0 UNESCO-Welterbe Tektonikarena Sardona Eine Region von aussergewöhnlichem, universellem Wert Thomas Buckingham Simon Walker Jürg Meyer Harry Keel 07.06.2013, v3.0 1 INHALTSVERZEICHNIS DIE „MAGISCHE LINIE“ DER TEKTONIKARENA SARDONA 2 Die Glarner Hauptüberschiebung – einzigartiges Naturphänomen 2 TEKTONIKARENA SARDONA – WAS HEISST DAS? Tektonik Arena Sardona WARUM EIN WELTERBE? UNESCO – Wächter des Friedens Die Welterbe-Idee Wie kam die Tektonikarena Sardona in die Welterbeliste? 5 5 5 5 7 7 7 7 DAS WELTERBEGEBIET 8 Situation und Lage Und der Geopark Sardona? 8 8 DAS RÄTSEL DER LOCHSITE LOCHSITE Die „verkehrte“ Gesteinsabfolge im UNESCO-Welterbe Tektonikarena Sardona GELEHRTE RINGEN UM ERKLÄRUNGEN 9 9 12 Forscherstreit im 19. Jahrhundert und die Durchsetzung der Überschiebungshypothese 12 ZÄHE KLEINARBEIT TRÄGT FRÜCHTE Die geologische Erforschung der Alpen und das heutige Bild des Alpengebäudes DIE ERDMASCHINE – MOTOR DER GEBIRGSBILDUNG Wie die Erde aufgebaut ist, wie sie funktioniert und warum es Gebirge gibt HEBUNG UND ABTRAG Das Auftriebsprinzip als eigentlicher Grund der Heraushebung von Gebirgen DIE IMMER NOCH RÄTSELHAFTE LOCHSITE Aktuelle Forschungen zum Mechanismus der Glarner Hauptüberschiebung 16 16 19 19 22 22 24 24 2 DIE „MAGISCHE LINIE“ LINIE“ DER TEKTONIKARENA SARDONA Die Glarner Hauptüberschiebung – einzigartiges Naturphänomen Was ist diese messerscharfe Linie in der Tektonikarena Sardona im Grenzgebiet der drei Kantone Glarus, St. Gallen und Graubünden, die sich an den steilen Bergflanken entlang zieht. Eine geheime Militärstrasse? Ein exponierter Wanderweg? Nein, es handelt sich um ein Naturphänomen. Die „magische Linie“ ist eigentlich der Schnitt einer Fläche mit der Topographie, die sich domartig gewölbt durch die Berge zieht. Die Geologen nennen sie „Glarner Hauptüberschiebung“. Sie steigt im Süden steil aus dem Rheintal hoch, erreicht unter dem Piz Sardona ihre Scheitelhöhe und senkt sich dann weniger steil gegen Norden ab – im Glarnerland ein letztes Mal sichtbar an der Lochsite am Eingang des Sernftals bei Schwanden / Sool. Abb. 1: Luftbild Ringelspitz mit der „magischen Linie“ der Glarner Hauptüberschiebung. Hauptüberschiebung. Abb. 2: Luftbild Ringelspitz mit der nachgezeichneten Glarner Hauptüberschiebung. Hauptüberschiebung. Diese ist in Wirklichkeit eine Fläche! Jeder kann erkennen, dass oberhalb dieser Fläche andere Gesteine liegen als unterhalb. Darüber erkennt man dunkle, massige Gesteine, die ruppige Felswände bilden, etwa an den Grauen Hörnern im Pizolgebiet, an den Tschingelhörnern, am Kärpf, am Foostock oder am Ringelspitz. Unter der Fläche liegen weichere, häufig geschieferte Gesteine. Heute wissen wir, dass es sich bei der „magischen Linie“ um eine Überschiebungsfläche handelt, an der das obere Gesteinspaket bei der Bildung der Alpen über das untere geschoben wurde, mindestens 40 Kilometer weit von Süden nach Norden. Solche Gesteinspakete werden als „Decken“ bezeichnet. Die Alpen sind ein Deckengebirge, voll von derartigen Deckenüberschiebungen. Aber nirgendwo in den Alpen ist eine solche Fläche dermassen klar und dreidimensional im Gelände sichtbar wie in den Bergen zwischen St. Gallen, Glarus und Graubünden – und sogar nirgendwo in der ganzen Welt! Schon die ersten Alpengeologen waren fasziniert von diesem Naturphänomen. Sie wussten jedoch noch nichts von der Verschiebung der Kontinente, die Ursache aller Gebirgsbildungen ist. Eine Überschiebung von Gesteinspaketen derartigen Ausmasses lag ausserhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie versuchten andere Erklärungsmodelle. Nach einem epischen Wissenschaftsstreit setzte sich aber die Erkenntnis der Deckenüberschiebungen durch – die Beweislage in den Glarner Alpen war zu klar. Deshalb ist die Glarner Hauptüberschiebung auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte. 3 Was ist eine Überschiebung? Überschiebungen sind ein wichtiger Mechanismus bei der Gebirgsbildung. Dabei zerbrechen zer ehemals nebeneinander liegende Gesteinspakete durch enorme kompressive Kräfte und werden entlang einer flachen Trennfläche aufeinander gestapelt. Diese Trennfläche bezeichnet man als Überschiebung. Die Stapelung führt dazu, dass entlang der Überschiebungsfläche alte Gesteine direkt auf jüngere zu liegen kommen. Abb. 3: Schematisches chematisches Blockdiagramm einer Überschiebung Die abgetrennten und überschobenen Gesteinspakete werden als Überschiebungsdecken oder einfach nur Decken bezeichnet. Diese können mehrere Kilometer dick sein. Der Transportweg längs der Überschiebungsfläche kann durchaus mehrere zehn Kilometer betragen. Bei der Kollision von Kontinentalplatten entstehen viele solcher Überschiebungsbahnen. Die Überschiebungsdecken zwischen den Bahnen werden ähnlich wie Schnee an der Front eines Pfluges übereinander gestossen. Die Erdkruste wird durch die Ausbildung von Überschiebungen und Decken einerseits stark verkürzt, anderseits aber auch verdickt. Abb. 4: Schematische Überschiebungsdecken mit Pflug All diese Prozesse laufen tief in der Erdkruste ab. Der Überschiebungsprozess an der Glarner Hauptüberschiebung erfolgte in rund 10-15 15 km Tiefe und dauerte mehrere Millionen Jahre. Erst durch die stetige Hebung und der gleichzeitige Abtrag des Gebirges wurde die Überschiebungsbahn an der Erdoberfläche sichtbar. Die Glarner Hauptüberschiebung ist heute nicht mehr aktiv – sie wurde durch die Hebung „eingefroren“. Aber ber neue Überschiebungsbahnen entstehen tief in der Erdkruste, ausgelöst durch die andauernde Kollision von Afrika und Europa. 