18. Das Gehirn

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18. Das Gehirn
Edelzwicker erörtert einige Aspekte des Gehirns, die
für den heutigen philosophischen Diskurs von besonderem Interesse sind.
Themen:
.1 Das Gehirn als Konkretum
.2 Hirnforschung
.3 Leistungen des Gehirns
.4 Kommunikation
.5 Neuronale Kommunikation
.6 Synaptisches Gedächtnis
.7 Funktionelle Module
.8 Symbolverarbeitung
.9 Bewusstsein in der Zeit
.10 Bewusstwerdung
.11 Reduktion
.12 Spontanaktivität
.13 Kausale Drainage
.14 Ausblick
Der philosophische Edelzwicker
1. Gehirn als Konkretum
Tiere höherer Arten bilden ein auf neuronale Kommunikation
und Zeichen- bzw. Symbolverarbeitung spezialisiertes Organ aus,
das Gehirn. Das menschliche Gehirn ist ein sehr komplexes
Organ, aber doch ein Organ. Wie sein Träger, ein Mensch, ist
es geprägt von der biologischen Evolution. Es enthält Zellen,
kann reifen und altern und, soweit wir wissen, unterliegt es
ganz allgemein gesehen den Naturgesetzen. Man sagt, „das
Gehirn nimmt Teil an der geschlossenen Kausalität des Universums“. Das heißt, die Regel „physische Wirkungen haben
keine nicht-physischen Ursachen“ gilt auch hier. Wie andere
Objekte des klassisch-physikalischen Universums1 ist das Gehirn oder Neuronensystem ontologisch ein Konkretum, d.h.
seine Vorgänge sind immer räumlich und zeitlich einzuordnen.
Die Gehirne von Maus und Mensch folgen den gleichen
Funktionsprinzipien. Wir Menschen haben keine besonderen
Proteine oder artspezifische Superneurone, die eine Sonderstellung rechtfertigen würden. Die höhere Leistung des
menschlichen Gehirns wird jedoch durch die größere Zahl
seiner Funktionselemente plausibel, es hat mehr Neuronen.
Die größere Zahl spiegelt sich in Fläche und Volumen der
Hirnrinde (des Neokortex) wieder. Beim Menschen entspricht
das Volumen des Neokortex dem einer 2-4 mm dicken Schei-
Klassisch-physikalisch: Koch und Hepp argumentierten 2006, dass quantenmechanische Effekte beim gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht benötigt werden, um Hirnleistungen zu erklären [1].
1
18. Das Gehirn
be von ca. 50 cm Durchmesser oder 785 cm² Fläche, ein riesiger Biochip!.
Die Menschheit verfügt heute über mehr als 10 Milliarden kg
Hirnmasse, verteilt auf fast 7 Milliarden ( 7 * 10 9) Gehirne.
Die räumlich getrennten Gehirne arbeiten nicht ganz selbständig, sondern sind durch kulturelle Kommunikation (Konzeptaustausch) mehr oder weniger lose vernetzt. Der Konzeptaustausch wird in unserer langen Kindheit und Jugend systematisch betrieben. Historisch stieg mit der Zahl der Gehirne
auch die Effektivität der kulturellen Vernetzung:
Ein menschliches Gehirn enthält ca. 1011 Nervenzellen (Neurone) mit mehr als 1014 Synapsen. Diese sind funktionelle
Kontaktpunkte von Neuron zu Neuron, die unidirektional
mit Überträgerstoffen arbeiten. Ihre variable, vor allem vom
früheren Gebrauch abhängige Durchlässigkeit für Signale
(synaptische Plastizität [2]) ist Grundlage des Langzeitgedächtnisses.
Die langen Fortsätze (Syn. Nervenfasern, Neuriten, Axone)
der Nervenzellen ermöglichen Kommunikation über Strecken
von Metern. Im Gehirn sind ungezählte km von Neuritenkabel verlegt, in einem mm3 Kortex allein 4 km. Und die sind
nicht zur Zierde da, sie leiten die Nervenimpulse über Distanzen von Millimetern bis Metern, mit Raten bis zu 1000
Impulsen pro Sekunde, mit Geschwindigkeiten bis zu 100
Metern pro Sekunde, jeder Impuls ein Argument für die kommunikative und computatorische Leistung des Neuronensystems. Die sog. weiße Substanz des menschlichen Gehirns ent-
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hält an die 135,000 km verlegtes Kabel [3]. Lange Axone sind
vor allem in den Kommissuren zu finden, in Kabelsträngen,
die Teile der Großhirnrinde miteinander verbinden. In Kabelsträngen, somit, die benötigt werden, damit die verschiedenen
Module der Hirnrinde miteinander kommunizieren können.
2. Hirnforschung
Die kommunikativen und computatorischen Mechanismen
des menschlichen Gehirns, obwohl Grundlage unserer Existenz als fühlende und denkende Wesen, sind uns von Natur
aus unbekannt, sie sind für uns 'transparent'. So haben wir
keine primäre Einsicht in die biophysikalischen und biochemischen Vorgänge, die unser mentales Leben begründen. Es ist
das Ziel der Hirnforschung, diese Lücke durch neurobiologische Beobachtungen und Experimente zu füllen.
