3. Die alten Meister – Didaktische Modelle 3.1 Bildungstheoretische Didaktik Didaktische Theorien beschäftigen sich mit der Frage, welche Unterrichtsinhalte gelehrt werden sollten, bzw. wie ihre methodische Umsetzung vorbereitet werden kann. Die unterschiedlichen Zugangsweisen konzentrieren sich auf jeweils bestimmte Aspekte schulischer Bildung. Die biographischen Angaben zu den Autoren didaktischer Konzepte in Kapitel 3 sind dem Buch „Didaktische Modelle“ von Jank & Meyer (2011) entnommen. Wolfgang Klafki (geb. 1927) prägte einen umfassenden Bildungsbegriff (kategoriale Bildung), den er Ende der 70er Jahre zur kritisch-konstruktiven Didaktik (Klafki 1981) weiterentwickelte. „Die kritisch-konstruktive Didaktik versteht sich als ein politisches Pro­gramm zur Demokratisierung von Bildung und Schule“, so Jank & Meyer (2011, 231). Im Kern geht es um die Frage, welche Unterrichtsinhalte als Gut der Allgemeinbildung geeignet sind, damit sich ein Schüler zu einem mündigen, demokratisch und solidarisch handelnden Menschen entfalten kann (Klafki 1981, 11 f.; vgl. Jank & Meyer 2011, 203 – 240). In der Dialektischen Didaktik Klingbergs in der DDR wurde Allgemeinbildung sehr ähnlich definiert (Jank & Meyer 2011, 211). Grundsätzlich unterscheidet die bildungstheoretische Didaktik zwischen materialer und formaler Bildung. Hartmut von Hentig fügt diesen noch eine dritte Kategorie hinzu: die prozessuale Bildung (Jank & Meyer 2011, 213 – 216) (Tabelle 3.1.1): B ILDUN G Bildungstheorie Materiale Bildung Formale Bildung Prozessuale Bildung Bezugspunkt Objekt Subjekt Prozess Bildungsinhalte Sachverhalte, Fächerkanon Methoden und Kompetenzen, Verhalten und Handlungsformen Wechselwirkung zwischen Individuum und Welt Bildungsziel Enzyklopädisches Wissen und sittliche Reifung anhand klassischer Kulturgüter Entfaltung der eigenen körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte „Sich-bewusst-werden“, Stärkung des Menschen, Formung der Person Beispiel Werke Goethes und Schillers, Beethovens 9te, usw. Lern- und Arbeitsstrategien, Neugier, Höflichkeit, usw. Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit, Wahrnehmung von Glück, usw. Tabelle 3.1.1: Materiale, formale und prozessuale Bildung Die alten Meister – Didaktische Modelle 25 Eine modernere Variante der formalen Bildung stellt das Kompetenzlernen dar. Sie ist mit dem formalen Bildungsbegriff zwar nicht deckungsgleich, weist aber eine große Schnittmenge auf. Es sei daran erinnert: Kompetenzen beinhalten die Fähigkeit, erlernte Bildungsinhalte in unterschiedlichen Anforderungssituationen anwenden zu können (vgl. Heil 2007; Tschekan 2009). Allgemein bleibt festzuhalten, dass sich Bildung nicht allein auf die Anhäufung von Wissen bezieht. So fordern Jank & Meyer (2011, 216): „Materiale, formale und prozessuale Bildungstheorien müssen miteinander verflochten werden“. In die pädagogische Praxis hat vor allem Klafkis Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung Einzug gehalten. Darin werden materiale und formale Bildungsziele miteinander verschränkt. Anhand von fünf Leitfragen wird analysiert, ob sich der Unterrichtsinhalt für die Schüler wirklich lohnt, bzw. welcher Bildungsgehalt im vorgesehenen Bildungsinhalt schlummert (Tabelle 3.1.2). Aus den Leitfragen Klafkis ergeben sich die Planungselemente Begründungszusammenhang, Sachanalyse und