4 Die Alpen – das Produkt einer Kontinentalkollision Abb. 27: Dort, wo Kontinentalplatten gegeneinander driften und miteinander kollidieren, entstehen Deckengebirge wie die Alpen oder der Himalaya. Die Alpen sind das Resultat einer Kollision zwischen Europa und Afrika und ein paar kleineren Platten dazwischen. dazwischen. Die Kontinentalplatten prallten aufeinander (A(AC). Der Überschiebungsprozess über eine Distanz von mehr als 40 km, bei einer Geschwindigkeit von einigen Millimetern Millimetern pro Jahr, dauerte mehrere mehrere Millionen Jahre. Dies führt zu einer Verdickung der Kruste und und anschliessend zur Hebung des gesamten Gebirgskörpers. Die von Süden nach Norden gerichtete Bewegung hält bis heute an (D). Die „Glarner „Glarner Hauptüberschiebung“ Hauptüberschiebung“ ist nicht mehr aktiv, aber neue Überschiebungsbahnen entstehen tief in der Erdkruste (D Der Stern repräsentiert den Weg eines heutzutage an der Oberfläche angetroffenen Gesteins über die letzten 2020-40 Mio Jahre. 5 Wissenschaftliche Vergleichsstudie Die Beurteilung des “aussergewöhnlichen universellen Werts” (outstanding universal value OUV) erfolgte durch die Strukturgeologen Prof. A. Pfiffner (Bern), Prof. St. Schmid (Basel) und Prof. M. Burkhard († Neuchâtel) in einer Studie namens „Comparative Study on Thrust Faults“. Diese sehr umfassende Studie zeigt einen Vergleich der bedeutendsten Überschiebungen weltweit. Beurteilt wurden dabei die wissenschaftliche, landschaftliche, geomorphologische und pädagogische Einzigartigkeit. Im weltweiten Vergleich mit anderen Überschiebungen kristallisierte sich die Glarner Hauptüberschiebung in sämtlichen Kriterien als weltweit einzigartig heraus. Diese Einschätzung wird durch diverse international angesehene und unabhängige Experten sowie Schweizer Institutionen geteilt, welche ihre Unterstützung bekundeten und den „aussergewöhnlichen universellen Wert“ der Glarner Hauptüberschiebung unterstrichen bzw. bestätigten. TEKTONIKARENA SARDONA – WAS HEISST DAS? Tektonik Tektonik ist ein Spezialgebiet der Geologie. Sie befasst sich mit dem Studium der Strukturen der Erde, der Bewegungen in ihrem Innern und an der Erdoberfläche sowie der Mechanismen und Kräfte welche diese Bewegungen antreiben. Im Gebiet des UNESCO-Welterbes Tektonikarena Sardona bildet die Glarner Hauptüberschiebung das prägende und zentrale tektonische Element. Daneben können im Welterbe Sardona aber auch vielfältige andere tektonische Vorgänge wie Falten & Brüche in den tief eingeschnittenen Tälern beobachtet werden. Arena An den Gipfeln rund um den Piz Sardona ist die Glarner Hauptüberschiebung in drei Dimensionen sichtbar. An manchen Orten wie z.B. auf dem Fil de Cassons, auf dem Segnesoder dem Heidelpass hat man als Besucher daher das Gefühl, mitten in einer Arena zu stehen. Sardona Der 3056 m hohe Piz Sardona – weder der eindrücklichste noch der höchste Gipfel der Region – vereint drei Eigenschaften, die dazu führten, dass das knapp 330 km2 grosse Welterbegebiet nach ihm getauft wurde: Er liegt in der Mitte des Gebietes und ist Grenzberg zwischen den drei am Welterbe beteiligten Kantone Glarus, St. Gallen und Graubünden. Er steht für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der drei Kantone und 13 Welterbegemeinden. Am Piz Sardona ist die Glarner Hauptüberschiebung rund um den Gipfelaufbau herum von allen Seiten her sichtbar. 6 Deshalb: Tektonikarena Sardona – das einzigartige Gebiet rund um den Piz Sardona, in welchem Prozesse der Gebirgsbildung besonders schön sichtbar sind! Abb. 5.1 5.1: .1: Der Piz Sardona (3056 m) vorne links in einer Flugaufnahme von Norden aus gesehen. Er gibt dem Welterbegebiet den Namen. Die Überschiebungsfläche ist klar erkennbar. Abb. 5.2: Wiederum Piz Sardona (3056 m) im Vordergrund, hinten Ringelspitz. Die Überschiebungsfläche wurde hier graphisch hinzumodelliert und zeigt deutlich derren Kuppelform. Kuppelform. So sieht der Geologe im Felde die Glarner Hauptüberschiebung. 7 WARUM EIN WELTERBE? UNESCO – Wächter des Friedens Manche Dinge sind so wertvoll, dass die ganze Menschheit darüber wachen muss: einmalig schöne Städte, Landschaften und Kulturgüter etwa. Und der Friede. «Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.» Das ist die Leitidee der 1945 gegründeten UNESCO, der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Ihr oberstes Ziel ist die Wahrung des Friedens. Sie verwaltet auch das Welterbe der Menschheit bestehend aus Weltkultur- und Weltnaturerbestätten. Die Welterbe-Idee 1972 verabschiedete die UNESCO die Konvention zum Schutz des weltweiten Kultur- und Naturerbes. Die Idee des Welterbes ist es, einzigartige Natur- und Kulturwerte in die Obhut der gesamten Menschheit zu stellen und für kommende Generationen zu erhalten. Die Schweiz unterzeichnete sie 1975. Zentrale Voraussetzung für ein Welterbe ist die weltweite Einzigartigkeit, der so genannte „aussergewöhnliche universelle Wert“ (= outstanding universal value OUV). Neben der Einzigartigkeit zeichnen sich UNESCO-Welterbestätten