Die Methoden der Hirnforschung sind vielfältig und sophistiziert. Gleichwohl ist es wohl klar, dass die heute verfügbaren
Methoden der Herausforderung nicht gewachsen sind. Die
Anzahl interagierender Neurone ist einfach zu groß, um alle
gleichzeitig zu beobachten. Man muss sich also darauf beschränken, repräsentative Teilsysteme beispielhaft zu untersuchen.
Auf der Grundlage morphologischer Studien von Hirnzellen
erforscht die Elektrophysiologie die biophysikalischen Reaktionsmechanismen von einzelnen Neuronen und von Populationen von Neuronen. Ein Teil dieser Untersuchungen kann
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an überlebenden Zellen in dünnen Scheiben (Vitalschnitten)
durchgeführt werden, die den Gehirnen von Mäusen entnommen werden.
Die Molekularbiologie wurde eine wichtige Ergänzung dieser
Arbeiten. Die Kombination beider Methoden ermöglicht eine
detaillierte Untersuchung der Reaktion individueller, auf natürlichen input reagierender Neurone und ihre Beschreibung
mit Ionenströmen, Membrankanälen, Überträgerstoffen, intrazellulären Botenstoffen und Proteinen der verschiedensten
Funktion. Dazu kommt die Aktivierung von biochemischen
Reaktionswegen und die von Genen mit anschließender Neusynthese bestimmter Proteine.
Dieser biophysikalisch-biochemische Ansatz, im Kern ein
analytisches Retro-Engineering, hat molekulare und zelluläre
Mechanismen in erstaunlichem Detail freigelegt. Natürlich
kann man derart detaillierte Untersuchungen nicht an vielen
Orten gleichzeitig durchführen. Deshalb werden auch integrierende Methoden benötigt, welche die Leistung eines ganzen Organs oder Moduls erfassen.
Bild gebende Verfahren, die Reaktionen im Gehirn von lebenden Menschen ohne Risiko für den Untersuchten darstellen,
werden diese Lücke schließen, stehen sie doch schon jetzt auf
dem ersten Platz der methodischen Hitliste. Durch kernmagnetische Resonanz und andere Techniken können lokale Änderungen etwa des Energieumsatzes erfasst werden, der die
Aktivierung oder Hemmung von neuronalen Modulen begleitet. Die Resultate zeigen oder sollen zeigen, welche Module
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zu welchem Zeitpunkt an einem neuronalen Prozess teilnehmen.
Dabei zeigte sich, dass das Gehirn keine Ruhe kennt. Wenn
von außen keine besonderen Anforderungen kommen, arbeitet es offenbar an intern generierten Aufgaben [4]. Alle Teile
des Gehirns sind ständig in wechselndem Ausmaß tätig. Natürlich sind sie nicht alle mit derselben Aufgabe befasst. Vielmehr arbeiten die neuronalen Module parallel an einer Reihe
von Aufgaben gleichzeitig (parallel processing).
3. Leistungen des Gehirns
Das Gehirn dient u.a. der Regelung von Körperfunktionen
wie Kreislauf, Atmung, Wärmehaushalt, der Koordination
hormoneller Steuerung, der Auswertung von Sinnesdaten, der
Programmierung von Bewegungsabläufen wie Laufen,
Schwimmen, Fliegen, der Suche und Aufnahme von Nahrung,
der Kommunikation und Interaktion mit Artgenossen und
dem 'abstrakten Denken'.
Bei allen diesen Funktionen ist die Rolle des Gedächtnisses
hervorzuheben. Das Arbeitsgedächtnis (präfrontaler Kortex)
beschäftigt sich mit den wenigen Sekunden, die das 'Jetzt' ausmachen. Ein Teil dieser Inhalte wird im Langzeitgedächtnis
konsolidiert (synaptische Struktur des ganzen Neokortex).
Dieses erlaubt überdies in der Form des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses (rechts frontal und temporal) die
Definition und Kontinuität des eigenen Selbst. Das Gedächt-
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nis erlaubt auch einen Abgleich von zunächst vorgestellten
Handlungen mit vorangegangenen Erfahrungen. Diese Fähigkeit zur Prädiktion kam erst kürzlich in den Fokus und wird als
Parallele zur Funktion eines Bayes-Computers beschrieben
(s.u.). Sie ist eine Leistung des Frontalhirns [4-6].
Diese Zusammenhänge sind nicht nur interessant, sondern
grundlegend. Ihre Kenntnis ist unverzichtbar für Philosophen, die sich um ein realistisches Weltbild bemühen. Der
Stoff verdient ein entsprechendes Studium. Gute Monographien und Lehrbücher stehen zur Verfügung [z.B. 7, 8].