methodische Analyse. Klafki (1962, 8) lehnt den Begriff „Sachanalyse“ eigentlich ab, da er eine zu einseitig fachwissenschaftliche Orientierung befürchtet. Erfahrene Pädagogen springen in ihrer Planungspraxis gedanklich zwischen inhaltlichen und methodischen Aspekten hin und her, wobei sich die Unterrichtsstunde [in hermeneutischen Kreisbewegungen] mehr und mehr konkretisiert (vgl. Jank & Meyer 2011, 226). Nach heutigem Verständnis reicht die bildungstheoretische Didaktik allein nicht aus, um die Komplexität einer Unterrichtsstunde zu ordnen und zu planen. Hinter dem Begriff „exemplarisch“ steht eine ganze Theorie des Exemplarischen. Sie dient ursprünglich dazu, der Stofffülle Herr zu werden. Es besteht jedoch die Gefahr des Missbrauchs, um jedes willkürlich ausgewählte Thema doch noch rechtfertigen zu können (Meyer 1991, 116). In den 60er Jahren war es ein beliebtes Spiel bei Lehrertreffen, besonders abwegige Unterrichtsinhalte zu erfinden und in einer mündlichen „didaktischen Analyse“ fachgerecht zu rechtfertigen. Ein inzwischen pensionierter Lehrer erinnert sich: „Nach einiger Übung waren wir in der Lage, jedem Unsinn eine Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung anzudichten, oder eine besonders einfältige exemplarische Bedeutung“. Die didaktische Analyse zielt darauf ab, in einem kreativen Prozess diejenigen Bildungsaspekte freizulegen, die in den jeweiligen Lehrplanaspekten bereits enthalten sind und für die spezifische Lerngruppe als lohnend erachtet werden. Sie stellt den Lehrplan nicht in Frage, sondern dient jeweils zur Auslegung und Rechtfertigung von Lerninhalten, die bereits vorgegeben sind (vgl. Jank & Meyer 2011, 218). Die Bildungstheoretische Didaktik besitzt eine große Bedeutung, um die inhaltliche Struktur zu erschließen. Sie könnte m.E. auch zur Curriculumentwicklung genutzt werden. Doch selbst wenn dies nicht der Fall ist, räumen Richtlinien und Lehrplänen den Lehrkräften viel Spielraum und kreative Gestaltungs- 26 Die alten Meister – Didaktische Modelle Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung Gegenwartsbedeutung I. Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt bereits im geistigen Leben der Kinder .., welche Bedeutung sollte er – vom pädagogischen Gesichtspunkt aus gesehen – darin haben? Zukunftsbedeutung II. Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder? Struktur des Inhalts III. Welches ist die Struktur des (durch die Fragen 1 und 2 in die spezifisch pädagogische Sicht gerückten) Inhaltes? 1. Welches sind die einzelnen Momente des Inhaltes als eines Sinnzusammenhanges? 2.In welchem (eindeutigen oder faktischen) Zusammenhang stehen diese einzelnen Momente? 3.Ist der betreffende Inhalt geschichtet? Hat er verschiedene Sinnund Bedeutungsschichten? 4.In welchem größeren sachlichen Zusammenhang steht dieser Inhalt? Was muss sachlich vorausgegangen sein? 5.Welche Eigentümlichkeiten des Inhaltes werden den Kindern den Zugang zur Sache vermutlich schwer machen? 6.Was hat als notwendiger, festzuhaltender Wissensbesitz („Mindestwissen“) zu gelten, wenn der im Vorangegangenen bestimmte Bildungsinhalt als angeeignet, als „lebendiger“, „arbeitender“, geistiger Besitz gelten soll? Exemplarische Bedeutung IV. Welchen allgemeinen Sachverhalt, welches allgemeine Problem erschließt der betreffende Inhalt? 