Die Medizin ist am besten vom Menschen her zu verstehen der Mensch nur als Person zu begreifen Erfahrungen eines Hausarztes nach 25 Jahren in Norwegen von Harald Kamps, Berlin (www.praxis-kamps.de) Um es gleich vorweg zu sagen - jeder Vergleich zwischen Ländern hinkt. Das norwegische Gesundheitswesen in Deutschland wäre eine Katastrophe. Das Volk wäre empört. Die Politiker, die sich sonst am Sonntag um das Gesundheitswesen Sorgen machen, müssten dann am Montag Verantwortung übernehmen für lange Wartezeiten bei Fachärzten oder Operationen. Trotzdem - nach fast 25 Jahren als Hausarzt in Norwegen kann ich mir im Moment kein besseres Gesundheitswesen vorstellen, als das norwegische. Die Unterschiede liegen bei den Menschen. Norwegen ist ein altmodisches und modernes Land - gleichzeitig. Vor 100 Jahren lebten die Menschen in Norwegen vom mühsamen Fischfang an der Küste oder sie betrieben Landwirtschaft in den Tälern, wenn sie nicht längst ausgewandert waren nach Amerika. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die fast überall vorhandene Wasserkraft zur Stromerzeugung genutzt: davon profitierte energiefordernde Industrien - die Industrialisierung kam auch nach Norwegen und mit ihr erstarkte die Sozialdemokratie. Als dann Anfang der 70-er Jahre Öl vor der Küste gefunden wurde, begann des Land wirklich reich zu werden. Der demokratisch legitimierte Staat etablierte bald eine staatliche Ölindustrie, schaute sich die Technologie bei den internationalen Ölkonzernen ab und stimulierte zur Erforschung der Bohrtechnologie in der Tiefsee. Seitdem gehört das Land zu den reichsten der Erde, das Staatsdefizit ist beglichen und das nicht benötigte Geld wird über den staatlichen Ölfond im Ausland angelegt. Für norwegische Politiker wäre es leicht, Probleme im Gesundheitswesen mit mehr Geld zu lösen. Es bleibt aber bei den knapp 9% des BNPs. Nominell sind das zwar über 4000 Dollar pro Kopf und Jahr, deutlich mehr als Deutschland ausgibt. Die Aufgabe ist aber auch größer als im dicht besiedelten Deutschland, die 4,5 Millionen Norweger leben in einem Land mit vielen Tausend Kilometer Küstenlinie. Die Menschen entlang dieser Küste können sich noch erinnern, wie arm ihre Großeltern waren und wie anstrengend das Leben war. Immer noch ist es das Ziel der meisten norwegischen Familien, eine Hütte an der Küste oder im Gebirge zu haben, aber dann bitte ohne Strom und das Wasser aus dem eigenen Brunnen - im Winter wird dann der Schnee geschmolzen. Diese spartanischen Menschen investierten ihr erspartes Geld dann in Hedgefonds, als deutsche Banker dieses Wort noch nicht buchstabieren konnten. Innerhalb von 100 Jahren sind sie in der Moderne angekommen, ohne die Armut des Landes und der eigenen Familie vergessen zu haben. Es war lange Zeit unüblich, seinen persönlichen Reichtum zu zeigen. Große Einkommensunterschiede wurden auch durch die Steuerpolitik verhindert. Im Herbst kann ohnehin jeder die Ergebnisse der Steuererklärung der Nachbarn einsehen. Der Hausarzt der Gemeinde fand sein Einkommen und seine bezahlte Einkommensteuer meist in der Liste der Lokalzeitung wieder, die über die reichsten Menschen der Gemeinde berichteten - nicht unbedingt unter den ersten zehn, aber immer in der Rubrik der Menschen, „die man so kennt“. Die vom Finanzamt bereits ausgefüllte Einkommensteuererklärung können die meisten Menschen unbesehen unterschreiben und abschicken - der Staat kennt die wichtigsten Finanzdaten - er hat auch Einblick in die Bankdaten. Jeder Norweger bekommt zur Geburt eine 11-stellige Personennummer, die er bis zu seinem Tode behält. Gekoppelt an diese Ziffer gibt es viele öffentliche