Ausgehend von der Hirnforschung sollen nun in aller Kürze
einige Prinzipien erwähnt werden, die für den heutigen philosophischen Diskurs von Interesse sind und deren Verständnis
für die folgenden Kapitel hilfreich ist: Neuronale Kommunikation, Symbolverarbeitung, Bewusstsein und Reduktion. Beginnen wir mit der Kommunikation der Neurone.
4. Kommunikation
Kommunikation heißt, dass das innere Geschehen eines Rezipienten von außen manipuliert wird. Zu unterscheiden sind hier
natürliche und bewusste Kommunikation.
Die verbreitete Vorstellung, dass bei Kommunikation Informationsinhalte durch den Raum zum Empfänger bewegt werden, ist nicht haltbar. Denn Inhalte sind Abstrakta, ein Begriff wie Raum-Zeitlichkeit ist auf sie nicht anwendbar [9].
Was durch den Raum transportiert wird, muss vielmehr etwas
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Konkretes sein. Nennen wir es ein Muster auf einem konkreten Träger.2
Bei natürlicher Kommunikation wird ein Muster zum Ort des
Rezipienten übertragen und dort präsentiert Mit dem Muster
werden darauf vorbereitete Rezipienten selektiv angesprochen. Nur in ihnen löst das Muster eine bestimmte Kausalkette aus. Die Kausalkette endet mit der vom Sender intendierten Reaktion. Das ganze Geschehen bleibt unbewusst.
Bei bewusster Kommunikation geschieht dasselbe, aber zusätzlich wirkt das Muster als Assoziationshilfe. Es kommt zum assoziativen Auslesen von Gedächtnisinhalt und zur lexikalischen Ermittlung der Bedeutung, oder zu ihrer Rekonstruktion nach grammatischen Regeln oder anderen Regeln. Die Bedeutung wird bewusst erlebt.
5. Neuronale Kommunikation
Die neuronale Kommunikation ist primär natürliche Kommunikation. Einem Neuron wird von den vorgeschalteten Neuronen ein Aktivitätsmuster präsentiert, das in ihm – evtl. nach
vorausgegangener Schulung - eine bestimmte Kausalkette anstößt, die zu einem bestimmten output führt.
Siehe das Kapitel 'Neuronaler Kode und Konstruktivismus'. Als „Träger“ im
Neuronensystem können wir uns im einfachsten Fall ein „aktives Axon“ vorstellen, eine Nervenfaser, die eine Folge von Aktionspotentialen fortleitet.
2
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Zwei Arten von Muster sind zu unterscheiden. Das erste ist
ein aktuelles temporales Muster, das auf einem Axon fortgeleitete Intervallmuster der Nervenimpulse.
Das zweite Muster ist ein räumliches Muster, es besteht aus
den Gewichtsfaktoren der zahlreichen Synapsen des Dendritenbaums, der die Inputstruktur eines Neurons ausmacht.
Diese Inputstruktur ist gebrauchsabhängig variabel, also lernfähig.
6. Synaptisches Gedächtnis
Bei der Kommunikation von Neuron zu Neuron wird in der
Schulungsphase die Durchlässigkeit der Synapsen (z.B. nach
Donald O. Hebb [2]) anhaltend verändert. Ein gut konsolidiertes Schulungsergebnis kann als das wahrscheinliche Ergebnis der nächsten Prüfung betrachtet werden. Wird dann
später ein bestimmtes Aktivitätsmuster als input angeboten,
so entspricht seine Filterung mit den gewichteten Synapsen
einem Auslesen von Gedächtnisinhalt. Das Auslesen betont
den in der Schulung intendierten output, das zweite Neuron
sendet eine bestimmte Folge von Impulsintervallen, wieder
ein temporales Muster.
Mit dem Hebb-Effekt und ähnlichen Potenzierungseffekten
der Synapsen wird das Langzeitgedächtnis aufgebaut, eine bemerkenswerte Funktion des Neokortex. Seine Details, beschrieben etwa als synaptische Langzeit-Potenzierung (LTP)
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und Langzeit-Hemmung sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen [8, 10].
Vergangene Ereignisse hinterlassen also ihre Spuren im Neuronensystem. Sie ermöglichen es, neue Aktionen nach Maßgabe eigener Erfahrungen durchzuführen. Dabei ist auch die
emotionelle Einschätzung der Erfahrungen von Bedeutung.
Sie ist assoziativ 3 mit der Erfahrung verknüpft. Wie ich mich
damals gefühlt habe entscheidet mit darüber, ob ich eine Wiederholung anstrebe oder vermeide [11]. So entstehen Präferenzen und Antipathien, die für ein Individuum typisch sind.
Natürlich hat niemand außer dem Individuum selbst Zugriff
auf seine Gedächtnisinhalte (privilegierter Zugriff).
7. Funktionelle Module
Mit der Evolution der Säugetiere nahm die Größe ihres Kortex, der Hirnrinde, in eindrucksvoller Weise zu. Der menschliche kortikale 'Biochip' von 2-4 mm Dicke und 50 cm Durchmesser enthält viele Zonen unterschiedlicher Funktion, die
durch dicke Bündel von Nervenfasern (Kommissuren) miteinander kommunizieren. Innerhalb einer Zone finden sich
parallel arbeitende kortikale Säulen, Funktionseinheiten, die
die Dicke der Hirnrinde durchmessen.