1. Wofür soll das geplante Thema exemplarisch, repräsentativ, typisch sein? 2.Wo lässt sich das an diesem Thema zu Gewinnende als Ganzes oder in einzelnen Elementen – Einsichten, Vorstellungen, Wertbegriffen, Arbeitsmethoden, Techniken – später als Moment fruchtbar machen? Zugänglichkeit V. Welches sind die besonderen Fälle, Phänomene, Situationen, Versuche, in oder an denen die Struktur des jeweiligen Inhaltes den Kindern dieser Bildungsstufe, dieser Klasse interessant, fragwürdig, zugänglich, begreiflich, „anschaulich“ werden kann? Tabelle 3.1.2: Didaktische Analyse nach Klafki (Jank & Meyer 2011, 205; Klafki 1962, 14 – 20) möglichkeit ein, so dass sie bildungstheoretisch relevanten Unterrichtsinhalten zumindest nicht im Wege stehen. Die alten Meister – Didaktische Modelle 27 3.2 Lerntheoretische Didaktik (Berliner Modell) Die lerntheoretische Didaktik wurde von Paul Heimann (1901 – 1967), Gunter Otto (1927 – 1999) und Wolfgang Schulz (1929 – 1993) geprägt. Ihre bekannteste Komponente beschäftigt sich mit der Analyse der Faktoren und Strukturen des Unterrichts (Schulz 1969a, 13 – 47; Heimann 1969, 9; vgl. Jank & Meyer 2011, 261 – 285) (Abbildung 3.2.1): Diesem Modell liegen drei Grundprinzipien zugrunde (Schulz 1969 a, 45 f.; Heimann 1969, 11): 1. Interdependenz: Alle konstituierenden Momente beeinflussen sich gegenseitig. 2. Variabilität: Die Planung soll mehrere Möglichkeiten vorsehen, um auf unvorhergesehene Ereignisse (z. B. Schülerverhalten, Lehrerverhalten, Medien, usw.) eingehen zu können. 5) anthropogene Voraussetzungen 2) Thematik 4) Medien 6) soziokulturelle Voraussetzungen Strukturanalyse (erste Reflexionsebene) Abbildung 3.2.1: Struktur- und Faktorenanalyse der lerntheoretischen Didaktik (nach Jank & Meyer 2011, 271; vgl. Schulz 1969a) 28 Die alten Meister – Didaktische Modelle Bedingungsfelder II. Faktenbeurteilung 3) Methodik I. Normenkritik Faktorenanalyse (zweite Reflexionsebene): 1) Intentionalität Entscheidungsfelder 3. Kontrollierbarkeit: Die Einhaltung der vorgesehenen Entscheidungen soll nachprüfbar sein. Dies bezieht sich auf alle relevanten Unterrichtsfaktoren. Ursprünglich ist das Berliner Modell eigentlich zur Analyse von Unterricht gedacht, z. B. in der dienstlichen Beurteilung. Es wurde später einfach umgedreht, da Schulz (1969a, 43) davon ausging, dass es auch für die Unterrichtsplanung „gute Dienste zu leisten“ vermag. Beschränkt man sich auf die Strukturanalyse und seine sechs Hauptkomponenten, so ist das Modell noch einigermaßen einfach verständlich. Als Unterrichtsanalysemodell konzipiert, ist sein Nutzen zur Unterrichtsplanung aber umstritten (vgl. Jank & Meyer 2011, 275). Ich möchte zu bedenken geben, dass im Unterrichtsplanungsbaustein „Bedingungsfelder“, d. h. den anthropogenen und soziokulturellen Voraussetzungen, ganz erhebliche Risiken und Nebenwirkungen verborgen sind. Ihre Auswirkungen sind so erheblich, dass sie Funktion und Ansehen des deutschen Bildungssystems insgesamt in Frage stellen könnten. Während Schulkinder in Großbritannien Schuluniformen tragen, damit der kulturelle und schichtspezifische Hintergrund der Schüler gegenüber den Lehrern verdeckt wird und nicht zu einer Benachteiligung in der Leistungsbewertung führt, sind deutsche Lehrkräfte dazu angehalten, genau das Gegenteil zu tun: den soziokulturellen Hintergrund ihrer Schüler genau zu ermitteln und zu beschreiben. Enthält