auch durch die weiteren Kernwerte "Authentizität" (Echtheit) und "Integrität" (Unversehrtheit) aus. Weltweit gibt es heute rund 725 Weltkulturerbe- und 180 Weltnaturerbestätten. In der Schweiz bestehen derzeit acht UNESCO - Kultur- und drei Naturerbestätten (Stand 2011). Wie kam die Tektonikarena Sardona in die Welterbeliste? Die weltweit einzigartige Sichtbarkeit von Naturphänomenen der Gebirgsbildung, die beispielhafte Erforschungsgeschichte sowie die andauernde Bedeutung für die geologische Forschung waren für die UNESCO die Gründe, dem kantonsübergreifenden Gebiet 2008 die Auszeichnung als Weltnaturerbe zu verleihen. Dies ist die höchste Auszeichnung, welche einem Naturwert weltweit verliehen werden kann. Die Tektonikarena Sardona befindet somit in der gleichen Liga wie etwa der Grand Canyon, die Galapagosinseln, das Great Barrier Reef oder die Vulkaninseln von Hawaii! Eine grossartige Auszeichnung – aber auch eine Verpflichtung für die drei beteiligten Kantone und dreizehn Welterbe-Gemeinden, zu diesem Gebiet langfristig Sorge zu tragen. Daneben bietet die Tektonikarena Sardona in einer ursprünglichen Landschaft eine ungewöhnlich grosse Dichte an Naturwerten sowie Biotope und Geotope von nationaler Bedeutung. 8 Abb. 6: Logo UNESCOUNESCO-Welterbe Tektonikarena Sardona Das Logo der Tektonikarena Sardona ist in den Braunfarben der VerrucanoVerrucanoGesteine gehalten. Die Gebirgsskizze zeigt die Glarner Hauptüberschiebung in Weiss, mit unterschiedlichen Gesteinen darüber und darunter. Im obersten Teil ist das UNESCOUNESCO-WelterbeWelterbe-Logo dargestellt. Es verdeutlicht die Wechselbeziehungen zwischen Kultur und Natur. Das zentrale Viereck symbolisiert eine vom Menschen geschaffene Form, während der Kreis die Natur darstellt. Beide Formen greifen eng ineinander. Das Emblem ist rund wie die Erde, Erde, zugleich aber auch ein Symbol des Schutzes. DAS WELTERBEGEBIET Situation und Lage Das Gebiet des UNESCO-Welterbes Tektonikarena Sardona befindet sich im Grenzgebiet der Kantone St. Gallen, Glarus und Graubünden. Es umfasst die Ringelspitz - Kette, das Calfeisental, das Pizolgebiet, den Foostock und das südliche Weisstannental, die Flumserberge, das südliche Murgtal und das südliche Kerenzerberggebiet, die Mürtschen Gruppe, das Mülibachtal und das nördliche Chrauchtal, die Tschingelhoren – Vorab – Gruppe, die Piz Sardona – Piz Segnas - Gruppe und den Crap da Flem (Flimserstein). Der tiefste Punkt befindet sich in Ennenda (GL) auf knapp 540 m ü. M., die höchste Erhebung ist der Ringelspitz mit 3247 m ü. M. Der Welterbeperimeter folgt vor allem topographischen Elementen wie Gewässern, Tälern, Bergkreten, Waldgrenzen und Strassen. Oftmals ist er mit den Grenzen bestehender Schutzgebiete identisch. Die gesamte Fläche des Gebietes erstreckt sich über mehr als 300 Quadratkilometer, verteilt auf die dreizehn Gemeinden Bad Ragaz, Flums, Mels, Pfäfers, Quarten, Vilters-Wangs, Flims, Laax, Tamins, Trin, Glarus, Glarus Nord, Glarus Süd. Und der Geopark Sardona? Die Tektonikarena Sardona bildet das Kernstück des seit 1999 bestehenden Geoparks Sardona. Dieser umschliesst das UNESCO-Welterbe von allen Seiten. Der Verein Geopark Sardona leistete wichtige Aufbauarbeit bei der Kandidatur zum Welterbe. Als Netzwerk vielfältiger GeoStätten bietet der Geopark Sardona eine optimale Ergänzung zum Welterbe. Der Verein Geopark Sardona fördert und unterstützt Aktivitäten in den Bereichen Geologie, Untertagbau, Bergbau und Gesteinsverarbeitung. Er setzt sich für die Stärkung des Erlebnis- und Bildungstourismus, für den Ausbau von Forschungsstandorten und für die Unterstützung von Betrieben im Bereich Steine und Erden ein. 9 Abb. 7: Karte mit dem Perimeter des UNESCOUNESCO-Weltnaturerbe Tektonikarena Sardona (gelb) und des Geopark Geopark Sardona (grün). Die Nummern bezeichnen die GeoStätten des Geoparks Sardona. DAS RÄTSEL DER LOCHSITE Die „verkehrte“ Gesteinsabfolge im UNESCO-Welterbe Tektonikarena Sardona Kurz nach Schwanden, wo heute eine Passerelle über die Strasse führt, befindet sich einer der berühmtesten Gesteinsaufschlüsse der Alpen. Ein unscheinbarer Abhang im Wald, eine Felswand von 50 m Länge, 40 m hoch: Die Lochsite. Eine Art „heiliger Gral“ der Alpengeologen. Hier kann das, was an der „magischen Linie“ hoch oben in den Bergen sichtbar ist, bequem studiert werden: Die Glarner Hauptüberschiebung. Sie können den Finger auf die Überschiebungsfläche legen. Der Aufschluss ist den Geologen seit 200 Jahren bekannt. Erstmals beschrieben wurde er vom berühmten Hans Conrad Escher von der Linth im Jahr 1807. Er stellte fest: Unten an der Basis der Felswand steht ein schiefriges Gestein an. Darüber liegt mit einem Überhang ein 10 wesentlich festeres und härteres, viel älteres Ablagerungsgestein, bestehend aus vielen kleinen Gesteinsbruchstücken. Und dazwischen eingeklemmt eine Schicht von 30 – 50 cm Dicke von kalkähnlichem Gestein, mit wilden Knet- und Faltenstrukturen Dieses tauften die Geologen später „Lochsitenkalk“. Also eine ältere Ablagerung über einer jüngeren – da kann doch etwas nicht stimmen? Wie, wann und warum wurde die Ablagerungsabfolge auf den Kopf gestellt? Das Rätsel der Lochsite! Abb. 8: AufschlussAufschluss-Skizze Lochsite Skizze des Lochsitenaufschlusses von Arnold Heim, wie sie in zahlreichen Publikationen und Exkursionsführern zu finden ist. 1 Flyschgesteine, verfaltet; 2 Lochsitenkalk unteres und oberes Segment; 3 Messerscharfe Fläche, jüngste Struktur (sogenanntes Septum); 4 VerrucanoVerrucano-Gestein, deformiert; 5 VerrucanoVerrucano-Gestein, kaum deformiert Bald realisierten die Geologen, dass diese „verkehrte Abfolge“ überall in den Glarner Alpen an der so gut sichtbaren „magischen Linie“ auftritt; gut zugänglich etwa am Foostock und am Segnespass, bestens sichtbar an den Tschingelhörnern. Abb. 9: Gesteine an der Glarner Hauptüberschiebung Hauptüberschiebung: auptüberschiebung: Altes Gestein liegt auf jüngerem. 