3
Assoziation: die unwillkürliche Kopplung von vorher getrennten Denkinhalten
(Daten, Ideen, Vorstellungen, Begriffen, Repräsentationen). Assoziationsraum:
eine Menge von Denkinhalten, die von einem Assoziationsvorgang zusammengebunden wurden.
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Teile verschiedener kortikaler Zonen bilden zusammen mit
subkortikalen Kerngebieten in wechselnder Kombination
funktionelle Module. Die kortikalen (und subkortikalen) Leistungen des Gehirns werden von solchen funktionellen Modulen erbracht, die parallel arbeiten. Sofern sie teilweise autonom sind, bezeichnet man sie als Agenten. So lassen sich für
den kognitiven Bereich diverse Agenten oder 'kognitive Operatoren' unterscheiden. Beschrieben werden:4
Der holistische Operator. Vermittelt das Erkennen von Ganzheiten
(parietal rechts)
Der reduktionistische Operator. Vermittelt die Aufschlüsselung von
Ganzheiten in Teile (linke Hemisphäre)
Der abstraktive Operator. Klassifizierungen. Konzeptbildung. Sucht
die plausible Verbindung getrennter Fakten. (parietal links)
Der quantitative Operator. Quantitative Aspekte, u.a. von Zeit und
Raum
Der Kausaloperator. Interpretation als Folge von Ursache und
Wirkung.
Der binäre Operator. Paarbildung, Bildung von Gegensätzen.(untere Parietalzone)
Der existenziale Operator. Zuschreibung von Realität.
Der Emotionen wertende Operator. Brücke vom Kognitiven zum
Emotionellen [11].
Eine wichtige Leistung des Gehirns ist das Erkennen und
Klassifizieren von Objekten und Situationen aus dem Strom
Die Einteilung ist noch vorläufig. Wir folgen hier der von Newberg u. Kollegen in [12].
4
Der philosophische Edelzwicker
von Sinnesdaten, der ständig über dicke Bündel von Nervenfasern in das Neuronensystem einfließt. Dabei werden ähnliche Objekte als zum gleichen Typ gehörig eingestuft. Es wird
also eine erste Typ-Abstraktion durchgeführt.
Objekte werden im Gehirn repräsentiert, das heißt sie stehen
als Bündel von assoziierten Merkmalen im Gedächtnis zur
Verfügung. Die Repräsentationen sind Objekte des Denkens,
Dabei kann eine Repräsentation von uns selbst als handelndem Agenten beteiligt sein. Sie ist von besonderer emotioneller Bedeutung.
8. Symbolverarbeitung
Ein Symbol ist ein Zeichen (etwas Konkretes), dessen Muster
eine feste Bedeutung 5 'hat', oder besser 'hervorruft'. Durch
das Muster wird etwas bewirkt oder ausgelöst. Nach den vertrauten Buchstaben oder Zahlen, allerdings, nach solchen diskreten Zeichen werden wir im Gehirn zunächst vergeblich suchen. Doch wenn wir nach Mustern suchen, werden wir fündig. Die Impulsintervalle der aktiven Nervenfaser bilden ja ein
temporales Muster und die Impulse gehen von einem bestimmten Ort aus, von dem sie also berichten. An anderer
Stelle haben wir argumentiert, dass das aktive Neuron selbst
als das Zeichen (das Symbol) angesehen werden kann und
sein Impulsmuster als das mit dem Zeichen transportierte
Muster. Die Besonderheit ist, dass dieses Zeichen nicht
5
Die Bedeutung ist die intendierte Wirkung.
18. Das Gehirn
„durch den Raum“ des Gehirns transportiert wird. Vielmehr
zieht es als Nervenfaser selbst durch diesen Raum.6
Entscheidend ist, dass das temporale Muster transportiert und
präsentiert wird und dass es etwas auslöst. Sein Bedeutungskontext wird nicht transportiert, sondern ergibt sich aus Eigenschaften dieses Neurons. Und die Bedeutung des temporalen Musters wird oft schon aus der Reaktion des empfangenden Neurons evident.
Ein anderes Zeichen oder Symbol ist die Population von gewichteten Synapsen auf dem Dendritenbaum eines Neurons.
Die Gewichtungen bilden ein räumliches Muster, das sich
langsam mit dem Gebrauch ändert. Da die meisten Neuronen
einen Dendritenbaum und einen Neuriten haben, wären das
schon einmal ca. 1011 Symbole.
Wieder andere Zeichen oder Symbole sind die neuronalen Repräsentationen. Dies sind Gruppen von Neuronen, die z.B.
eine Anzahl von Merkmalen bündeln und so ein Denotat definieren (siehe das Kapitel 'Das Mentale').
Wir haben also keine Mühe, dass Gehirn als symbolverarbeitendes Organ zu verstehen, als ein PSS oder „Physical Symbol
System“ nach Allen Newell [13].
