit. Am meisten Stimmen haben die Anti- Sezessions- Parteien hinzugewonnen. 2012 hatten die Befürworter der Unabhängigkeit CiU und ERC zusammen 51 % der Stimmen. Spektakulärer Aufschwung der Partei Ciutadans von Albert Rivera, auch und gerade im „roten Gürtel“ von Barcelona. Die Partei Podemos von Pablo Iglesias erlitt demgegenüber eine Niederlage, wahrscheinlich wegen ihrer Unbestimmtheit in der Unabhängigkeitsfrage (Unterstützung des Souveränitätsgedankens „Recht auf Entscheidung“, aber keine klare Unterstützung der Unabhängigkeitsforderungen). Sezessionismus vor allem in ruralen Gegenden stark. 78 % der Katalanen sind für Verhandlungen anstelle der Konfrontation. Eine ungewisse Zukunft: Praktisch alle Parteien (außer PP) fordern Strukturreformen, die das jetzige politische System radikal verändern würden: Veränderung des lokalen und regionalen Finanzierungssystems, Veränderung des Wahlgesetzes, Veränderung der Funktionsweise von Kongress und Senat, Veränderung des Steuersystems, Veränderung des Justizsystems, Überarbeitung der Verfassung von 1978. Daher: Wahlausgang am 20. Dezember von entscheidender Bedeutung.