11 Seit der Zeit von Hans Conrad Escher von der Linth pilgern die Geologen an die Lochsite, auch heute noch. Alle Geologiestudierenden der Schweiz besuchen mindestens einmal während ihres Studiums die Lochsite. Es gibt nur wenige Aufschlüsse in der Schweiz, welche für die geologische Forschung und das Verständnis der Alpenbildung ähnlich bedeutsam sind – im renommierten mierten „American Museum of Natural History“ in New York befindet sich eine naturgetreue Nachbildung der Lochsite! Wir verstehen heute einiges, zum Beispiel wie die verkehrte Abfolge zustande kam, doch noch immer gibt die Lochsite Rätsel auf. Überlagerungsgesetz auf den Kopf gestellt Zwei wichtige geologische Gesetze für Ablagerungsgesteine wurden um 1670 vom dänischen Universalgelehrten Nicolaus Steno formuliert. Sie scheinen heute fast selbstverständlich, damals bedeuteten sie einen grundlegenden nden Fortschritt in Richtung moderne Geologie: 1. Ablagerungsgesteine werden horizontal abgelagert. Finden wir sie in anderer Lagerung (steilgestellt, verfaltet, zerbrochen), so muss sich dazwischen ein tektonisches Ereignis abgespielt haben. Abb. 10: Horizontale KalkKalk- und Mergelschichten am Mürtschenstock. Abb. 11: Schräg gestellte Kalksteine südlich Ringelspitz. 2. Die Ablagerung von Sedimentgesteinen folgt Schicht auf Schicht. Somit sind bei ungestörter Schichtenfolge die oberen Schichten jünger als die unteren. Entlang der Glarner Hauptüberschiebung ist das zweite Gesetz „auf den Kopf gestellt“ – und bereitete deshalb den Geologen damals viel Kopfzerbrechen. Abb. 12: Die ungestörte Schichtfolge in der Säntisdecke der Churfirsten (untere bis mittlere Kreidezeit). Abb. 13: Die verkehrte Abfolge an der Glarner Hauptüberschiebung mit altem Verrucano über jüngerem Lochsitenkalk und Flysch. 12 Portrait: Hans Conrad Escher von der Linth 1767 – 1823 „Ohne Eschers Einfluss hätte die Schweiz heute ein anderes Bild!“ Dieser grosse Zürcher Universalgelehrte, Abkömmling einer wohlhabenden Zürcher Kaufmannsfamilie, bekleidete verschiedene politische Ämter und engagierte sich für die Wissenschaften. Sein Hauptwerk war die Regulierung des Flusses Linth – daher auch sein „Adelstitel“. Sein wissenschaftliches Interesse lag vor allem bei der Geologie. Seine Beobachtungen hielt er in den "Fragmenten über die Naturgeschichte Helvetiens", und in über 900 gezeichneten und aquarellierten Gebirgsansichten und Panoramen fest. Abb. 14: Hans Conrad Escher von der Linth H.C. Escher beschrieb vor 200 Jahren die „verkehrt“ liegende Gesteinsabfolge in den Glarner Bergen, zweifelte aber an der Richtigkeit seiner Interpretation. Damals waren die Möglichkeiten der relativen Altersbestimmung noch nicht voll entwickelt. Er kann deshalb als „Urvater“ des Weltnaturerbes Tektonikarena Sardona gesehen werden. GELEHRTE RINGEN UM ERKLÄRUNGEN Forscherstreit im 19. Jahrhundert und die Durchsetzung der Überschiebungshypothese Die Erforschung der Glarner Hauptüberschiebung ist ein Paradebeispiel dafür, wie in den Wissenschaften um Erklärungsmodelle gerungen wird. Der grosse Universalgelehrte Hans Conrad Escher von der Linth vermutete um 1800, dass in den Glarner Alpen die übliche Gesteinsabfolge „unten älter – oben jünger“ nicht stimmt. Er zeigte dies dem bedeutenden deutschen Geologen Leopold von Buch, der die Beweislage vor Ort bestritt und lieber die Gesteine anders interpretierte. Was nicht sein kann, darf nicht sein... Arnold Escher, der Sohn Hans Conrads und erster Geologie-Professor in Zürich, wies dann eindeutig nach, dass in den Glarner Alpen älteres auf jüngerem Gestein liegt. Er dachte sogar an eine „colossale Überschiebung“ – heute als einzig mögliche Erklärung anerkannt! 1848 führte Arnold Escher einen der damals bedeutendsten Geologen, Roderick Impey Murchison, 13 in die Glarner Alpen. Murchison war verblüfft von den angetroffenen Lagerungsverhältnissen und stimmte den Interpretationen Eschers zu. Doch dieser schreckte davor vor zurück, dies zu publizieren. Die ie Folgen für das damalige geologische Weltbild wären zu dramatisch gewesen: gewesen „Kein Mensch würde es glauben, man hielte mich für einen Narren“. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Kontraktions-Hypothese Kontraktions Hypothese auf, gemäss der die Erde infolge Abkühlung schrumpftt und dadurch die Schichten an der Oberfläche in Falten geworfen werden („Schrumpfapfelmodell“). So entwarf entwarf Escher nach verschiedenen früheren Erklärungsversuchen für die Glarner Alpen ein kompliziertes Faltenmodell, Faltenmodell, die „Glarner Doppelfalte“. Dieses wurde von Eschers noch berühmterem Schüler, dem grossen Alpengeologen Albert Heim, detailliert beschrieben und ausformuliert. Die Doppelfalte besteht aus zwei liegenden Falten, eine von Norden und eine von Süden, welche sich lederbeutelartig schliessen. Abb. 15: 15: Die Doppelfalte nach Heim (1878, 1891) sieht ähnlich aus wie ein Lederbeutel (Quelle: http://arthttp://art-ofofcrafts.com) crafts.com) Gegen die Jahrhundertwende verdichteten sich die Indizien, dass es tatsächl ta sächlich grosse Überschiebungen gibt, und dass die Alpen in erster Linie ein DeckenDecken und nicht ein Faltengebirge seien. Doch Heim verteidigte das Doppelfaltenmodell vehement, mit dem ganzen Gewicht seiner akademischen Autorität – bis er einsehen musste, dass er Unrecht hatte. Er nahm die neue Erklärung nicht nur an, sondern entwickelte sie begeistert weiter. In seinem berühmten Standardwerk „Geologie der Alpen“ schrieb er 1921: „Wer noch an der grossartigen Deckentektonik zweifelt, der möge sich zuerst die Lochsite ite ansehen...“ 14 Abb. 16: 16: Überschiebung nach Heim (1921). (1921). GL= Glarner Hauptüberschiebung, Mü=die kleinere Mürtschen Überschiebung Durch die gute Begehbarkeit und deutliche Sichtbarkeit der geologischen Phänomene wurde die Glarner Hauptüberschiebung zu einem bedeutenden Schlüsselgebiet der neuen Deckentheorie. Seither haben viele weitere Geologen die Aufschlüsse rund um die Glarner Hauptüberschiebung besucht und sich intensiv mit genauer Kartierung, Zusammensetzung und Altersabfolge von Sedimentgesteinen sowie den lokalen Strukturen beschäftigt. Die Glarner Alpen zählen diesbezüglich zu einem der am besten untersuchten Gebiete weltweit. Die Erde als „Schrumpfapfel“ – altes geologisches Weltbild Der Schrumpfapfel steht symbolisch für ein Erklärungsmodell der Erde, welches sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte und sich bis in das 20. Jahrhundert hielt. Wissenschaftlich redet man vom Kontraktionsmodell (auch AbkühlungsAbkühlungs oder Schrumpfungstheorie). Die Theorie wurde entwickelt, um die großräumigen Abläufe in n der Erdkruste zu erklären. Die zentrale Idee dabei war, dass die Erde zu Beginn heiß und glutflüssig war und mit der Zeit abkühlte. Dadurch schrumpfte der Erdkörper langsam - jedoch ungleichmäßig, weil nicht alle Bereiche der Oberfläche und darunter liegende ende Schichten gleich schnell erkalteten. Diese Unterschiede erzeugten Spannungen an der Erdoberfläche und im Erdinneren, die zu Erdbeben, Rissen, Auffaltungen und Absenkungen in der Erdkruste führten. Viele Lehrbücher verglichen die Kontraktion der Erde mit mit einem Apfel, der beim Austrocknen durch den Wasserverlust im Innern Runzeln bildet. 15 Abb. 17: 17: Dreidimensional gedrucktes Schrumpfapfel--Modell aus dem Besucherzentrum Schrumpfapfel Glarnerland, Standort Elm Die seither gewonnen Erkenntnisse über das Innere der Erde und die Struktur und Gesteine der Gebirge führten dazu, dass das „Schrumpfapfelmodell“ aufgegeben werden musste. Die Erde kühlt sich nur äusserst langsam ab, weil in ihrem Inneren laufend weiter Wärme produziert wird. Heute wissen wir, dass Gebirge durch die Drift der Erdplatten auf dem zähflüssigen Mantel entstehen (mehr dazu im Kapitel „Die Erdmaschine – Motor der Gebirgsbildung“). Die Theorie der Plattentektonik legte schliesslich den Zusammenhang zwischen grosstektonischen Bewegungen und den beobachteten Überschiebungsphänomene dar und untermauerte somit die Deckentheorie. 16 Portrait: Albert Heim 1849 – 1937 „Wer noch an der grossartigen Deckentektonik zweifelt, der möge sich zuerst die Lochseite ansehen...“ Abb. 18: Albert Heim Dieser aussergewöhnliche Forscher trug enorm zur geologischen Erforschung der Alpen bei. Die Glarner Geologie beschäftigte ihn besonders und prägte seinen wissenschaftlichen Werdegang entscheidend. Er entwickelte die Doppelfalten – Hypothese von A. Escher weiter und verhalf ihr zu breiter wissenschaftlicher Anerkennung. Dass dieses Erklärungsmodell dann immer stärker unter Beschuss kam und er schlussendlich einsehen musste, dass es nicht mehr haltbar ist, muss für eine derart starke Persönlichkeit eine schwierige Erfahrung gewesen sein. Dass Heim dann die neue Deckentheorie sehr rasch und begeistert aufnahm, ist ihm hoch anzurechnen. ZÄHE KLEINARBEIT TRÄGT FRÜCHTE Die geologische Erforschung der Alpen und das heutige Bild des Alpengebäudes Stellen Sie sich einmal vor, was es brauchte, bis der „Steindoktor“ Jakob Oberholzer (1862 – 1939) seine geologische Karten der Glarner Alpen publizieren konnte: Im Prinzip mussten er möglichst jeden Quadratmeter des Gebietes begehen und die dort auftretenden Gesteine eintragen. Viele Jahre Feldarbeit, bei denen Abertausende von Höhenmetern zurückgelegt wurden. Was wir heute über die geologische Entstehung und den tektonischen Bau der Alpen wissen, basiert auf einer ungeheuer zähen und aufwändigen Feldarbeit der Geologen der letzten 200 Jahre. Mit der Feldaufnahme ist es nicht getan. Die Gesteine müssen beschrieben, analysiert und miteinander in Bezug gesetzt werden, die vorgefundenen Bauverhältnisse (Tektonik) interpretiert werden. Dies geschieht meist mit konstruierten Profilschnitten. Zahlreiche 17 Tunnel- und Stollenbauten (Verkehr, Wasserkraftwerke) sowie Bohrungen haben das geologische Bild der Alpen weiter verfeinert. Seit wenigen Jahrzehnten können die Geologen auch