Es ist ungewohnt, eine Nervenfaser oder einen Dendritenbaum als Zeichen
zu verstehen. Doch wenn ein Zeichen oder Symbol etwas Konkretes mit aufgeprägtem Muster ist, das durch das Muster etwas bewirkt, haben wir keine
Wahl.
6
Der philosophische Edelzwicker
9. Bewusstsein in der Zeit
Teile des Frontalhirns sind mit der Zukunft beschäftigt, hintere Anteile des Neokortex mit der Vergangenheit. Der schmale
Zeitbereich 'Gegenwart' oder 'Jetzt' umfasst ca. 7 Sekunden
und enthält nur 7 ± 2 merkbare Einzelheiten (Millersche
Zahl) [6]. Der Zeitbereich des 'Jetzt' wird durch das Arbeitsgedächtnis unterstützt (präfrontaler Kortex). Seine Inhalte haben noch keine konsolidierte synaptische Struktur erhalten,
sondern werden (vermutlich) durch den elektrochemischen
Schwingungszustand von Gruppen von Neuronen festgehalten. C. Koch vergleicht den gegenwärtigen Inhalt des Bewusstseins mit dem Zustand des Cache-Speichers auf einem
Rechner [7].
Das Bewusstsein des Jetzt, unterstützt durch Neuronen-Netzwerke des Hirnstamms, umfasst einen Fluss von bemerkten
oder merkbaren Einzelheiten, die von den verschiedenen sensorischen Puffern über das Arbeits- in das Langzeitgedächtnis
wandern, wo ein Teil von ihnen konsolidiert werden kann.
Während das präfrontale Arbeitsgedächtnis jüngste Ereignisse
festhält und bearbeitet, beschäftigt sich eine davor gelegene
Instanz mit der Zukunft. Es wird als eine Hauptaufgabe des
frontalen Kortex angesehen, als Prädiktor zu arbeiten [6, 14]
und so unsere gespeicherten Erfahrungen in Simulationen anzuwenden. Wir erleben diese Vorhersagen wie das Geschehen
auf einer Probebühne. Akteure sind die Repräsentationen.
Etwa die Repräsentationen anderer Menschen, wobei unsere
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eigene Selbst-Repräsentation oft eine zentrale Stellung einnimmt.
Solche neuronale Simulationen in einem Weltmodell zeigen
uns, wie wir und andere (theory of mind, [15]) in der betrachteten zukünftigen Situation wahrscheinlich reagieren
würden. Dies erlaubt die Abschätzung der Folgen von geplanten Handlungen.7
Ein Bayes-Computer ist eine Einrichtung, die ständig BayesAlgorithmen abarbeitet und so auf Grund von Wahrscheinlichkeiten immer wieder aktuelle Vorhersagen künftiger Ereignisse ermöglicht. Das Gehirn wird mit einem solchen BayesComputer verglichen [4-6]. In den Worten von Hans Förstl:
„Das Gehirn fungiert wesentlich wie ein „Bayes-Computer“
zur Vorhersage künftiger Ereignisse (Raichle & Mintun, 2006),
der zu diesem Zweck aktuelle Abläufe genau überwacht, die
wichtigsten zur Speicherung auswählt und lange über das richtige Verständnis des Vergangenen nachdenkt um genauere Vorstellungen möglicher Folgen zu entwickeln. Dieser Apparat
steht nie still und die meisten seiner Denkaufgaben scheinen
intern generiert. Zusätzliche äußere Anforderungen verbrauchen nur geringfügig mehr Energie als im Ruhezustand benötigt wird, denn auch in dieser vermeintlichen Ruhe werden bis
zu 80% der Energie für Prozesse aufgewandt, die mit Neurotransmission und Umgestaltung neuronaler Netze zu tun haben.“ [6].
7
S. Freud charakterisierte Denken als ein Probehandeln mit vermindertem
Risiko. Ähnlich W. Porzig, K. Lorenz u. A.: Denken ist ursprünglich ein
Handeln im vorgestellten Raum. S. 175 in [16].
Der philosophische Edelzwicker
10. Bewusstwerdung
Die Forschung war noch nicht in der Lage, die Entstehung
von Bewusstsein neurobiologisch abzuklären. Deshalb sind
unsere Vorstellungen hierüber vorläufiger Art.8 Zu unterscheiden ist das Aktualbewusstsein und das Hintergrundbewusstsein, es geht aber in jedem Fall um das Erleben von Inhalten [17].
Das Aktualbewusstsein umfasst das sensorische szenische Erlebnis im Jetzt, das quasi-sensorische Wiedererleben erinnerter Szenen, das Erlebnis eigener Gefühle und Wünsche und
das Denken, Vorstellen und zugehöriges Erinnern. Weiter
umfasst es die durch aktive und reaktive Aufmerksamkeit ausgelösten Zustände.
Zum Hintergrundbewusstsein gehört das anhaltende Erleben unserer Identität und verantwortlichen Autorschaft (für Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Handlungen) sowie das Erleben des Besitzes eines Körpers in Raum und Zeit und die
Unterscheidung von Realem-Wahrgenommenen und Vorgestelltem (Gedanken, Wünsche, Absichten, Erinnerungen) [17].