das vorgegebene Unterrichtsentwurfsschema diesen Gliederungspunkt, so können sie sich dem gar nicht entziehen. Sind angehende Lehrer erst einmal darauf trainiert, das Bedingungsfeld genau zu kennen und für ihre Unterrichtsplanung zu verwerten, so wird es ihnen sehr schwer fallen, dieses bei der Leistungsbewertung oder Schullaufbahnempfehlung wieder beiseite zu legen und Chancengleichheit walten zu lassen. Fragen Sie Grundschullehrer, nach welchen Gesichtspunkten sie Viertklässlern eine Empfehlung für die weiterführende Schulform erteilen, so werden Sie sehr häufig feststellen, dass neben der Frage der Leistungen ein weiteres Kriterium sehr hoch gewichtet wird: Erfährt das Kind im Elternhaus „die nötige Unterstützung“? Es ist zwar in den meisten Fällen gut gemeint und entspricht der gesetzlichen Verpflichtung der Eltern zur Mitwirkung an der schulischen Bildungs- und Erziehungsarbeit. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die „schlechten Leistungen“ der Eltern gedanklich auf die Leistungsbewertung des Kindes projiziert werden – ein Risiko für das Gelingen von Chancengleichheit im Bildungssystem. 3.3 Lehrtheoretische Didaktik (Hamburger Modell) Heimann ergänzte die lerntheoretische Didaktik durch eine moderne formale Bildungstheorie. Ende der 1970er Jahre entwickelte Wolfgang Schulz, inzwischen zur Uni Hamburg gewechselt, die lerntheoretische Didaktik weiter zur lehrtheoretischen Didaktik (Schulz 1981; vgl. Jank & Meyer 2011, 282 ff.). Darin wurden einige Nachteile des Ber­liner Modells behoben, insbesondere die Gleichsetzung von Analyse und Planung. Schulz verzichtet auf die Wertfreiheit des alten Modells, entwickelt ein politisch-emanzipatorisches Bildungsprogramm und die Die alten Meister – Didaktische Modelle 29 konkrete Utopie des schülerorientierten Unterrichts. Er unterscheidet zwischen vier Planungsebenen: 1. Perspektivplanung: „In Dialog mit den Schülern und/oder deren gesetzlichen Vertretern, werden die Absichten formuliert, die Themen gewählt, gereiht und gewichtet, […] die Unterrichtseinheiten vorläufig festgelegt, …“ (Schulz 1981, 56). Dazu wird eine ma­trixartig aufgebaute Bildungstheorie vorgeschlagen (Tabelle 3.3.1): Intentionen Wissenschaftsorientierte Förderung von Themen 1 Wissenschaftsorientierte Förderung von I Kompetenz II Autonomie III Solidarität I/1 II/2 III/1 I/2 II/2 III/2 I/3 II/3 III/3 Sacherfahrung 2 Gefühlserfahrung 3 Sozialerfahrung Tabelle 3.3.1: Lehrtheoretische Bildungstheorie nach Schulz (1981, 60) In der Planungsbeteiligung der Schüler wird ein entscheidender Prüfstein zur Demokratisierung von Schule und Unterricht gesehen. Nach Auffassung von Jank & Meyer (2011, 261) handelt es sich um eine moderne Variante der Bildungstheorie. 2. Umrissplanung: „In der Interaktion mit den Schülern, ggfs. mit anderen Lehrern, mit Eltern, mit Gästen fallen in diesem Modell die planerischen Entscheidungen“ (Schulz 1981, 65). Diesmal liefert Schulz (1981, 66) auch ein Strukturmodell, das beide Reflexionsebenen integriert (Abbildung 3.3.1 auf der nächsten Seite). Schulz konnte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch davon ausgehen, dass sich alle wesentlichen Einflussfaktoren innerhalb der Staatsgrenzen (Herrschaftsverhältnisse) befinden. Im Zeitalter der Globalisierung des Wissens, des Handels und der Arbeitsmärkte müsste man wohl zusätzlich einen dritten Außenkreis anbringen. 