grössere, unzugängliche Tiefen mit Hilfe der Seismik untersuchen. So entstand nach und nach das moderne Bild vom Bau der Alpen, wie wir es heute haben: Wir erkennen die ineinander verzahnten Ränder des europäischen und des afrikanischen Kontinentalrandes, mit den Alpen als eine gigantische Knautschzone der Kollision dieser beiden Kontinentplatten, die sich seit rund 100 Millionen Jahren abspielt. Ein höchst kompliziertes Gebilde von übereinander geschobenen und teilweise dabei intensiv zerscherten und verfalteten Gesteinsdecken. Abb. 19: 19: Tektonisches Profil durch die ganzen Alpen: Tektonische Profile kann man sich vorstellen wie Schnitte mit einem Messer durch eine Torte. Die Glarner Hauptüberschiebung ist markiert. Sie ist nur eine von unzähligen weiteren Deckenüberschiebungen. In diesem Profil aus dem Jahre 2005 ist die minuziöse Arbeit hunderter Forscher aus 200 Jahren zusammengefasst. Der Begriff der „Alpenfaltung“ hält sich hartnäckig. Warum? Weil eben Gesteinsfalten gerade für Laien sehr auffällig sind. Deckenüberschiebungen – mit Ausnahme der Glarner Hauptüberschiebung! – sind jedoch oft nicht so offensichtlich und klar in der Landschaft erkennbar. Die Alpen sind aber in erster Linie ein Deckengebirge, geprägt durch eine Grosszahl von übereinander geschobenen Gesteinspaketen. Diese Decken können gigantische Ausmasse annehmen und bis gegen 100 km weit überschoben sein. Falten bildeten sich im Zuge dieser Deckenüberschiebungen als begleitende Phänomene. Also: besser von Alpenbildung sprechen als von Alpenfaltung! Auch die modernste Alpengeologie fängt immer wieder im Feld an. Jede noch so genaue Labormessung, jedes noch so ausgetüftelte Computermodell muss vor den in der Natur angetroffenen Beobachtungen bestehen können. Das ist das Schöne und Faszinierende am Beruf des Geologen. 18 Die Werkzeuge der Geologen Für geologische Feldarbeit braucht es seit eh und je nur ein paar wenige Arbeitsinstrumente: 1 Feldgeologen identifizieren sich mit ihrem Hammer. Er begleitet sie häufig ein Leben lang. 2 Eine Lupe ist und bleibt ganz wichtig für eine korrekte Bestimmung und Beschreibung der Gesteine im Feld. 3 Mit dem Geologenkompass kann der Geologe die Lage von geologischen Strukturen erfassen: Schichtungs- und Schieferungsflächen, Faltenachsen, Brüche, Streckungslineationen etc. Neben der Kompassnadel ist dazu eine Wasserwaage im Gerät notwendig, sowie ein Mechanismus zum Anlegen des Kompasses an die Gesteinsstrukturen. 4 Das Feldbuch ist das Allerwichtigste für den Feldgeologen. Alle Beobachtungen werden darin eingetragen, es werden Skizzen und Ansichten gezeichnet, die Gesteinsproben erfasst, Hyptothesen und Fragen formuliert. Der Verlust eines fast vollen Feldbuchs ist die Horrorvorstellung für den Geologen. Abb. 2020-23: 23: Die wichtigsten Werkzeuge des Geologen Heute bringen elektronische Geräte eine deutliche Vereinfachung und zusätzliche Möglichkeiten. Ein Tablet PC oder Smartphone ist vieles in einem: Kartengrundlage mit genauer Ortsbestimmung via GPS, Geologenkompass, Fotoapparat, Datenbank, Feldbuch. Neue Applikationen ermöglichen neuerdings dreidimensionale Darstellungen geologischer Befunde, was für die Interpretation gewaltige Vorteile mit sich bringt (Beispiele auf iPad). Nur den Hammer und die Lupe ersetzen solche Geräte noch nicht ... 19 Jakob Oberholzer 1862 - 1939 „Der Umgang mit meinen Steinen und den geologischen Problemen hat mich vielleicht den Schülern und ihrer Psyche etwas zu stark entfremdet.“ J. Oberholzer, Sohn von Bauern im Tösstal, hatte seinen „Karrierestart“ als Verdingbub. Aber er erarbeitete sich eine Ausbildung und wurde ab 1887 in Glarus als Lehrer angestellt. Seine Liebe galt den Naturwissenschaften und schon bald konzentrierte er sich völlig auf die Geologie der Glarner Alpen. Der Autodidakt legte in seinen rund 40 Jahren geologischer Feldarbeit die Grundlage für die genaue Kenntnis der Glarner Geologie. Bei den Sennen war er nur der „Steindoktor“. 1910 legte er die „Geologische Karte der Glarner Alpen“ vor. Im Jahr 1917 wurde dem gebürtigen Sekundarlehrer “in Anerkennung seiner Abb. 24: 24: Jakob Oberholzer hervorragenden Dienste um die geologische Erforschung der Glarneralpen” der Ehrendoktortitel der Universität Zürich zugesprochen.1930 präsentierte er ein säuberlich handgeschriebenes Manuskript von 1000 Seiten zur „Geologie der Glarner Alpen“, das 1933 publiziert wurde. Seine mitgelieferten Zeichnungen waren praktisch druckfertig. DIE ERDMASCHINE – MOTOR DER GEBIRGSBILDUNG Wie die Erde aufgebaut ist, wie sie funktioniert und warum es Gebirge gibt Warum wir in den Alpen von Bergen umgeben sind? Der Grund dafür ist im Eisen-NickelErdkern zu finden. Dort produzieren die Kristallisation geschmolzenen Eisens – ca. 1 Mio. kg pro Sekunde! – sowie radioaktive Zerfallsreaktionen permanent gigantische Wärmemengen. Diese Wärme strömt von unten in den zähflüssigen Erdmantel, die fast 3’000 km mächtige Ummantelung des Erdkerns. Dessen Gesteine sind wegen der hohen Temperaturen von weit über tausend Grad in einem plastischen Zustand. Die von unten zugeführte Kern-Wärme erzeugt Konvektionsströme, mit denen die Wärme nach aussen geführt wird, vergleichbar mit dem langsamen Brodeln der Gerstensuppe über der heissen Herdplatte. Nur dass die Brodelströme im