Im Folgenden geht es vertieft um das Bewusstwerden von Inhalten.
Das Bewusstwerden von Inhalt stellen wir uns als eine Emergenz vor, als das Erreichen des Konstruktionszieles eines
8
Eine Reihe von ausführlichen Modellen liegen vor. C. Koch erwähnt das
von B.J. Baars, das von G.M. Edelman & G. Tononi, das von S. Dehaene & J.P. Changeaux und sein eigenes in [7].
18. Das Gehirn
neuronalen Mechanismus. Nun ist aber ein solches Konstruktionsziel grundsätzlich multipel realisierbar. Eine Sinusschwingung kann durch viele verschiedene Mechanismen realisiert werden. Die Schwingung, das Produkt, ist das Gemeinsame dieser Mechanismen. Also ist sie eine Abstraktion. Bei
der Bildung einer Emergenz wird von den Mechanismen, die
verantwortlich sind oder sein könnten, abstrahiert.
Auch wenn uns ein Inhalt bewusst wird, wird von den zugehörigen Mechanismen, die dies bewirken oder bewirken
könnten, abstrahiert. Ein Ablösen oder Ausblenden der neuronalen Träger findet statt, eben ein Abstraktionsvorgang.
Nur der Inhalt wird erlebt.
Erlebnis soll heißen, dass Aussagen in einem szenischen Kontext vorgestellt, z.B. mit einer vorgestellten Ich/UmgebungSzenerie multi-modal bewusst werden. Die Inhalte dieser
Aussagen werden deklarativ, prozedural und emotional erlebt.
Die Arbeit vieler Prozesse des Gehirns muss in diesen Erlebnissen zusammen fließen, um die große Bandbreite zu ermöglichen. Der offenbar komplizierte Vorgang hat einen großen
Zeitbedarf von 0,3 Sekunden oder mehr [17]. Die Instanz, die
bewusst erleben kann, nennen wir unser Selbst.
11. Reduktion
Reduktion bedeutet Rückführung von Phänomenen einer System- oder Organisationsebene auf Phänomene oder Gesetze
der darunter liegenden Ebene. Das explanandum der Ebene n
Der philosophische Edelzwicker
wird in Begriffen aus der darunter liegenden Ebene n-1 beschrieben, während Begriffe aus der Ebene n in der Beschreibung nicht vorkommen. Reduktion setzt nicht Identität voraus. Eine schwache Emergenz9 ist reduzierbar auf die Komponenten eines Mechanismus und die Interaktionen und Relationen, welche die Emergenz hervor bringen. Jedoch ist die
Emergenz nicht die Komponenten und deren Relationen,
sondern ihr Produkt, etwas Neues.
Reduzieren kann heißen, den Hersteller eines Produktes zu
benennen und die Herstellung zu verstehen. Da nun die Produkte (Emergenzen) multipel realisierbar sind, benötigt man
zusätzliche Information um die Kontingenz zu beseitigen und
den tatsächlich verantwortlichen Mechanismus unter den
möglichen zu finden.
Es ist eine viel diskutierte Frage, ob und inwieweit mentale
Phänomene auf Prozesse des Gehirns reduziert werden können. Reduzieren eines explanandum auf Ebene n heißt soviel
wie den verantwortlichen Mechanismus einer sog. schwachen
Emergenz auf Ebene n-1 zu finden und das Zusammenspiel
seiner Komponenten zu verstehen. Die Erklärung sollte Termini des Idioms von n-1 verwenden und Termini des Idioms
von n vermeiden.
Der Begriff Emergenz ist nicht neu, er geht zurück auf Lewes [18] und Broad
[19]. Hier ist eine schwache oder 'unschuldige' Emergenz gemeint, sie ist also
reduzierbar [20].
9
18. Das Gehirn
Es ist aber unvermeidlich, dass das explanandum selbst im Idiom von n ausgedrückt wird. So sprechen wir etwa von dem
„Erinnern“ (Idiom von n) und beschreiben seinen neuronalen
Mechanismus mit „Aktionspotentialen, synaptischer Stärke
und kreisender Erregung“ (Idiom von n-1).
Jedoch wird die detaillierte Erklärung im Idiom n-1 von einem Sprecher des Idioms n wohl kaum verstanden, wenn die
Begriffe der Ebenen nicht in einander konvertieren. Deshalb
sollte man die Idiome benachbarter Ebenen nicht mischen.
Es macht streng genommen wenig Sinn, zu sagen, das neuronale Modul xy (Idiom n-1) im frontalen Kortex (Idiom n-1)
erinnert sich (Idiom n) durch Synchronisation von räumlich
weit auseinander liegenden Neuronen (Idiom n-1) an den Geburtstag (Idiom n).