Register - vom Geburtsregister, über das Impfregister von Kindern und Jugendlichen, zum Krebsregister und zum Todesursachenregister. Es sind verlässliche Register - und die Norweger verlassen sich darauf, dass der Staat diese Daten verlässlich verwaltet. Der Norweger vertraut seinem Staat. Der Norweger kennt auch seinen Staat - es sind die Menschen, mit denen er zur Schule gegangen ist oder die mit ihm Fussball gespielt haben. Der Weg von unten nach oben ist kurz. Die meisten Hierarchien sind flach - das „Du“ zwischen Chefarzt und Krankenschwester entspricht dem Lebensgefühl der Menschen. Man vertraut seinem Mitmenschen - auch heute noch sind die meisten Häuser auf dem Lande unverschlossen - der Besucher klopft an und weiss schon, wo er die Bewohner des Hauses findet. Dieses Vertrauen gelingt in einer homogenen Gesellschaft, die sich ihrer Geschichte bewusst ist, die an alten Traditionen festhält, die sich ihre Beziehungen untereinander nicht durch Geld zerstören lässt. Flüchtlinge und Asylbewerber, die es in kleine norwegische Dörfer verschlägt, lassen sich oft von der Atmosphäre begeistern: sie und ihre Kinder sind schnell norwegischer als ihre Nachbarn. In den großen Städten gelingt dies nicht - hier verbleiben Ausländer gerne unter sich und bilden Parallelgesellschaften. Wäre der Attentäter vom 22. Juli ein Ausländer gewesen, das Land wäre daran zerbrochen. Noch wird die moderne globalisierte Welt mit ihren Verheißungen von der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft gemildert. Die „walk-in“-Kliniken in Oslo, die das gewünschte MRT ohne Wartezeit anbieten, bleiben Ausnahme. Private Versicherungen gibt es nicht. Ebenso wenig gibt es Privatkliniken oder das Recht auf Chefarztbehandlung. Die meisten Behandlungen finden ohnehin am Wohnort statt - die Reise zur Poliklinik des Krankenhauses oder zum niedergelassenen Facharzt ist für viele eine Tagesreise - in Nordnorwegen mit dem Flugzeug, auf Kosten der Krankenkasse. Die Wohnortgemeinde organisiert, gemeinsam mit der lokalen Filiale der Einheitskrankenkasse ein kompetentes Team - seit 2001 wählt jeder einen Hausarzt mit einem freien Platz auf seiner Liste. Etwa 1200 Menschen stehen auf der Liste es Hausarztes, der fünf Tage in der Woche in seiner privaten Praxis ist. Ein Drittel seines Umsatzes überweist die Krankenkasse monatlich für diese Arbeitsbereitschaft, ein weiteres Drittel bezahlen die Patienten bei jedem Arztbesuch - etwa 15 Euro pro Besuch der Rest sind Einzelleistungen, wie zum Beispiel ein Hausbesuch. Die häusliche Krankenpflege organisiert die Gemeinde - kostenlos für den Pflegebedürftigen, abhängig von seinem Einkommen, wenn es um Hilfe im Haushalt geht. Die fachärztliche und stationäre Versorgung wird von vier Gesundheitsregionen (einem Zusammenschluss jeweils mehrerer der 19 Länder) organisiert. In den großen Städten gibt es auch private niedergelassene Fachärzte. Dieses Angebot ist Teil des geplanten und gesteuerten Angebotes für die Gesundheitsregion. Die meisten ambulanten fachärztlichen Untersuchungen finden in den Polikliniken der Krankenhäuser statt. Die Zahl der Krankenhausbetten ist knapp bemessen. Für geplante Einweisungen in eine kardiologische Abteilung ist kaum Kapazität - also warten Hausarzt und Patient bis eine akute Einweisung nötig ist. Die Rehabilitation findet ohnehin in der Gemeinde statt - es gibt kein üppiges Angebot von stationären Rehabilitationsangeboten wie in Deutschland abgesehen von einigen Angeboten in der neurologischen Frührehabilitation. Wartelisten spiegeln Angebot und Nachfrage - werden diese Listen zu lang, dann regt sich der Unwille der Bevölkerung und es