Erdmantel viel langsamer sind als im Kochtopf. Das plastische Gesteinsmaterial fliesst mit etwa 10 – 20 cm pro Jahr. 20 Die äusserste feste Gesteinsschicht der Erde, die nur rund 100 km mächtige „Lithosphäre“, ist zerteilt in zwölf grosse und zahlreiche kleine Platten, die auf dem plastischen obersten Erdmantel herumdriften, mit Geschwindigkeiten von 1 - 10 cm pro Jahr. Die Folgen liegen auf der Hand: Es gibt Zonen, wo Platten auseinander driften, solche wo sie aneinander vorbei schrammen und solche, wo sie sich aufeinander zu bewegen. Diese „Plattentektonik“ lässt viele geologische gische Phänomene auf der Erde schlüssig erklären. Und ist doch erst seit rund 50 Jahren allgemein anerkannt. Abb. 25: 25: Schematischer Querschnitt durch die Erde: Komplexe Wärmeströmungen bringen die Hitze des Erdkerns unter die festen Gesteinsplatten der Erdhü lle. Die Erdplatten werden weniger von den Wärmekonvektionsströmungen Erdhulle. angetrieben, sondern vielmehr von den abtauchenden, kü hleren und schwereren Platten in die Subduktionszonen kuhleren gezogen. Die subduzierten Lithosphärenplatten können bis hinunter zur MantelMantel-KernKern-Grenze sinken. 21 Bis vor kurzem nahm man an, dass es im Erdmantel relativ regelmässige WärmeKonvektionszellen gibt, welche die Erdplatten bewegen. Die aufsteigenden Konvektionszellen lägen unter den Mittelozeanischen Rücken, wo neue Lithospähre gebildet wird, indem BasaltKissenlava am Meeresboden austritt und Peridotit unten ankristallisiert. Heute weiss man aufgrund von Messungen mit „Seismischer-Tomografie“, dass die Konvektionszellen komplexer angelegt sind. Die Erdplatten werden weniger von den Wärmekonvektionsströmungen angetrieben, sondern von den abtauchenden, kühleren und schwereren Platten in die Subduktionszonen gezogen („slap-pull“-Hypothese). Neu ist auch die Erkenntnis, dass die subduzierten Lithosphärenplatten bis hinunter zur Mantel-KernGrenze sinken können. Eduard Kissling * 1953 „Zum besseren Verständnis der Alpen müssen wir sie auch von unten her ansehen.“ In Anlehnung an die Computertomographie in der Medizin wurde in den 80er Jahren die seismische Tomographie entwickelt. Diese Methode erlaubt eine dreidimensionale Analyse von Tiefenstrukturen. Eduard Kissling faszinieren die Alpen seit seinen Bergtouren der Kindheit. Er schrieb seine Doktorarbeit über Krustenaufbau und Isostasie in der Schweiz an der ETHZ. Danach wirkte er an der Entwicklung der seismischen Tomographie mit und begann, diese auf die Alpen anzuwenden. Heute ist er Professor für Geophysik an der ETH Zürich. Dank seinen Forschungen ergab sich ein neues Bild des Alpenkörpers bis in einige Hundert Kilometer Tiefe. Dies hat die Interpretation seiner Entstehung stark verändert und weiterentwickelt. Abb. 26: 26: Eduard Kissling 22 HEBUNG UND ABTRAG Das Auftriebsprinzip als eigentlicher Grund der Heraushebung von Gebirgen Kollidieren zwei Kontinentalmassen aufgrund der Plattendrift miteinander – wie vor rund 35 Millionen Jahren Afrika und Europa – dann wird in der Regel der Rand der einen Platte ein Stück weit unter den Rand der andern gedrückt. Dabei werden Späne beider Plattenränder sowie Reste des dazwischen einmal vorhandenen Ozeans abgeschert und übereinander gestapelt – das sind die Gesteinsdecken, die später das Gebirge aufbauen werden. So entstand auch die Glarner Hauptüberschiebung: Ein Stapel aus alten Verrucano-Gesteinen wurde über viel jüngere Flysch-Gesteine geschoben. Alle diese Prozesse spielten sich noch kilometertief im Untergrund ab, an der Oberfläche gab es allenfalls ein frühes Gebirge aus Gesteinsschichten, die längst abgetragen sind. Die zahlreichen Deckenüberschiebungen in der Tiefe führen zu einer Verdickung der Kruste in der Kollisionszone. Dadurch entsteht eine höhere Last auf den beiden Lithosphärenplatten, welche als Folge davon in den zähflüssigen Mantel gedrückt werden. Diese verdickte „Krustenwuzel“ führt zur eigentlichen Heraushebung des Gebirges, gemäss dem archimedischen Auftriebsprinzip: Je dicker der auf dem Erdmantel schwimmende Bereich, desto tiefer sinkt die Krustenwurzel darin ein. Durch das Einsinken in den spezifisch schwereren, zähflüssigen Erdmantel ergibt sich gleichzeitig eine Auftriebskraft. Abb. 28: 28: (A) In der Kollisionszone verdickt sich die Kruste durch das Ausbilden von Überschiebungen. (B) Die verdickte Krustenwurzel taucht unter der zusätzlichen Last ein Stück weit in den Erdmantel. (C) Durch das Einsinken entsteht eine Auftriebskraft. Auftriebskraft. So begannen sich die Deckenstapel der Alpen vor rund 40 Millionen Jahren langsam zu heben. Einmal aus dem Meer emporgehoben setzt sofort auch die Erosion ein, und es entsteht ein Wettlauf zwischen Hebung und Abtragung. Wie auch immer dieser Wettlauf verläuft: ein Gebirge kann nie „in den Himmel wachsen“, weil es ab einer Höhe von einigen Tausend Metern auch unter dem eigenen Gewicht seitlich auseinanderzugleiten beginnt. Solche Abgleitstörungen kann man auch in den Alpen finden. Wir wissen, dass die Alpen nie wesentlich höher waren als heute. In den letzten 2.6 Millionen Jahre schufen dann die immer wieder bis ins Mittelland vorstossenden Eiszeitgletscher das Relief der Alpen, wie wir es heute kennen. Auch wenn Verwitterung, Erosion und Abtragung unablässig an den Bergen der Alpen nagen, sie wachsen auch heute immer noch etwas in die Höhe. 23 Wachsen die Alpen? Die Hebungsraten in den Alpen sind noch ein bisschen höher als die Abtragungsraten, wodurch das Gebirge ganz leicht anwächst. Doch in geologisch gesehen naher Zukunft dürfte sich dies ändern und in den Alpen ein Netto-Abtrag beginnen, welcher das Gebirge langsam einebnen wird. Abb. 29: 29: Linien gleicher Hebungsraten in mm/Jahr zur heutigen Zeit, eingetragen auf ein Höhenrelief. Die heutigen Hebungsraten Hebungsraten liegen im Alpenraum zwischen 0,5 – 1,6 mm/Jahr. Die Verteilung ist geprägt von markanten «Hochs» und «Tiefs». Die Gegend um Elm hebt sich mit rund 1 mm pro Jahr an.