Diese Inkongruenz der Begriffe war die Quelle vieler Missverständnisse. Insbesondere in der Reduktion des Mentalen
auf das Neuronale erwartet man Erklärungen im vertrauten
Subjektiv-Geistigen, bekommt aber „nur“ Erklärungen im
Objektiv-Neuronalen, die ebenso unverständlich wie enttäuschen anmuten.
Einer der Gründe für diese Enttäuschung ist die Transparenz
des Neuronalen. Das Neuronale ist uns subjektiv fremd und
braucht Gewöhnung. Hinzu kam oft eine Tendenz, das Produkt mit dem Produzenten gleich zu setzten: „der Geist ist
nichts als die Neurone“ usw.
Der philosophische Edelzwicker
So wurde die Reduktion des Mentalen suspekt, man empfand
sie als ein Art Kulturverlust. Und doch ist sie unverzichtbar.
Sie aufzugeben heißt, das Erklären aufzugeben.
Wir wollen die Strategie 'Reduktion' am Beispiel der neuronalen
Spontanaktivität untersuchen.
12. Spontanaktivität
Gegeben seien zwei System- oder Konstruktionsebenen: eine
neuronale (n) und eine darunter liegende physikalische (n-1).
Die Frage ist, ob neuronale Phänomene ohne Rest durch physikalische Phänomene erklärbar sind.
Für die Physik (n-1) gilt der Erfahrungssatz, dass alle Ursachen physikalische Ursachen sind. Sie sind in einem Netz von
Ursachen und Wirkungen enthalten. Bei den Ursachen unterscheidet man auslösende und strukturierende [21]. Wenn bei
zwei Dominosteinen das Umfallen des ersten das Umfallen
des zweiten Steines bewirkt, dann ist das ein Fall von auslösender Kausalität. Das vorausgegangene Aufstellen der Steine,
jedoch, ist der strukturierenden Kausalität zuzurechnen.
Gibt es Erstauslösung einer Wirkung ohne physikalische Ursache? Das mag in der Tat möglich sein. Beim Atomzerfall ist
der Zeitpunkt des Zerfalls nur durch eine Wahrscheinlichkeitsaussage beschreibbar. Die auslösende Ursache des Zerfalls ist nicht greifbar, wohl aber die strukturierende Ursache.
Das Atom ist ja zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden,
bevor es zerfallen konnte. Diese Art von Erstauslösung ist
18. Das Gehirn
also dokumentiert. Sie gilt jedoch nur für sehr kleine Einheiten der Materie. In der makro- und mesoskopischen Physik
gibt es somit keine Erstauslösung.
Gibt es Fremdauslösung? Kann eine Ursache außerhalb des Physikalischen eine physikalische Wirkung haben? Nun, da alle
bisher beobachteten Ursachen physikalische waren, nehmen
wir an, dass das so bleiben wird. Das ist aber ein induktiver
Schluss. Sagen wir lieber, Fremdauslösung aus Bereichen außerhalb des Physikalischen ist auf Grund der Datenlage unwahrscheinlich. Die Ebene n-1 ist bis auf ein Restrisiko kausal geschlossen.
Gleichwohl würden Milliarden von Menschen Zeugnis davon
ablegen, dass Fremdauslösung täglich und immer wieder stattfindet. Nämlich immer dann, wenn wir mental verursachen.
Wobei wir in einer Art von naivem Dualismus voraussetzen,
dass das Mentale etwas anderes ist als das Physikalische. Das
empfinden wir jedenfalls so. Aber empfinden wir das Richtige?
Bleiben wir lieber bei unserem Beispiel mit einer neuronalen
und einer darunter liegenden physikalischen Ebene. Beide
sind objektiv untersuchbar, subjektives Empfinden spielt keine Rolle.
Nun beobachtet man in den Neurowissenschaften immer wieder Spontanaktivität. Sie liegt vor, wenn eine Neuron Aktionspotentiale feuert ohne selbst synaptische Signale zu erhalten.
Ein solcher output ohne input sieht auf den ersten Blick aus
Der philosophische Edelzwicker
wie ein Fall von Erstverursachung. Das Prinzip „Keine Änderung ohne Ursache“ wäre dann außer Kraft. Man würde daraus folgern, dass die Gesetze der physikalischen Systemebene
auf der darüber liegenden Ebene lebender Zellen nicht oder
nicht alle gelten. Begriffe und Gesetze der beiden Ebenen
scheinen nicht kompatibel.
In den 70er Jahren des 20. Jh. wurde jedoch entdeckt, dass Ionenkanäle der Zellmembran ein stochastisches auf/zu-Verhalten zeigen [22]. Dadurch kommt es zu elektrischen Fluktuationen des Membranpotentials. In der Nähe der Triggerschwelle müssen solche Fluktuationen Aktionspotentiale auslösen, deren irreguläre Folge an einen Zufallsgenerator denken lässt.
Somit zeigen die Neurone zwar output ohne input, doch nicht
output ohne physikalische Ursache. Dies ist einer von vielen
Fällen einer schließlich gelungenen Reduktion eines biologischen Phänomens, hier Spontanaktivität, auf einen physikalischen Prozess.