3. Prozessplanung: diskursive Entscheidung für eine bestimmte Unterrichtsform (z. B. Projekt, Lehrgang, usw.) und Detailplanung. Auch eine ggfs. getroffene Entscheidung für fremdbestimmte Lernformen ist dabei als Akt der Selbstbestimmung zu werten (Schulz 1981, 78). 30 Die alten Meister – Didaktische Modelle 4. Planungskorrekturen in der unterrichtlichen Interaktion (79 f.). Das Konzept spiegelt die große Aufbruchstimmung der 1970er Jahre wider. Das Schlusskapitel „Antworten auf mögliche Rückfragen“ (Schulz 1981, 80 ff.) lässt deutlich werden, dass dem Autor der utopische, unrealistische Charakter seines Konzeptes durchaus bewusst war – dass er es bewusst nicht als Praxisanleitung verstand: „Ein Modell, das keine Anstöße zur Innovation des Unterrichts, der Schule, der Lehrerbildung gibt, braucht niemand. Durchwurstel-Modelle sind bekannt genug“ (a. a. O.). Produktions- und Herrschaftsverhältnisse Institutionelle Bedingungen L UZ AL Unterrichtsziele Ausgangslage S L S EK VV Erfolgskontrolle Vermittlungsvariablen Unterricht (Methoden, Medien, schulorg. Hilfen) Selbstverständnis schulbezogen Handelnder Abbildung 3.3.1: Interdependente Faktoren der lehrtheoretischen Didaktik (nach: Schulz 1981, 66) Jank & Meyer (2011, 284) bezeichnen die lehrtheoretische Didaktik kritisch, aber dennoch mit Sympathie als „Feiertagsdidaktik“. Für den Alltag ist sie nur begrenzt nutzbar. Die Elemente der Struktur- und Faktorenanalyse lerntheore- Die alten Meister – Didaktische Modelle 31 tischer Didaktik leben dennoch fort, in Form von Gliederungsaspekten schriftlicher Unterrichtsplanung (vgl. Meyer 1991, 118 f.): Bedingungsanalyse, Strukturanalyse, anthropogene und soziokulturelle Voraussetzungen, Ganzheitlichkeit, Sozialform, Aktionsform, Medien. 3.4 Behaviorismus Die klassische Form des Behaviorismus wurde u. a. von Iwan Pawlow (1849 – 1936) und Burrhus F. Skinner (1904 – 1990) geprägt. Die Bezeichnung Behaviorismus leitet sich vom englischsprachigen Begriff behavior (= Verhalten) ab, wobei die im American English übliche Schreibweise ohne u verwendet wird. Der Begriff Verhalten wird dabei ganz neutral im Sinne von beobachtbaren Bewegungs- und Handlungsmustern verwendet und hat i.e.S. nichts mit sozial-emotionalen Problemen zu tun. Anhand von Experimenten mit Hunden, Ratten und Tauben wurden einfachste Formen von Lernvorgängen untersucht. So zum Beispiel die Assoziation eines Reizes (Glocke) mit einem unbedingten Reiz (Futter), die schließlich zu einem bedingten Reiz führt (Glocke als Signal für die Erwartung von Nahrung). Bei diesem und anderen Beispielen klassischer Konditionierung wird der Reiz (input) und sein Ergebnis (output) untersucht, während die Vorgänge im Inneren als unzugängliche black box (Abbildung 3.4.1) angesehen werden (vgl. Meyer 1991, 153). Dieses Lernschema ist grundsätzlich auf den Menschen übertragbar. Es wurde in der Lernpsychologie erheblich ausdifferenziert – lassen sich doch viele Lehr- und Lernvorgänge auf dieses Schema zurückführen. Reiz (input) black box Reaktion (output) Abbildung 3.4.1: Reiz-Reaktions-Schema des klassischen Behaviorismus 32 Die alten Meister – Didaktische Modelle Skinner (1967, 20 – 22) geht von der [gewagten!] These aus, dass Denken eine Form des Verhaltens sei. Intellektuelle Leistungen seien im Grunde durch biologische