entwickelt sich eine politische Debatte. Diese führte in den 80-er Jahren zu einer Bypass-Op-Luftbrücke nach England. Diese erlaubt heute Gesundheitsregionen orthopädische OP-Kapazität im Ausland, zum Beispiel in Deutschland zu kaufen. Solche Debatten führen dann aber auch zu neuen Patientenrechten - zum Beispiel nicht länger als 2 Wochen auf die Abklärung eines dringenden Verdachts auf eine Krebsdiagnose warten zu müssen. Das in Deutschland politisch geächtete Wort „Priorisierung“ hat in Norwegen eine lange politische Geschichte. Die Umsetzung der erarbeiteten Vorschläge ist in Norwegen weniger restriktiv als im Nachbarland Schweden. Das wichtigste Prinzip für gesundheitspolitische Entscheidung gibt es seit vielen Jahrzehnten - und kommt noch aus Zeiten, als ökonomisch nicht alles möglich war - auf deutsch habe ich es mit „NEIN-Prinzip“ übersetzt - ein Akronym für das „Nächste Effektive Interventions Niveau“. Auf norwegisch: LEON: „laveste effektive omsorgsnivå“. Im Alltag: nichts dem Arzt überlassen, was die Oma besser kann; nichts dem Facharzt überlassen, was der Hausarzt fast genauso gut und nichts dem Krankenhaus überlassen, was auch in der Poliklinik oder beim Facharzt erledigt werden kann. Dieses Prinzip inspiriert auch die neueste Gesundheitsreform, die am 1. Januar 2012 in Kraft tritt. Die Gemeinden werden ein Teil des Geldes bekommen, das eigentlich für die fachärztliche Versorgung bestimmt ist: mit diesem Geld kann die Gemeinde fachärztliche Dienste einkaufen, sie kann aber auch sehen, ob nicht ein kommunaler Dienst angeboten werden kann, der die Bedürfnisse der kranken Menschen ebenso gut befriedigt. Außerdem hat jeder Mensch mit chronischen Erkrankungen das Recht auf einen fachlichen Koordinator, der für den bruchlosen Übergang von einem Versorgungsangebot in das andere sorgen soll. Diese Funktion werden wohl speziell ausgebildete Krankenpfleger füllen. Auch das ist seit langem eine Auswirkung des NEIN-Prinzips: nichts dem Arzt überlassen, was die Krankenschwester mindestens genauso kann. Auf einen Arzt kommen in Norwegen mehr als 8 Krankenpfleger, in Deutschland knapp 3. (OECD 2007) Karl Evang Wenn man die jahrzehntelange sozialdemokratische Gesundheitspolitik Norwegens verstehen will, kommt man an Karl Evang nicht vorbei. Er war seit 1938 34 Jahre Direktor der staatlichen Gesundheitsaufsicht und gleichzeitig Leiter des Gesundheitsabteilung im Sozialministerium. Diese spezielle Mischung aus Fach und Politik gibt es heute auch noch - auch wenn die Mitarbeiter des „Gesundheitsdirektorates“ heute keine weissen Kittel mehr tragen. Karl Evang gehörte zum linken Flügel der Sozialdemokratie und definierte Gesundheit eher als ein soziales als ein individuelles Problem. Er war Initiator vieler Gesundheitsinformationskampagnen. Er legte die Grundlagen für eine wissenschaftsbasierte Praxis, für Früherkennungsuntersuchungen, die alle auch im letzten Winkel des Landes erreichten und für ein Qualitätsmanagement, das sich die vielen validen Registerdaten zunutze machten. Das evang´sche, norwegische Gesundheitswesen glaubt an Zahlen. Moderne EBM steht in Norwegen hoch im Kurs und ist nur eine logische Konsequenz jahrzehntelanger sozialdemokratischer Gesundheitspolitik. Naturmedizin, alternative Medizin, Homöopathie - danach fragt der kranke Mensch kaum. Ein entsprechendes medizinisches Angebot gibt es schon - die vielen eingewanderten Ärzte aus europäischen Ländern haben es mitgebracht. Seit langem ist Norwegen also ein modernes, rationales und durch demokratische Strukturen geplantes Gesundheitswesen. Das Geld spielt eine wichtige Rolle - wie im übrigen politischen Leben. Jede