Quasi-Erstauslösung auf der neuronalen Organisationsebene
ist also nicht ungewöhnlich. Ihr Zustandekommen wird verständlich, wenn man die Gesetze der subvenierenden 10 physikalischen Ebene n-1 hinzu zieht. Deren Phänomene, wiederum, werden durch die Gesetze von n-2 verständlich. Das Weiterführen dieser Serie führt jedoch zu einer sehr umständli-
Von 2 Organisationsebenen ist die subvenierende die untere, unabhängige
und die supervenierende die von ihr abhängige, höhere Ebene.
10
18. Das Gehirn
chen Beschreibung. Praktischer ist es, die Perspektive auf die
input / output Beziehung der Neurone einzugrenzen, man
macht Ebene n zur pragmatischen Nullebene (s.u.). So verliert
man zwar eine Welt von Details von der subvenierenden Ebenen aus dem Blickfeld, u.a. ihren (disputierten) Determinismus, kann aber die (vormals supervenierende) neuronale
Ebene n mit einem überschaubaren Detail untersuchen. Ihre
Vorgänge scheinen nun eigenen Gesetzen zu unterliegen, die
nicht offensichtlich aus denen einer subvenierenden Ebene
hervorgehen müssen.
13. Kausale Drainage
Gegeben sei eine Hierarchie von System- oder Konstruktionsebenen. Bei jedem Paar von Ebenen soll uns nun das Unwahrscheinliche gelingen: eine vollständige Reduktion aller
Phänomene. Wir können dann die Begriffe der Ebene n in die
der Ebene n-1 übersetzen. Solche Substitutionen können wir
für alle Ebenen durchführen.
Mit diesem Verfahren, es ist natürlich ein Tagtraum, würde
man leider nach wenigen Schritten sehr unübersichtliche Formulierungen erhalten. Schon aus Gründen der Übersichtlichkeit ist es also ratsam, an den Systemebenen festzuhalten.
Damit zeichnet sich ab, dass die Beschreibung der Welt in
Systemebenen auch eine Sache der Praktikabilität ist. Sie spiegelt unsere epistemischen Leistungen und vielleicht weniger
die Eigenschaften der Welt.
Der philosophische Edelzwicker
Die reduktiven Abwärts-Substitutionen bedeuten, dass Kausalinteraktionen auf Ebene n zurückgehen auf komplexere
Interaktionen auf Ebene n-1, die zurückgehen auf komplexere Interaktionen auf Ebene n-2, usw. Diese Art von Kausaldrainage11 endet erst mit der untersten Ebene, etwa der
Ebene des Standardmodells der Elementarteilchen. Da nun
Kausalität eher der makroskopischen Physik zuzurechnen ist
und im subatomaren Bereich nicht eindeutig gegeben ist, haben wir ein Problem.
Das Festhalten an Systemebenen hat aber einen tieferen
Grund als den einer oberflächlichen Praktikabilität. Es spiegelt unsere Strategie, Fragestellungen isoliert zu bearbeiten
und erst die so erhaltenen Lösungen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. So konnte Galilei das Fallgesetz ausarbeiten
ohne schon zu wissen, was Schwerkraft eigentlich bedeutet
oder welche Kräfte den fallenden Gegenstand zusammenhalten.
Diese Strategie der isolierten Fragestellungen war in der Naturwissenschaft erfolgreich. Sie hat aber dazu geführt, dass
sich zu einzelnen (global verstandenen) Systemebenen eigene
Idiome ausbildeten, die eine Reduktion schon deshalb schwierig machen, weil die Begriffe der Idiome nicht hinlänglich ineinander konvertieren.
11
Siehe aber J. Kim in [23].
18. Das Gehirn
14. Ausblick
Diese Schwierigkeit kennzeichnet auch die Formulierung einer Geist-Körper Relation, die uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird. Dort werden wir im Sinne eines konsequenten Reduktionismus folgern, dass es in der Tat nur eine reale
Ebene geben kann, die ultimative Nullebene, etwa das Basismodell der Mikrophysik (Standardmodell). Die darüber befindlichen Ebenen sind unsere Konstruktionsebenen, angefüllt mit konstitutiven Ganzheiten. Sie sind Konstrukte, Vorstellungen, die Bewohner unseres Weltmodells.
Der konsequente Reduktionismus hat wegen seines unanschaulichen Resultates einen für uns nur begrenzten Nutzen.
Die vorgeschlagene pragmatische Lösung lautet deshalb,
(etwa aus dem klassischen Szenario von Systemebenen) eine
Nullebene zu wählen, auf der alle Interaktionen von Objekten stattfinden sollen. Wir tun so, als seien die Objekte dieser
Ebene nicht weiter unterteilbar.12 Zur Vermeidung unnötigen
Details liegt die pragmatische Nullebene so hoch wie möglich. Im
Hinblick auf angestrebte reduktionistische Erklärungen liegt
sie so tief wie nötig. Auf dieser Grundlage kann ein neues Systemmodell entstehen.
12
Siehe auch Kapitel 15, „Zuweisung von Realität“.
Der philosophische Edelzwicker
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