Zufälle bestimmt wie die Evolution und die Anordnung von Molekülen. Sie würden von außen lediglich durch die jeweilige Anordnung von Verstärkungszusammenhängen beeinflusst (Skinner 1967, 50 f.). Daher möchte Skinner das vorläufige bzw. verdeckte Verhalten fördern, um das Auftreten eines solchen Zufalls zu erleichtern. Durch Verstärkung sollen auf diese Weise die Selbststeuerung, Aufmerksamkeit, Vorstellung, Denken und Lernen systematisch gefördert werden. Skinner (1967) verfolgt dabei das durchaus ehrenhafte Ziel, schwachen Schülern das Lernen zu erleichtern, anstatt lediglich Auslese zu betreiben. Während im traditionellen Unterricht nur die verbalen oder in einer Prüfung abgefragten Arbeitsergebnisse (verzögert) verstärkt würden, fordert Skinner (1967, 26 – 32) eine „direkte Unterweisung in den einzelnen Elementarakten“. Behavioristische Didaktik beeinflusst die Black box paradoxerweise häufiger und unmittelbarer. Sie greift dadurch in „verdecktes Verhalten“ ein. Man könnte Behavioristen zur Last legen, rein manipulativ vorzugehen. Man muss ihnen jedoch zugute halten, dass viele Lehrformen unabhängig von den ideologischen Präferenzen der Lehrkräfte in der Praxis nicht viel anders vor sich gehen – nur eben verzögert. Mit großem Optimismus wurden in den 1960er Jahren behavioristische Modelle zu programmierten Lehrgängen weiterentwickelt (vgl. Skinner & Correll 1967). Dabei wurden die Möglichkeiten elektrischer Logikschaltungen ausgenutzt – die damals noch nicht besonders weit entwickelt waren. Zu dieser Zeit konnte die Informationstechnik noch nicht auf die vielfältigen Möglichkeiten persönlicher Computerarbeitsplätze zurückgreifen. Man erwartete, dass schon Vierjährige das Lesen erlernen können (a. a. O.). Dazu wurden Lernmaschinen eingesetzt, die im Wesentlichen aus einer Schreibmaschine mit verbundenen Tonbandanweisungen oder Lochkartenrechner bestanden, welcher ein Leselernprogramm enthielt. Auch das „Sprachlabor“ zum Erlernen von Fremdsprachen ist in diese Tradition einzuordnen. Einseitig behavioristische Lehrmethoden würde man heutzutage als nicht kindgerecht bezeichnen. Sie konzentrieren sich auf materiale Bildung. Formale Bildungsinhalte wie Kooperationsfähigkeit oder Lernorganisation können damit wohl kaum vermittelt werden. Dennoch arbeiten heutige PC-Lernprogramme nicht viel anders. Auf Schüler üben sie nach wie vor eine große Faszination aus. Für das Üben und Festigen erarbeiteter Lerninhalte bleiben sie von großer Bedeutung. Die alten Meister – Didaktische Modelle 33 3.5 Lernzielorientierte Didaktik Aus bahavioristischer Tradition heraus legte Robert Mager den entscheidenden Grundstein zur lernzielorientierten Didaktik. Im Kern geht es um eine zweifelsfreie, eindeutige Festlegung der erwünschten Lernziele. Auf dem Deckblatt seines Lehrbuches schreibt Mager (1969): „Wer nicht genau weiß, wohin er will, braucht sich nicht zu wundern, wenn er ganz woanders ankommt!“ Mager (1969) fährt fort: „Wer daran interessiert ist, seine Unterrichtsziele so klar zu formulieren, daß hinterher sowohl er selbst als auch andere feststellen können, ob diese Ziele erreicht worden sind, findet in diesem Buch eine nützliche Anleitung“. Mager schmückt seine Einleitung mit der Fabel eines Seepferdchens. Als wissenschaftliches Argument zwar wenig geeignet, soll die unterhaltsame Geschichte den Lesern dieses Handbuches dennoch nicht vorenthalten werden: „Es war einmal ein Seepferdchen, das eines Tages seine sieben Taler nahm und in die Ferne galoppierte, sein Glück zu suchen. Es war noch gar nicht weit gekommen, da traf es einen Aal, der zu ihm sagte: ‚Psst. Hallo, Kumpel. Wo willst du hin?