Tumordisposition Dickdarmkrebs und Vererbung Bei der Diagnostik und Prävention des Kolorektalen Karzinoms spielt die Stammbaum-Beurteilung eine wesentliche Rolle Pro Jahr erkranken über 70000 Menschen in Deutschland an einem Kolorektalen Karzinom (CRC). Damit stellt es die zweithäufigste Krebserkrankung und zugleich die zweithäufigste Krebstodesursache dar. Es wird geschätzt, dass der Tumorentstehung in etwa fünf Prozent der CRCFälle eines der heute bekannten erblichen Krebsdispositionssyndrome zugrunde liegt. Die meisten Formen erblicher Krebsdisposition beruhen auf Keimbahn-Mutationen eines Tumorsuppressorgens beziehungsweise DNA-Reparaturgens und werden autosomal-dominant vererbt. Somit haben Kinder und andere erstgradige Verwandte eines Mutationsträgers ein Risiko von 50 Prozent, ebenfalls Träger der entsprechenden pathogenen Mutation zu sein. Diese liegt als KeimbahnMutation in allen Zellen des Körpers vor, welche quasi den ersten Schritt der Karzinomentstehung bereits vollzogen haben. Da das Lebenszeitrisiko für ein Malignom bei den meisten Formen erblicher CRC-Disposition unter 100 Prozent liegt, erkranken nicht alle Mutationsträger an Krebs – dies ist bei der Stammbaum-Beurteilung zu berücksichtigen. 1_2009 Diagnostik: Histologie, genetische Beratung Entsprechend dem autosomal-dominanten Erbgang und erhöhten Tumorrisiko aufgrund der Keimbahn-Mutation eines Tumorsuppressorgens gelten allgemein als Hinweise auf eine erbliche Krebsdisposition: Erkrankung weiterer Familienmitglieder an einem CRC oder Malignom des entsprechenden Tumorspektrums; Junges Erkrankungsalter (CRC vor 50. Lebensjahr). Erkrankung einer Person an mehreren, unabhängig entstandenen Tumoren. Vorliegen besonderer Merkmale (z.B.Polyposis coli). Entsprechende Hinweise sollten Anlass zur weiteren Abklärung sein. Im Rahmen einer genetischen Beratung wird der Stammbaum der Familie über mindestens drei Generationen aufgezeichnet. Anhand des Musters der aufgetretenen Tumorerkrankungen – und ergänzend der histologischen Befunde – kann sich dann der Verdacht auf ein bestimmtes Krebsdispositionssyndrom erhärten. Testung von Blutsverwandten Die molekulargenetische Diagnostik dient der Identifika- Erbliche Krebsdisposition beruht meist auf Keimbahn-Mutationen eines DNA-Reparaturgens. tion der pathogenen Mutation, womit die Verdachtsdiagnose bestätigt und die Grundlage für die Testung von Blutsverwandten geschaffen wird. Sie ist nur auf dem Boden einer möglichst genauen klinischen Differenzialdiagnostik sinnvoll durchführbar; eine ungerichtete Analyse der verschiedenen Krebsdispositions-Gene wäre dagegen ineffektiv. Die initiale molekulargenetische Diagnostik sollte nach Möglichkeit bei einer von einem CRC oder Tumor des entsprechenden Tumorspektrums betroffenen Person erfolgen. Denn im Falle eines unauffälligen Befundes kann (selbst bei Vorliegen der vermuteten CRCDisposition in der Familie) der fehlende Mutationsnachweis darauf beruhen, dass die Person das Krankheitsgen nicht geerbt hat. Oder aber dadurch bedingt sein, dass sie zwar die familiäre Mutation trägt, diese aber mit den aktuell verfügbaren Methoden nicht nachweisbar ist. Erbliche CRC-Disposition – was nun? Wurde eine erbliche CRC-Disposition nachgewiesen, so ergeben sich weitreichende Konsequenzen: Ein intensiviertes Vorsorgeprogramm bezüglich CRC ist angezeigt. Ein intensiviertes Vorsorgeprogramm hinsichtlich Tumoren anderer Organe ist je nach Form der erblichen CRC-Disposition ebenfalls anzuraten. Weitere Familienmitglieder können ebenfalls die pathogene Mutation tragen. Eine prädiktive Testung der Blutsverwandten ist möglich, falls die familiäre Mutation beim Indexpatienten nachgewiesen wurde. Zuvor muss eine Beratung durch einen Facharzt für Chirurgie beziehungsweise Innere Medizin und einen Humangenetiker erfolgen sowie eine psychoonkologische Beratung angeboten werden (siehe hierzu auch die „Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen“ der Bundesärztekammer). Foto: Fotolia Lynch-Syndrom als häufigste CRC-Disposition Das Lynch-Syndrom wird auch als Hereditäres kolorektales Karzinom ohne Polyposis (HNPCC) bezeichnet. Außer dem erhöhten Risiko für CRC (Lebenszeitrisiko 60 bis 80 Prozent, auch bei jungem Erkrankungsalter vorzugsweise rechtsseitig lokalisiert, hohes Risiko für meta- akademie 17 chrones CRC) besteht ein relevantes Risiko insbesondere für Endometriumkarzinome (Lebenszeitrisiko 20 bis 60 Prozent) sowie für Tumoren des Magens, Nierenbeckens und der ableitenden Harnwege, des Dünndarms, der Gallengänge, des Gehirns und der Haut (gut- oder bösartige Talgdrüsentumoren). Bisher konnten pathogene Mutationen in vier Genen (MLH1, MSH2, MSH6 und PMS2) nachgewiesen werden. Die Genprodukte spielen eine Rolle bei der Fehlerkorrektur im Rahmen der DNAReplikation. Die so genannten Amsterdam-Kriterien (I+II) erlauben, die Diagnose klinisch zu stellen, sind aber gerade für die bei deutschen Familien oft kleinen Stammbäume zu stringent. Die (revidierten) Bethesda-Kriterien definieren die Patientengruppe, bei denen eine molekulargenetische Diagnostik angezeigt ist. Erster Schritt ist hierbei der Nachweis von Zeichen der defekten DNA-Reparatur (Mikrosatelliteninstabilität bzw. immunhistochemisch Expressionsausfall eines Genprodukts), welche an Tumorgewebe durchgeführt wird. Nur bei auffälligem Befund erfolgt die Genanalyse, welche dann bei etwa 50 bis 70 Prozent eine pathogene Mutation nachweisen kann. Intensives Präventionsprogramm Aufgrund des hohen Tumorrisikos und breiten Tumorspektrums wird ein intensiviertes Vorsorgeprogramm empfohlen: Ab dem 25. Lebensjahr jährlich körperliche Untersuchung, komplette Koloskopie, Ultraschalluntersuchung des Bauchraums; bei Frauen gynäkologische Untersuchung und transvaginale Sonografie. Ab dem 35. Lebensjahr zusätzlich Ösophagastroduodenoskopie. Dieses gilt für alle Familienmitglieder, bei denen nicht durch eine prädiktive Testung ausgeschlossen wurde, dass sie die familiäre Mutation tragen. Prophylaktische Operationen Kontakt (zum Beispiel Hysterektomie) gehö- Dr. Friedrich W. Cremer Facharzt für Humangenetik ren derzeit nicht zu den empfohlenen Zentrum für Humangenetik Maßnahmen, werden aber möglicher- Mannheim, Mollstr. 49a weise zukünftig empfohlen werden. 68165 Mannheim Telefon: 06 21 – 42 28 60 Dr. Friedrich W. Cremer/ Dr. Claudia Nevinny E-Mail: [email protected] 1_2009