(alle an.(alle Angaben brutto, ohne Erosion) Abb. 30: 30: Abtragungsraten, ermittelt aus Abflussmessungen von Alpenflüssen für ihr Einzugsgebiet. Sie schwanken von 0,15 bis über 0,5 mm pro Jahr Abtrag. 24 Adrian Pfiffner * 1947 „Es gibt keine Überschiebung ohne Falten.“ A. Pfiffner, Geologieprofessor an der Uni Bern seit 1987, ist der Doyen der Tektonikarena Sardona. Er war Hauptautor des Eingabedossiers bei der UNESCO und ist Präsident des wissenschaftlichen Beirats der Tektonikarena Sardona. Er forscht über den Bau der Alpen und die Prozesse der Gebirgsbildung, besonders über die Zusammenhänge zwischen Falten und Überschiebungen. Ihm verdanken wir die aktuellen tektonischen Profile der Glarner Alpen und eine Strukturkarte der gesamten helvetischen Zone. A. Pfiffner trug entscheidend zur seismischen Erforschung der Alpen bei, dank der wir wesentlich mehr über die tieferen Strukturen der Alpen wissen. Heute beschäftigt ihn die nach wie vor andauernde Gebirgsbildung, sowie die Gesteinsverformung im atomaren Bereich, etwa am Beispiel des Lochsitenkalks. Abb. 31: 31: Adrian Pfiffner DIE IMMER NOCH RÄTSELHAFTE RÄTSELHAFTE LOCHSITE Aktuelle Forschungen zum Mechanismus der Glarner Hauptüberschiebung Dass es sich bei der „magischen Linie“ der Tektonikarena Sardona um eine Deckenüberschiebung handelt, darf man heute als bestens untermauerte wissenschaftliche Tatsache betrachten. Eine Zeitlang schien damit alles klar. Doch wie so oft in den Wissenschaften stellen die jungen Generationen neue Fragen, sind neugierig, sehen mehr Fragezeichen als Klarheiten. So auch bei der Glarner Hauptüberschiebung. Die heutigen Fragestellungen kreisen um die Mechanismen dieser gewaltigen Deckenüberschiebung. Wie ist so etwas mechanisch überhaupt möglich? Welche Verformungsarten spielten sich ab? Welche Rolle spielten Tiefengrundwässer? In welchen Zeiträumen und wie rasch erfolgten die Bewegungen? Und was ist der Lochsitenkalk wirklich – ein echter Kalkstein, ein durch die Überschiebung gebildetes Gestein oder beides? 25 Auch nach 200 Jahren geologischer Forschung bleiben die Glarner Alpen ein aktuelles Thema für die modernen Geowissenschaften – mit ein Grund für die Anerkennung als UNESCOWeltnaturerbe! Joseph Mullis * 1945 Verrucano--Gesteine wurden wie auf „Die Verrucano einem Luftkissen aus Methan, Flysch-Kohlendioxid und Wasser über die Flysch und Kalkgesteine geschoben.“ J. Mullis, Professor an der Uni Basel, untersucht mikroskopisch kleine FluidEinschlüsse in Mineralien. Diese liefern Informationen über Drücke, Temperaturen und Zusammensetzungen von Tiefengrundwässern bei geologischen Prozessen. Dank seinen Forschungen wissen wir heute mehr über die alpine Gesteinsmetamorphose und die Rolle von Tiefenwässern bei der Gesteinsverformung. Abb. 32 32: Josef Mullis Er wies nach, dass unter der Glarner Hauptüberschiebung viel Methan unter sehr hohem Druck lag, welches an der Basis des Verrucano zu Kohlendioxid umgewandelt wurde. Dies führte dazu, dass Kalkzement im darunter liegenden Flysch aufgelöst und an der Überschiebungsfläche als Lochsitenkalk ausgefällt wurde. Der Lochsitenkalk – „Schmiermittel“ der Glarner Hauptüberschiebung? Unter Bedingungen an der Erdoberfläche reagieren die allermeisten Gesteine auf Verformungen durch sprödes Brechen. In grösserer Tiefe von mehr als einigen Kilometern, wo die Drücke mehr als 1000 bar betragen und die Temperaturen über 230 °C liegen, beginnen Kalkgesteine sich plastisch zu verformen. Die Glarner Hauptüberschiebung bildete sich in rund 10-15 km Tiefe bei Temperaturen um 230-340 °C. Unter diesen Bedingungen können durch Umkristallisationen und Kristallgitterverschiebungen auf atomarer Ebene Gesteine förmlich zerfliessen. Sind Gesteine nicht völlig trocken? Unsere Intuition täuscht: Ohne Wasser läuft in Gesteinen fast gar nichts. Auch in vielen Kilometern Tiefe sind Tiefengrundwässer vorhanden, die sich aufgrund der hohen Temperaturen und Drücke als „Fluide“ verhalten und mit den Gesteinen in mannigfacher Weise interagieren. Fluide können die plastische Gesteinsverformung stark beeinflussen: Je mehr Fluide, desto leichter geht die Verformung vonstatten. Die Untersuchung von Fluideinschlüssen in Gesteinen und Mineralien liefert wichtige Informationen über Vorgänge in der Tiefe. 26 Abb. 33: berschiebung. Dieses Gestein gibt der 33: Geschliffene Gesteinsprobe des berühmten berü mten Lochsitenkalks an der Glarner Hauptü Hauptuberschiebung. Forschung auch heute noch Rätsel auf. Um seine Entstehung wird wissenschaftlich gestritten. Die Rolle von Tiefengrundwässern (Fluids) dü rfte entscheidend gewesen sein. durfte