‘ ‚Ich bin unterwegs, mein Glück zu suchen,‘ antwortete das Seepferdchen stolz. ‚Da hast du’s ja gut getroffen,‘ sagte der Aal, ‚für vier Taler kannst du diese schnelle Flosse haben, damit kannst du viel schneller vorwärts kommen.‘ ‚Ei, das ist ja prima,‘ sagte das Seepferdchen, bezahlte, zog die Flosse an und glitt mit doppelter Geschwindigkeit von dannen. Bald kam es zu einem Schwamm, der es ansprach: ‚Psst. Hallo, Kumpel. Wo willst du hin?‘ ‚Ich bin unterwegs, mein Glück zu suchen,‘ antwortete das Seepferdchen. ‚Da hast du’s ja gut getroffen,‘ sagte der Schwamm, ‚für ein kleines Trinkgeld überlasse ich dir dieses Boot mit Düsenantrieb; damit könntest du viel schneller reisen.‘ Da kaufte das Seepferdchen das Boot mit seinem letzten Geld und sauste mit fünffacher Geschwindigkeit durch das Meer. Bald traf es auf einen Haifisch, der zu ihm sagte: ‚Psst. Hallo, Kumpel. Wo willst du hin?‘ ‚Ich bin unterwegs, mein Glück zu suchen,‘ antwortete das Seepferdchen. ‚Da hast du’s ja gut getroffen. Wenn du diese kleine Abkürzung machen willst,‘ sagte der Haifisch und zeigte auf seinen geöffneten Rachen, ‚sparst du eine Menge Zeit.‘ 34 Die alten Meister – Didaktische Modelle ‚Ei, vielen Dank,‘ sagte das Seepferdchen und sauste in das Innere des Haifisches, um dort verschlungen zu werden. Die Moral dieser Geschichte: wenn man nicht genau weiß, wohin man will, landet man leicht da, wo man gar nicht hin wollte“ (Mager 1969, XVII). Hilbert Meyer (1991, 137) definiert ein Lernziel als „sprachlich artikulierte Vorstellung über die durch Unterricht zu bewirkende gewünschte Verhaltensänderung eines Lernenden“. Die Konkretisierung der Lernziele bis zur sprachlich eindeutigen Angabe des beobachtbaren Schülerverhaltens wird als Operationalisierung bezeichnet. Nach Mager ist ein Lernziel dann operationalisiert, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind (Meyer 1991, 141; vgl. Mager 1969, 12) (Tabelle 3.5.1). 1 Es müssen beobachtbare Verhaltensweisen beschrieben werden, die der Schüler nach Ablauf des Unterrichts zeigen soll (vgl. Mager 1969, 13 f.). 2 Es müssen Bedingungen genannt werden, unter denen das Verhalten des Schülers kontrolliert werden soll (z. B. Dauer, Hilfsmittel, Zusammenarbeit mit anderen Schülern; vgl. Mager 1969, 25 f.). 3 Es muss ein Bewertungsmaßstab angegeben werden, nach dem entschieden werden kann, ob und inwieweit das Ziel als erreicht gilt (z. B. wie viele Aufgaben richtig gelöst sein sollen; vgl. Mager 1969, 44). Tabelle 3.5.1: Magers Bedingungen zur Lernzieloperationalisierung Das Hauptaugenmerk liegt in einer allgemeinverständlichen Formulierung des „Endverhaltens“, also dessen, was ein Schüler tun soll, um zu zeigen, dass er das Lernziel erreicht hat (Mager 1969, 24). Mager empfiehlt, sich auf die wesentlichsten Aspekte zu beschränken (Nebensächlichkeiten weglassen), und die erforderlichen Informationen nötigenfalls auf zwei oder mehrere Sätze zu verteilen, damit sie verständlich bleiben. Klar definierte Ziele bieten den Vorteil der Transparenz: Schüler können ihre Fortschritte selbst