Krone soll maximal viel Gesundheit erwirtschaften. Man braucht zwar keine Rücksichten auf die nationale Pharmaindustrie zu nehmen - die gibt es fast nicht. Aber kluge Politiker werfen das Geld nicht zum Fenster hinaus. Persönliche Gesundheit Ist in diesem Land - oder in diesem Gesundheitswesen Platz für Menschen, die auf ihre sehr persönliche Art krank werden? Menschen, die ein chaotisches Leben führen. Oder Menschen, die in einer anderen Kultur leben? Immerhin leben in Norwegen noch 70.000 Samen oder Lappen - mit ihrer eigenen Sprache und ihren eigenen Gesundheitstraditionen. Der Schaman spielt eine wichtige Rolle im Gefühlsleben der Samen. Etwas über 10% der Bevölkerung sind Migranten - in Oslo machen sie ein Viertel der Bevölkerung aus. 2,9 Arztkontakte hat jeder Norweger im Jahr. Im Vorwort zum Parlamentsreport der aktuellen Gesundheitsreform erzählt der Gesundheitsminister die Episode einer Dienstreise in ein abgelegenes Tal: Dort trifft er eine fast 100-jährige Frau, die gerade wieder aus dem nahegelegenen Krankenhaus kommt - sie war dort zum ersten Mal, sie hatte sich die Hüfte gebrochen. Auf die Frage, ob sie denn schon mal in Oslo war, antwortete sie lakonisch: „Nein - so krank sei sie zum Glück noch nie gewesen.“ Es ist in Norwegen noch einfach, sich dem Gesundheitswesen zu entziehen. Niemand wartet fieberhaft auf die neue Ausgabe der Apothekenumschau. Doch einmal angekommen im Gesundheitswesen, muss auch der Norweger besorgt sein, dass seine persönliche Weise krank zu sein, seine persönliche Weise, gesund zu werden, nicht erkannt wird. Die Theoriekrise der modernen Medizin ist auch in Norwegen nicht gelöst. Die Fortschritte der modernen medizinischen Wissenschaft werden zwar genauso wie in Deutschland gefeiert, sind aber gesellschaftlich nicht so präsent. Im Alltag spielt die Hauskrankenpflege, die Gesundheitsschwester, der Hausarzt eine wichtigere Rolle. Können diese nicht helfen, dann findet man sich damit ab - so wie vor 100 Jahren. Bei aller Unterschiedlichkeit - was kann man von Norwegen lernen? • Veränderungen im Gesundheitswesen gelingen am besten in einer Atmosphäre des Vertrauens und der gegenseitigen Achtung. • Für gesundes Leben ist der Bürgermeister wichtiger als der Hausarzt. • Menschen, eingebettet in eine solidarische Welt, bewältigen Krankheiten oft ohne professionelle Hilfe. • Hilfe, die von nahe stehenden Personen erbracht wird, stärkt die persönliche Kompetenz zur Heilung: zuerst die Familie und die Nachbarn, dann die unterschiedlichen Helfer im primären Gesundheitsdienst (Krankenschwestern, Hausärzte, Physiotherapeuten), danach die Professionellen im fachärztlichen Gesundheitsdienst - entsprechend dem NEIN-Prinzip. Zudem haben Patienten und Gesundheitsarbeiter gelernt, dass nicht immer: „Nur das Beste ist gut genug“ die beste Lösung ist. Oft reicht: „Das ist für mich gut genug.“ Die Bedeutung der Pflegeberufe ist zu stärken. • Ein modernes Gesundheitswesen ist personenorientiert und nicht krankheitsorientiert es macht sich die persönlichen Krankheitsverläufe bewusst und unterstützt den hilfesuchenden Patienten bei dessen Bestrebungen zur Selbstheilung. Professionen und Organisationen müssen sich daran messen lassen, ob sie in der Lage sind, die Interessen der kranken Kranken zu erkennen und zu berücksichtigen. • Ein modernes Gesundheitswesen ist populationsorientiert - es ist weniger von Profitinteressen, noch von Professionsinteressen geleitet, sondern von den Bedürfnissen der Gesellschaft, die mit den gesellschaftlichen Ressourcen haushalten muss - der Einfluss der Politik muss größer werden, gerne auch durch aktive Bürgerbeteiligung.