beurteilen und können ihre Tätigkeiten genau auf das Ziel ausrichten. Sie sind nicht mehr darauf angewiesen, „die Lehrerpsyche zu erforschen“ (Mager 1969, 4). Lehrer können, wie von der lerntheoretischen Didaktik gefordert, den vorgesehenen und tatsächlichen Verlauf des Unterrichts überprüfen (vergleichen). Wolfgang Schulz (1969b) wendet sich im Vorwort zu Magers Lehrbuch gegen mögliche Einwände. „Die Bildungsziele (aims)“, so Schulz (1969b, XV), „lassen sich in Lehrzielen (objectives and topics) präzisieren, die dann durch Aufgaben Die alten Meister – Didaktische Modelle 35 (items) prüfbar werden. So vermitteln Magers ‚Lernziele‘ (Lehrziele) zwischen abstrakten Bildungszielen und beobachtbarem Verhalten“. Die Ziele einer gesamten Unterrichtsreihe bestehen nach Mager (1969, 24) aus einer Beschreibung vieler Einzelziele. Doch an der Frage, ob eine Summierung vieler Ziele geeignet ist, die gewünschten Bildungsziele hervorzubringen, entzündet sich Kritik. Aebli (1987, 320 ff.) hat für die Lernzieloperationalisierung nur Spott übrig: „Darum gleicht das Wissen und Können, das diese Neobehavioristen dem Schüler vermitteln wollen, auch einer Datenbank oder einem unzusammenhängenden Repertiore von einzelnen Fertigkeiten“. Immerhin billigt Aebli der Lernzieloperationalisierung zu, dass „ein Körnchen Wahrheit“ in ihr stecke (a. a. O.). Die von Aebli a. a. O. gelieferten operationalisierten Lernzielbeispiele entsprechen jedoch nicht den Anforderungen, die Mager (1969) an beobachtbare Verhaltensziele stellt. Aus der nordamerikanischen behavioristischen Lerntheorie stammt außerdem die Dreiteilung von Lernzielen in die Dimensionen kognitiv, affektiv und psychomotorisch (Meyer 1991, 143). Pestalozzi unternahm bereits eine ähnliche Unterteilung (Jank & Meyer 2011, 278) (Tabelle 3.5.2). In der deutschen Lernzieltheorie wurde die schrittweise Konkretisierung von Richtziel, Grobziel und Feinziel von Christine Möller eingeführt (Meyer 1991, 140). Dies stellt jedoch lediglich eine logische Ableitung [zur Rechtfertigung] von Lernzielen dar. Für das Gelingen des Lernprozesses ist ein Ordnen der Lernziele nach ihrem Schwierigkeitsgrad von Bedeutung. Man spricht von hierarchischen Lernzielen und geht vereinfachend davon aus, dass das Erreichen eines höheren Lernzieles jeweils die Beherrschung aller darunter liegenden Hierarchiestufen voraussetzt. Dies klingt einerseits einleuchtend, ist aber in der Unterrichtspraxis nicht unproblematisch (Meyer 1991, 146). Behavioristische Lernzielebene Beispiel Analogie bei Pestalozzi Kognitiv z. B. Denken, Wissen, Problemlösen Kopf Affektiv z. B. Interessen, Bereitschaften, Werthaltungen Herz Psychomotorisch z. B. Handfertigkeiten, sportliche Fertigkeiten Hand Tabelle 3.5.2: Dreiteilung von Lernzielen In der universitären Lehrerausbildung (z. B. Plöger 2008, 65) wird Magers lernzielorientierte Didaktik überwiegend als „didaktischer Irrweg“ bezeichnet. Meyer (1991, 142) gibt den tendenziell manipulativen Charakter der Lernzieloperationalisierung zu bedenken. Sie stelle einen Widerspruch zum Anliegen dar, die Emanzipation der Schüler zu fördern. Sie wurde vielfach als Gängelung empfunden. In Anspielung auf den Namen des Verfassers bezeichnet Meyer (1991, 136) Magers Lehrbüchlein als „in theoretischer Hinsicht mager“. Zur damaligen Zeit 36 Die alten Meister – Didaktische Modelle